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Nach den weltweiten Terrorkriegen treibt eine massive Stadtflucht, auch in Deutschland, den ländlichen Siedlungsbau voran. Zunehmende Rodungen in einem Waldgebiet in Rheinland-Pfalz, nahe der Kreisstadt Alzey, bringen die darin angesiedelte magische Gemeinschaft auf den Plan. Sie versperrt den uneinsichtigen Menschen für einen langen Zeitraum jeglichen Zugang zum Wald. Noch vor Ablauf dieser Frist wird die Journalistin Irene, mit Hilfe des ehemaligen Waldarbeiters Wilhelm, Zeugin der Magie dieses Waldes. Völlig unvorbereitet beginnt für sie das wohl größte Abenteuer ihres Lebens, bei dem sie nicht nur die Magie, sondern auch einen attraktiven Magier kennen lernt...
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Seitenzahl: 329
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Kapitel 1 Der Wächterbaum
Kapitel 2 Der Zugang
Kapitel 3 Die Feuerkugel
Kapitel 4 Verlust
Kapitel 5 Die Tentakelbäume
Kapitel 6 Die Brücke
Kapitel 7 Neue Freunde
Kapitel 8 Wahre Magie
Kapitel 9 Das Feuer
Kapitel 10 Der Rat
Epilog
»Wie lange ist es jetzt her?« Wilhelm hat diese Geschichte nun schon so oft erzählt, dass er sie wohl auch im Schlaf murmeln könnte, ohne ein Wort abzuweichen. Über die Jahrzehnte hat sich jeder Gedanke an dieses Geschehen so tief in sein Gehirn gegraben, dass er sie in regelmäßigen Abständen in seinen Träumen immer wieder durchlebt.
»Nun, wie lange es jetzt her ist? Warum stellen Sie diese Frage? Sie wissen es doch fast ebenso genau wie ich. Sie kommen doch nur wegen des Datums. Eben, weil Sie ganz genau wissen, wie lange es schon her ist. In wenigen Tagen jährt es sich nun zum hundertsten Mal. Oder bringe ich da über die Jahre etwas durcheinander?«
»Nein, ich glaube nicht, Herr Brunner. Nach den Informationen, die mir vorliegen, sind wir in der Tat im hundertsten Jahr. Nach den Aussagen, die Sie vor fast hundert Jahren machten und den Aufzeichnungen der Zeugenaussagen von damals, sollten es noch genau acht Tage sein.«
»Das ist auch die Zahl, auf die ich komme, wenn ich nachrechne – sofern das überhaupt notwendig ist.«
»Um ehrlich zu sein, würde man das einem Menschen in Ihrem Alter eher nicht zutrauen. Zumal es noch keinen Menschen gab, der Ihr Alter erreicht hätte. Zumindest nicht, seit es Aufzeichnungen darüber gibt.Nur noch einmal für unsere Leser bitte, wie alt sind Sie jetzt genau?«
»Einhundertfünfundvierzig Jahre, sechs Monate und dreiundzwanzig Tage. Aber auch das und da bin ich mir absolut sicher, wissen Sie bereits.«
Wilhelm sagt das ohne jegliche Spur von Ironie oder Verärgerung in der Stimme. Er schaut die Journalistin mit einer Mischung aus Neugier und forschender Musterung an.
»Herr Brunner, ich habe Fotos von Ihnen aus dem Jahr 2015 gesehen. Nach dem Datum auf der Rückseite, wurden sie im gleichen Monat gemacht, wie die Geschichte begann. Wenn man einmal davon absieht, dass Ihre Haare jetzt einige Zentimeter länger sind, scheinen Sie sich überhaupt nicht verändert zu haben.«
»Liebe Frau – äh – Nagel?«
»Ja, Irene Nagel«, antwortet die Journalistin mit dem Anflug eines Schmunzelns auf den Lippen.
»Nun, liebe Frau Nagel, fragen Sie mich bitte nicht woran das liegen mag. Bis vor zwanzig Jahren haben mich mehr Ärzte untersucht, als Alzey Einwohner hat. Bei einer der letzten Untersuchungen habe ich mal nachgefragt. Die haben mir über die Jahrzehnte mehr als eintausend Liter Blut abgezapft.« Bei diesen Worten schaut ihn die Journalistin ungläubig an.
»Über eintausend Liter Blut?«, fragt sie nach.
»Ja, ist eine Menge Zeug für einen Menschen, aber wenn Sie nachrechnen, macht das nur knapp einen Liter pro Monat, wenn sie das über achtzig Jahre anlegen. Aber wozu das alles? Was haben sie gefunden? Nichts. Zumindest nichts, was sie mir gesagt hätten oder worüber sie mit mir gesprochen hätten. Irgendwann war ich es dann einfach leid. Trotz aller Beteuerungen dieser Frauen und Männer, wie wichtig das doch für die Wissenschaft sei, hatte ich einfach die Nase voll. Ich habe es abgelehnt, mich weiterhin wie eine Laborratte untersuchen zu lassen. Jetzt gehe ich noch drei bis vier Mal im Jahr zu meinem Arzt.
Sicher, er nimmt auch jedes Mal mehr Blut ab, als er für die Untersuchungen bräuchte, aber darüber haben wir irgendwann ein unausgesprochenes Stillschweigen vereinbart. Ich weiß, dass er es weitergibt und es stört mich auch nicht weiter. Es scheint den Herren zu genügen, dass sie mich dafür in Ruhe lassen. Also nehme ich es als das kleinere Übel hin. Aber gefunden haben die Ärzte nichts. Ich kann Ihnen also nicht erklären, warum ich mich nicht verändert habe seit jener Zeit. Ich kann nur die gleiche Vermutung äußern, die ich schon seit Jahrzehnten hege. Aber auch die ist zur Genüge bekannt und muss wohl nicht wiederholt werden.«
»Nun Herr Brunner, Ihre Vermutung ist im Volksmund schon zur Erklärung schlechthin geworden. Genauso, wie Sie selbst zum Begründer der wohl fabelhaftesten Legende der letzten Jahrhunderte geworden sind. Die Geschichte des Wilhelm Brunner ging mehrfach um die Welt.Und gerade jetzt, wo sich der hundertste Jahrestag dieses – Ereignisses nähert, gibt es eben ein großes Interesse an Ihnen und Ihrer Geschichte.Sie müssen also entschuldigen …«
»Meine liebe Frau Nagel, ich verstehe recht gut. Die Leute wollen wissen, was Wahrheit und was Geflunker ist. Nun, in wenigen Tagen werden es alle sehen. Einschließlich mir. Denn das vergessen nämlich all diese Leute nur allzu gern. Ich habe nichts davon bewirkt. Ich bin genauso betroffen, wie alle anderen auch. Der einzige Unterschied zwischen mir und all den anderen, die es betroffen hat, ist der, dass ich noch lebe. Irgendwie scheint mich diese Tatsache in den Augen der Leute schuldig zu machen. Dabei ist es mir mehr Strafe, als all den anderen, die damals Zeuge dieses Geschehens wurden.«
»Sie meinen, es ist eine Strafe für Sie, dass einhundert Jahre an Ihnen vorübergegangen sind, ohne eine sichtbare Spur zu hinterlassen?«, fragt die Journalistin mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Liebe Frau Nagel …«
»Irene, bitte sagen Sie doch Irene«, wirft die Journalistin ein, in der dieses »Liebe Frau Nagel« jedes Mal einen Krampf verursacht. Zum einen fühlt sie sich mit ihren fünfunddreißig Jahren noch nicht wie eine »Liebe Frau …« und zum anderen ist sie gerade dabei, den Namen ihres Exmannes abzulegen. Nagel ist nicht mehr der Name, mit dem sie sich identifizieren will, nicht nachdem was geschehen ist. Auch wenn Herr Brunner jetzt vielleicht liebe Irene sagen würde, wäre ihr das doch wesentlich angenehmer. Wilhelm schaut sie derweil unverwandt an und zeigt ein offenes Lächeln.
»Gut Irene, dann nutze ich genießend das Recht des Älteren und möchte Dir gerne das Du anbieten. Ich bin der Wilhelm.« Mit diesen Worten reicht er der Journalistin die Hand und schaut ihr unverhohlen in die Augen. Sein Blick ist offen und zeigt keine Spur von persönlichem Interesse an der durchaus attraktiven Journalistin. Diese erwidert seinen Blick und ergreift seine Hand. »Irene … ich – ich heiße Irene«, sagt sie mit einer hörbaren Spur von Überwältigung in der Stimme.
»Verzeihen Sie, ich bin etwas überrascht. Sie sind …«
»Du, du bist«, sagt Wilhelm, ohne eine Gefühlsregung zu zeigen.
»Entschuldigung, aber Sie … du – bist der älteste lebende Mensch und äh … ich war auf so etwas ehrlich gesagt nicht vorbereitet.«
Wilhelm hebt sein Glas Rotwein und prostet Irene zu. »Dann lass uns darauf anstoßen, vielleicht fällt es dir ja so leichter.«
Irene hebt ihr Glas. Beide prosten sich zu und sprechen dabei erneut ihre Vornamen aus. Irene grinst.
»Es ist trotzdem ein etwas seltsames Gefühl. Verzeih … bitte, wenn ich manchmal rückfällig werde.«
»Aber, was gibt es denn da zu verzeihen? Ich denke, es wäre für mich im umgekehrten Fall auch nicht gerade einfach. Kommen wir jedoch zum Thema zurück. Du fragtest mich, ob die hundert spurlosen Jahre die Strafe für mich wären. Nein, diese Tatsache ist wohl der angenehmere Effekt an dieser Geschichte, auf den ich allerdings gerne verzichtet hätte. Die Strafe selbst ist eine andere.«
Wilhelm schaut bei diesen Worten mit leicht versonnenem Blick zu seinem Weinglas, das mittlerweile wieder vor ihm auf dem Tisch steht.
»Darf ich oder besser unsere Leser wissen, was denn die eigentliche Strafe ist?«, fragt Irene vorsichtig weiter, als sie den Glanz in seinen Augen bemerkt.
»Die Strafe ist das Leben – und der Tod. Das Leben für mich, das länger geworden ist, als es sein dürfte und der Tod der anderen. Meine Frau ist gestorben. Damals im gleichen Jahr. Ich habe im Lauf der Jahrzehnte drei Kinder beerdigt. Ich musste fünf Enkelkinder und schon acht Urenkel zu Grabe tragen. Das nenne ich eine Strafe. Kein Mensch sollte seine Kinder zu Grabe tragen müssen. Aber auch noch die Enkel und gar die Urenkel …«
Bei diesen Worten kommt die Erinnerung an die letzte Beerdigung vor sechs Wochen hoch, als er seinen Urenkel Wolfgang zur letzten Ruhe geleitete. Wilhelm steigen die Tränen in die Augen und er versucht sie weg zu blinzeln. Er bemerkt Irenes analysierenden Blick und wischt sich mit dem Handrücken über die Augen.
»Entschuldige bitte, eigentlich habe ich nicht so nahe am Wasser gebaut, aber dennoch habe ich wohl mehr Tränen vergossen, als jeder andere Mensch. Nun, die Jahre bringen es eben mit sich oder besser die Jahrzehnte.« Noch während er bemüht ist, den Rest seiner Tränen weg zu blinzeln schaut er wieder zu Irene. Als er ihrem Blick begegnet, ist er trotz seiner, doch zahlreichen Erlebnisse, überrascht. Was er in ihren Augen sieht ist kein Mitleid. Aber dennoch zeigen sie eine Art von vertrautem Verständnis. Es kommt ihm so vor, als würde sie wirklich verstehen oder erfühlen können, was er beschreibt.
»Ich glaube es oder glaube es sogar zu wissen. Auch wenn ich mit meinen fünfunddreißig Jahren nur einen Bruchteil dessen erlebt habe, was du erlebt haben musst, ist es doch schon etwas mehr, als normale Menschen erleben. Aber ich bin hier, um über Wilhelm Brunner zu berichten und nicht, um über mein Leben zu plaudern. Also, vielleicht erzählen Sie … du – mir die ganze Geschichte noch einmal für unsere Leser. So kurz vor dem Hundertjährigen wünschen sich unsere Leser die Geschichte vom letzten, noch lebenden Zeitzeugen zu hören. Würdest du mir den Gefallen tun und die Geschichte für meine Leser noch ein weiteres Mal erzählen?«
Wilhelm schaut ihr in die Augen und überlegt kurz.
»Warum sollte ich sie noch ein weiteres Mal erzählen? Ich habe sie schon hunderte Male erzählt. Sie würde durch ein weiteres Mal nicht richtiger oder falscher und anders wird sie auch nicht mehr. Dafür habe ich sie schon zu oft erzählt. Es würde doch genügen, wenn deine Zeitung irgendeine dieser Geschichten drucken würde.«
»Es ist das Datum«, antwortet Irene auf Wilhelms fragende Ausführungen.
»Alle Augen schauen auf den Kalender. In wenigen Tagen wird eine Legende wahrscheinlich zur Wirklichkeit. Die ganze Welt richtet ihr Augenmerk auf den Wald um die fünfzehn Ortschaften. Schon seit Wochen sind die Zeitungen voller Theorien und Überlegungen darüber, was wohl genau in wenigen Tagen passieren wird. Im Fernsehen und den Kinos laufen seit Monaten Filme, die sich mit dem gleichen Thema befassen und verständlicherweise die wildesten Theorien abhandeln. Die Menschen sind jetzt sehr stark sensibilisiert für dieses Thema. Bitte, tun Sie … tue mir doch den Gefallen.«
Wilhelm greift nach seinem Glas Rotwein und schaut versonnen hinein. Er nimmt einen kleinen Schluck und saugt, durch die leicht gespitzten Lippen, etwas Luft in den Mund. Über die vielen Jahre hin, hat er seine Angewohnheiten verfeinert, um die schönen Dinge des Lebens, so gut es eben geht, zu genießen. Dann hebt er seinen Blick und schaut in Irenes Augen.
»Erst jetzt denken die Leute wieder an diese Geschichte. Durch die Sensationsgier der Medien wieder geweckt, weil man hofft, jetzt noch mal richtig Geld zu verdienen. Sie hatten es wohl alle vergessen. Besser gesagt, es lebt ja eh’ niemand mehr, der sich noch erinnern könnte. Seit Jahrzehnten ist es eine vergessene Geschichte. Bis auf den kleinen Kreis aus Wissenschaftlern, die seit damals an diesem Rätsel arbeiten. Der einzige Mensch, der sich erinnern kann und das auch permanent macht, bin ich. Seit hundert Jahren mache ich mir Gedanken darüber, was damals eigentlich geschehen ist. Und auch darüber, was in wenigen Tagen wohl geschehen wird. Seit damals vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denken würde. Ob sich das einer deiner Leser auch nur im Ansatz vorstellen kann?
Hundert Jahre nachdenken, hundert Jahre hoffen, endlich verstehen zu können. Hundert Jahre bangen, wie es wohl sein wird, wenn es endet.
Hundert Jahre …« Wieder schaut Wilhelm abwesend in sein Weinglas, das er noch immer in der Hand hält. Er seufzt auf, als ein Sonnenstrahl durch das Fenster hinter ihm sein Weinglas trifft und dem Rotwein darin für einen kurzen Moment die Farbe frischen Blutes verleiht.Irene fühlt sich, zwischen dem Drang seine Geschichte zu hören und dem Wunsch ihn nicht zu belästigen, hin und her gerissen.
»Ich weiß nicht, ob sich das jemand vorstellen kann. Ich kann nur sagen, dass ich damit Probleme habe, es mir vorzustellen. Der Zeitraum ist einfach zu groß, um sich einen immer gleichen Gedankengang vorzustellen. Ich glaube, einen labilen Menschen könnte schon allein die Vorstellung davon in den Wahnsinn treiben. Verzeih mir bitte, wenn ich, als eine Vertreterin der Medien, jetzt vielleicht etwas geschäftstüchtig klingen mag, aber genau solche Dinge sind es, die die Menschen im Eigentlichen interessieren. Die Geschichte selbst ist hinlänglich bekannt. Darin hast du vollkommen Recht. Das wirklich Interessante daran bist – du.Das, was du darüber denkst, was du fühlst, was dich daran bewegt und wie es dich verändert hat. Und natürlich deine Gedanken darüber, was wohl in den nächsten Tagen geschehen wird.« Irene schaut Wilhelm jetzt unverwandt an. Sie weiß, dass sie mit den letzten Worten alles auf eine Karte gesetzt hat. Entweder, sie konnte in diesem einzigartigen Mann etwas berühren, das ihn dazu bewegen kann, ihr seine Geschichte zu erzählen oder er würde sich weigern und sie höflich aber bestimmt hinaus komplimentieren.
»Du klingst wahrhaft wie eine geschäftstüchtige Journalistin. Aber da ist noch mehr.
Du hast echtes Interesse daran, was ich zu sagen habe und das nicht nur aus Neugier. Es interessiert dich wirklich, habe ich Recht?« Irene, die ihn angesehen hat, schaut nun etwas verlegen auf ihre Knie.
»Ehrlich gesagt – ja. Ich habe in der Tat ein wirkliches Interesse an deiner Sicht dieses Geschehens.«
»Darf ich wissen, woher dieses Interesse kommt?«, fragt Wilhelm mit einem Ausdruck innerer Befriedigung nach, dem Irenes Reaktion nicht entgangen ist.
»Sicherlich. Wenn ich schon ein tiefes Interesse zugebe, dann muss ich ja wohl auch bereit sein, den Grund dafür zu liefern. Nun, als ich fünf Jahre alt war, hat mir meine Großmutter zum ersten Mal von dieser Geschichte erzählt. Es schien eines dieser Märchen zu sein, mit dem die Menschen ermahnt werden sollen, ihr Verhalten gegenüber der Natur zu überdenken. Aus irgendeinem Grund hatte mich diese Geschichte aber mehr fasziniert, als andere Geschichten, die man uns Kindern erzählte.Vielleicht lag es auch daran, wie überzeugend meine Oma sie vorzutragen verstand. Sie hatte auch immer darauf gepocht, dass diese Geschichte wahr sei, und hat standhaft behauptet, dass dieser Wilhelm Brunner noch lebt. Er würde zurückgezogen in einem versteckt liegenden Haus leben, das näher am Bannwald liegen sollte, als jedes andere, von Menschen bewohnte Gebäude. Aber gerade dieser Zusatz hat es uns Kindern wohl so schwer gemacht, dieses Märchen – diese Geschichte als das zu sehen, was es in Wirklichkeit ist. Die Wahrheit. Erst später in der Schule habe ich mein wirkliches Interesse an dieser Geschichte entdeckt. Zu dieser Zeit wurde es als Märchen oder Legende abgehandelt, mit der Erklärung, dass es sich um eine militärische Operation handelte.
Ein Gasunglück, über das bis dato nichts Genaueres in Erfahrung zu bringen sei. Wegen meinem Interesse daran wurde ich oft belächelt und die Aussagen meiner Oma als Spinnerei einer alten Frau abgetan. So wurden wohl auch die damaligen Zeugen als arme Spinner abgetan, die mit irgendeinem, vom Militär hergestellten Gifts in Berührung gekommen sein mussten. Damals habe ich begonnen alles zu sammeln, was es über diese Geschichte zu finden gab. Viele Jahre habe ich gesucht. Im Netz habe ich alte Homepage-Verweisseiten ausfindig gemacht und sogar die Aussagen einer Handvoll Zeitzeugen gefunden. Allerdings wurde schon damals versucht, die Aussagen dieser Leute als Spinnerei oder Phantasterei abzutun. Für die Öffentlichkeit wurde der Bannwald zum militärischen Sperrgebiet erklärt, und nachdem der große Zaun fertig gestellt war, hörten auch die Meldungen von Wanderern auf, die glaubten, gegen unsichtbare Mauern gelaufen zu sein. Oder von Bauern, die ihre Traktoren bis zum Totalschaden quälten, weil sie versuchten zum Holzschlagen in den Wald einzufahren.
Mit der Zeit wurde der Wald einfach zum Sperrgebiet und man vergaß die Geschichte vom Bannwald. Als ich dann vom Kreis der Sucher erfuhr, ist mein Interesse wohl zur Lebensaufgabe geworden. Heute nennt man ihn den Wissenschaftsrat vom Bannwald und von der Geheimnistuerei in meiner Jugend ist nichts mehr zu spüren.
Ich wurde Journalistin, weil die VRM, die ja die Alzeyer Zeitung herausbringt, das umfangreichste Archiv besitzt, das über den Bannwald je angelegt wurde. Vor fünf Jahren ist es mir schließlich gelungen, die Sicherheitsstufe für diesen Teil des Archivs zu erhalten.
Viele Wochen habe ich im Archiv verbracht und alles gelesen, was darüber geschrieben wurde.
Nicht zuletzt die Aussage von Wilhelm Brunner. Ich weiß nicht, wie oft ich deine Aussage gelesen habe, aber ich wusste, dass meine Großmutter Recht hatte, als sie sagte, dass Wilhelm Brunner noch am Leben sei. Um mit meinen weiteren Nachforschungen voranzukommen, habe ich versucht, mit den Leuten vom Wissenschaftsrat Kontakt aufzunehmen. Aber genauso gut hätte ich nach außerirdischem Leben in unserem schönen Städtchen Alzey suchen können. Meine Nachforschungen wurden gebremst und boykottiert. Schließlich sah ich nur noch eine Möglichkeit, um zumindest in die Nähe des Zieles meiner Wünsche zu gelangen.«
Irene nimmt ihr Weinglas vom Tisch, das Wilhelm während ihrer Ausführungen nachgefüllt hatte, und trinkt einen kräftigen Schluck. Als sie ihr Glas abstellt, schaut Wilhelm ihr in die Augen.
»Kann es sein, dass du im letzten Jahr den Artikel »Die Wahrheit über den Bannwald« geschrieben hast?«, fragt Wilhelm mit etwas gespieltem Erstaunen in der Stimme.
»Damit hast du den größten politischen Skandal seit 2014 ausgelöst.Du hast eine Regierung gestürzt und wohl die größte wissenschaftliche Untersuchung der letzten Jahrzehnte ausgelöst.«
»Schuldig im Sinne der Anklage«, sagt Irene, mit einem ironischen Unterton in der Stimme und dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen, das jedoch sofort wieder verschwindet. Zu groß ist ihre Achtung und ihr Respekt vor Wilhelm Brunner, als dass sie sich die Freiheit herausnehmen würde, das Geschehene mit Humor oder ohne den gebührenden Respekt zu behandeln.
»Ich sah einfach keine andere Möglichkeit mehr, um an weitere Informationen zu kommen oder gar die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Das war auch der Grund, warum ich die Geschichte an ein überregionales Boulevardblatt gegeben hatte. Die Geschichte ging in Druck, ohne in der Verlagskonferenz besprochen worden zu sein. Erst hat es einige Leute den Job gekostet, was sich aber in den folgenden Wochen wieder geklärt hatte. Zumindest bei den meisten. Ich wurde verhaftet und wegen diverser, fadenscheiniger Vergehen angeklagt. Als dann allerdings ein Fernsehteam von CN8 den großen Zaun bei Gerbach überwinden konnte und Liveaufnahmen von der Bannmauer sendete, hat man mich schließlich wieder frei gelassen. Die Aufnahmen gingen um die ganze Welt und das Interesse am Bannwald war sehr lange das Wichtigste in allen Nachrichtensendungen und Talkshows. Ich ahne vielleicht nur, was ich – dir damit angetan habe und wenn du jetzt nicht mehr mit mir reden möchtest, mir nicht mehr deine Geschichte erzählen willst, sondern mich vor die Tür setzt, kann ich das nur zu gut verstehen.«
Fragend, aber durch ihr offenes Erzählen etwas selbstsicherer geworden, schaut sie Wilhelm an.
»Bevor ich mich eventuell dazu entschließe, möchte ich doch gerne noch wissen, wie du mich gefunden hast. Dieses Haus hier ist das einzige bewohnte, das hinter dem großen Zaun liegt. Und wohl nur wenige ausgewählte Leute kennen es überhaupt oder waren in den letzten Jahren hier. Wie ist es dir gelungen, bis hierher zu kommen?«
Irene setzt sich bei dieser Frage wieder etwas aufrechter in den überaus bequemen Sessel und schaut den rechts von ihr, auf dem Sofa sitzenden Wilhelm eindringlich an. Sein Blick ist ernst und weder seinen Mund noch seine Augen umspielen auch nur den Hauch eines Lächelns.
Ihm scheint es damit ernst zu sein, ihren weiteren Verbleib in seinem Haus von der Beantwortung seiner Frage abhängig zu machen.
Nun, sie war bisher ehrlich und wollte es auch weiterhin bleiben.Selbst, wenn das bei den Angehörigen ihres Berufsstandes nicht zu den hervorstechendsten Charaktereigenschaften gehörte. Sie konnte diesen Mann einfach nicht belügen. Irgendwie wusste sie, dass er es mit seinen hundertfünfundvierzig Jahren sofort sehen würde, wenn sie nicht mehr die Wahrheit sagt.
»Wenn ich recht überlege, war das gar nicht so schwer«, beginnt sie vorsichtig auf seine Frage zu antworten. »Ich habe in den alten Aufzeichnungen der Archive doch alles gelesen, was ich nur finden konnte.Natürlich waren auch jede Menge Fotografien in den Unterlagen.Selbstverständlich habe ich mir die auch alle angeschaut. Eine allerdings fand ich besonders interessant. Sie zeigt dich, wie du mit deiner rechten Hand an einem Baum lehnst. Auf diesem Bild haben deine Gesichtszüge einen ganz besonderen Ausdruck. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass du diesen Baum fast zärtlich berührst und dass er für dich etwas Besonderes zu sein schien. Dieses Foto habe ich verbotenerweise an mich genommen und trage es seither immer bei mir.« Wilhelm beugt sich auf seinem Sofa etwas nach vorne und schaut Irene herausfordernd an.
»Hast du es auch jetzt bei dir?«, fragt er mit einem leichten Zittern in der Stimme, was seine, jetzt ersichtliche Anspannung noch unterstreicht.
»Ja«, antwortet Irene knapp und schaut Wilhelm etwas verwundert an. Was konnte an einer Fotografie, die nur einen Mann zeigt, der an einem Baum lehnte, so besonderes sein, dass allein der Gedanke daran seine Stimmung so abrupt umschlagen ließ?
»Ja, wie gesagt, ich trage sie seither immer bei mir.«
»Kann ich sie sehen?«, fragt Wilhelm, dessen Stimme jetzt förmlich bebt.
»Selbstverständlich«, antwortet Irene, die jetzt offenes Erstaunen über seine Reaktion zeigt. Gleichzeitig neigt sie sich etwas zur Seite, fasst die Handtasche neben ihrem Sessel und stellt sie auf ihre Knie.Ohne den Blick von Wilhelm zu nehmen, öffnet sie eine kleine Seitentasche und entnimmt ihr, das in einen Schutzumschlag gehüllte Foto. Sie öffnet behutsam die schützende Hülle, entnimmt die Fotografie und reicht sie Wilhelm, der sich ihr entgegen beugt. Vorsichtig nimmt er das Foto an sich und betrachtet es eingehend. Irene mustert Wilhelm jetzt aufmerksam und nach wenigen Sekunden bemerkt sie, dass sich seine Augen mit Tränen füllen. Als er ein akkurat gefaltetes Taschentuch aus seiner Westentasche zieht und sich damit die Augen trocknet, ist Irene von seiner Reaktion auf das Bild so gefesselt, das sie die ungeschriebene Regel missachtet, in einer solchen Situation wegzuschauen. Doch Wilhelm scheint dies nicht im Mindesten peinlich zu sein. Er lächelt Irene sogar an.
»Es muss dir befremdlich vorkommen, dass ein alter Mann wegen so eines Bildes in Tränen ausbricht. Du musst mich für einen sentimentalen Sonderling halten«, sagt er jetzt schmunzelnd. Und während Irene gerade tief Luft holt, um eine möglichst unverfängliche Antwort zu geben, redet er weiter.
»Vielleicht hast du damit sogar Recht. Aber vielleicht erkläre ich auch am besten die Besonderheit, die dieses Foto für mich darstellt. Es vereinigt mehrere Einzigartigkeiten in sich, die sich nur dem erschließen, der die Entstehung des Fotos kennt«, beginnt Wilhelm mit seiner Erklärung.
»Ich weiß nicht, was darüber in den Archiven steht, aber dieser Baum ist der erste, den ich aus der Handvoll Bucheckern pflanzte, die ich unter dem Baum fand, den der … äh … Zauberer vor meinen Augen wachsen ließ.
Das Foto entstand hier hinter dem Haus und der Baum steht noch heute. Er ist mir jeden Tag mahnende und schmerzvolle Erinnerung zugleich. Fotografiert wurde ich damals von – meiner Frau. Sie verstarb noch am gleichen Tag. Und um die, so unglaublich anmutende Besonderheit dieses Fotos noch zu unterstreichen, wurde meine Frau auf eigenen Wunsch unter eben dieser Buche begraben.« Unter dem erstaunten Blick Irenes wischt sich Wilhelm erneut die aufkommenden Tränen weg.
»Wenige Wochen nach dem Bann fielen die Journalisten wie die Heuschrecken über mich her. Zuerst baten sie nur um Informationen.Später, weil niemand mehr den Wald betreten konnte, baten sie auch um Fotografien und Bilder aus dem Wald. Eines Nachts schließlich sind sie hier eingebrochen und haben einfach alles mitgenommen, was auch nur im Entferntesten etwas mit dem Wald zu tun haben konnte. Da wir hier nun mal am Waldrand leben, waren natürlich auf den meisten unserer Fotos auch Bäume zu sehen. So habe ich damals einen großen Teil, meiner in Bildern festgehaltenen Erinnerungen verloren. Die Bilder der letzten Wochen mit meiner Familie, waren wie auch dieses hier, verschwunden. Trotz einer Anzeige wurde nie etwas von dem gefunden, was damals gestohlen wurde. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es die Polizei nicht wirklich interessierte oder dass sie von wirklichen Recherchen abgehalten wurde.«
Mit den letzten Sätzen hat sich Wilhelms Stimme wieder gefestigt und er hat seine Fassung wieder gewonnen. Irene schaut ihn fasziniert an und spielt etwas verlegen mit dem Schutzumschlag des Fotos, welches Wilhelm noch immer betrachtet. Behutsam dreht er es um und betrachtet es von allen Seiten.
»Für ein hundert Jahre altes Foto hat es eine erstaunliche Qualität«, sagt er mit einem Blick zu Irene.
»Nun, es war, wie alle anderen auch, in Schutzfolie gebettet. Als ich es … äh – gestohlen hatte, brachte ich es zu einem Freund. Er ist Spezialist für die Konservierung optischer Medien und hat es mit einem Überzug versehen, der es vor UV-Licht und anderen schädlichen Einflüssen schützt. Selbstverständlich kannst du es behalten. Es ist schließlich dein Eigentum, an dem ich ja keine Rechte erwerben kann, nur weil ich es zurückgestohlen habe.«
Mit diesen Worten reicht Irene ihm die Schutzhülle, die Wilhelm wortlos mit einem Kopfnicken entgegen nimmt.
»Dafür habe ich nun ja keine Verwendung mehr und irgendwie denke ich, gehören die beiden zusammen«, kommentiert sie die Übergabe der Hülle. Wilhelm steckt behutsam das Foto hinein und legt es vorsichtig auf den Tisch.
»Denkst du, es besteht die Möglichkeit an weitere Fotografien zu kommen, vielleicht sogar auf legalem Weg?«, fragt er Irene und schaut sie dabei erwartungsvoll an.
»Da lässt sich bestimmt etwas machen. Es sollte ausreichen, wenn in den Archiven Kopien gelagert werden. Versprechen kann ich freilich nichts, aber ich werde es auf jeden Fall mit Nachdruck versuchen.
Spätestens, wenn es publik wird, dass dir diese Fotos oder zumindest doch ein sehr großer Teil davon gestohlen wurden, wird sich jemand finden, der eine Wiedergutmachung oder zumindest die Rückgabe der gestohlenen Dinge in die Wege leiten kann.« Wilhelm lächelt sie an und füllt mit ruhiger Hand ihr Weinglas auf.
»Deine Bereitschaft das für mich zu tun ehrt dich sehr, aber ich weiß jetzt noch immer nicht, wie es dir gelungen ist, bis zu diesem Haus zu gelangen.«
Bei diesen Worten schaut Wilhelm sie herausfordernd an. Irene begegnet seinem Blick mit einem leichten Anflug von Stolz.
»Nun ja, wie schon erwähnt, fand ich es nicht besonders schwierig.Wie du ja schon selbst gesagt hast, ist auf vielen der Fotos, die ich im Archiv anschauen konnte, Wald zu sehen. Ein Großteil dieser Fotos hatte einen fast gleichen oder doch zumindest sehr ähnlichen Hintergrund.Schon vor Monaten hatte ich einige dieser Bilder »ausgeliehen« und bin mit ihnen den großen Zaun entlang gelaufen. Zumindest überall dort, wo man nicht durch die Militärposten daran gehindert wird. Als ich dem Sonnenstand auf einigen der Bilder etwas mehr Beachtung schenkte, konnte ich die, in Frage kommende Gegend, stark einschränken.
Aber gerade, als ich mit meinen Nachforschungen wieder ins Stocken zu geraten schien, bekam ich eine Einladung zum Innenminister. Zuerst wurde ich sehr höflich empfangen. Dann fragte mich der Minister, ob ich mich einer Befragung stellen würde. Einige der Wissenschaftler, die schon seit jeher am Rätsel um den Bannwald arbeiten, würden sich gerne mit mir unterhalten und mir einige Fragen stellen. Zuerst dachte ich, es würde wieder so eine Art Verhör werden, wie ich sie bei der Kripo zur Genüge erleben durfte.
Aber schnell gewann ich den Eindruck, dass es sich bei diesem »Treffen« vielmehr um einen informellen Austausch handeln sollte. Dann begann ich mich zu fragen, was ich wohl wissen könnte, das der Minister oder die Leute vom Wissenschaftsrat noch nicht wissen sollten. Allerdings stellte sich sehr schnell heraus, dass sie weniger an Informationen von mir interessiert waren, als vielmehr daran, mir Informationen zu geben.
Ich bekam sogar einen Militärausweis und durfte mich fortan auch in den Sperrbereichen um den großen Zaun aufhalten. Nun, um es auf den Punkt zu bringen, sind mir am Kontrollpunkt 8 wenige hundert Meter von hier, dann zum ersten Mal die Ähnlichkeiten zwischen der Gegend hier und den Fotografien aufgefallen. Der Rest war fast zu einfach, um ihn zu erzählen. Es wird der Großartigkeit dieser Geschichte einfach nicht gerecht.«
Wilhelm schaut sie mit einer Spur ernster Neugier im Blick an.
»Ich weiß nicht, ob diese Geschichte wirklich schon so großartig ist, wie du behauptest oder ob sie vielleicht gerade erst beginnt. Du musst dir also keine Gedanken machen, ob du ihr gerecht wirst oder nicht. Und diesen, in deinen Augen so einfachen Rest, möchte ich doch zu gerne noch hören. Er könnte vielleicht doch wesentlich interessanter sein, als dir bewusst ist.« Jetzt war es an Irene, ihn fragend anzuschauen.
»Hm, ich möchte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, ich würde dieser Geschichte oder den ihr zugrunde liegenden Ereignissen nicht den gebührenden Respekt oder Beachtung schenken. Immerhin habe ich das Gefühl, dass ich ihr mein Leben gewidmet habe. Trotzdem drängt es mich dazu zu erwähnen, dass es fast zu einfach war, dieses Haus hier zu finden.
Um es mal wieder auf den Punkt bringen zu wollen, wenn ich das so salopp sagen darf, habe ich den Wachmännern am Kontrollpunkt unten nur dein Foto gezeigt. Ich habe sie gefragt, ob dich einer der beiden schon einmal gesehen hat.«
Mit einem etwas verlegen wirkenden Grinsen erzählt sie weiter.»Der Jüngere von den beiden hat mich von Kopf bis Fuß gemustert und nur mit dem Kopf genickt. Dann sagte er – ja ja, schon. Der geht öfters hier durch. Muss ein hohes Tier sein. Er hat einen Ausweis mit der höchsten Sicherheitsstufe. Sein Kamerad hat ihn sofort angeblafft und scharf angesehen, aber da war es eben schon zu spät. Ich habe mich höflichst bedankt und bin den Weg zwischen Kontrollpunkt und großem Zaun immer wieder abgelaufen.
Dann ist mir das große Gebüsch einige hundert Meter links vom Weg aufgefallen. In der Abenddämmerung bin ich hingelaufen und habe es mir aus der Nähe angeschaut. Ich fand es war ein ausgezeichneter Platz, um von dort aus den ganzen Weg im Auge behalten zu können, sowie auch einen recht großen Teil des Zaunes. In den folgenden Tagen habe ich, jeweils im Dunkeln, Decken, Fernglas, Nachtsichtgerät, Knabberei und Getränke dort deponiert und mich dann auf die Lauer gelegt.Lange musste ich nicht warten. Am ersten Abend, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, habe ich dich den Weg zum Kontrollpunkt gehen sehen.Nach zwei Stunden bist du den Weg zurückgekommen. Ich hatte das Nachtsicht-Tele auf und habe genau gesehen, wie du an welcher Stelle durch den Zaun gegangen bist. Dann bin ich zurück in den Verlag und habe mich seither auf dieses Interview vorbereitet. Sie sehen …«
Wilhelm sieht sie scharf an und zeigt sofort ein verschmitztes Lächeln.
»Tschuldigung«, sagt Irene sofort. »Du siehst …«, fährt sie grinsend fort, »es war überhaupt nichts Besonderes daran und schon gar nichts Spektakuläres.« Sie schaut Wilhelm erwartungsvoll an, so als ob sie von ihm eine Bestätigung ihrer Sicht der Dinge erwartete. Doch Wilhelm schaut nur versonnen auf das Foto, das vor ihm auf dem Tisch liegt.
»Nun, das kommt ganz und gar darauf an, aus welchem Blickwinkel man das Geschehene betrachtet und welches Wissen man einer Beurteilung zu Grunde legt. Fangen wir doch mit den Wachposten an.
Seit sechzig Jahren ist an keinem der Kontrollpunkte mehr als eine Wache im Einsatz. Wieso hast du also mit zweien reden können?
Was auch überaus interessant ist, ist die Tatsache, dass auf über einem halben Kilometer um den großen Zaun nicht anderes wächst als Gras. Nicht dass man alles andere abmähen oder anderweitig entfernen würde, es wächst nur einfach nichts als Gras auf diesem Streifen. Und das ist nun schon seit hundert Jahren so. Seltsam, dass es in den Aufzeichnungen der Archive nicht erwähnt wird. Wenn wir jetzt nachschauen würden, wäre da kein Gebüsch, genauso wenig, wie es die letzten hundert Jahre da gewesen wäre.«
Als er Irenes erstaunten und fast empörten Blick sieht, setzt er sofort nach. »Ich will damit nicht sagen, dass während deiner Beobachtungen keines da war oder dass du es dir nur eingebildet hättest. Ich möchte damit nur sagen, dass dein Unterfangen gar nicht so profan oder unspektakulär war, wie du es beschreibst und wohl auch empfunden hast. Und schließlich drängt sich da noch eine weitere Frage auf. Der Innenminister, wie auch die Mitglieder des Wissenschaftsrates wissen genau, wie man zu meinem Haus gelangt. Sie waren schon mehrfach hier und hätten es dir problemlos erklären können. Warum hat das keiner getan?«
Wilhelm schaut sie jetzt mit einem durchdringenden und fragenden Blick an. Irene erwidert ihn stirnrunzelnd.
»Das – das kommt ein wenig überraschend, und wenn das alles der Wahrheit entspricht, kann ich mir nichts davon wirklich erklären. Um ehrlich zu sein, hört sich das alles doch recht seltsam an. Nicht das ich – dir nicht glauben würde oder möchte, aber es klingt doch ein wenig unlogisch. Ein mehrere Kubikmeter großes Gebüsch wächst und verschwindet doch nicht über Nacht. Und jedes Mal, wenn ich an einem Kontrollpunkt war in den letzten Monaten, waren dort immer zwei Wachleute.
Das einzige, was mir noch einen Sinn ergibt, ist die Tatsache, dass mir niemand erklärt hat wie ich zu diesem Haus komme. Andererseits wollte ja aber auch niemand bestätigen, dass es dich noch gibt. Alles in Allem sind die Umstände mehr als interessant und sie steigern meine Neugier auf die Geschichte, die du wohl zu erzählen hast, immens. Meine Frage jetzt ist, habe ich die Prüfung bestanden und darf noch bleiben, mit der Hoffnung deine Geschichte zu hören oder bin ich durchgefallen und werde jetzt rausgeworfen?«
Das letzte Wort unterlegt Irene mit einer Spur Ironie. Sie hofft, damit noch einmal, ein kleines bisschen Einfluss auf seine Entscheidung nehmen zu können.
Aber Wilhelms Entscheidung steht schon längst fest. Er hat Irene genau beobachtet, als sie erzählte. Und er hat dabei eine überaus interessante Feststellung gemacht. Nicht nur, dass er wohl schon viel zu lange allein lebt, sondern vielmehr die Tatsache, dass ihm Irene gefällt. Nicht das er schon bereit gewesen wäre zuzugeben, dass er etwas für sie empfinden könnte, aber er ist der Meinung, dass Irene eine attraktive Frau ist.
Und das war schon eine ganze Menge, für jemanden, der schon so lange alleine lebt wie er. Doch genau deswegen muss er vorsichtig sein. Aber Irene seine Geschichte zu erzählen kann kein Fehler sein. Er nimmt sich vor, erstmal die Geschichte so zu beginnen, wie er sie von Anfang an erzählt hatte. Nur das grobe Gerüst, das alle für die eigentliche Geschichte hielten. Die Ergänzungen, die er mittlerweile erlebt hatte, will er noch eine Weile für sich behalten. Es würde ihm schwer fallen, dessen war er sich bewusst. Schließlich ist sie ja genau aus diesem Grunde hier, wenngleich sie es auch zu diesem Zeitpunkt wohl als einzige Beteiligte noch nicht weiß. Irgendwie kommt sich Wilhelm auch ein wenig schäbig vor.
Ist er es doch, der für ihre Anwesenheit hier zu diesem Zeitpunkt gesorgt hat. Unter Vielen wurde sie ausgesucht und irgendwann würde er ihr auch den Grund dafür erklären. Aber jetzt musste er noch vorsichtig sein. Adalbert war sich bei seiner Auswahl zwar sicher, bat Wilhelm aber dennoch, die vermutete Tiefe in ihr noch zu erforschen. Er würde bei seiner Erzählung einige Fragen einstreuen, die es ihm ermöglichen sollten, sich einen genauen Einblick in ihre Einstellungen und Überzeugungen zu verschaffen.
»Also rauswerfen werde ich dich nicht. Ich lebe zwar wohl schon zu lange zurückgezogen von den Menschen, aber was sich gehört, weiß ich noch immer. Und ich hoffe doch sehr, dass ich nicht vergessen habe, wie man sich einer – interessanten Frau gegenüber verhält. Aber bevor ich abschweife und vielleicht sogar noch anfange dir Komplimente zu machen, kehre ich besser zum Thema und dem – eigentlichen Grund deines Besuches zurück.
Die Prüfung bestanden … nun, ich werde es mal so formulieren, du hast bisher alle Tests bestanden, um bleiben zu können. Ich hoffe, dass dich diese Aussage jetzt nicht zu sehr verwirrt?«
Wilhelm zieht beide Augenbrauen hoch, was seinem markanten Gesicht einen nachdrücklich fragenden Eindruck verleiht. Irene schaut ihn etwas belustigt an. Langsam beginnt sie, sich in Wilhelms Gegenwart wohler zu fühlen. Ihre anfängliche Anspannung legt sich und weicht einem immer stärker werdenden Gefühl der Vertrautheit.
»Zuerst vielen Dank für das Kompliment, das du mir beinahe gemacht hast.« Wilhelm, der sie musternd angeschaut hat, muss grinsen.
»Weiter möchte ich dir sagen, dass mich deine Antwort nicht im Mindesten verwirrt. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass diese ganze Geschichte ein einziger Test für mich ist.
Immer wieder bin ich bei meinen Nachforschungen an Grenzen gestoßen. Doch jedes Mal ist irgendetwas geschehen, das mich wieder ein kleines Stück weiter brachte. Zuerst dachte ich, dass das Schicksal es gut mit mir meinen würde. Doch hin und wieder geschahen so seltsame Dinge, dass ich schon fast an Zauberei geglaubt hätte. Aber was ist Zauberei schon anderes als Magie. Das Leben ist so voller Magie, dass es selbst der reinste Zauber ist. Ich weiß, das mag jetzt vielleicht etwas versponnen klingen, aber ich habe genug Seltsames erlebt, dass ich mir das Recht herausnehmen kann, an Magie zu glauben.«
»Aber nein«, wirft Wilhelm mit etwas zu viel Begeisterung in der Stimme ein. »Es klingt und ist absolut nicht versponnen. Das war ein sehr schöner Satz über die Magie und den Zauber des Lebens. Er enthält wohl mehr Wahrheit, als dir bewusst ist. Aber dazu vielleicht später mehr.«
Irene ist etwas erstaunt über Wilhelms spontanen Begeisterungsausbruch, als sie die Magie erwähnt. Dabei ist sie doch der Dreh- und Angelpunkt in seiner Geschichte. Die Magie und den damals gewirkten Zauber zu verstehen, war eine lange Zeit der einzige Antrieb ihres Lebens.
Hier bei Wilhelm erhofft sie nun die Teile des Rätsels zu erfahren, die ihr bisher verschlossen sind. Er ist ja schließlich der einzige, noch lebende Mensch, der jemals einem Zauber beigewohnt hatte. Damals wurden viele Menschen, die vor dem Bann im Wald lebten oder arbeiteten, Zeuge von Magie und Zauberei.
Aber die zivilisierte Gesellschaft wollte oder konnte das damals nicht als real akzeptieren. Die damaligen Zeitzeugen wurden verspottet und ihre Geschichten aufs Lächerlichste verstümmelt. Einige wurden mit dem immensen Druck der Medien nicht fertig und sind unter starken Beruhigungsmitteln und Psychopharmaka, in der Alzeyer Nervenklinik, langsam an der Ignoranz der Menschen zerbrochen. Andere haben es nicht einmal soweit geschafft. Sie hatten nach Jahren der öffentlichen Demütigung den Freitod gewählt. Gerade in diesem Moment erinnert sich Irene an viele der ältesten Informationen. Sie blickt zu Wilhelm auf, der sie die ganze Zeit schweigend angeschaut hat. Als sie ihm in die Augen schaut, glaubt sie zu erkennen, dass er über Wissen verfügt, worüber er vielleicht niemals reden wird.
»Ich denke, für dich hat Magie eine ganz andere Bedeutung. Du hast sie selbst erlebt. Du warst Zeuge von Geschehnissen, woran es den Menschen nicht mehr möglich ist zu glauben. Das ist auch ein Grund, warum ich hierhergekommen bin.
Ich erhoffe mir Dinge zu erfahren, die es vielleicht nicht nur mir ermöglichen könnten, die Wahrheit über den Bannwald zu erkennen und – vielleicht auch zu verstehen. Eben deswegen möchte ich diese Geschichte noch einmal hören. Erzählt von dem Mann, der sie auch erlebt hat.«
Ohne den Blick von Irene zu nehmen, lehnt sich Wilhelm zurück in sein Sofa. Er dreht sich etwas in ihre Richtung und macht es sich bequem.
»Und wieder sprichst du etwas aus, das mehr Bedeutung enthält, als du bisher darin zu sehen vermagst. Magie ist so viel mehr als Zauberei und Zauberei ist mehr als bloße Magie. Wenn du bereit bist zuzuhören, erzähle ich dir meine Geschichte.«