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Für Irene beginnt heute ihr dritter Tag im Bannwald. Nach den gestrigen Geschehnissen, gewöhnt sich ihr Verstand nun doch langsam an das Vorhandensein realer, lebendiger Magie. Aber die Gefahren für die Freunde nehmen täglich zu und heute müssen sie sich schier unlösbaren Aufgaben stellen. Die anfangs für Irene so faszinierende Welt der Magie, scheint sie nun immer öfter auf die Probe zu stellen. Kann die Entdeckung eines intakten Nestes, der für längst ausgestorben gehaltenen Drachen, vielleicht mehr sein, als nur ein überraschender Fund? Welche Geheimnisse könnten die Drachen lüften und waren sie tatsächlich die Monster, für die man sie so lange hielt? Und was ist mit dieser roten Magieform? Ist sie stärker als die Magier, stärker als Irene? Muss sich Irene geschlagen geben?
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Seitenzahl: 313
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Kapitel 1 Der rote Käfig
Kapitel 2 Phönixzauber
Kapitel 3 Das Nest
Kapitel 4 Neue Drachen
Kapitel 5 Drachenzauber
Kapitel 6 Vor dem Rat
Kapitel 7 Drachenwissen
Kapitel 8 Im Zauberwald
Kapitel 9 Josephus
Kapitel 10 Rot
Kapitel 11 Neue Magie
Epilog
Ich bin Nimrodus, wurde 1962 in Alzey geboren, bin seit 1994 schriftstellerisch tätig. Als Gegenstück zu meiner langjährigen handwerklichen Arbeit bin ich schon immer begeisterter Leser, der sich für Philosophisches, Gedichte, Fantasy und Sci-Fi interessiert.
Doch das Lesen war mir nicht genug, ich wollte auch meine eigenen Geschichten zu Papier bringen und begann mit dem Schreiben. Vor vielen Jahren habe ich vom Handwerk zum Schreibtisch-Job gewechselt, aber meine Leidenschaft zum Lesen und zum Schreiben ist ungebrochen.
Ich schreibe schon seit vielen Jahren und habe früher mit Begeisterung vor allem Kurzgeschichten und Gedichte verfasst.
Nach fast 10jährigem „stillen Schriftstellertum“ kam dann 2004 mein erstes Werk „Die verlorene Menschlichkeit“ auf den Markt, gefolgt von meinem ersten Band der „Geschichten aus dem havana“ einer Café Bar in Alzey.
Ende 2005 erschien dann der erste reine Gedichtband mit „Bist du es…?“, ein Büchlein voller Sehnsucht, Verlangen und Liebe.
Im September 2006 veröffentlichte ich dann meinen ersten Fantasy-Roman „Der Bannwald – Eine Legende entsteht“, von welchem es mittlerweile noch zwei weitere Teile „Der Bannwald – Die Feleriane“ und „Der Bannwald – Neue Drachen“ gibt. Weitere Teile sind in Arbeit.
An ihrem dritten Morgen im Bannwald erwacht Irene in Fedors Schlafzimmer. Als sie ihren Kopf nach links zum Fenster wendet und die Sonne auf ihren Liedern spürt, reibt sie sich noch etwas verschlafen die Augen. Dann streckt sie ihren rechten Arm aus, um Fedor zu berühren, greift jedoch ins Leere. Sie dreht den Kopf zur rechten Seite und blickt enttäuscht auf das leere Bett. Doch nur kurz überlegt Irene, bevor sie die Decke zurückschlägt, sich aufsetzt und gleichzeitig mit leichtem Schwung ihre Beine über die Bettkante baumeln lässt.
Sie schaut an sich herunter und betrachtet, wie schon am Abend zuvor, das zarte und fein gearbeitete Nachthemd, das ihr Fenja gestern noch, mit Hilfe der Magie erschaffen hatte. Es ist ein weißes Nachthemd, das mit den rotbraunen Farben der Heilmagier durchwoben ist. Fedor ließ es sich einfach nicht nehmen, noch einige Schutzzauber auf ihr Nachtgewand zu legen, bevor sie zu Bett gingen.
Fedor ...
Irenes Gedanken kreisen um die überaus angenehmen Ereignisse der letzten Nacht. Für sie ist Fedor mehr, als nur ein außergewöhnlicher Mann. Irene fragt sich, ob seine Qualitäten oder Fähigkeiten, die eigentlich in den normalen, zwischenmenschlichen Bereich gehören, auch von der Magie beeinflusst werden. Nach dieser Nacht wird sie nicht anders können, als ihn darauf anzusprechen. Noch während sie langsam aufsteht und sich ihre Kleidung holt, beschließt sie, dieses Vorhaben im passenden Moment umzusetzen.
Gerade als sie zur Tür geht, um sich ins Bad zu begeben, klopft es. Kaum hat Irene »herein« gesagt, steht auch schon Fenja vor ihr.
»Guten Morgen Irene. Ich hoffe, du hattest eine angenehme Nacht und konntest dich von dem gestrigen Tag ein wenig erholen.«
»Guten Morgen Fenja«, erwidert Irene mit einem deutlich sichtbaren Grinsen.
»Danke der Nachfrage. Ich hatte eine wirklich angenehme Nacht. Und ja, ich konnte mich in der Tat noch ein wenig erholen. Aber könntest du mir sagen, wo Fedor ist? Ich habe gar nicht mitbekommen, wann er aufgestanden ist.«
»Fedor ist schon mit Adalbert unterwegs. Er kam vor Sonnenaufgang hier an und hat Fedor wohl durch seinen Annäherungszauber geweckt. Aber alles Weitere würde ich dir gerne beim Frühstück erzählen. Ich habe dir Handtücher und frische Kleidung ins Bad gelegt. Wenn du fertig bist, werden wir frühstücken und ich werde dich über den weiteren Verlauf der gestrigen Geschehnisse unterrichten. Ich vermute, dass Fedor bald zurückkommen wird, um dich abzuholen. Ich bereite derweil das Frühstück vor und warte unten auf dich.«
Ohne eine weitere Reaktion, der gerade neugierig gewordenen Irene abzuwarten, dreht sich Fenja um, geht den kurzen Flur entlang und ist gleich danach am Ende der Treppe verschwunden. Kurz darauf steht Irene kopfschüttelnd unter der Dusche, die nicht ganz so ausgiebig ausfällt, wie sie es eigentlich vorhatte.
Als sie nur wenige Minuten später am Frühstückstisch erscheint, steht schon eine dampfende Schale Fruchtmilch auf ihrem Platz. Auf zwei großen Tellern in der Mitte des Tisches sind mehrere, verschiedenartig belegte Brote angerichtet, die sowohl mit Honig und Marmelade, wie auch mit Wurst und Käse belegt sind. Doch noch, bevor Irene ihre erste Frage stellen kann, hebt Fenja ihre Schale Fruchtmilch hoch und prostet Irene zu.
»Lass uns erstmal einen kräftigen Schluck nehmen, bevor sie vielleicht noch im Verlauf des Gespräches kalt wird.«
Beide genießen einige Schlucke, dieser köstlichen, warmen und fruchtig schmeckenden Milch, bevor Irene, die Fenja die ganze Zeit fragend anschaut, ihre erste Frage stellt.
»Also, mich würde schon sehr interessieren, was gestern noch alles geschehen ist, nachdem ich - das Bewusstsein verloren hatte. Fedor hat gestern Abend nur Andeutungen gemacht und ich ... naja. Wir haben dann nicht mehr darüber gesprochen.«
Fenja zeigt Irene ein überaus breites Grinsen, bevor sie mit ihren Erklärungen beginnt.
»Die Tatsache, dass du dein Bewusstsein verloren hast, schreibt man dem Umstand zu, dass du eine so große Zahl an magiebegabten Wesen unter einer Aura zu vereinigen hattest. Doch scheinst du tatsächlich jeden Einzelnen damit erreicht zu haben, denn von keinem Mitglied war zu vernehmen, dass er deine Aura nicht gespürt hätte. Du hast erneut einen wahrhaft großen Zauber gewirkt, an dessen Gelingen wohl nur sehr wenige Mitglieder unserer magischen Gemeinde wirklich geglaubt haben. Erneut ist dir hier, mit Hilfe der Waldmagie, das bisher Unmögliche gelungen. Um es mit Wilhelms Worten zu sagen, rangierst du jetzt auf der Bestenliste der Magier auf Platz eins.«
Irene schaut jetzt Fenja mit ungläubigem Blick an und verbirgt dann für kurze Zeit ihr Gesicht in den Handflächen. Als sie ihren Kopf hebt und Fenja anschaut, ist ihr eine sanfte Röte ins Gesicht gestiegen.
»Irgendwie habe ich sowas kommen sehen. Aber ich versuche mich mit dem Gedanken zu trösten, dass ich noch viel zu viel über die Magie zu lernen habe, als dass ich wirklich schon einen Titel oder gar eine derartige Achtung oder Ehrung verdient hätte. Ich werde mich wohl beim Katalogisieren der Wächterbäume nützlich machen und hoffe mal, dass ich so ein wenig aus der Schusslinie der Öffentlichkeit komme. Aber erzähle doch bitte weiter Fenja. Was ist danach geschehen? Und was hat der Rat jetzt vor und wie wird er jetzt reagierten? Gibt es schon einen Termin für eine neue Sitzung? Und was wird jetzt als Nächstes unternommen?«
»Nimm dir doch bitte etwas zu essen«, erwidert Fenja und schiebt mit einem Schmunzeln die beiden Teller ein Stück näher an Irene.
»Währenddessen werde ich versuchen, dir die Ereignisse der vergangenen Nacht zu schildern. Wie schon erwähnt, ist es gelungen, Rolands Tor zu schließen. Der Flammenzauber fiel so stark aus, dass dabei ein beträchtlicher Teil der ganzen Felsformation geschmolzen ist.
Eine ganze Menge unserer gelehrten Magier haben die ganze Nacht damit verbracht, den neuen Verschluss des Tores, sofern es noch existiert, zu untersuchen. Soweit diese Magier bisher feststellen konnten, ist dieser von so starker Magie, dass sie sich nicht vorstellen können, dass er jemals gebrochen werden kann.
Gleich nach dem erfolgreichen Verschließen hat der Rat mit den anderen Dörfern Kontakt aufgenommen und ließ im gesamten Bannwald nach eventuell verbliebenen Felerianen suchen. Aus allen Gemeinden wurden Kundschafter ausgesandt, um nach ihnen auf die Suche zu gehen. Wenngleich auch jetzt noch ständig Meldungen eintreffen, so geht man doch davon aus, dass tatsächlich nicht ein Felerian überlebt hat.
Allerdings sind einige Magier in der Nähe des Nistplatzes auf Spuren sehr alter Magie gestoßen. Deswegen kam Adalbert heute Morgen vorbei und hat Fedor abgeholt. Sie sind beim Rat, wo gerade darüber gesprochen wird, wer zu weiteren Untersuchungen dorthin geschickt wird. Ich vermute sehr stark, dass Adalbert und Fedor dazugehören werden. Und wenn ich deinen Blick gerade richtig deute, wirst du es dir wohl nicht nehmen lassen, Fedor zu begleiten.«
»Aber auf keinen Fall lasse ich mir das nehmen. Wenn Fedor irgendwo hingeht, möchte ich natürlich dabei sein. Zum einen interessiert mich dieser Nistplatz sehr und zum anderen ist es eine willkommene Gelegenheit, um aus dem Blickfeld der Leute zu gelangen. Wenngleich ich auch sagen muss, dass ich irgendwie das ungute Gefühl habe, mit dieser Aktion mal wieder ins Fettnäpfchen zu treten.«
Fenja grinst Irene an und nimmt sich, wie auch ihr Gegenüber, ein Dunkelbrot mit Bratwurst vom Teller. Doch noch, bevor die beiden die Hälfte ihrer Mahlzeit verzehrt haben, öffnet sich die Haustür und Fedor betritt, gefolgt von Adalbert das Zimmer.
Irene legt ihr belegtes Brot ab und spült den letzten Bissen mit einem kräftigen Schluck Fruchtmilch hinunter.
»Bei euch stiehlt man sich also ohne ein erklärendes Wort aus dem Bett und verlässt das Haus!«, sagt Irene mit sehr ironischem Unterton zu dem jetzt näher kommenden Fedor.
»Eigentlich hatte ich ja gehofft, heute Morgen neben dir aufzuwachen. Aber stattdessen muss mich die Sonne wach küssen und mein Arm, der dich gesucht hat, greift ins Leere. Ich weiß nicht, ob du das jemals wieder gutmachen kannst«, fügt sie noch hinzu und schaut ihm mit einem schelmischen Grinsen in die Augen.
Bevor Fedor mit hochgezogenen Augenbrauen Irene umarmt, die wortlos einen »jetzt hast du's dir verdorben« Blick zeigt, schaut er ihr in die Augen. Sein Blick hat nichts von einem schuldbewussten Teenager, der glauben muss, einen Fehler gemacht zu haben. Noch bevor er Irene küsst, schließt er seine Augen und lässt einige Bilder, der gemeinsam verbrachten Nacht, in sich aufsteigen. Augenblicklich wird der Kuss intensiver und inniger.
Erst das Räuspern Adalberts kann sie aus ihrer gemeinsamen Erinnerung reißen.
»Ich unterbreche euren Austausch von Zärtlichkeiten ja nur sehr ungern«, setzt Adalbert an, »aber wir hätten da noch eine Kleinigkeit zu erledigen, bevor wir uns am Nachmittag wieder mit dem Rat treffen wollen. Gereon, Wilhelm, Fedor und ich wollen uns gleich auf dem Marktplatz treffen, um gemeinsam den letzten Nistplatz der Feleriane aufzusuchen. Theobald wartet dort schon auf uns, um uns die Stelle zu zeigen, an der sie eine etwas außergewöhnliche Form von Magie entdeckt haben.«
»Ach«, wirft jetzt Irene etwas gereizt ein, »und da geht man noch mal kurz zuhause bei den Damen vorbei und sagt ihnen Bescheid, dass sie mit dem Essen nicht warten sollen, weil es ja etwas später werden könnte.«
»Das hätten wir auch über den Spiegel tun können«, entgegnet Fedor, noch bevor Irene für ihren nächsten Satz Luft holen kann.
»Eigentlich sind wir gekommen, um euch beide zu fragen, ob ihr uns begleiten wollt. Ihr müsstet nur eure Schutzanzüge anziehen, während ich etwas Reiseproviant zusammenpacke.
Aber wenn ihr lieber zuhause bleiben wollt und das Essen vorbereiten ...«, setzt Fedor mit einer hochgezogenen Augenbraue und dem Zucken beider Schultern nach.
»Das könnte euch so passen«, erwiderte Irene sofort. »Die Herren ziehen zu weiteren Abenteuern in die Welt hinaus und die Damen bleiben als Heimchen am Herd. Sorry mein Schatz, aber ich glaube nicht, dass das so laufen könnte.«
»Ich liebe es Irene«, erwidert Fedor darauf mit sanfter Stimme, »wenn du so herzlich energisch versuchst mir einen Standpunkt zu erklären, der eigentlich doch auch der meine ist.«
»Bevor noch weitere Spielereien beim Ausfechten unterschiedlicher Meinungen entstehen«, wirft jetzt Adalbert ein, »wird es langsam Zeit, dass wir aufbrechen. Wilhelm und Gereon werden schon am Marktplatz auf uns warten.«
»Dann wollen wir die Herren doch nicht warten lassen und werfen uns mal in unser reizvolles Blaues«, sagt Irene mit einem schmunzelnden Seitenblick zu Fenja.
Als die beiden Frauen, nach für Fedor erstaunlich kurzer Zeit, wieder in der Küche erscheinen, hat dieser schon ihren Reiseproviant zusammengepackt. Adalbert und Fedor stehen gleichzeitig auf und kurze Zeit später treffen unsere Freunde am Marktplatz auf Wilhelm und Gereon. Beide haben große, verschnürte Rucksäcke neben sich stehen, die sie sofort schultern, als ihre Freunde eintreffen. Nach einer kurzen, aber für Wilhelm und Fenja sehr intensiven Begrüßung, legt Adalbert die Hand an den Stamm des Wächterbaumes und sagt: »Torraum.« Wieder vergehen einige Minuten, bis sie den Torraum eines weiteren Wächterbaumes verlassen. Noch während sich Irene, in der für sie neuen Umgebung umschaut, meldet sich Wilhelm zu Wort.
»Wir müssen in diese Richtung«, sagt er und nimmt Fenja an die Hand.
»Hier ist es irgendwie finster«, sagt Irene zu Fedor, die gerade nach seiner Hand greift.
»Und ich kann weder einen Pfad, geschweige denn einen Weg erkennen. Was macht Wilhelm so sicher, dass wir ausgerechnet in diese Richtung müssen? Dort hinten scheint es mir irgendwie noch dunkler zu werden.«
»Ja mein Engel«, antwortet Fedor. »In dieser Gegend des Waldes wachsen die Bäume um einige Meter höher und haben ein dichteres Blätterdach, als in anderen Bereichen. Deswegen ist es hier etwas dunkler. Wege und Pfade gibt es in diesem Teil des Waldes nicht. Seit dem ersten Auftauchen der Feleriane verirren sich nur sehr selten die Menschen hierher.
Und Wilhelm weiß genau wo es lang geht, schließlich war er bei dem Erkundungstrupp, der heute Nacht den Nistplatz erforscht hat. Wenn ich seine Beschreibungen heute Morgen richtig verstanden habe, wird sich nach ungefähr fünfhundert Meter eine große Lichtung, mitten im dunklen Wald öffnen. Und genau dort befindet sich der ehemalige Nistplatz der Feleriane. Wenigstens wachsen wegen der Dunkelheit keine Hecken am Boden und das wenige Unterholz ist leicht zu umgehen. Wenn alles gut geht, sollten wir in einer viertel Stunde die Lichtung erreichen. Ich hoffe du hast gut gefrühstückt und nicht allzu viel Angst davor, mit uns durch diesen Teil des Waldes zu gehen.«
»Ich habe ein wenig gefrühstückt«, antwortet Irene sofort. »Und wenn du bei mir bist, habe ich keine Angst. An deiner Seite fühle ich mich geborgen und beschützt.«
Plötzlich zieht Fedor an Irenes Hand, die gerade noch stehen bleibt, bevor sie auf den, vor ihnen stehenden Gereon prallen kann. Wilhelm ist abrupt stehen geblieben und seine linke Hand zeigt zum Himmel, während seine rechte den Efeukreis unter seinem Hemd umfasst. Auch Adalbert berührt mit seiner linken den Knoten seines Gürtels, der daraufhin deutlich sichtbar um einige Zentimeter weiter wird.
Wie auf ein ungesagtes Kommando ziehen, bis auf Irene, alle ihren Zauberstab.
Doch noch bevor sich die Freunde über ihr weiteres Vorgehen Gedanken machen können, brechen die Ereignisse schon über sie herein.
Zuerst bildet sich nur wenige Meter vor Wilhelm ein roter Funkenregen, dessen Entstehen von dem Geräusch brechender Zweige begleitet wird. Als Irene geräuschvoll ihren Zauberstab zieht, dreht Adalbert sich ruckartig um und Fedor drückt Irenes Hand nieder. Er schüttelt den Kopf und gibt Irene zu verstehen, dass sie jetzt auf keinen Fall einen Feuerzauber weben soll. Alle schauen auf die sich langsam aus roten Schneeflocken bildende Kugel.
Gereon schließt die Augen und lauscht der immer lauter werdenden Geräuschkulisse des Waldes. Das Knacken der Zweige wird immer lauter, bis es urplötzlich abbricht. Gereon öffnet seine Augen und schaut nach oben.
Er kann gerade noch »Achtung Äste!« rufen, als auch schon die ersten auf sie herab regnen. Zeitgleich entsteht in den Köpfen unserer Freunde ein einzigartiges und sehr deutliches Bild.
Es zeigt, wie Irene und Fenja auf dem Boden kauern und von den, über sie gebeugten Körpern ihrer Freunde, vor den herabregnenden Ästen geschützt werden.
Augenblicklich drücken Fedor und Wilhelm, der sich mittlerweile umgedreht hat, Irene und Fenja zu Boden. Als die beiden Frauen auf dem Boden kauern, umfassen sich die Männer an den Schultern. Noch während Adalbert versucht, mit einigen Teilen seines Umhangs ihre Köpfe zu schützen, beugen sie sich im Kreis nach innen und bilden so einen schützenden Iglu aus Menschenleibern.
Der Regen aus abgebrochenen Ästen wird immer intensiver. Plötzlich schaut Fenja nach oben, geht auf ihre Knie und berührt ihre Freunde nacheinander an der Brust.
»Angriffsmodus«
Fast augenblicklich erscheinen die Kapuzen und Handschuhe der blauen Schutzanzüge, die sich sofort aufblähen, um ihren Trägern Schutz zu verleihen.
Als auch Irene und Fenja ihre Anzüge in Angriffsmodus versetzt haben, erzittert der Waldboden unter ihnen, so als würden mehrere riesige Felsbrocken um sie herum einschlagen.
Noch bevor der, aus Magierhand heraufbeschworene Regen aus abgebrochenen Ästen und Zweigen aufhört, sinken Adalbert, Wilhelm, Gereon und Fedor unter dem übermenschlichen Gewicht der Äste auf ihre Knie.
Irene und Fenja können gerade noch die Köpfe einziehen und sich unter den näher kommenden Männern auf die Seite fallen lassen. Doch sofort zieht Fenja geistesgegenwärtig ihren Zauberstab aus der Tasche, den sie beim Herabfallen der ersten Äste vorsichtshalber in die Tasche steckte, zeigt damit nach oben zu den Gesichtern ihrer Freunde und beginnt eine Melodie zu Summen.
Sofort begreifen die Männer was Fenja im Begriff ist zu tun, ahnen allerdings auch, dass ihr Zauber wohl nicht mehr rechtzeitig zustande kommen wird. Fedor schaut in Irenes angstvolle Augen und schafft es gerade noch, mit dem wenigen Atem in seinen Lungen einen Satz herauszupressen.
»Lese ihre Bilder!«
Wie aus einem Reflex schließt Irene sofort ihre Augen und konzentriert sich auf die, neben ihr liegende Fenja. Sie erkennt gleich mehrere Bilder, die von unterschiedlicher Schärfe und Genauigkeit sind. Irene versucht diese Bilder nach ihrer Deutlichkeit zu ordnen und begreift sofort Fenjas Vorhaben. Fenja versucht mit ihrem immer lauter werdenden Summen eine pilzförmige Kuppel aus tragender Magie zu schaffen, die ihre Freunde vor der ungeheuren Last der herabgestürzten Äste schützen soll. Gerade entstehenden eine ganze Menge kleinerer Bilder aus einem der größeren und augenblicklich begreift Irene, was da geschieht. Fenjas Geist ist dabei, auf melodische Weise die Worte zu formen, mit denen sie aus dem Summen in einen wesentlich stärkeren Gesang übergehen möchte.
Irene erkennt den Wortsinn der Bilder noch bevor Fenja beginnt, die Worte zu formen.
Als Fenja schließlich ihren Mund öffnet, um den magischen Reim zu singen, hat Irene bereits ihren Zauberstab gezogen und stimmt absolut synchron und auf eine überraschend harmonische Weise in Fenjas Gesang ein.
»Ein Riesenpilz als schützend Dach
sei aus Magie hervorgebracht.
Er soll von uns die Lasten heben
und so beschützen unser Leben.
Dann soll er wachsen hoch und breit
und geb' uns Raum und geb' uns Zeit.«
Die beiden Frauen wiederholen den Reim einige Male. Doch während Irene ihre Augen dabei geschlossen hält und sich auf Fenjas Bilder konzentriert, schaut diese in die von Schmerz gekennzeichneten Gesichter ihrer Freunde.
Trotz Irenes überraschend gut ausgefallener Unterstützung, scheint sich der schützende Zauber nicht so schnell aufbauen zu wollen, wie es für ihre Freunde notwendig wäre.
Plötzlich spürt Irene ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend und fast zeitgleich entsteht ein neues Bild in ihrem Kopf. Sofort erkennt sie, dass sie in diesem Bild durch Fedors Augen schaut. Die enormen Lasten, die ihre Freunde tragen müssen, zehren sie bis aufs Letzte aus. Für Fedor scheint es nur noch eine Frage von Sekunden zu sein, bis sie unter der Last der Äste zusammenbrechen werden.
Irgendwas muss ihr einfallen, wenn sie mit ihren Freunden nicht unter einem Berg aus Ästen begraben werden möchte.
Einmal mehr spürt Irene, wie schon so oft in den letzten Tagen, wie Angst in ihr aufsteigt und droht ihr langsam den Atem zu nehmen. Wie einen rettenden Strohhalm umfasst sie ihren Zauberstab nun mit beiden Händen und streckt ihn weit von sich.
Doch gerade, als sie laut aufschreien möchte, spürt sie einen Impuls, der aus dem Zauberstab in ihre Arme und dann in den ganzen Körper zu dringen scheint.
Es ist ein seltsames, wohliges Gefühl, das sie auf irrationale Weise gleichzeitig zu beruhigen und anzuregen scheint.
Und wie eine kleine Explosion, entsteht ein Bild in ihren Kopf, das von einer einzigen Farbe dominiert wird.
Einem riesigen, hellgrün strahlenden Pilz von mehreren Metern Durchmesser und mindestens zehn Metern Höhe. Um ihn herum eine Unzahl von Ästen, die in den unterschiedlichsten Grüntönen dargestellt sind. Eingerahmt wird dieser riesige Pilz von mehreren dunklen Balken, die zu einem Fünfeck angeordnet sind. Kaum kommt Irene ein kurzer aber sehr prägnanter Reim in den Sinn, als sie ihn auch schon laut ausspricht.
»Zur Hexe werden – ja ich will's
als Zeichen wächst ein Riesenpilz.«
Noch während Irene die letzten Worte spricht, öffnet sie ihre Augen und schaut in die schmerzverzerrten Gesichter ihrer Freunde.
Und als nach Fertigstellung ihres Zaubers in deren Blick noch keine Besserung zu erkennen ist, schlägt Irenes ungeduldige Seite durch.
»Na komm schon mein Pilzchen und wachse, sonst wird das mit der Hexe nix mehr.«
Noch bevor Irene ausgesprochen hat, spürt sie ein Ziehen an ihrem linken Ärmel und sie schaut in Fenjas zutiefst enttäuscht blickende Augen.
»Warum hast du den Zauber abgebrochen Irene? Wir hätten es wahrscheinlich noch schaffen können.«
Doch bevor Fenja ihrer Enttäuschung weiter Luft machen kann, beginnt der Boden sanft zu vibrieren. Der Waldboden unter ihnen scheint weicher zu werden und alle haben das Gefühl plötzlich einen halben Meter nach unten zu sacken.
Nach einer Schrecksekunde beginnen die Männer zu begreifen, dass die Last von ihren Schultern genommen wurde. Ganz langsam richten sie sich auf und tasten vorsichtig nach den Ästen hinter ihnen.
Als ihre Hände jedoch ins Leere greifen und sie sich schließlich umdrehen, bleibt ihnen vor Staunen der Mund offen stehen.
Wie durch unsichtbare Hände werden die Äste zur Seite und nach oben weggedrückt. Das ganze Schauspiel, dem nun auch Fenja und Irene zu schauen, dauert nur wenige Minuten.
Schließlich ist ein circa acht Meter breiter Kreis entstanden, der sich wie eine Luftsäule unter Wasser in einem Meer aus Ästen, ungefähr zehn Meter nach oben ausdehnt. Ganz oben bilden die Äste ein kuppelförmiges Dach und man kann durch die astfreie Zone den Umriss eines riesigen Pilzes erahnen.
Doch während sich das Erstaunen der Männer legt, kehren schnell ihre Schmerzen zurück. Fedor fährt als Erster seinen Schutzanzug in den Bereitschaftsmodus zurück und ertastet mit seiner linken Hand eine mehrere Zentimeter lange Platzwunde an seinem Hinterkopf.
Noch bevor Wilhelm, dem das Blut von seiner linken Wange tropft, nach seinen eigenen Wunden sucht, zieht er seinen Zauberstab und beginnt sofort Fedors Wunde zu versorgen.
Und während Fenja sofort zu Wilhelm eilt, um nach seinen Verletzungen zu schauen, schließt Irene nur ihre Augen.
Sie steckt ihren Zauberstab ein und wünscht sich sehr stark einen imaginären Phönix herbei. Es dauert nur wenige Sekunden, bis sich tatsächlich vor Irenes innerem Auge ein Riesenphönix nähert und schwebend über ihr zum Stillstand kommt.
Nicht nur in ihrer Vorstellungskraft streckt Irene ihre beiden Hände aus und zeigt dem Phönix, ihre nach unten gewölbten Handflächen.
Der Phönix schaut Irene kurz in die Augen und nickt mit dem Kopf. Dann werden seine Augen feucht und er lässt Träne um Träne in Irenes geöffnete Handflächen fallen.
Währenddessen zupft Gereon Adalbert am Ärmel und zeigt mit seiner linken Hand auf Irene. Als diese, einige Momente später, ihre Augen öffnet, stehen ihre Freunde im Halbkreis vor ihr und betrachten noch immer staunend, das jetzt langsam verschwindende Flimmern in der Luft.
Nun senkt Irene ihre Arme und alle können die regenbogenfarbenen Pfützchen in ihren Handflächen sehen.
Adalbert löst sich als erster aus dem allgemeinen Staunen und geht einen Schritt auf Irene zu. Sanft streicht er ihr mit seiner Rechten über die Wange, lächelt sie an und taucht seinen Finger in ihre rechte Handfläche.
Er gebietet den anderen sich hinzuknien und versorgt mit den Phönixtränen reihum alle Wunden. Als er damit fertig ist, greift er in eine Innentasche seines Mantels und zieht eine kleine Phiole, mit eingearbeiteter Pipette heraus. Vorsichtig saugt er damit die restlichen Tropfen der Phönixtränen aus Irenes Handflächen. Er verstaut die Phiole wieder in seiner Manteltasche, zieht seinen Zauberstab und lässt, mit dem für Irene so vertrauten weichen Summen, mehrere hockerartige Sitzgelegenheiten aus dem Boden wachsen.
»Nun meine Freunde, dank Irenes Geständniszauber, wenn ich ihn mal so nennen darf«, beginnt Adalbert, »sind wir noch einmal mit einem blauen Auge davon gekommen. Allerdings sollten wir schnell nach einem Ausweg suchen. Ich vermute mal, dass dieser Astregen noch nicht alles war, was uns auf dem Weg zum Nistplatz erwartet.«
»Das rote Zeichen ist auch wieder verschwunden«, meldet sich jetzt, der eher zurückhaltende Gereon zu Wort.
»Ich vermute«, erwidert Adalbert, »dass dies ohnehin nur eine Ablenkung unseres neuen Freundes Mikaal war. Augenscheinlich meint er es mit seiner Drohung ernst. Der Vorfall von eben, scheint dies ja in aller Deutlichkeit zu bestätigen. Wir sollten versuchen, mit unseren Zauberstäben durch den Schutzwall zu stoßen und einen Auflösezauber für die herabgefallenen Äste zu weben. Wir können schließlich nicht sitzen bleiben und warten, bis sie von alleine verschwinden. Also lasst uns sehen was wir ausrichten können.«
Adalbert steht als erster auf und alle zücken reihum ihre Zauberstäbe. Als Gereons Zauberstab plötzlich in hohem Bogen durch die Luft wirbelt und inmitten des schützenden, magischen Kreises landet, ist sofort Adalberts Stimme zu vernehmen.
»Haltet ein! Stopp! Keiner berührt mir die Schutzmauer!«
Adalbert stemmt seine Hände in die Hüften und dreht sich um.
»Meine liebe Irene, was hast du da nur wieder für einen Zauber gewoben?«
Sofort verschränkt Irene ihre Arme vor der Brust und beginnt mit ihren Fingern auf ihren Oberarmen zu trommeln.
»Mein lieeeber Adalbert, hätte deine lieeebe Irene nicht diesen, für dich so anrüchigen Zauber gewoben, hättest du jetzt kaum Gelegenheit, mir dafür Vorwürfe zu machen.«
»Verzeih bitte - Irene. Ich wollte mit meinem Ausspruch soeben weniger Kritik an deinen magischen Fähigkeiten üben, als dir vielmehr meine Hochachtung für die Einzigartigkeit deiner, durch Magie erschaffenen Gebilde zum Ausdruck bringen. Normalerweise sind unsere Schutzzauber von innen nach außen zu durchdringen. Jedoch scheint ein von dir gewirkter Zauber einmal mehr eine Ausnahme zu sein. Allerdings habe ich da so eine Vermutung. Würdest du mir vielleicht die Freude machen und es einmal selbst mit deinem Zauberstab versuchen?«
Irene schürzt ihre Lippen und zieht die Augenbrauen hoch. Dann dreht sie sich um, nimmt ihren Zauberstab und sticht ihn langsam durch die unsichtbare Schutzwand hindurch.
»Ich hoffe das ist jetzt gut so«, sagt Irene zu Adalbert. »Und jetzt erkläre mir bitte genau, was ich machen soll. Weil - weißt du, ich habe Angst, wenn ich den Zauberstab wieder heraus ziehe, dass dann alles erneut über uns zusammenfällt.«
»Du führst ganz einfach einen Auflösezauber aus«, sagt Fedor, der neben Irene getreten ist und ihr seinen Arm um die Schultern gelegt hat.
»Du weißt doch mein Engel, genauso wie es Fenja nach dem Mittagessen zuhause gemacht hat. Du stellst dir einfach die ganzen Äste um uns herum vor und lässt sie in der Magie verschwinden. Dann baust du vor deinem inneren Auge ein Bild auf und stellst dir vor, wie sie von grüner Magie umhüllt werden und quasi von ihr absorbiert werden. Ein Auflösezauber ist keine komplizierte Sache.
Stell dir einfach vor, wie sich die ganzen Äste um uns herum in grüne Magie verwandeln. Und dazu summst du eine Melodie, welche dir die Vorstellung erleichtert. Mehr musst du nicht tun.«
Irene schaut Fedor an und legt ihre Stirn in Falten.
»So wie du das erklärst, hört sich das verdammt einfach an. Allerdings solltest du dir im Klaren sein, dass gerade so einfache Zauber oftmals danebengehen, wenn ich sie versuche. Aber ich denke, hier kann eigentlich nicht viel schief gehen. Ich werde es versuchen, aber reißt mir bitte nicht gleich den Kopf ab, wenn es in die Hose geht.«
Irene schließt ihre Augen und konzentriert sich auf das folgende Geschehen. Genau wie Fedor es erklärte, stellt sie sich, die sie umgebenden Äste vor und versucht, sie vor ihrem inneren Auge in grünen Nebel zu verwandeln. Erneut hilft ihr die Melodie eines alten Volksliedes, sich auf ihr Vorhaben zu konzentrieren und eine Art Mantra aufzubauen.
»Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm,
es hat von lauter Purpur ein Mäntlein um ...«
Ganz in ihre Gedanken versunken summt Irene vor sich hin, als sie plötzlich spürt, dass Fedors Arm um ihre Schultern langsam fester zu drückt.
»Du kannst aufhören mein Engel. Ich denke, dass alle Äste verschwunden sind. Du bist unglaublich Irene und wirklich etwas Besonderes.«
Irene öffnet langsam ihre Augen und schaut sich, bevor sie ihren Zauberstab zurückzieht, noch einmal genau um. In der Tat ist nichts mehr von dem dichten Astgewirr zu sehen, das sie noch vor wenigen Minuten umgeben hat. Langsam und zögernd zieht sie ihren Zauberstab zurück und steckt ihn in die Tasche. Dann dreht sie sich zu Fedor um und schaut ihm in die Augen.
»Du sollst das doch nicht sagen Schatz. Ich bin nichts Besonderes. Vielleicht ist die Art etwas außergewöhnlich, mit der die Magie in mir wirkt. Aber das macht mich noch nicht zu einem besonderen Menschen.
Ich bin genauso normal wie du und unsere Freunde hier. Wenn nicht sogar noch ein bisschen normaler«, fügt sie hinzu und lächelt Fedor an.
»Als hätte ich es geahnt!« ist jetzt Adalberts etwas ärgerlich klingende Stimme zu hören.
»Unser neuer Freund war nicht untätig. Er muss geahnt haben, dass dieser Regen aus Ästen nicht ausreichen würde, um uns zu stoppen.«
Alle Freunde schauen sofort auf Adalbert, der mit seiner ausgestreckten rechten Hand einen Kreis beschreibt. Als sie mit ihren Blicken seiner Hand folgen, sehen sie sofort den Grund für sein Verhalten.
Nur wenige Meter außerhalb, der sie schützenden Bannlinie, sind mehrere übereinander liegende Baumstämme zu erkennen, die sie in einem nahezu perfekten Fünfeck umgeben.
Doch das eigentliche Objekt, auf das Adalbert zeigt, befindet sich noch knapp einen Meter dahinter.
Es ist ein Netz aus feinen, roten Linien, das erst bei genauerem Hinsehen zu erkennen ist. Die Linien werden vor ihren Augen stärker und dicker, und gleichzeitig scheint ein unsichtbarer Weber ständig neue Fäden hinein zu weben. Das rote Gitternetz umschließt sie vollkommen und wächst gerade in der Mitte über ihren Köpfen zusammen. Die Maschenweite liegt bereits unter dreißig Zentimeter, so dass ein von Gereon vorgeschlagenes Hindurchschlüpfen mittlerweile unmöglich geworden ist. Gereon bückt sich, hebt einige faustgroße Steine auf und geht ein paar Schritte nach Norden, zu dem ihm am nächsten liegenden Baumstamm. Als der erste Stein, den er wirft, direkt durch eine Masche fliegt, dreht er sich um und grinst.
»Undurchdringlich ist es schon mal nicht.«
Doch als der nächste Stein den er wirft, auf ein Kreuz aus roten Linien trifft, wird er davon lautlos in vier Stücke zerteilt. Als diese, nur wenige Meter hinter dem Gitternetz zu Boden fallen, sind ihre Schnittkanten so glatt wie geschmolzenes Glas.
Sofort dreht sich Gereon um und schaut in die erstaunten Gesichter seiner Freunde. Erneut ist es Adalbert, der das Schweigen bricht.
»So viel zur Undurchdringlichkeit dieses Netzes. Ich denke, es sollte jedem klar sein, dass niemand diese Linien berühren darf. Aus welcher Magie sie auch immer entstanden sind, dürfte es so etwas eigentlich nicht geben. Diese Linien scheinen wie ein Laser zu wirken und wohl alles zu durchtrennen, was mit ihnen in Berührung kommt. Wir sollten uns überlegen, wie wir es anstellen können, dieses neue Hindernis zu überwinden.«
Doch erneut greifen die eintretenden Ereignisse, den Überlegungen und Ausführungen Adalberts vor.
Denn außerhalb des magischen Netzes entsteht nun, zum wiederholten Male ein roter Funkenregen, der sich langsam zu einer Kugel verdichtet. Und wieder ist langsam ein Gesicht darin zu erkennen.
Als die Freunde sehen, um wen es sich handelt, beginnt auch schon die Stimme Mikaals aus der Kugel zu ihnen zu sprechen.
»Meine lieben Feinde. Wieder einmal ist es mir gelungen, die besten Magier eurer ärmlichen Gemeinschaft in eine Falle zu locken.
Und diesmal kann ich mit Stolz verkünden, dass ihr sie nicht mehr lebend verlassen werdet. Mit diesem Konstrukt aus ältester Magie ist mir etwas gelungen, das auch eure besten Magier nicht überwinden können.
Selbst eure neue Aurenhexe wird darin ums Leben kommen. Allerdings will ich euch nicht des Vergnügens berauben, eure erbärmlichen Fähigkeiten, mit den meinen zu messen.
Ihr habt ungefähr sechzig Minuten Zeit, um meinem Vernichtungswerk zu entkommen. Zu gerne würde ich diese verzweifelten Versuche und letztlich euer bedauernswertes Versagen persönlich beobachten. Doch leider wird meine Anwesenheit an anderer Stelle dringender benötigt. Wenn man von eurem Scheitern in der magischen Welt und dem Verlassen derselben erfährt, werde ich schon dabei sein, meine Macht über eure schwache Gemeinschaft zu festigen.
Doch nun werdet Zeugen meiner Macht und bestaunt das Wirken meiner neusten Waffe gegen unbelehrbare Magier und Möchtegernzauberer. Schaut euch die Baumstämme an und seht, was euch in einer knappen Stunde erwartet.
Und – sterbet wohl …«
Mit den letzten Worten Mikaals löst sich die rote Kugel langsam auf und verschwindet schließlich so, wie sie erschienen ist. Irene wehrt sich noch immer gegen den festen Griff Fedors, der die ganze Zeit verhindert hat, dass sie ihren Zauberstab benutzen kann. Ärgerlich schaut sie ihm ins Gesicht.
»Wieso hast du mich nicht einfach machen lassen? Ich hätte diesem überheblichen Typen gerne mal gezeigt, was seine Möchtegernzauberer so alles drauf haben. Der Feuerzauber hat doch schon mal gegen seine Kunststücke gewirkt. Wieso sollte es nicht erneut klappen?«
»Weil wir jetzt in einem magischen Käfig stecken, von dem wir nicht wissen, wie er auf einen solchen Zauber reagieren würde. Kannst du dir nicht vorstellen, dass der Käfig einen Flammenzauber auf uns zurückwerfen könnte?
Und mit der Menge Magie, die du bei deinen Zaubern freisetzt, wäre es gut möglich, dass uns dein Zauber zu Asche verwandelt, bevor wir von diesem ominösen Netz zerschnitten würden. Doch bevor das passiert, sollten wir versuchen einen anderen Ausweg zu finden, der nicht das Risiko in sich birgt, bei seiner Ausführung gebraten zu werden.«
»Schaut euch das an!«, ist jetzt Fenja zu hören. Sofort drehen sich Fedor und Irene in Fenjas Richtung, die auf das näherkommende Netz aus roten Fäden zeigt, das gerade dabei ist, sich durch den ersten Baumstamm zu schneiden. Völlig geräuschlos durchdringt es das Holz, ohne Rauchentwicklung oder sonstige Anzeichen, auf welche Weise dieses geschieht. Nicht ohne Respekt betrachten die Freunde das Geschehen.
Als jedoch das Netz alle Baumstämme durchschnitten hat und diese in gehäufter Würfelform auf dem Waldboden liegen, macht sich eine fast greifbare Anspannung breit.
»Wir sollten uns langsam etwas einfallen lassen, um diesem seltsamen Gebilde zu entkommen«, meldet sich jetzt erstmals Wilhelm zu Wort.
»In der Tat wird unser neuer Freund immer einfallsreicher, wenn es darum geht, uns vor schier unlösbare Aufgaben zu stellen«, kommentiert Adalbert das Geschehen. »Wir sollten uns in der Tat einige Gedanken machen, wie wir diesem näher kommenden Gebilde entkommen können. Hat jemand brauchbare Vorschläge zu machen, oder wollen wir erst versuchen, es zu analysieren?«
»Wenn dieser Mikaal mit seiner Einschätzung richtig liegen sollte«, sagt jetzt Fenja, »haben wir noch circa fünfzig Minuten, bis uns das Netz keinen Handlungsspielraum mehr lässt. Wir sollten versuchen etwas mehr darüber in Erfahrung zu bringen, bevor wir mögliche Gegenmaßnahmen ergreifen.«
»Vielleicht sollte ich während eurer Analyse einen kleinen Tunnel nach unten anlegen«, ist jetzt Gereon zu hören. »Er könnte uns als letzte Fluchtmöglichkeit dienen, wenn alle anderen Versuche scheitern.«
»Eine gute Idee«, kommentiert Adalbert Gereons Vorschlag. »Wenngleich ich auch vermute, dass dieser Mikaal selbst diese Möglichkeit des Entkommens eingeplant hat. Trotzdem wollen wir nichts unversucht lassen. Lasst uns verschiedene Zauber ausprobieren, um etwas mehr über das Netz zu erfahren. Aber bitte setzt nur solche ein, die keine Veränderungen auslösen. Nur untersuchen, nicht aktiv beeinflussen oder verändern!«
Bis auf Irene nicken alle Adalbert zu und begeben sich an unterschiedliche Stellen des immer näher kommenden Gitternetzes aus roter Magie.
»Und was kann ich dabei tun?«, ist die etwas quengelige Stimme Irenes zu vernehmen.
»Ich fürchte hierbei musst du zusehen«, antwortet Adalbert sofort. »Dir fehlen einfach die Kenntnisse über die zur Verfügung stehenden Zauber, mit denen man solche magischen Konstrukte untersuchen kann.
Dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass man Magie nicht nur nutzen kann, sondern auch die dazu notwendigen Zauber kennen muss. Wir müssen in der Tat daran arbeiten, dir das nötige Wissen über funktionierende Sprüche zu vermitteln. Aber dazu werden wir uns vielleicht später Zeit nehmen müssen. Vorrangig sollten diejenigen ihr Bestes versuchen, die in eben diesen Sprüchen unterwiesen und ausgebildet sind. Gehe bitte zur Mitte und unternimm nach Möglichkeit keinen Versuch, das Netz eigenmächtig zu verändern. Wir müssen erst Näheres darüber in Erfahrung bringen, bevor wir aktiv werden können. Ich hoffe, du verstehst diese Art des Vorgehens und bringst uns nicht unnötig in zusätzliche Gefahr?«
»Keine Sorge, ich hab schon verstanden«, antwortet Irene etwas barsch. »Die unfähige Jungmagierin soll sich raushalten, während die Großen zu Werke gehen.«
Als Adalbert ihr daraufhin einen sehr eindringlichen Blick zuwirft, zuckt Irene mit den Schultern.
»Entschuldigung. Ich hab's nicht so gemeint. Aber ich möchte zu gern auch etwas dazu beitragen und nicht nur untätig rumsitzen, während ihr versucht auch meinen Hintern zu retten.«
»Wenn du etwas Sinnvolles tun möchtest, dann lass uns jetzt an die Arbeit gehen und verhalte dich ruhig. Zeit für Erklärungen ist in der jetzigen Situation ein Luxus, den wir uns nicht wirklich leisten können. Und jetzt entschuldige mich bitte.«
Ohne ein weiteres Wort dreht sich Adalbert um und geht zu einer freien Stelle des Netzes, wo er sofort mit einem Untersuchungszauber beginnt.
Irene schaut sich in ihrem, langsam kleiner werdenden Käfig um und bleibt mit ihrem Blick auf Gereon hängen. Er steht konzentriert mitten im Käfig und summt mit geschlossenen Augen eine, für Irenes Verständnis etwas abgehackt wirkende Melodie. Gleichmäßig lässt er seinen Zauberstab über dem Boden kreisen, der sich unter dem Wirken des Zaubers langsam aufzulösen beginnt.
Jedes Mal, wenn die gesummte Melodie in Irenes Ohren zu stocken scheint, verschwindet eine Schicht des Bodens.
Dabei scheint der Zauber keinen Unterschied zwischen Erde und Steinen zu machen.
Wie ein unsichtbarer Bagger, der gleichmäßig ausgestanzte Bodenteile entfernt, lässt Gereon den circa einen Meter breiten Tunnel nach unten wachsen.
Als der Tunnel eine Tiefe von ungefähr zwei Metern erreicht hat, wendet sich Irene ab. Sie beobachtet ihre Freunde, die noch dabei sind ihre untersuchenden Zauber zu weben, mit denen sie dem Geheimnis des Netzes auf die Spur kommen wollen.
Plötzlich zuckt Gereon mit einem erschrockenen Ausruf zusammen. Gleichzeitig regnet es Erde und kleinere Steine auf Irene und Gereon herab.
Sofort blicken sich Irene und Gereon an und schauen dann zu ihren Freunden, die langsam ihre Zaubergesänge einstellen und sich den beiden zuwenden.