Der Baader-Meinhof-Komplex - Stefan Aust - E-Book
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Der Baader-Meinhof-Komplex E-Book

Stefan Aust

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Beschreibung

Vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe Stefan Austs Buch, ein "Klassiker" (FAZ) der jüngeren Geschichtsschreibung, ist keine Anklageschrift und nicht das Plädoyer eines Verteidigers, es ist auch kein Urteil, weder in juristischer noch in moralischer Hinsicht. Es soll ein Protokoll sein, eine Chronik der Ereignisse vom Juni 1967, als der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde, bis zum "Deutschen Herbst" 1977, der Entführung und späteren Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, der Entführung und Befreiung der Passagiere und Besatzungsmitglieder der Lufthansa-Maschine "Landshut" und den Selbstmorden im Hochsicherheitstrakt von Stammheim. Detaillierter und brisanter denn je: Eine Fülle neuer Fakten, die zu einem großen Teil erst durch Austs akribische Recherchen ans Tageslicht kommen, macht diese Neuausgabe möglich und notwendig. Neben neuem Fotomaterial wertet der Autor eine Vielzahl neu aufgefundener und erst heute freigegebener Ermittlungsakten sowie private Aufzeichnungen und Aussagen von Zeitzeugen aus.

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EPUB

Seitenzahl: 1374

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Stefan Aust

Der Baader-Meinhof-Komplex

Hoffmann und Campe

Vorwort

Dieses Buch ist keine Anklageschrift und nicht das Plädoyer eines Verteidigers. Es ist auch kein Urteil, weder in juristischer noch in moralischer Hinsicht. Es soll ein Protokoll sein, eine Chronik der Ereignisse vom Juni 1967 bis zum »Deutschen Herbst«DeutscherHerbst1977, der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin SchleyerSchleyer, Hanns Martin, der Entführung und Befreiung der Passagiere und Besatzungsmitglieder der Lufthansa-Maschine »Landshut«Landshut und den Selbstmorden im Hochsicherheitstrakt von Stammheim.

»Der Baader-Meinhof-Komplex« ist zum ersten Mal 1985 erschienen, acht Jahre nach dem Selbstmord der StammheimStammheim, Strafvollzugsanstalter Gefangenen Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt, Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt und Jan-Carl RaspeRaspe, Jan-Carl ab Seitedurchgängig erwähnt, neun Jahre nachdem sich Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite in ihrer Zelle das Leben genommen hatte. Der blutige »Deutsche HerbstDeutscherHerbst« des Jahres 1977 markierte den Gipfelpunkt eines Weges in die Gewalt, der mit zunächst friedlichen Protesten gegen den Krieg der Amerikaner in VietnamDemonstration:Vietnamkrieg begonnen hatte. Moralische Empörung war erst langsam, dann immer schneller in krasse Unmoral umgeschlagen.

Seit 1967 habe ich, zunächst bei der Zeitschrift »konkret«,konkret dann als Mitarbeiter des Magazins »Panorama«Panorama NDR-Magazin 73 beim NDR, die Entwicklung vom Protest über den Widerstand zum TerrorismusTerrorismus verfolgt. Dabei begegnete ich vielen, die zur Zeit der Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition (APO) auf die Straße gegangen waren und später in den Untergrund abtauchten. Einige traf ich bei den Recherchen zu diesem Buch wieder, manche von ihnen saßen im Gefängnis, andere waren nach vielen Jahren Haft wieder in Freiheit. Ich führte Interviews, sammelte und sichtete bis 2017 gut hundert laufende Meter Aktenordner und versuchte, daraus die Geschichte der »Baader-Meinhof-GruppeBaader-Meinhof-Gruppe«, die sich später »Rote Armee Fraktion« nannte, zu rekonstruieren. Vom Prozess in Stammheim gibt es außerdem Wortprotokolle, 15000 Seiten, insgesamt gut 30 Aktenordner.

Von denjenigen, die später in den Untergrund abtauchten, habe ich einige intensiver kennengelernt, wie Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite, andere nur flüchtig. So sind persönliche Begegnungen in die Recherchen eingeflossen, später Hintergrundgespräche oder Interviews, viele davon vor laufender Kamera.

Kontakt hatte ich unter anderen zu: Rudi DutschkeDutschke, Rudi, Daniel Cohn-BenditCohn-Bendit, Daniel, Peter SchneiderSchneider, Peter, Peter HomannHomann, Peter, Otto SchilySchily, Otto, Christian StröbeleStröbele, Christian, Kurt GroenewoldGroenewold, Kurt, Horst MahlerMahler, Horst, Hans-Jürgen BäckerBäcker, Hans-Jürgen, Peter-Jürgen BoockBoock, Peter-Jürgen, Jan-Carl RaspeRaspe, Jan-Carl%, Astrid ProllProll, Astrid, Klaus JünschkeJünschke, Klaus, Gerhard MüllerMüller, Gerhard, Hans-Joachim KleinKlein, Hans-Joachim, Rainer LanghansLanghans, Rainer, Bommi BaumannBaumann, Bommi, Till MeyerMeyer, Till, Black Panther Eldridge CleaverCleaver, Eldridge, Black Panther, Weatherman Mark RuddRudd, Mark, Weatherman, Ex-Bürgermeister und Pfarrer Heinrich AlbertzAlbertz, Heinrich, Ex-Bürgermeister und Pfarrer, BKA-Präsident Horst HeroldHerold, Horst, BKA-Präsident, BKA-»Familienbulle« Alfred KlausKlaus, Alfred, BKA-Familienbulle, Horst BubeckBubeck, Horst, GSG-9-Chef Ulrich WegenerWegener, Ulrich, GSG-9 Chef, »Landshut«-Stewardess Gabriele DillmannDillmann, Gabriele später von Lutzau, Landshut-Stewardess (später von Lutzau), »Landshut«-Copilot Jürgen VietorVietor, Jürgen, Landshut-Copilot, Hans-Jürgen WischnewskiWischnewski, Hans-Jürgen, Helmut SchmidtSchmidt, Helmut, Hanns Martin SchleyerSchleyer, Hanns Martin …

Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt bin ich niemals begegnet. Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt auch nicht – aber das war haarscharf.

Ich habe das Buch damals wie heute nicht als die quasi in Stein gemeißelte Geschichte der RAFRAF betrachtet, sondern als den Stand meiner Recherchen. Wann immer etwas Neues auftauchte, habe ich es in die verschiedenen Ausgaben des Buches aufgenommen oder auch Details korrigiert.

 

Inzwischen sind vierzig Jahre vergangen, und die Ereignisse von damals lassen sich noch genauer beschreiben, als es bis etwa 1990 möglich war. Mit dem Fall der Mauer war den bundesdeutschen Fahndern eine Gruppe von RAFRAF RotenArmeeFraktion-Aussteigern in die Hände gefallen, die bis dahin unerkannt in der DDR gelebt hatten. Eine spezielle Einheit des Ministeriums für StaatssicherheitMinisterium für Staatssicherheit der DDR hatte die im Westen als Terroristen steckbrieflich gesuchten RAF-Mitglieder mit gefälschten Identitäten in die realsozialistische Gesellschaft integriert. Auch einige damals noch aktive Gruppenmitglieder hatte die Stasi phasenweise in der DDR betreut und anschließend wieder in ihr westdeutsches »Operationsgebiet« ausreisen lassen. Das ganze Ausmaß der StasiMinisterium für Staatssicherheit-Kooperation mit ausgestiegenen, aber auch mit noch aktiven Terroristen kam erst im Laufe der folgenden Jahre ans Licht.

Mit Hilfe von MfS-Akten ließen sich eine ganze Reihe zuvor ungeklärter Hintergründe ausleuchten, denn die RAF-Mitglieder hatten gegenüber den Genossen vom Ministerium für StaatssicherheitMinisterium für Staatssicherheit einiges offenbart, was den bundesdeutschen Ermittlern entgangen war. Zudem begannen die resozialisierten DDR-Neubürger in bundesdeutscher Haft überwiegend zügig auszusagen. Einige von ihnen gehörten zu den Entführern Hanns Martin Schleyer, Hanns MartinSchleyers. Ihre Geständnisse wiederum bewegten einen der Haupttäter zu einer Neuaussage. Peter-Jürgen BoockBoock, Peter-Jürgen, wegen seiner Beteiligung an der Schleyer-Entführung ohnehin zu einer lebenslangen Strafe verurteilt, legte gegenüber der Bundesanwaltschaft so etwas wie eine »Lebensbeichte« ab.

Unter Nutzung der Stasi-Unterlagen und sehr ausführlicher Interviews mit Beteiligten habe ich 1997 die Ursprungsfassung dieses Buches ergänzt. Vor allem Peter-Jürgen BoockBoock, Peter-Jürgen schilderte damals detailliert die Vorbereitungen der Schleyer-EntführungSchleyer-Entführung, die Tat selbst, die Unterbringung des Entführten in verschiedenen VersteckenStammheimer Hochsicherheitstrakt:Verstecke in den Zellen, die Flucht der Hauptgruppe der Entführer nach Bagdad und schließlich die Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten. Die Aussagen Boocks deckten sich im Wesentlichen mit den Ermittlungsergebnissen und den Aussagen anderer Gruppenmitglieder sowie der einzig überlebenden »Landshut«Landshut-EntführerLandshut-Entführerin, die fast zwanzig Jahre nach der Tat in Deutschland vor Gericht gestellt wurde.

All diese Materialien habe ich 1997 als zusätzliche Passagen und Kapitel in das Buch eingearbeitet, andere Teile des ursprünglichen Textes wurden revidiert und ausgebaut. Dann, dreißig Jahre nach dem »Deutschen Herbst«DeutscherHerbst, habe ich mir das Buch noch einmal vorgenommen und mit neuen Rechercheergebnissen angereichert. Neu vor allem waren zahlreiche Indizien für geheimdienstliche Aktivitäten rund um den Hochsicherheitstrakt in Stammheim. Die schon in der Ursprungsausgabe geäußerten Vermutungen, dass die Gefangenen in ihren Zellen abgehörtStammheim-Gefangene:abgehörte worden sind, haben sich dadurch weiter verdichtet.

Erstmals ist das Buch damals mit Fotos ausgestattet worden, einige davon stammen aus Ermittlungsakten und waren bisher weitgehend unbekannt; jetzt sind noch eine Reihe weiterer Aufnahmen dazugekommen.

 

Meine Sicht auf die GeschichteRAF:Geschichte der RAF und die Reaktion des Staates auf die Gruppe hat sich im Laufe der Zeit im Lichte der neueren Erkenntnisse nicht wesentlich verändert – außer vielleicht in zwei Punkten: Wie genau man innerhalb der RAF über die Tatsache des SelbstmordStammheimer Gefangene:abgesprochener kollektiver Selbstmordes der Gefangenen in Stammheim Bescheid wusste und wie systematisch man die Mordlegende gestrickt hat. Und: Welch ein ungeheures Versagen des staatlichen Fahndungsapparates dazu geführt hat, dass SchleyerSchleyer, Hanns Martin nicht befreit wurde, obwohl es schon weniger als 48 Stunden nach der Entführung einen konkreten Hinweis auf sein VersteckStammheimer Hochsicherheitstrakt:Verstecke in den Zellen gab.

 

Einige Fragen bleiben bis heute ungeklärt. So etwa die Hintergründe mancher Geheimdienstspuren, die sich durch die Geschichte ziehen. Oder der dringende Verdacht, dass die Gefangenen in Stammheim auch während der Schleyer-EntführungSchleyer-Entführung in ihren Zellen abgehörtStammheim-Gefangene:abgehörte wurden – und dass es womöglich einen Tonbandmitschnitt ihrer letzten Nacht gibt – oder zumindest gab; auch dazu findet man in dieser Ausgabe des Buches neue Erkenntnisse.

 

Der Schilderung vergangener Ereignisse sind Grenzen gesetzt, das habe ich beim Schreiben der ersten Version des Buches genauso gespürt wie jetzt bei der Aktualisierung und Ergänzung. Zum einen ist nicht jeder bereit, Auskunft zu geben. Zum anderen sind auch Augenzeugenberichte immer subjektiv gefärbt. Ich habe damals und heute versucht, aus den verschiedenen Aussagen herauszufiltern, was sich tatsächlich abgespielt hat. Gab es einander krass widersprechende Versionen, so habe ich diese gegenübergestellt. Soweit es möglich war, habe ich im Fluss der Erzählung deutlich gemacht, auf welche Quellen ich mich stütze. Eine ganze Reihe von Informanten haben aber darum gebeten, anonym zu bleiben.

Wertungen habe ich möglichst vermieden. Dennoch ist die Auswahl des Materials, die Gewichtung, die Zusammenstellung meine subjektive Entscheidung.

In dieser, der vierten, Ausgabe des Buches habe ich einige Vorgänge detaillierter geschildert als in den vorherigen Versionen, vor allem habe ich meine eigene Rolle als »teilnehmender Beobachter« immer dann genauer beschrieben, wenn ich unmittelbar mit den Ereignissen zu tun hatte.

Was die Geschichte nach wie vor so faszinierend macht, ist, dass in dieser Gruppe die politischen und gesellschaftlichen Strömungen der Zeit zusammenliefen: die revolutionären Bewegungen der Dritten Welt, der Protest gegen den VietnamkriegVietnamkrieg, gegen Imperialismus und Kolonialismus, die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, die Rolle des Konfliktes zwischen Israel und den Palästinensern, die Kritik am Kapitalismus, die Frage der Gewalt, die Auseinandersetzung oder Kooperation mit dem real existierenden Sozialismus, die Rolle der Geheimdienste und des zum Teil von ihnen genutzten oder unterstützten Terrors im eiskalten Krieg Kalter Kriegzwischen den Machtblöcken.

Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite steht von allen Gruppenmitgliedern am ehesten für die Sehnsüchte und Ziele der linken Außerparlamentarischen OppositionAPO der sechziger Jahre – und deren Abgleiten in politische Sekten oder TerrorismusTerrorismus. Diese Geschichte ist auch ihre persönliche Tragödie.

 

Hamburg, im Juli 2017

Stefan Aust

1. KapitelWege in den Untergrund

1.Tod in Stammheim

»00.38 Uhr. Hier ist der Deutschlandfunk mit einer wichtigen Nachricht. Die von Terroristen in einer LufthansaLandshut-Boeing entführten 86 GeiselGeiseln sind alle glücklich befreit worden. Dies bestätigt ein Sprecher des Bundesinnenministeriums soeben in Bonn. Ein Spezialkommando des Bundesgrenzschutzes hatte um 00.00 Uhr die Aktion auf dem Flughafen von Mogadischu gestartet. Nach den ersten Informationen sollen drei Terroristen getötet worden sein.«

Zwei Minuten später wiederholte das gemeinsame Nachtprogramm der ARD die Meldung im Wortlaut. Es war Dienstag, der 18. Oktober 1977. Im siebten Stock der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-StammheimStammheim, Strafvollzugsanstalt wachte einsam der Justizassistent Hans Rudolf SpringerSpringer, Hans Rudolf über die Gefangenen Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt, Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt, Jan-Carl RaspeRaspe, Jan-Carl ab Seite durchgängig erwähnt und Irmgard MöllerMöller, Irmgard. Er saß in der Wachkabine, getrennt von den Gefangenen durch Wände, Gitter und Türen. Über Fernsehmonitore konnte er den großen Flur vor den Zellen beobachten. Nichts regte sich.

Die Meldung, eingestreut in das nächtliche Musikprogramm, riss Springer vom Stuhl. Er ging in den hinteren Flügel des Zellentrakts und stellte sich vor das Gitter zum Flur. Alles war still. Springer ging zurück in seinen Wachraum und starrte weiter auf die Monitore.

Um 6.30 Uhr wurde der Justizassistent von einem Kollegen abgelöst. Langsam erwachte die Anstalt.

 

Um 7.15 Uhr traten die Vollzugsbediensteten MiesterfeldMiesterfeld, Klaus, StapfStapf, Willi, StollStoll, Willy Peter, GriesingerGriesinger, Horst und HermannHermann, Ernst ihren Dienst an. Hauptsekretär KlausKlaus, Alfred Miesterfeld holte bei der Vollzugsdienstleitung die Zellenschlüssel ab und quittierte mit seiner Unterschrift. Dann schaltete er die Alarmanlage aus. Er öffnete die Gittertür zum Zellenflur und zog die Jalousien vor dem Fenster am hinteren Zellenflur auf. Licht fiel durch die Glasbausteine. Die Beamten wuchteten gemeinsam die gepolsterten Spanplatten von den Zellentüren, mit denen nächtliche Sprechkontakte zwischen den Gefangenen verhindert werden sollten.

MiesterfeldMiesterfeld, Klaus öffnete die Sicherheitsschlösser aller vier Zellen. Um 7.41 Uhr schloss Obersekretär StollStoll, Willy Peter die Tür zur Nummer 716 auf. Neben ihm stand der Hauptsekretär Willi StapfStapf, Willi. Die beiden Beamten hatten den Frühstückswagen mit Kaffee, Graubrot und einem gekochten Ei in den Trakt geschoben. Ihnen war seltsam zumute. Der Gefangene RaspeRaspe, Jan-Carl ab Seite durchgängig erwähnt stand nicht, wie sonst, an der Tür. Ihre Kollegen, unter ihnen die Vollzugsbeamtin Renate FredeFrede, Renate, die während der Nacht im siebten Stock Bereitschaftsdienst gehabt hatte, standen einige Schritte entfernt.

StollStoll, Willy Peter warf einen Blick in die Zelle und drehte sich abrupt um: »Komm einmal her. Schau mal, da ist was los!«

Die Beamten drängten sich in die Türöffnung. Das Bett Raspes stand wie gewöhnlich quer zum Eingang. Es reichte fast von einer Zellenwand zur anderen. RaspeRaspe, Jan-Carl ab Seite durchgängig erwähnt saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Bett. Mit dem Rücken lehnte er an der Treppenhauswand. Sein Kopf war leicht nach rechts gedreht und hing nach unten. Von der linken Schädelseite rann Blut. An der Wand hinter Raspes Kopf war ein Blutfleck. StollStoll, Willy Peter bemerkte, dass Raspe atmete, und hörte ihn stöhnen.

»Mach sofort wieder zu!«, ordnete Hauptsekretär MiesterfeldMiesterfeld, Klaus an. Keiner der Justizbeamten hatte die Zelle betreten. StollStoll, Willy Peter schloss die Tür und verständigte den stellvertretenden Vollzugsdienstleiter Horst BubeckBubeck, Horst. Miesterfeld rief das Krankenrevier an.

Die Beamten sprachen leise, damit die Gefangenen in den übrigen Zellen nichts von den Geschehnissen mitbekamen. Kaum drei Minuten später betraten zwei Sanitäter in Begleitung von Amtsinspektor Erich GötzGötz, Erich und Hauptsekretär HeinzHeinz, Werner MünzingMünzing, Heinz den Zellentrakt. Die Tür wurde wieder aufgeschlossen, und die Beamten gingen in Raspes Zelle. »Da liegt eine PistoleStammheimer Waffen!«, rief einer der Beamten.

»Der lebt ja noch«, entfuhr es GötzGötz, Erich. »Vorsichtshalber nehme ich die Pistole weg.« Mit seinem Taschentuch ergriff er die Waffe vorn am Lauf und zog sie an sich. MiesterfeldMiesterfeld, Klaus holte ein Geschirrtuch und wickelte die Pistole ein. Götz steckte sein Taschentuch weg. Es klebte kein Blut daran.

Später waren sich die Beamten nicht einig, wo die Pistole tatsächlich gelegen hatte. Einer der Sanitäter meinte, sie habe sich auf Raspes geöffneter Hand befunden. Amtsinspektor GötzGötz, Erich erinnerte sich dagegen, er habe sie unter der geschlossenen Hand weggezogen. Verwertbare Fingerabdrücke waren nachher nicht mehr festzustellen.

RaspeRaspe, Jan-Carl ab Seite durchgängig erwähnt blutete aus Mund, Ohren und Nase. Er hatte an beiden Augen Blutergüsse, groß wie eine Kinderfaust. Die Sanitäter konnten auf den ersten Blick keine Schussverletzung feststellen. Ohne Raspes Lage zu verändern, alarmierten sie den Notarztwagen.

Gegen 8.00 Uhr traf der Unfallwagen des Roten Kreuzes ein. Zwei Sanitäter hängten RaspeRaspe, Jan-Carl ab Seite durchgängig erwähnt an den Tropf und legten ihn auf eine Trage. Wenig später kam auch der Notarzt. Unter Begleitung von zwei Justizbeamten wurde Raspe zum Katharinenhospital gebracht. Zwei Polizeifahrzeuge fuhren vorweg und machten die Straße frei.

Im Operationssaal war alles vorbereitet. RaspeRaspe, Jan-Carl ab Seite durchgängig erwähnt wurde geröntgt und ärztlich versorgt. Aber alle Hilfe war vergebens. Jan-Carl Raspe starb um 9.40 Uhr.

Nach Raspes Abtransport war um 8.07 Uhr die Tür zu Baaders Zelle geöffnet worden. Von innen lehnte eine Schaumstoffmatratze gegen den Rahmen. Sanitäter SoukopSoukop, Adolf schob die Matratze zur Seite und betrat die Zelle. Die Fenster waren verhängt. Es war so dunkel, dass er zunächst kaum etwas erkennen konnte. Baader lag auf dem Zellenboden, ausgestreckt, den Kopf in einer Blutlache. Der Mund stand offen, die Augen waren starr nach oben gerichtet. Der Sanitäter versuchte, den Puls zu fühlen, aber Baader war schon tot. Seine Hand war kalt. Links von ihm lag eine Pistole. »Guck, da haben wir die Bescherung, da liegt noch eine PistoleStammheimer Waffen«, sagte einer der Justizbeamten. Foto: Leiche Baader

Auf Anweisung eines inzwischen eingetroffenen Mitglieds der Anstaltsleitung wurde die Tür zu Baaders Zelle wieder verschlossen.

Da bei Baader in Zelle 719 nichts mehr zu retten war, hasteten die Beamten zur gegenüberliegenden Zelle 720. Wieder betrat der Sanitäter als Erster den abgedunkelten Raum. Links vom Eingang stand eine Art spanische Wand, hinter der Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt ihr Matratzenlager hatte. SoukopSoukop, Adolf tastete sich im Halbdunkel an der Stellwand entlang und sah dahinter. Er konnte die Gefangene nicht entdecken und rief laut nach ihr. Keine Antwort. Als er sich umdrehte, sah er zwei Füße unter der Decke hervorhängen, mit der das rechte Zellenfenster abgedunkelt war. In diesem Moment betrat der Anstaltsarzt Dr. Wolf MajerowiczMajerowicz, Wolf die Zelle. Er griff nach der Hand der Gefangenen. Sie war kalt.

 

Inzwischen eilten die Beamten weiter zur Zelle 725. Irmgard MöllerMöller, Irmgard, in Jeans und T-Shirt, lag zusammengekrümmt auf der Matratze, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Der Sanitäter fasste sie an der rechten Schulter, drehte sie auf den Rücken und zog die Decke weg. Irmgard Möller stöhnte. Adolf Soukop spürte Blut an seinen Händen. Er vermutete, sie hätte sich die Pulsadern aufgeschnitten, und untersuchte ihre Handgelenke. Als er keine Verletzungen finden konnte, schob er das schwarzblaue T-Shirt der Gefangenen hoch und sah, dass sie in der Herzgegend mehrere Stichverletzungen hatte. Er fühlte den Puls und stellte achtzig Schläge pro Minute fest. Dann versuchte er, ihr in die Pupillen zu sehen, aber Irmgard Möller kniff die Augen zusammen. Unterdessen betrat der Anstaltsarzt Dr. MajerowiczMajerowicz, Wolf die Zelle und untersuchte die Verletzte. Er kam zu dem Ergebnis, dass lebensgefährliche Stichwunden nicht vorlagen. Nach seinem Eindruck war Irmgard Möller bei vollem Bewusstsein. Er gab ihr eine Spritze mit einem Herz-Kreislauf-Mittel und deckte die Wunden ab.

Inzwischen war der zweite Notarztwagen eingetroffen. Irmgard MöllerMöller, Irmgard wurde in das Robert-Bosch-Krankenhaus gebracht. Rechts von der Matratze in Irmgard Möllers Zelle lag ein blutverschmiertes Anstaltsmesser auf dem Fußboden; ein normales, oben abgerundetes Besteckmesser mit Wellenschliff.

In der Abteilung für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie der chirurgischen Universitätsklinik stellten die Ärzte fest, dass Irmgard MöllerMöller, Irmgard vier eineinhalb bis zwei Zentimeter tiefe Stiche im unteren Viertel der linken Brust hatte. Bei der Operation zeigte sich, dass das Gewebe vor dem Herzbeutel blutig durchtränkt, der Herzbeutel selbst aber nicht verletzt war.

2.Die Befreiung

Am 14. Mai 1970 versah der Hauptwachtmeister Günter WetterWetter, Günter den Aufsichtsdienst im Verwahrhaus I der Strafanstalt Tegel in Berlin. Bei der Dienstbesprechung um 6.30 Uhr ordnete sein Vorgesetzter an, den Strafgefangenen Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt zum »Deutschen Zentralinstitut für soziale FragenInstitut für soziale Fragen« in der Dahlemer Miquelstraße auszuführen. Dort sollte Baader die Journalistin Ulrike Marie Meinhof treffen, um gemeinsam mit ihr Unterlagen einzusehen. Baader und Meinhof wollten ein Buch über die Organisation »randständiger Jugendlicher« schreiben.

Oberwachtmeister Karl-Heinz WegenerWegener, Karl-Heinz sollte WetterWetter, Günter begleiten. Vor der Ausführung musste sich Wetter noch zu einem kurzen Gespräch bei seinem Chef einfinden. Ihm blieb noch etwas Zeit, und er holte sich die Gefangenenakte Baaders. Auf einem Zettel notierte er sich das Geburtsdatum, 6. Mai 1943, die Straftat, »menschengefährdende Brandstiftung«, und das voraussichtliche Strafende, Anfang 1972. Dazu die Personendaten Baaders: »Größe 176 Zentimeter, schlank, Kopf oval, hohe Stirn, vorspringendes Kinn, Haar braun, Ohrläppchen frei hängend, Zähne lückenhaft.«

Dann nahm er ein Passfoto von Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt aus der Akte, wie es bei einer Ausführung vorgeschrieben war. Er holte sich vom Anstaltsleiter Wilhelm GlaubrechtGlaubrecht, Wilhelm die Ausführungsgenehmigung, in der die Einzelheiten festgelegt waren. Der Gefangene sollte Zivil tragen, die Beamten Uniform und Schusswaffen. Handfesseln sollten ebenfalls mitgenommen, aber nur bei Bedarf angelegt werden.

Baader wurde belehrt, wie er sich zu verhalten habe. »Es besteht keine Gefahr«, versicherte Baader. »Ich denke nicht daran abzuhauen. Schließlich habe ich einen Buchvertrag mit einem Verleger. Dafür bekomme ich eine ganze Menge Geld. Und das kann ich dringend brauchen.« WetterWetter, Günter wusste von dem Buchvertrag, dennoch wies er Baader vorschriftsmäßig darauf hin, dass die Beamten bei einem Fluchtversuch von der Schusswaffe Gebrauch machen würden.

Bis zum Eintreffen des Transportwagens wurde Baader in einer Zelle des Pfortengebäudes eingeschlossen. Die Beamten holten ihre Pistolen und schoben ein volles Magazin ein. Kurz darauf begann die Fahrt nach Dahlem. Um 9.20 Uhr stoppte das Fahrzeug vor dem Institut. »Spätestens um 13.30 Uhr können Sie uns wieder abholen«, sagte WetterWetter, Günter dem Fahrer. Oberwachtmeister WegenerWegener, Karl-Heinz fesselte seinen linken Arm mit einer Schließacht an Baaders rechten Arm und stieg zusammen mit dem Gefangenen aus dem Wagen. Wetter klingelte, und nach kurzem Warten öffnete der Institutsangestellte Georg LinkeLinke, Georg 73. Die Beamten zeigten ihre Dienstausweise und erklärten Linke den Grund ihres Besuches. Die Bibliothekarin Gertrud LorenzLorenz, Gertrud erschien in der Tür und führte die Dreiergruppe in den Raum neun.

Dort saß Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite bereits über Karteikästen. WetterWetter, Günter untersuchte eine zweite Tür und stellte fest, dass sie verschlossen war. Dann machte er die Fenster zu. Nachdem der Raum so gesichert war, nahm er Baader die Handfessel ab, um ihm die Schreibarbeiten zu ermöglichen. Baader bat um eine Tasse Kaffee, und ein Institutsangestellter servierte umgehend Pulverkaffee und heißes Wasser. Ulrike Meinhof erkundigte sich bei den Justizbeamten, ob sie verheiratet seien und Kinder hätten. »Ja«, antworteten sie, »Frau und Kinder.« Sie waren erstaunt über diese Frage und wunderten sich besonders darüber, dass die Journalistin von der Antwort irritiert schien. Ulrike Meinhof verließ einige Male den Raum, um neues Material zu holen. Dann setzte sie sich neben Baader und redete leise mit ihm.

Es klingelte an der Außentür. Der Institutsangestellte Georg LinkeLinke, Georg öffnete. Vor ihm standen zwei junge Frauen, die schon am Tag zuvor im Institut gewesen waren. Sie wollten direkt an Linke vorbei in den Lesesaal, aber der stellte sich ihnen in den Weg und verwies sie an die Bibliothekarin. »Ich hatte Sie doch gestern gebeten, erst am Nachmittag zu kommen«, sagte sie, »der Lesesaal ist besetzt.« Daraufhin nahmen die beiden Frauen an einem runden Tisch in der Eingangshalle Platz. Linke kehrte in sein Arbeitszimmer zurück.

Die Beamten im Lesesaal hatten den Eindruck, Baader und Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite würden intensiv arbeiten. Beide rauchten eine Zigarette nach der anderen. Um den verqualmten Raum zu lüften, öffnete einer der Beamten das Fenster einen Spaltbreit. Inzwischen war eine knappe Stunde vergangen. Plötzlich hörte Georg LinkeLinke, Georg Geräusche aus der Vorhalle. Er dachte, jemand habe die Außentür offen gelassen, und verließ sein Arbeitszimmer, um nach dem Rechten zu sehen. Die beiden Frauen standen neben der Eingangstür und betätigten den Summer zur Außenpforte.

Unmittelbar darauf wurde die Haustür aufgestoßen. Ein Mann mit einer grünen, grob gestrickten Kopfmaske, die nur die Augen freiließ, stürmte in die Eingangshalle. Ihm folgte eine ebenfalls vermummte Frau.

»Los, schnell in den Saal«, rief der Mann den beiden jungen Frauen zu. Linke versuchte, den Maskierten aufzuhalten, obwohl er zwei Pistolen in dessen Händen sah. Da fiel ein Schuss. Der maskierte Mann hatte mit der Gaspistole, die er in der einen Hand hielt, schießen wollen. Er schoss aber mit der anderen, der scharfen Pistole, die einen Schalldämpfer trug. Georg LinkeLinke, Georg wurde getroffen. Trotz seiner Verletzung lief er in sein Zimmer und schloss die Tür von innen ab. Dann versuchte er, die Durchgangstür zum Raum seiner Chefin abzuschließen. Als er keinen Schlüssel fand, ließ er sich auf den Boden fallen und hielt mit dem ausgestreckten Arm die Klinke hoch. »Springen Sie aus dem Fenster«, rief er zwei Kolleginnen in seinem Zimmer zu. Die Frauen sprangen. Als die beiden im Garten gelandet waren, kletterte auch Georg Linke aus dem Fenster. Die drei Institutsangestellten liefen auf die Straße und versuchten, die Nachbarn auf den Überfall aufmerksam zu machen. Erst jetzt bemerkte LinkeLinke, Georg das Blut an seinem Körper.Institut für Soziale Fragen

Die beiden Frauen, die von der Polizei später als Ingrid SchubertSchubert, Ingrid und Irene GoergensGoergens, Irene identifiziert wurden, rannten in den Lesesaal und schossen mit Tränengaspistolen um sich. »Überfall«, schrie eine. Ihnen folgten der maskierte Mann und die Frau, die ein KleinkalibergewehRAF Rote Armee Fraktion-Waffenr mit sich führte. Es war Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt. Der Justizbeamte Wegener, der dicht an der Tür saß, sprang auf und griff die Frau an. »Ich schieße«, schrie sie und drängte den Beamten in eine Ecke des Lesesaals. Dort entwickelte sich ein kurzes Handgemenge, bei dem WegenerWegener, Karl-Heinz der Frau eine rote Perücke vom Kopf riss. Darunter kamen kurze blonde Haare zum Vorschein.

Hauptwachtmeister WetterWetter, Günter griff den maskierten Mann an und schlug ihm eine der Pistolen aus der Hand, eine Beretta mit Schalldämpfer. Wetter riss seine Dienstwaffe aus dem Halfter und versuchte, sie durchzuladen. In diesem Moment schoss ihm der Mann mit der Pudelmütze eine Tränengasladung aus unmittelbarer Nähe in die linke Gesichtshälfte. Für einen Moment blind, gab Wetter zwei ungezielte Schüsse ab. Die Kugeln schlugen in die Wände. Als Erster sprang Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt aus dem Fenster, dann folgte Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite. Die anderen feuerten noch einige Tränengaspatronen ab und sprangen hinterher. Die Motoren von zwei Autos heulten auf. Dann war es still.

Wie verabredet hatte sich ein Helfer, der später nie identifiziert wurde, gegenüber im Theaterwissenschaftlichen Institut ans Fenster gestellt, um eine Zeitung hochzuheben, wenn keine Gefahr drohte. Er selbst war aber entschlossen, das »grüne Licht« auf keinen Fall zu geben. Er wollte die Befreiungsaktion sabotieren, weil er kurz zuvor erfahren hatte, dass Schusswaffen eingesetzt werden sollten. Vergeblich. Die Akteure im Haus gegenüber hatten das Signal gar nicht erst abgewartet und gleich geschossen.

Niemand sonst im Theaterwissenschaftlichen Institut hatte etwas von der dramatischen Situation gegenüber bemerkt. Erst als Schüsse fielen, liefen Besucher und Mitarbeiter ans Fenster. Sie sahen zum Teil vermummte Gestalten zur Straße rennen. »Guck mal«, sagte einer. »Was sind das da für welche? Die sind ja bewaffneRAF Rote Armee Fraktion-Waffent!« Die Beobachter hatten bis jetzt an einen studentischen Mummenschanz geglaubt, nun griffen sie zum Telefon und riefen die Polizei.

Draußen auf der Straße warfen sich gerade vier Frauen und zwei Männer in einen silbergrauen Alfa Romeo Sprint und einen zweiten, viertürigen Wagen. Am Steuer saß jeweils eine Frau.

 

An diesem Morgen hatte Astrid ProllProll, Astrid den schon einige Zeit zuvor von ihr beschafften zweitürigen Alfa Romeo vor dem Institut für soziale FragenInstitut für soziale Fragen geparkt, um auf die Befreiten zu warten. Nacheinander klemmten sich drei Frauen durch die Beifahrertür auf den Rücksitz, ein Mann nahm vorn Platz. Astrid Proll kannte den Fluchtweg, hatte ihn vorher einige Male abgefahren. Auf der kurzen Fahrt raste der Wagen über Kopfsteinpflaster und durch einige enge Kurven. Irene GoergensGoergens, Irene, ein Fürsorgezögling aus dem Berliner Heim »Eichenhof«, hatte sich hinter Astrid gesetzt. Plötzlich erbrach sie sich, warm lief es Astrid in den Nacken. Sie bekam eine Ahnung, dass irgendetwas schiefgegangen war.

In dem engen Wagen wurden Masken und Perücken gewechselt, Waffen und Jacken verstaut. In der Mitte saß Ingrid SchubertSchubert, Ingrid, die sich sieben Jahre später, nach dem Tod der Stammheimer Häftlinge, in der Vollzugsanstalt München-StadelheimJustizvollzugsanstalten:München-Stadelheim erhängte. Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt saß hinten rechts, stumm und angespannt. Alles ging sehr schnell. Astrid Proll hielt einige Male, und allein oder zu zweit verließen ihre Mitfahrer den Wagen, bis sie ihn in einer ruhigen Gegend abstellte, abschloss und wegging.

 

Um 12.45 Uhr erschien die Mordkommission am Tatort. Der 62-jährige Institutsangestellte Georg LinkeLinke, Georg wurde mit einem lebensgefährlichen Leber-Steckschuss in das Martin-Luther-Krankenhaus eingeliefert.

Die Befreiung Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnts war gelungen.

3.Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt

Der junge Mann, der am 14. Mai 1970 aus dem Fenster in die Freiheit gesprungen war und das Studium sozialer Fragen und einen alten angeschossenen Mann hinter sich gelassen hatte, war kurz zuvor 27 Jahre alt geworden.

Geboren wurde Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt am 6. Mai 1943 in München als Sohn des Historikers und Archivars Dr. Berndt Phillipp BaaderBaader, Berndt Phillipp 73, der seit 1945, nachdem er als Soldat in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten war, vermisst blieb.

Die Mutter hatte nicht wieder geheiratet.

Andi, wie er zärtlich genannt wurde, war ein von Mutter Anneliese BaaderBaader, Anneliese, der Großmutter und einer Tante verwöhntes Kind.

Intelligent, aber sprunghaft sei er gewesen, so das Urteil von Erziehern und Verwandten, faul, wenn ihn etwas nicht interessierte, aber von ausgeprägter Willensstärke.

Sein Vater hatte zu Beginn des Krieges an der Münchener Universität studiert. Als die Geschwister SchollScholl, Hans und Sophie verhaftet wurden, kam er erregt nach Hause und erklärte seiner Frau, nun müsse er in den Widerstand gehen.

»Damit setzt du die Existenz der Familie aufs Spiel«, warf seine Frau ein. Der Schritt in den Widerstand blieb aus.

»Weil er Angst hatte«, sagte Anneliese BaaderBaader, Anneliese später über ihren MannBaader, Berndt Phillipp, »das macht den Unterschied zwischen den beiden aus. Andreas hatte nie Angst. Er führte alles bis zur letzten Konsequenz durch.« Anweisungen oder gar Befehlen folgte Andreas als Kind nicht, ohne nach dem Warum zu fragen. Irgendwann gab die Mutter es auf, erzieherische Maßnahmen durchzusetzen. Es war schwer für sie, seine Handlungen und Reaktionen vorauszusehen. Mal teilte er uneigennützig alles, was er hatte, zog seinen Pullover aus, wenn er jemanden frieren sah, dann wieder konnte er bedenkenlos jemanden um Geld erleichtern.

Im Frauenhaushalt lehnte er sich gegen viele Rituale auf: Aus Protest wollte er sich nicht waschen, zum Essen musste er oft an den Ohren herbeigezogen werden; was ihm nicht schmeckte, das aß er nicht. Er ließ sich nicht konfirmieren, weil er den Religionsunterricht hasste, wollte seinen Geburtstag nicht feiern und versuchte, seiner Mutter das Weihnachtsfest auszureden.

In Diskussionen hatte er immer eine ausgeprägte Meinung und verteidigte sie bis zum Jähzorn. Er prügelte sich oft, aber nicht nur für seine eigenen Interessen.

Seine Großmutter hielt ihn keineswegs für brutal, sondern eher für weich. Sie vermisste den männlichen »Mumm« und vor allem eine jungenhafte Sportlichkeit. Sport hasste er, und wenn andere Bergtouren unternahmen, blieb er unten im Tal.

Schon in der Grundschule musste Andreas eine Klasse wiederholen, dennoch war seine Mutter der Auffassung, der Junge müsste Abitur machen. In der fünften Klasse blieb er »wegen Vernachlässigung seiner Hausaufgaben und Schwierigkeiten mit den Lehrern« erneut sitzen. Daraufhin meldete ihn seine Mutter auf dem Internat in Königshofen an. Er wohnte im evangelischen Schülerheim. Doch auch in der neuen Umgebung besserte er sich nicht. Im Juli 1956 schrieb ihm der Klassenlehrer ins Zeugnis: »Der SchülerSchüler, Manfred, der die Klasse wiederholt, hat eine blasse, kränkliche Gesichtsfarbe. Häufig versäumt er wegen Krankheit den Unterricht. Seine Begabung ist mittelmäßig, die Phantasie rege. Sein Denken wird von einer auffallenden Verträumtheit überschattet. Sein Arbeitseifer und seine Mitarbeit im Unterricht sind äußerst gering; hier fällt er höchstens durch sein vorlautes Benehmen auf. Er macht den Eindruck eines hoffnungslos verwöhnten Kindes, das jeder Schwierigkeit aus dem Weg geht.« Die Aussichten für ein weiteres Studium seien demnach sehr gering.

Die MutterBaader, Anneliese gab nicht auf und meldete Andreas auf dem Maximiliansgymnasium an. Der Klassenlehrer entwickelte eine gewisse Sympathie für den schwierigen Jungen: »Er besitzt eine überdurchschnittliche Intelligenz, ist fähig, logisch zu denken und kritisch zu urteilen. Seine Phantasie ist gut entwickelt.« Dennoch fiel Baader immer wieder auf. Die über zwanzig Einträge in seinem Personalbogen passten nicht auf eine Seite: dauerndes Schwätzen, fortgesetzte Schlamperei, fortschreitende Unterrichtsstörung, fortwährende Vergesslichkeit, ungezogene Bemerkungen zum Tode eines Lehrers. Verständnisvoll notierte der Lehrer: »Dass er in der 2. Klasse scheitert, ist am allerwenigsten seine Schuld. Es fehlt dem Buben die starke Hand zu Hause. Der Vater ist vermisst. Die Mutter ist berufstätig und bringt zu ihrer täglichen Berufsarbeit nicht die Kraft auf, dem Buben den fehlenden Vater zu ersetzen.«

Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt musste die Schule wieder verlassen. Seine MutterBaader, Anneliese brachte ihn auf einem Privatgymnasium unter. Dort hielt er es trotz dürftiger Leistungen und Verhaltensauffälligkeiten immerhin drei Jahre aus. Manche Lehrer mochten den schlampigen, rebellischen und dennoch charmanten Rüpel offenbar.

1959 bemerkte sein Klassenlehrer: »Seine Lausbubenstreiche unterscheiden sich nicht von denen anderer, sind aber immer mit Humor gewürzt. Gesamteindruck: Sympathisch, berechtigt zum pädagogischen Abwarten. Entsprechend der Begabung könnte der Schüler jederzeit die Hochschulreife erreichen.«

Als er siebzehn war, wollte Baader ein Jugendbuch über bessere Erziehungsmethoden verfassen. Wie viele in diesem Alter schrieb er Gedichte, interessierte sich für Literatur und Philosophie, las SartreSartre, Jean Paul, NietzscheNietzsche, Friedrich, BalzacBalzac, Honoré de, Thomas WolfeWolfe, Thomas und vor allem Raymond ChandlerChandler, Raymond.

An dem jugendlichen Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt schieden sich die Geister von Klassenkameraden, Nachbarn, Lehrern. »Bei ihm gab es nur zwei Möglichkeiten«, meinte seine Mutter, »entweder man liebte oder man hasste ihn.« Ein Mitschüler erinnerte sich: »Andreas war intelligenter als der Durchschnitt. Aber er war frech und aufsässig und wollte sich den Regeln nicht unterwerfen. Er war ein dunkler Typ, sah aus wie ein Franzose oder Ire, und er wirkte irgendwie romantisch. Eine Zeitlang hat er uns vorgespielt, Krebs oder Tuberkulose zu haben. Er lief in München herum, mit dem Gesicht eines Mannes, der wusste, dass er sterben muss, aber das Beste daraus machen will. Er tat immer so, als würde er Blut in sein Taschentuch husten, aber das Tuch blieb weiß.« Andreas Baader prügelte sich in der Schule so oft, dass sich der Schulleiter schriftlich bei der Mutter beschwerte: »Einen zweiten Baader könnte meine Schule nicht tragen.«

Der Schuldirektor war aber auch sicher: »Er war ein besonders begabter junger Mann. Damals nahm ich an, er würde irgendwann einmal Journalist oder Schriftsteller werden. Er schrieb hervorragende Aufsätze.« Während seines letzten Jahres auf der Oberschule entdeckte Baader den Reiz von Motorrädern. Auf einer gestohlenen Maschine raste er mit 120 Stundenkilometern durch den Englischen Garten. Er wurde beim Fahren ohne Führerschein erwischt und zu drei Wochen Jugendarrest verurteilt. Verkehrsdelikte waren fortan seine Spezialität. Er hat nie einen Führerschein besessen, jedenfalls keinen echten.

Die Schule musste Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt nun verlassen. Er war für »untragbar« erklärt worden. Mitschüler hatte er zum Motorraddiebstahl animiert, am Unterricht kaum noch teilgenommen oder ihn gestört.

Er schrieb sich für kurze Zeit an einer privaten Kunstschule ein und versuchte sich als Werbetexter. Nachts bewegte er sich dort, wo sich Münchener Schickeria, Halb- und Unterwelt und schöne Künste begegneten.

Arrivierte Homosexuelle zeigten sich gern mit dem aggressiven und exotischen Burschen, der sie seinerseits mit bösartigem Spott bedachte. Er deutete oft eine geheimnisvolle Herkunft an, irgendwo warte eine phantastische Zukunft und ein großes Erbe auf ihn.

In den Cafés saß er mit denen zusammen, die eine große künstlerische Zukunft planten. Dem damals unbekannten Rainer WernerWerner, Hans-Ulrich FassbinderFassbinder, Rainer Werner begegnete er oft. Fassbinder schrieb fünfzehn Jahre später zu seinem Terroristen-Film »Die dritte Generation«: »Ich schmeiße keine Bomben. Ich mache Filme.«

4.Der Sprung in die Illegalität

Die Befreier Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnts hatten an jenem 14. Mai 1970, der als GeburtsstundeRAF:Geburtsstunde der RAF angesehen wird, für den Fall, dass etwas Unvorhergesehenes geschehe, die Wohnung einer Freundin Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite 73s als Ausweichquartier vorgesehen. Sie war Schauspielerin und wohnte wenige Straßen vom ZentralinstitutInstitut für Soziale Fragen entfernt. Allerdings hatte niemand sie vorher gefragt.

Jetzt, da plötzlich Schüsse gefallen, ein Mensch schwerverletzt und aus dem geplanten Überraschungscoup ein Mordversuch geworden war, flüchteten die Akteure in diese Wohnung.

Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite klingelte an der Haustür. Die Freundin öffnete.

»Wir brauchen deine Solidarität«, sagte Ulrike der völlig ahnungslosen Frau. Die Frau war dazu bereit.

»So könnt ihr draußen nicht herumlaufen«, erklärte die 32-jährige Schauspielerin den Befreiern. Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt setzte sich auf den Klodeckel und ließ sich die Haare schneiden. Die Frauen wurden geschminkt und kostümiert. Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite, die mit offenen Haaren und in Jeans und Pullover an der Aktion teilgenommen hatte, wurde in das feinste Kleidungsstück der Schauspielerin gesteckt, ein blaues Kostüm mit engem Rock, taillierter Jacke und weißer Bluse. Am Nachmittag sollte sie im Bus nach Charlottenburg fahren. Dort wollte sich die Gruppe in der Wohnung des Kabarettisten Wolfgang NeussNeuss, Wolfgang treffen, der mit einer Fotografin zusammenlebte, der Schwester von Ulrike Meinhofs Anwalt Kurt GroenewoldGroenewold, Kurt. Beide waren die Erben eines Hamburger und Berliner Immobilien-Imperiums. Während die Polizei eine der größten Fahndungsaktionen der Nachkriegszeit einleitete, saßen fast alle Gesuchten in einer Wohnung, nur wenige hundert Meter entfernt von dem durch Polizei abgeriegelten InstitutInstitut für Soziale Fragen.

 

In den Ermittlungsakten der Berliner Kriminalpolizei findet sich dazu ein höchst sonderbarer Vermerk vom 26. Mai 1970: »Dienstlich wurde hier bekannt, dass am 14.5.1970 – dem Tage der gewaltsamen Befreiung Baaders – in der Cunostraße in Berlin 33, etwa in der Höhe des Grundstückes Nr. 107, ein blauer VW-Käfer für kurze Zeit geparkt hatte. Es handelte sich um ein VW-Cabriolet mit Klappverdeck. Einem sich dem VW nähernden Alfa Romeo, der in unmittelbarer Nähe des VW hielt, entstiegen eine weibliche und eine männliche Person, die sich in den VW setzten und mit diesem in Richtung Kirchstraße weiterfuhren.« Die Personen seien in höchster Eile umgestiegen. Eine habe dem Fahrer zugerufen: »Schnell, wir müssen uns beeilen.« Die weibliche Person, so der Vermerk weiter, sei Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite 73 gewesen. Der VW-Fahrer sei als Matthias L.L., Matthias identifiziert worden. Kurze Zeit später wurde der Alfa Romeo wenige hundert Meter entfernt verlassen aufgefunden.

Die Formulierung »Dienstlich wurde bekannt« heißt normalerweise so viel wie: »Das Landesamt für VerfassungsschutzVerfassungsschutz teilte uns mit.« Das bedeutet: Verfassungsschützer waren in der Nähe des Befreiungsortes. Ihre Beobachtungen decken sich allerdings nicht mit den Erinnerungen von Beteiligten. Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite 73 hatte nicht in Astrid ProllProll, Astrids Alfa gesessen.

 

Während Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite in dem VW zur Bushaltestelle gebracht wurde, blieb der Rest der Truppe in der Dahlemer Wohnung. Wie nach einer gelungenen Premiere wurde eine Flasche Sekt geöffnet. Baader klopfte dem ihm vorher unbekannten Schützen auf die Schulter: »Mann, ist ja gelaufen.« Doch der Mann war völlig fertig: »Hast recht«, antwortete er und schlug so hart zurück, dass Baader auf dem Fußboden landete. Das jedenfalls behauptete einer, der dabei gewesen war. Andere bestreiten die Schlägerei.

Baader und seine Befreier hörten den Polizeifunk ab, nur der Schütze machte sich auf den Weg. Er packte zwei KleinKlein, Hans Joachimkaliber-SchnellfeuergewehreRAF Rote Armee Fraktion-Waffen, die bei der Aktion nicht zum Einsatz gekommen waren, in einen Campingbeutel und nahm den nächsten Autobus. Am KaDeWe stiegen an die zwanzig Polizisten zu, um den Bus zu durchsuchen. Der Mann schaffte es, seinen Campingbeutel zu schultern und auszusteigen. Er ging die letzten Meter zu seiner Wohnung zu Fuß.

Am Abend trafen sich die Befreier und der Befreite in einer Hinterhauswohnung. Bis auf Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite 73 waren alle versammelt. Die Stimmung war gut, schließlich war die Aktion gelungen. Dass ein Mensch dabei lebensgefährlich verletzt worden war, wurde weggewischt.

Man diskutierte, wie es nun weitergehen sollte. Alle waren sich einig, dass die Gruppe Berlin so schnell wie möglich verlassen müsse. Auch wohin die Reise gehen sollte, war klar: in den Nahen Osten. Schon vorher waren Gespräche mit einem Vertreter der PalästinPalästinenserenser geführt worden, um WaffenRAF Rote Armee Fraktion-Waffen zu beschaffen. Der hatte ihnen aber ausgerichtet, dass die Fatah vor irgendwelchen Waffenlieferungen auf einer militärischen Ausbildung in Jordanien bestehen würde. So wurden die Aufgaben für die nächsten Tage und Wochen verteilt. Einige sollten die Reise organisieren, andere die nötigen Papiere besorgen und umfrisieren.

Am Abend traf ein Eingeweihter, der an der Aktion aber nicht beteiligt gewesen war, in einer Kneipe den Mann, der auf den Institutsangestellten Georg LinkeLinke, Georg geschossen hatte. Unter Tränen erklärte der Schütze immer wieder, dass er nicht habe schießen wollen. Es sei eine Kurzschlusshandlung gewesen, er habe aus Versehen statt der Gaspistole die scharfe Pistole abgefeuert.

Inzwischen lief die Fahndung nach Baader und seinen Befreiern auf vollen Touren. Die Litfaßsäulen wurden mit einem Steckbrief von Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite beklebt: »Mordversuch in Berlin. 10000 DM Belohnung«. Aber Ulrike Meinhof blieb verschwunden – nicht nur für die Polizei. Auch in der Gruppe wusste zwei Tage lang niemand, wo sie war. Man machte sich Sorgen. Aber Überlegungen, Ulrike Meinhof könnte sich abgesetzt haben, wurden beiseitegeschoben. Schließlich steckte sie in der Sache drin. Sie konnte nicht mehr aussteigen.

Ein Freund Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seites wurde beauftragt, festzustellen, bei wem sie Unterschlupf gefunden haben könnte. Nach mehreren vergeblichen Anläufen klingelte er an der Tür einer schwarzen Amerikanerin, Sympathisantin der »Black PanthersBlack Panthers«, einer militanten Farbigen-Organisation in den USA. »Ist Ulrike hier?«, fragte er.

»No«, sagte die Amerikanerin.

»Ich bin aber der Meinung, sie ist hier«, sagte der Besucher.

Die Frau drehte sich um und ging in die Küche. Einen Augenblick später kam Ulrike zur Tür und ließ den Freund herein. Sie machte einen ziemlich aufgelösten Eindruck. Auf dem Küchentisch lagen die Zeitungen mit den Schlagzeilen über die Befreiung Baaders. Die beiden redeten eine Viertelstunde lang, dann sagte Ulrike: »Die anderen können mich hier abholen.« Sie ließ kein Wort darüber fallen, warum sie sich zwei Tage lang nicht gemeldet hatte. Am späten Abend wurde Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite abgeholt.

Alle zogen gemeinsam in eine Wohnung. Einige erledigten die notwendigen Besorgungen, während der engere Kreis der vordringlich von der Polizei Gesuchten zumeist zu Hause blieb. Dort wurde fast jeden Tag Kalbsbraten gegessen, denn Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt hatte immer noch unter den Folgen einer Gelbsucht zu leiden, die er sich Monate zuvor zugezogen hatte, und durfte nur leichte Speisen zu sich nehmen.

Abends spielten die Frauen, Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite, Ingrid SchubertSchubert, Ingrid und Irene GoergensGoergens, Irene, häufig Skat. Ulrike war eine gute Spielerin.

Der Rechtsanwalt Horst MahlerMahler, Horst war noch »legal«, doch auch er plante seinen Abgang in den Untergrund. Am S-Bahnhof Halensee traf er sich mit einem Anwaltskollegen, der viele Jahre später am Kabinettstisch der Bundesregierung sitzen sollte. Kurz darauf fuhr Astrid ProllProll, Astrid ihn zum Ludwigkirchplatz, wo er sich mit Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite verabredet hatte. Ulrike trug eine blonde Perücke. »Wir waren über die Plakatfahndung nach Ulrike erschrocken und unvorbereitet«, erinnerte sich Astrid Proll später. »Keiner erlaubte sich den Gedanken, dass Meinhofs Unfreiheit der Preis für die Befreiung gewesen sein könnte. Wir schauten ausschließlich nach vorn, für Reflexion gab es keinen Raum. Die einsetzende Fahndung vereinte erst einmal.«

Vor der Verhaftung Baaders hatte Astrid Proll zunächst mit ihm und Gudrun Ensslin gemeinsam in der Jenaer Straße, nicht weit entfernt von Ulrike Meinhofs Wohnung in der Kufsteiner Straße, gewohnt. Während Andreas in Haft gewesen war, hatte sie allein mit Gudrun zusammengelebt. Wenn sie am Abend von ihrer Logistikarbeit für die anstehende Befreiung zurückgekommen war, hatte Gudrun gekrümmt auf dem Bett gesessen und Briefe an ihren Geliebten im Gefängnis geschrieben, Nacht für Nacht: »Manchmal kamen noch spät Meinhof oder MahlerMahler, Horst, um noch etwas zu besprechen. Obwohl ich beide gut kannte, war es gespenstisch. Ich fühlte für Gudrun, das Geheimnis um die Qual im Gefängnis hat es mir jedoch nicht verständlicher gemacht.«

Nach Baaders Befreiung wurde die Jenaer Straße vorübergehend zum Hauptwohnsitz der Gesuchten. In den sechs Wochen vor der Abreise in den Nahen Osten verbrachten sie ihre Zeit vor allem an Orten, die nicht von Berliner LinkeLinken besucht wurden. Am Kurfürstendamm spazierten sie mit Touristen umher, gingen ins Kino oder ins Café. »Wir gaben unsere bisherigen jungen Leben auf und lebten mehr und mehr von und in der Gruppe«, erinnerte sich Proll. »Baader und Ensslin fuhren jedes Mal mit einem großen Schlitten durch die Uhlandstraße in die City. Wir kauften Kleider für die Reise nach Jordanien. Gudrun kaufte bei Selbach auf dem Kurfürstendamm für Andreas eine halblange Badehose, mit der er später in einem Schwimmbad auffiel. Ensslin kaufte gern ein, für ihren Boyfriend und andere. Sie kaufte Qualität. Schon in Frankfurt überraschten wir Baader öfter mit einer neuen Hose. Das Einkaufen von guter Kleidung und Lebensmitteln spielte in den Jahren danach neben dem Nutzwert eine ebenso wichtige psychologische Rolle.«

Baader war ihr schon immer wie ein »typisches Männerprodukt der siebziger Jahre« vorgekommen. »Seine Freundin kümmerte sich um den Haushalt und schaffte alles ran. Er ließ sich von ihr anziehen, Kleider in die Reinigung bringen und bügeln. Sie bezahlte immer, er selbst trug nie Geld bei sich. So gesehen war er ein gut betreuter junger Mann.«

Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt vergaß nie die normalen Dinge des Lebens: »Als wir später in Kassel nach einem BanküberfalBanküberfalll eine Wohnung verlassen mussten, wischte sie noch schnell den Boden.«

Die Hälfte der Gruppe wurde inzwischen steckbrieflich gesucht. Es war ein heißer Sommer, und nachts gingen alle einige Male im Berliner Schlachtensee schwimmen. Baader war häufig als einziger Mann dabei. Er liebte Aktivitäten und Umtriebigkeit. »Sie verstauten ihre PistolenRAF Rote Armee Fraktion-Waffen unter der Kleidung, sprangen ins Wasser und schwammen ruhig unter nächtlichem Himmel. Es war schön und normal und markierte unsere Lebensfreude«, erzählte Astrid ProllProll, Astrid später. Bei einem der Ausflüge bekam eine der Frauen im Wasser einen Krampf und wäre fast ertrunken: »Wir konnten sie erreichen und ans Ufer retten.«

Inzwischen waren die Vorbereitungen für die Reise nach Jordanien abgeschlossen. Der PalästinenserPalästinenser Said DudinDudin, Said hatte Kontakte nach Jordanien geknüpft, die Flugtickets waren bei der DDR-Fluggesellschaft »Interflug« gebucht, und es waren per Telegramm neun Zimmer im Hotel »Strand« in Beirut bestellt worden.

Am 8. Juni 1970 um 9.20 Uhr sollte die erste Reisegruppe vom Ostberliner Flughafen Schönefeld starten. Zuvor aber wollte man noch etwas für die Öffentlichkeit tun.

Die französische Journalistin Michèle RayRay, Michèle, ehemaliges Chanel-Mannequin in Paris, die Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite 73 von der Zeitschrift »konkret«konkret her flüchtig kannte, wurde in Paris angerufen. Auf Englisch erklärte man ihr, sie möge »in einer wichtigen Sache, die die LinkeLinke betrifft«, nach Berlin reisen. Michèle RayRay, Michèle, damals 31 Jahre alt, im sechsten Monat schwanger, entschloss sich zu fahren, nachdem ihr der Anrufer noch ein paar Namen prominenter deutscher Linker als Referenz genannt hatte. Die Französin, verheiratet mit dem Filmregisseur Costa-GavrasCosta-Gavras, Constantin, war als engagierte Linke darauf spezialisiert zu beschreiben, was hinter der Front geschah. So hatte sie für den »Nouvel Observateur« aus VietnamDemonstration:Vietnamkrieg berichtet, in Bolivien die Spuren der tödlichen Jagd auf Che GuevaraGuevara, Ernesto Che verfolgt und im Mittleren Osten über die El Fatah geschrieben. Auch »konkret« hatte eine Titelgeschichte von ihr gedruckt: Eine Reportage aus einem nahöstlichen Camp für palästinensische Waisenkinder, die zu Kämpfern ausgebildet wurden.

Am 4. Juni um 11.00 Uhr morgens traf Michèle RayRay, Michèle auf dem Berliner Flughafen Tempelhof ein. Ein Kontaktmann mit dem Decknamen »LotharDecknamen« erwartete sie. Erkennungszeichen war ein roter Lenin-Band, den »Lothar« in der Hand hielt. Ein und eine Viertelstunde wurde die Journalistin mit U-Bahn, Taxi, U-Bahn und wieder Taxi durch die Stadt gefahren. Dann musste sie bis kurz nach Mittag in einem Appartement warten. Schließlich kam ein Anruf, und sie wurde wieder mit U-Bahn und Taxi quer durch die Stadt geschafft. Im oberen Stockwerk eines Mietshauses traf sie Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt, Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt und Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite. Alle drei hatten sich so verkleidet, dass sie kaum noch Ähnlichkeit mit ihren überall aushängenden Fahndungsfotos hatten. Ulrike Meinhof trug eine Perücke mit langen blonden Haaren und ein Minikleid. Horst MahlerMahler, Horst, der ebenfalls dazukam, hatte eine Perücke aufs schüttere Haupthaar gesetzt und sich Koteletten wachsen lassen. Auch der Anwalt wurde inzwischen gesucht; nicht offiziell, denn für die Baader-BefreiungBaader-Befreiung hatte er ein Alibi: Er hatte vor Gericht verteidigt. Dennoch wurde verdeckt nach ihm gefahndet.

Die Französin trank mit den Gesuchten Tee und aß frische Erdbeeren. Danach wurde Michèle RayRay, Michèle von »Lothar« wieder zurück in das erste Zwischenquartier geführt. Am Abend erschien Horst MahlerMahler, Horst und brachte ihr ein von Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite besprochenes Tonband. Am Morgen darauf, es war Freitag, der 5. Juni, traf man sich noch einmal zum Frühstück, und Michèle Ray erfuhr, was die Gruppe als Nächstes zu tun gedachte: Berlin zu verlassen und zu den palästinensischen FedayinFedayin zu gehen.

Michèle RayRay, Michèle übergab das Tonband dem »Spiegel«, der es in Auszügen abdruckte, so stand es jedenfalls im Blatt.

Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seites Antwort auf die Frage, warum Baader befreiBaader-Befreiungt worden sei: »Man kann sagen aus drei Gründen: Erst mal natürlich deswegen, weil Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt ein Kader ist. Und weil wir bei denjenigen, die jetzt kapiert haben, was zu machen ist und was richtig ist, nicht davon ausgehen können – auf irgendeine luxuriöse Art und Weise –, dass Einzelne dabei entbehrlich sind.

Das Zweite ist, dass wir als erste Aktion eine GefangenenbefreiungGefangenenbefreiung gemacht haben, weil wir glauben, dass diejenigen, denen wir klarmachen wollen, worum es politisch heute geht, welche sind, die bei einer Gefangenenbefreiung überhaupt keine Probleme haben, sich mit dieser Sache selbst zu identifizieren … Das Dritte ist, wenn wir mit einer Gefangenenbefreiung anfangen, dann auch deswegen, um wirklich klarzumachen, dass wir es ernst meinen.«

Dann kam Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite auf die Polizei zu sprechen: »Wenn man es hier mit den Bullen zu tun hat, wird argumentiert, die sind ihrer Funktion nach natürlich brutal, ihrer Funktion nach müssen sie prügeln und schießen, und ihrer Funktion nach müssen sie Unterdrückung betreiben, aber das ist ja auch nur die Uniform, und es ist nur die Funktion, und der Mann, der sie trägt, ist vielleicht zu Hause ein ganz angenehmer Zeitgenosse …

Das ist ein Problem, und wir sagen natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden.«

Das Tonband mit Ulrike MeinhofsMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite berühmt gewordener Erklärung ist nicht mehr auffindbar. Aber ein zweites Band mit ihrer Stimme fand sich Jahre später im »Spiegel«DerSpiegel-Archiv wieder. Darauf liest sie einen offenbar vorformulierten Text vor: »Den bewaffneten KampfKampf, bewaffneter organisieren, die KlassenkämpfeKlassenkampf entfalten, die Rote Armee aufbauen. Die Frage, ob es richtig ist, bewaffnete, das heißt illegale Widerstandsgruppen in der Bundesrepublik und Westberlin zu organisieren, ist die Frage, ob es möglich ist. Die Antwort darauf kann nur praktisch ermittelt werden, alles andere sind Spekulationen. Einige Genossen haben sich zu dieser Praxis entschlossen. Daran wird sich zeigen, ob genug Leute, ob genug psychische und physische Energie, genug Schlauheit, genug Disziplin, genug Unzufriedenheit und genug Klassenhass aktivierbar sind aus der Konkursmasse der StudentenbewegungStudentenbewegung, als Folge der sich international und national verschärfenden Klassenkämpfe. Um in der imperialistischen Bundesrepublik den Imperialismus tatsächlich angreifen zu können … Nur Opportunisten konnten die Baader-BefreiungBaader-Befreiung als abenteuerlich, putschistisch, anarchistisch abtun. Nachdem der Erfolg bewiesen hatte, dass sie unter der richtigen Einschätzung der eigenen und der Kräfte der Bullen durchgeführt worden war. Einen kurzfristig mobilisierenden Effekt erwarten und dann vermissen konnten nur Konsumenten der Aktion. Die Baader-Befreiung für den blinden Aktionismus eines unpolitischen Institutsangestellten verantwortlich zu machen, das ist das Bier der KlassenjustizKlassenjustiz … Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen. Schickt den Genossen im Knast Roth-Händle-Zigaretten, Milchschokolade mit Nuss, Obst, Vitamintabletten, Zeitungen, Bücher und Geld.«

Die Formulierung »der Typ in Uniform ist ein Schwein« und »natürlich kann geschossen werden« ist nicht auf diesem Tonband.

Erst im Frühsommer 2017 wurde im »SpiegelDerSpiegel« ein Brief von Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite aufgefunden, aus dem hervorgeht, was sich damals wirklich abspielte.

Damit ist klar: Der »Spiegel«DerSpiegel hatte einen schriftlichen Text, und das Tonband diente nur als Beleg für den direkten Kontakt mit Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite 73. Die Frage, ob der später berühmt gewordene Satz wirklich von ihr stammte – oder von BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt oder Ensslin hineinredigiert wurde – ist nach wie vor offen.

Ob der »Spiegel«DerSpiegel die verlangte Summe zahlte, ebenfalls.

5.Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite

Ulrike Marie Meinhof wurde am 7. Oktober 1934 in Oldenburg geboren. Ihr Vater entstammte einer alten württembergischen Familie, die geprägt war von einer Generationsfolge evangelischer Theologen.

WernerWerner, Hans-Ulrich MeinhofMeinhof, Dr.Werner brach die Schule ab und wurde Kunst- und Bauschlosser. Auf Druck der Familie holte er das Fachabitur nach und studierte in Halle Kunstgeschichte. Er wurde Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), bekam eine Stelle als Zeichenlehrer in Halle und promovierte in Kunstgeschichte. Im März 1928 wurde er nach vielen vergeblichen Bewerbungen wissenschaftlicher Assistent am Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte in Oldenburg.

Mit 24 hatte WernerWerner, Hans-Ulrich MeinhofMeinhof, Dr.Werner1925 die sechzehnjährige Ingeborg Guthardt kennengelernt, die ihn am liebsten sofort geheiratet hätte. Die Eltern bestanden darauf, dass ihre Tochter zunächst Abitur machen sollte. 1926 verlobten sich die beiden und heirateten am 28. Dezember 1928 in Halle. Ein Jahr später waren sie gemeinsam in Oldenburg, einer Stadt, in der die Nationalsozialisten schon früh den Ton angaben. Im Juli 1931 bekam Ingeborg MeinhofMeinhof, Ingeborg ihr erstes Kind, ein Mädchen, das auf den Namen Wienke getauft wurde.

WernerWerner, Hans-Ulrich MeinhofMeinhof, Dr.Werner trat am 1. Mai 1933, drei Monate nach HitlerHitler, Adolfs Ernennung zum Reichskanzler, unter der Mitgliedsnummer 285 63 34 der NSDAPNSDAP bei. Am 7. Oktober 1934 wurde eine zweite Tochter geboren, Ulrike Marie Meinhof. Einen Monat zuvor war die Familie einer kleinen christlichen Gemeinschaft, der »Renitenten Kirche ungeänderter Augsburgischer Konfession in Hessen«, beigetreten. Nach späteren Erzählungen in der Familie Meinhof gehörten der Oldenburger Gruppe der »Renitenz« gerade acht Mitglieder an, darunter die Familie Meinhof. Auch mit der nazikritischen Glaubenskraft der Gemeinde scheint es nicht weit her gewesen zu sein. Werner Meinhof, so berichtete später Ulrikes Schwester WienkeMeinhof, Wienke der Autorin Jutta DitfurthDitfurth, Jutta, hätten lediglich »einige Einmischungen des Staates in kirchliche Angelegenheiten« missfallen: »Er wollte, dass sein bewunderter, ja ›genialer Führer‹ Adolf HitlerHitler, Adolf die Deutsche Evangelische Kirche ernst nahm und sie in seinen politischen Kalkulationen ernst nahm.« Im Übrigen sei Werner Meinhof mit den politischen Verhältnissen zufrieden gewesen.

Ende Januar 1936 wurde Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seites Vater Museumsdirektor in Jena. Mitte Mai folgten ihm seine Frau und die beiden Töchter Wienke und Ulrike. Acht Monate lang leitete er dort die NSDAPNSDAP-Kreiskulturstelle. Die Familie lebte in der oberen Etage eines ehemaligen Altersheims mit einem großen Garten am Rande der Innenstadt. Im Frühjahr 1938 wurde das Haus von der Stadt Jena an die Heeresverwaltung verkauft, die Meinhofs zogen um in eine vierstöckige Villa mit Fachwerk, Türmchen und Erkern.

Als Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite knapp fünfeinhalb Jahre alt war, starb ihr Vater an Bauchspeicheldrüsenkrebs.

Die Mutter erhielt keine staatliche Pension. WernerWerner, Hans-Ulrich MeinhofMeinhof, Dr.Werner war nicht Beamter, sondern nur Angestellter der Stadt gewesen, die jedoch der jungen Witwe anbot, ihr nach der Heirat abgebrochenes Studium weiter zu finanzieren. Das städtische Stipendium war knapp, die Miete wurde zu teuer, die Studentin der Kunstgeschichte Ingeborg MeinhofMeinhof, Ingeborg suchte einen Untermieter.

An der Universität hatte sie eine junge Kommilitonin kennengelernt, eine gutaussehende, intelligente und energische Frau, die Geschichte, Germanistik und Kunstgeschichte studierte: Renate RiemeckRiemeck, Renate.

Die Frauen zogen zusammen und begannen eine Liebesbeziehung.

Ulrike und ihre SchwesterMeinhof, Wienke hatten von nun an zwei Mütter.

Zu Beginn ihrer Freundschaft mit Renate hatte Ingeborg gefragt: »Glauben Sie, dass wir den Krieg gewinnen werden?«

»Nein, ich glaube es nicht.«

»Aber ich glaube es.«

Renate RiemeckRiemeck, Renate schaltete im Radio die BBC-Nachrichten ein: »Ich glaube Ihnen nicht, wenn Sie sagen, Sie hoffen, Deutschland werde den Krieg gewinnen. Aber wenn Sie wollen, können Sie nun zur Gestapo gehen und denen sagen, ich hätte BBC-Nachrichten gehört.«

Ingeborg MeinhofMeinhof, Ingeborg ging nicht zur Gestapo.

So jedenfalls erzählte Renate RiemeckRiemeck, Renate später, und sie betonte, dass sie und ihre Freundin Ingeborg sich, ohne viele Worte zu machen, gegen die Nazis verbündet hätten. Auch Kontakte zu einer Widerstandsgruppe der Optischen Werke Zeiss/Jena habe es gegeben, nicht so, dass es ihnen hätte gefährlich werden können, aber die gemeinsame Ablehnung des Krieges und des Hitler-Regimes habe ihre Freundschaft gefestigt.

In dieses antifaschAntifaschismusistische Bild, das die linkeLinke Professorin Renate RiemeckRiemeck, Renate später zeichnete, passte allerdings nicht, dass sie am 1. Oktober 1941, wenige Tage vor ihrem 21. Geburtstag, unter der Mitgliedsnummer 891 51 51 in die NSDAPNSDAP aufgenommen wurde.

Beide Frauen promovierten und legten das Staatsexamen ab. Als der Krieg zu Ende war, wurde Jena zunächst von den Amerikanern besetzt. Doch entsprechend dem Abkommen von Jalta zogen sich die Amerikaner zurück, und Jena lag nun in der sowjetischen Besatzungszone. Die beiden Frauen und die Kinder luden ein paar Habseligkeiten auf einen Lastwagen und fuhren in Richtung Westen, nach Oldenburg, wo Freunde und Bekannte lebten. In einem Haus mit verwildertem Garten fanden sie eine Wohnung.

Die Stadt war voller Flüchtlinge aus dem Osten, die Schulen überfüllt. Für Ulrike fand sich nur noch ein Platz in der von katholischen Schwestern geführten Liebfrauenschule.

Renate RiemeckRiemeck, Renate und Ingeborg MeinhofMeinhof, Ingeborg legten am neuen Wohnort ihr zweites Staatsexamen ab und wurden Lehrerinnen. Beide waren 1945 der SPDSPD beigetreten.

Im März 1949 starb Ulrikes Mutter nach einer Krebsoperation an einer Infektion. Von nun an war Renate RiemeckRiemeck, Renate die Mutter der beiden Töchter ihrer Freundin.

Später soll Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite einmal gesagt haben: »Als meine Mutter starb, ist für mich die ganze Welt gestorben.«

Renate RiemeckRiemeck, Renate war eine erfolgreiche Pädagogin, die sich auch mit wissenschaftlichen Büchern einen Namen machte. 1951 wurde sie Dozentin an der Pädagogischen Hochschule in Oldenburg, im selben Jahr Professorin in Braunschweig. Ulrike blieb in Oldenburg. »Die Kehrseite der Einsamkeit war relative Freiheit«, schrieb Jutta DitfurthDitfurth, Jutta2007 in ihrer Meinhof-Biographie, für die sie die Informationen über Ulrikes Jugend im Wesentlichen von Ulrikes Schwester Wienke bekam. Ulrike habe sich damals zwar für Jungen interessiert, »aber da gab es ein Mädchen, Maria, hübsch, klug und warmherzig«. Ulrike habe sich in Maria verliebt. Später habe Ulrike einmal gesagt, sie habe sich mit ein paar Jungs eingelassen, bevor sie Maria begegnet sei.

1952 wurde Renate RiemeckRiemeck, Renate Professorin am Pädagogischen Institut in Weilburg. Ulrike zog mit ihr nach Weilburg und bewunderte ihre Pflegemutter so sehr, dass sie sie zuweilen imitierte. Renate trug Hosen, Ulrike auch. Renate ließ sich die Haare kurz schneiden, Ulrike ebenfalls. Ulrike versuchte sogar, die Handschrift ihrer Pflegemutter nachzuahmen. Später sagte sie einmal über Renate Riemeck, sie sei »der Prototyp der sadistischen Heimleiterin« gewesen.

Sie lernte viel von der nur vierzehn Jahre älteren Professorin, die sie mit der Geschichte und Literatur des 19. Jahrhunderts bekannt machte. In der Schule, dem Philippinum in Weilburg, war Ulrike außerordentlich beliebt und galt als ein ungewöhnliches Mädchen, das durch Charme und Intelligenz beeindruckte. Sie las Klassiker und moderne Schriftsteller, legte ihr knappes Taschengeld in Büchern an und fühlte sich, nach den Jahren auf der Oldenburger Schwesternschule, zum Katholizismus hingezogen.Meinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite 73

Doch das ernste Mädchen hatte auch Vorlieben, die damals recht ungewöhnlich waren. Sie rauchte Pfeife und selbstgedrehte Zigaretten, und manchmal tanzte sie bis zur Erschöpfung Boogie-Woogie. Und sie widersprach in der Schule, wenn sie etwas als ungerecht empfand. Einem Lehrer, der Wissen und Autorität durch Brüllen ersetzte und sie einmal anschrie, antwortete sie: »Herr Studienrat, es ist nicht üblich, mit einer Schülerin der Oberstufe so laut zu sprechen!« Der Studienrat lief rot an und schrie weiter. Da packte sie ihre Sachen, stand auf, sagte »dann gehe ich jetzt« und verließ den Unterricht. Konferenzen wurden abgehalten. Ulrike sollte von der Schule fliegen. Renate RiemeckRiemeck, Renate schaltete sich ein. Ulrike durfte bleiben.

Sie arbeitete in der Schülermitverwaltung, wurde Mitglied der Europabewegung, war Mitherausgeberin einer Schülerzeitung. Als engagierte junge Christin schrieb sie 1955 in ihrer Abiturarbeit: »Die Begegnung mit dem Katholizismus war eine große Bereicherung für mich. Wir evangelischen Schülerinnen stießen dort auf echte Toleranz in dem gemeinsamen Bewusstsein der eigentlichen Wahrheit des Christentums …« Während der ersten Semester ihres Studiums setzte sie sich in einer aus der evangelischen Jugendarbeit hervorgegangenen Erneuerungsbewegung für die Aufnahme katholischer Elemente in die protestantische Liturgie ein.