Der Baum des Lebens und andere christliche Symbole - Roberta Russo - E-Book

Der Baum des Lebens und andere christliche Symbole E-Book

Roberta Russo

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Beschreibung

Kryptische Zeichen, rätselhafte Symbole und geheimnisvolle Schriften erscheinen an den Wänden der katakomben, in den Mosaiken der großen Basiliken, auf heiligen Gewändern, auf Altären, auf Ikonen und in allen biblischen Büchern von der Genesis bis zur Apokalypse. Dieses Buch führt in 100 SChritten durch den geheimen Garten christlicher Symbole, die die westliche Welt bis in unsere Zeit geprägt haben.

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Roberta Russo

Der Baum des Lebens

und andere christliche Symbole

Aus dem Italienischen von Stefanie Römer

Originalausgabe:

Roberta Russo, L’albero della vita e gli altri simboli cristiani

© 2017 Fondazione Terra Santa, Mailand

Edizioni Terra Santa, Mailand

1. Auflage 2018

© 2018 Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Für die Texte der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe.

© 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart

Umschlaggestaltung, Layout, Satz und Illustrationen: Finken & Bumiller, Stuttgart Umschlagmotiv: © akg-images.de

Benozzo Gozzoli (1420–1497): Granatapfelbaum (Ausschnitt aus »Anbetende Engel«)

Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Lípová 1965, 737 01 Český Těšín, Czech Republic Verlag: Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Silberburgstraße 121, 70176 Stuttgart

www.bibelwerk.de

ISBN 978-3-460-27110-4

eISBN 978-3-460-51066-1

Inhaltsverzeichnis

Der »geheime Garten« – 100 Wegweiser, um sich im Universum der christlichen Symbole nicht zu verirren

DER BAUM DES LEBENS

1 / Der Weltenbaum – Der Archetyp

2 / Der Baum des Lebens – Am Anfang

3 / Der Baum der Erkenntnis – Der Griff nach der Weisheit

4 / Der Baum des Kreuzes – Jesus hat den Tod besiegt

5 / Das Taukreuz – Das Blutgerüst des Messias

6 / Die Wurzel Jesse – Der Stamm Davids

7 / Der Christbaum – Das Fortbestehen des Lebens

8 / Der Feigenbaum – Untreue und Weisheit

9 / Der Kerzenleuchter – Der Baum des Lichts

10 / Der Garten – Der »hortus conclusus«

KOSMOGONISCHE SYMBOLE

11 / Der Abgrund – Zerfall und Grenzenlosigkeit

12 / Der Regenbogen – Eine Brücke zwischen Himmel und Erde

13 / Der Himmel – Die Hälfte der Welt

14 / Die Sterne – Sehnsucht und Universalität

15 / Der Zirkel – Der Bauplan des Universums

16 / Das Buch – »Liber mundi«

17 / Der Mond – Die jungfräuliche Empfängnis

18 / Die Wolken – Die Zeit der Prüfung

19 / Die Sonne – Die Verheißung des Glücks

20 / Der Tierkreis – Makrokosmos und Mikrokosmos

BIBLISCHE SYMBOLE

21 / Die Schlange – Verführung und Energie

22 / Der Drache – Der Feind Gottes

23 / Die Arche – Das Wort Gottes und seine Gegenwart

24 / Der Apfel – Die verbotene Frucht

25 / Der Sauerteig – Verderbtheit und Reich Gottes

26 / Babel – Verwirrung und Wissensdurst

27 / Der Wal – Tod und Auferstehung

28 / Das Schwert – Krieg und Frieden

29 / Engel und Dämonen – Der Kampf zwischen Gut und Böse

30 / Der Weinstock – Das Volk Israel

SYMBOLE DER KATAKOMBEN

31 / Das Lamm – Unschuld und Vertrauen

32 / Der Anker – Die »crux dissimulata«

33 / Die Taube – Leichtigkeit und Unschuld

34 / Der Phönix – Auferstehung und Unsterblichkeit

35 / Das Christusmonogramm – Zwischen Alpha und Omega

36 / Das Schiff – Vom Leben zum ewigen Leben

37 / Die Palme – Ruhm und Martyrium

38 / Der Hirte – Jesus, der Retter

39 / Der Pfau – Schönheit und Ewigkeit

40 / Der Fisch – Das geheime Zeichen

ANTHROPOMORPHE SYMBOLE

41 / Adam – Erde und Blut

42 / Adam und Eva – Sich als Paar bekennen

43 / Abraham – Der Schoß der Gerechten

44 / Der Messias – Der Gesalbte des Herrn

45 / Die Jungfrau Maria – Mütterlichkeit und Göttlichkeit

46 / Die Weisen aus dem Morgenland – Auf der Suche nach Gott

47 / Die Apostel – Die Erkennungszeichen

48 / Die Evangelisten – Der Tetramorph

49 / Der Pantokrator – Der Weltenherrscher

50 / Longinus – Die heilige Lanze

ZAHLENSYMBOLE

51 / Die Eins – Das Absolute

52 / Die Drei – Die Ganzheit

53 / Die Vier – Die Erde und die Vollständigkeit

54 / Die Fünf – Das Pentagramm und die Brote Christi

55 / Die Sechs – Die Unvollkommenheit

56 / Die Sieben – Die Vollkommenheit

57 / Die Acht – Der achte Tag

58 / Die Zwölf – Die Vollständigkeit

59 / Die Vierzig – Erwartung und Vorbereitung

60 / Die Hundert – Segen und Belohnung

ARCHITEKTONISCHE SYMBOLE

61 / Die Tür – Der Übergang

62 / Der Turm – Jenseits des Alltäglichen

63 / Die Säule – Die Weltachse

64 / Der Stein – Fundament und Festigkeit

65 / Die Leiter – Gott entgegen

66 / Das Glasfenster – Die Magie des Lichts

67 / Der Altar – Der Tisch

68 / Die Kuppel – Das Himmelsgewölbe

69 / Das Labyrinth – Der Weg zum Absoluten

70 / Jerusalem – Die Stadt Gottes

MYSTISCHE SYMBOLE

71 / Die Nacktheit – Im Angesicht der Wahrheit

72 / Der mystische Kuss – Der Bund mit Gott

73 / Das Feuer – Das Brennen der Liebe

74 / Der Berg – Hin zu Gott

75 / Das Herz – Der Ort der Bekehrung

76 / Die Wüste – Meditation und Versuchung

77 / Die Nacht – Das Schweigen Gottes

78 / Das Licht – Das Numinose

79 / Die Sonnenblume – Auf der Suche nach Erleuchtung

80 / Der Atem – Hauch und Wind

THEOLOGISCH-SPIRITUELLE SYMBOLE

81 / Das Credo – Das Symbol des Glaubens

82 / Die Dreieinigkeit – Symbolische Darstellungen

83 / Das Fasten – Bekenntnis des Glaubens

84 / Die Fastenzeit – Zeit der Buße

85 / Die Asche – Die Vergänglichkeit

86 / Die Pilgerreise – Das Leben als Übergang

87 / Das Blut – Leben und Sühne

88 / Die Krone – Würde und Königtum

89 / Der Gürtel – Bereitschaft und Wachsamkeit

90 / Die Perle – Das Reich Gottes im Herzen

SYMBOLE DER RITEN

91 / Das Wasser – Bescheidenheit und Transparenz

92 / Das Öl – Kraft und Wachsamkeit

93 / Das Brot – Universelle Nahrung

94 / Der Wein – Das Blut Christi

95 / Der Kelch – Heil und Schicksal

96 / Die segnende Hand – Die Anrufung des Guten

97 / Das weiße Gewand – Neues Leben in Christus

98 / Der Weihrauch – Das Gebet steigt zum Himmel

99 / Die Ikone – Ein Antlitz und eine Präsenz

100 / Das Amen – Christus angehören

Bibliografie

Der »geheime Garten«

100 Wegweiser, um sich im Universum der christlichen Symbole nicht zu verirren

Wir schreiben das Jahr 1905. Im Stoclet-Palais, einer vom Architekten Josef Hoffmann soeben erst erbauten Privatvilla in Brüssel, geschieht etwas Fantastisches. Die Innengestaltung des als Meisterwerk gerühmten Bauwerks wird in die Hände großartiger Künstler gelegt, deren Aufgabe darin besteht, Kunst und reales Leben zu einer Einheit verschmelzen zu lassen. Einer von ihnen ist Gustav Klimt, der den Auftrag erhält, das Esszimmer auszuschmücken. Der Künstler wird einen Fries von seltener Schönheit erschaffen, ein dreiteiliges prachtvolles Mosaik aus harten Steinen, Marmor, Emailsteinen und Perlmutt: den Baum des Lebens. Eine Art überwältigendes Triptychon, in dem sich drei einzelne, sieben Meter lange Bilder zu einem Gesamtkunstwerk fügen, welches eine einzige große Geschichte erzählt.

Das zentrale Motiv des Werks ist ein goldener Baum mit unzähligen, in Voluten endenden Zweigen, aus deren verschlungenen Linien Figuren entstehen, die an Wolken und Wellen erinnern. Über die konkrete Botschaft hinaus, die der Künstler mit seinem Werk vermitteln wollte, ist dieser Baum ein Archetyp von uralter symbolischer Bedeutung, die von vielen Kulturen vom Urbeginn der Kunst an durchdekliniert wurde: Der Baum ist Erkenntnis, der Baum ist Leben.

Auf dem linken Seitenpaneel ist eine weibliche Figur mit nach rechts gewendetem Gesicht zu sehen. Dieser Teil des Mosaiks von prachtvollem Glanz trägt den Titel Die Erwartung. Die unnatürliche Haltung der Frau, ihre Frisur, ihre Kleidung und ihre orientalische Schönheit beschwören die Bilder des alten Ägypten und den figurativen Stil dieser fernen Welt herauf. Das Mädchen ist eine Tänzerin, ihr Körper ist von übernatürlicher, abnormer Größe und ihr buntes Kleid ist mit goldenen Dreiecken, hängendem Geschmeide gleich, übersät.

Auf dem rechten Seitenteil ist die eindrucksvolle Darstellung eines jungen Liebespaares in einer zärtlichen Umarmung zu sehen, das mit dem ornamental verzierten Mantel, der beide umhüllt, zu einer Einheit verschmilzt; die Szene strahlt innige Zärtlichkeit und Zuneigung aus und berührt den Betrachter zutiefst. In diesem Teil des Triptychons, betitelt Die Umarmung, überdeckt der Körper des Mannes den der Frau und lässt nur ihr Gesicht zum Vorschein kommen. Die Kleider und alles, was sie umgibt, leuchten in prunkvollen roten, ockerfarbenen oder goldenen Farbfragmenten, die einander in einem virtuosen Spiel aus geometrischen Figuren ergänzen.

Nach der Sünde des Ungehorsams im Paradies möchte Klimt die Versöhnung zwischen Mann und Frau, die Freude des wiedergefundenen Kontaktes zum Ausdruck bringen. Der Baum des Lebens steht somit als Bindeglied zwischen der Erwartung und der Versöhnung; er vertreibt die Einsamkeit der Frau und bringt den beiden Liebenden Wärme. Der augenfällige Unterschied zwischen dem linken und dem rechten Bildteil tritt auch in der Geometrie der Kleider zutage: Das Kleid der Frau zur Linken ist mit kantigen, dreieckigen Formen verziert, während das Paar in die weichen Bewegungen der farbigen Kreise eingehüllt ist. Der Baum wächst zwischen der stolzen Strenge der Tänzerin und dem Liebestaumel der beiden jungen Leute empor. Auf einem Zweig des Baums sieht man einen schwarzen Vogel kauern, dessen auffälligstes Merkmal das Fehlen jeglicher Farbe ist: Er ist der Inbegriff des Todes, die stets präsente Drohung, die bewegungslos wartet.

Der Weltenbaum oder Baum des Lebens ist eines der ältesten, bedeutungsreichsten und bekanntesten Symbole der Geschichte der Menschheit. Um diesen noch heute faszinierenden und geheimnisvollen Archetypus der kollektiven Vorstellung herum erblühte – wie wir in diesem Buch sehen werden – das symbolische Universum der gesamten Menschheit und des Christentums.

Bei der Betrachtung von Kunstwerken, aber nicht nur dort, nimmt man oft – mehr oder weniger aufmerksam – Inschriften, Graffiti, Verzierungen zusammen mit Abbildungen von Tieren, Blüten, Früchten und verschiedenen unverständlichen Zeichen auf heiligen Paramenten, Tabernakeln, Altären und Ikonen wahr; in solchen Momenten fragt man sich manchmal spontan, was sie wohl bedeuten mögen.

Hierzu ist es vorab vor allem notwendig, den wesentlichen Unterschied zwischen Symbol und Zeichen zu klären.

Beim Zeichen – sei es eine bildliche Darstellung, ein Gegenstand, ein Element oder eine Inschrift – verstehen wir die Botschaft unmittelbar. Ein Straßenzeichen beschränkt sich darauf, etwas anzuzeigen, aber es hat nichts mit der Realität zu tun, auf die es verweist.

Das Symbol hingegen enthält stets zumindest einen Bruchteil der Realität, auf die es verweist: Die Nationalflagge eines Staates zum Beispiel, die gehisst wird, um das Bestehen ihrer Nation zu ehren, ist mit tiefer institutioneller und emotionaler Bedeutung aufgeladen. Ein Straßenschild zu zerstören, ist ein Akt des Vandalismus, eine Flagge zu verbrennen, bedeutet Hass, es bedeutet eine ganze Nation angreifen zu wollen.

Das Symbol vereint zwei offenbar unterschiedliche Realitäten. Das griechische Wort symbolon leitet sich tatsächlich von dem Verb syn-ballein her, das »zusammenbringen«, »vereinen« bedeutet. Nur eine Vereinbarung, eine mehr oder weniger stillschweigend getroffene Übereinkunft schafft das Band, das – einmal akzeptiert – zum emotional bedeutsamen und bindenden Instrument wird. Das Symbol verbindet die symbolisierte Realität und das Subjekt, das sie erfährt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Für die Christen ist das vom Priester in der Eucharistie gewandelte Brot der göttliche Leib Christi, wer davon isst, hat teil an seiner Wesenheit.

Eine ganz ähnliche Bedeutung wohnt dem Wort Religion (lat. religio, aus der Wurzel re-ligare »an eine Sache binden«) im Sinne all jener rituellen Praktiken inne, welche eine Gemeinschaft aus Individuen mit dem Göttlichen und ihren Mitmenschen in Beziehung setzen.

Die religiösen Symbole sollten – dank ihrer Einfachheit, Unmittelbarkeit und Universalität – zu einem leichteren Verständnis der theologischen Vorstellungen beitragen und mittels der jeweiligen Traditionen die Verbreitung des Glaubens in breiten Bevölkerungsschichten befördern. Die Heiligenbilder – ob Gemälde, Fresken oder Statuen – sind gleichfalls Symbole, die das Gebet unterstützen und die Frömmigkeit fördern sollen.

In den Anfängen des Christentums griff man auch deshalb auf Symbole zurück, weil die Anbetung von Bildern verboten war; der aus der jüdischen Tradition ererbte Ikonoklasmus unterband jegliche figurative Darstellung von Christus und Maria.

Darüber hinaus entwickelten die ersten verfolgten Christen mangels öffentlicher Kultstätten einen paradigmatischen Code, um den Weg des Glaubens heraufzubeschwören und zu nähren, indem sie heidnische Zeichen übernahmen und sie mit einer religiösen Bedeutung versahen. Als sprechende Zeichen der Zugehörigkeit griffen sie auf verschiedene stilisierte Formen wie den Fisch, den Anker, die Taube oder den Phoenix zurück: Allesamt Symbole heidnischen Ursprungs, die den Gläubigen tiefere Einblicke ins Christentum gewähren sollten und gleichzeitig dazu dienten, die »Geheimnisse« des Glaubens vor den Ungläubigen zu verschleiern.

Abgesehen von einigen Nuancen veränderte sich die christliche Symbolik bis zur Zeit Konstantins kaum, egal, an welchem Ort. Die Bilder wurden mit groben Werkzeugen geschaffen: Ein einfaches Graffiti in wenigen Farben genügte, um das Wesentliche zu kommunizieren und um wirksam zu katechisieren.

Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang vor allem die Einheitlichkeit des Stils und die stets wiederkehrenden Motive: Von Kleinasien über Nordafrika und Spanien bis nach Italien finden sich überall dieselben Symbole. Bis heute bleibt diese Übereinstimmung ein ungeklärtes Rätsel, ließ sich doch diesbezüglich niemals eine offizielle Weisung der Kirche entdecken.

Es sei bemerkt, dass die Bilder zu jener Zeit noch nicht den Rang von Kultobjekten hatten: Weil sie keine unmittelbaren Darstellungen Christi oder der Jungfrau Maria waren, wurden sie nicht verehrt, sondern blieben im rein anschaulichen Feld der Symbolik.

Jede Sprache fungiert als Überbringer und Vermittler von Bedeutungen. Daher lebt auch die Sprache der Symbole von der Spannung zwischen dem Signifikant, das heißt dem Bezeichnenden, und dem Signifikat, dem Bezeichneten. Während die Zuordnung eines sprachlichen Zeichens zum jeweils bezeichneten Gegenstand rein zufälliger Natur ist, besteht beim Symbol eine enge Verbindung zwischen Signifikant und Signifikat. In der Vergangenheit – namentlich in der mythisch-magischen Weltsicht – war diese Verbindung so eng, dass beide Seiten nahezu identisch waren. Viele Bedeutungen, die wir heute als Symbole sehen, wurden daher in früheren Zeiten als die Realität selbst aufgefasst: Die Sonne war nicht das Symbol des göttlichen Lichts, sie selbst war ein Gott; die Schlange war nicht das Sinnbild des Bösen, sie war das Böse; die Farbe Rot symbolisierte das Leben nicht nur, sie war die Lebensenergie selbst. Die Grenzen zwischen der mythisch-magischen Fantasie und der symbolischen Vorstellung sind also fließend.

Ein weiteres Merkmal des Symbols ist seine Mehrdeutigkeit, die so ausgeprägt sein kann, dass sich völlig gegensätzliche Bedeutungen in ein und demselben Symbol vereinen. Während wir die Mehrdeutigkeit sprachlicher Zeichen (ob gesprochen oder geschrieben) beseitigen oder abschwächen können, indem wir sie durch andere Zeichen ergänzen oder bestimmte Grammatikregeln befolgen, können wir die Ambivalenz eines Symbols immer nur vage und ungenau übersetzen: Der dem Symbol innewohnende Bilderreichtum bleibt letzten Endes – außer für den inneren Blick – unübersetzbar.

Diese zwei Problematiken – Identität und Ambiguität – begegnen allen, die sich mit Symbolen beschäftigen. Der vorliegende Leitfaden aus hundert Wegweisern hat jenen beiden schwierigen Aspekten die ihnen gebührende Aufmerksamkeit eingeräumt, indem er es sich zum Ziel gesetzt hat, auf relativ knappem Raum das christliche Universum der Symbole vorzustellen, das viele seiner Zeichen aus früheren und fremden Kulturen entlehnt hat. Dieses kleine Büchlein erhebt gewiss keinen Anspruch auf Vollständigkeit und hat sich vorrangig auf jene Symbole konzentriert, denen wohl alle – ob Gläubige oder Nichtgläubige –, die im Kulturkreis des christlichen Glaubens verwurzelt sind, früher oder später einmal begegnet sein dürften.

Der Begriff des Symbols wurde dabei recht weit gefasst, wobei dem Konzept des Überblicks geschuldet die großen theologischen und dogmatischen Fragen nur am Rande berührt werden konnten.

Gelegentlich wurden auch metaphorische Begriffe von symbolhaftem Charakter miteinbezogen, die wir als Redensarten und idiomatische Ausdrücke gewissermaßen verinnerlicht haben.

Auf die psychoanalytische Interpretation von Symbolen wurde nur in solchen Fällen näher eingegangen, wenn sie einen besonders augenfälligen Bezug zur Tiefenpsychologie aufwiesen, obschon es sich wohl von selbst versteht, dass jede Interpretation von Symbolen auch einen psychoanalytischen Aspekt hat.

Das vorliegende Buch, liebe Leserinnen und Leser, möchte Ihnen, begleitet von zahlreichen Beispielen, einen möglichst umfassenden Überblick über die Welt der christlichen Symbole verschaffen und Ihnen zugleich als Anregung dienen, sich hiervon ausgehend allein weiter auf die Suche zu machen.

Warum ist auf den frühchristlichen armenischen Kreuzen niemals der gemarterte Leib Christi dargestellt, wohl aber ein blühender Baum? Wann in der Geschichte begann man die Figur Christi als Fisch zu zeichnen? Woher stammen die Symbole, die auf die vier Evangelisten verweisen? Was bedeuten die griechischen Buchstaben Alpha und Omega neben der Aureole des »Weltenrichters«?

Ob auf den Wänden der Katakomben, den Mosaiken der großen Basiliken, den liturgischen Paramenten, Altären, Ikonen oder in der gesamten Heiligen Schrift von der Genesis bis zur Offenbarung des Johannes – überall stößt man auf kryptische Zeichen, rätselhafte Symbole und geheimnisvolle Inschriften.

Wie bereits erwähnt, vereint das Symbol zwei auf den ersten Blick getrennte Realitäten, die nur durch das Band einer stillschweigend getroffenen Übereinkunft miteinander verknüpft sind. Gerät diese Übereinkunft im Laufe der Zeit in Vergessenheit oder geht gar gänzlich verloren, lässt sich das spirituelle Erbe einer großen religiösen Tradition kaum mehr erfassen.

Dieser kleine Leitfaden möchte seine Leser durch den »geheimen Garten« der christlichen Symbolwelt geleiten, welche die Geschichte des Abendlandes vom Judentum bis zur Ära der Postmoderne geprägt hat.

Als griffiges Nachschlagewerk für all jene, die sich für Religion, Kunst, Kultur und Anthropologie interessieren, möchte er die Kernfragen rund um die Gegenwart und Vergangenheit der Symbole beantworten, die uns noch heute beschäftigen. In allgemein verständlicher Sprache, ohne dabei jedoch auf Genauigkeit zu verzichten, berücksichtigt die Recherche dabei renommierte gelehrte Quellen. Es handelt sich um eine Orientierungshilfe in hundert Schritten, die als Kompass dienen soll, um sich in einem noch heute außerordentlich vielsagenden ikonografischen Universum zurechtzufinden.

Wir wünschen uns, dass dieses Buch dazu beizutragen möge, die Symbole nicht leichtfertig abzutun, sondern dem letzten Resten dieses kulturellen Schatzes vielmehr neues Leben einzuhauchen. Denn wenn es stimmt, dass das Symbol niemals so schulmeisterlich wie das Wort daherkommt, vermag es dem Unbewussten viel mehr über die Realität, von der wir uns nähren, und den Glauben, zu dem wir uns bekennen, einzuflüstern.

/ DER BAUM DES LEBENS

1 / Der Weltenbaum

Der Archetyp

Der Weltenbaum oder auch Baum des Lebens ist eines der ältesten, bekanntesten und bedeutungsträchtigsten Symbole der Menschheitsgeschichte. Ein Archetyp des kollektiven Bewusstseins schlechthin.

Der Laubbaum mit seinen Jahr für Jahr neu austreibenden Blättern war vor allem ein Sinnbild der Wiedergeburt des Lebens, das regelmäßig den Tod besiegt, während der Nadelbaum als Symbol der Unsterblichkeit betrachtet wurde.

Die Gestalt des Baums – mit seinen fest im Boden verankerten Wurzeln, dem kräftigen, senkrecht nach oben wachsenden Stamm und der scheinbar den Himmel berührenden Krone – ist seit jeher ein Verweis auf die existierende Verbindung zwischen den Tiefen der Erde und dem Kosmos, dem irdischen Leben und den wertvollen Geschenken des Himmels (Wasser, Licht, Wind …). Diese Aspekte spiegeln sich in der Vorstellung vom Weltenbaum wider, der entweder als Stütze der Erde oder – noch häufiger – als Verkörperung des kosmischen Baumes gesehen wurde: In der nordischen Mythologie ist zum Beispiel Ygdrasil, die »mythische Esche«, bekannt; in der ägyptischen Esoterik spielen die heilige Sykomore und der Djed (das Rückgrat des Osiris) eine wichtige Rolle. Unter anderen Namen findet sich dieselbe Vorstellung auch in weiter entfernten Kulturen verankert: Der Baum des Lebens wurde und wird von den Hindus Aśvattha und von den Buddhisten ficus religiosa genannt.

Die dichten Baumkronen dieser »Bäume des Firmaments« galten häufig als von Fabelwesen sowie den Seelen der Verstorbenen und der ungeborenen Kinder bewohnt oder man nahm an, dass ihre Äste die auf- und untergehenden Sterne, darunter Sonne und Mond, stützten.

Wohl in Anlehnung an die Tierkreiszeichen glaubte man vor allem in Indien und in China, dass im Geäst des kosmischen Baumes die zwölf Sonnenvögel als die Verkörperung der zwölf Entwicklungsstufen des Seins wohnten.

Ebenso verbreitet sind die anthropomorphischen Deutungen: Der Baum steht aufrecht wie der Mensch und wie dieser altert er und stirbt; bei etlichen Naturvölkern in Zentralasien, Japan, Korea und Australien tritt er als mythologischer Urahn der Menschen in Erscheinung. Von einer Identifikation des Baumes mit dem Menschen zeugt auch der in verschiedenen Gebieten Indiens verbreitete Brauch, die Braut vor der Hochzeit mit ihrem Bräutigam erst mit einem Baum zu vermählen, auf dass die Ehe fruchtbar sein möge; in einem ähnlichen religiösen Kontext ist die symbolische Vermählung zweier Bäume zu sehen, deren Kraft sich dann auf das Brautpaar überträgt.

Auch war der Glaube verbreitet, dass das Feuer verborgen im Holz bestimmter Bäume wohne und sich durch Reibung hervorlocken lasse.

Die Hindutradition entwickelte zudem – in Verbindung mit der mythischen Vorstellung von Höhe und Tiefe – die Idee eines kopfüber wachsenden Baums, dessen Wurzeln im Himmel verankert sind und dessen Äste sich unterirdisch ausbreiten.

Aus dem Baum der Welt ging später der Baum des Lebens (siehe Baum des Lebens, Nr. 2) hervor, Sinnbild der physischen und der immateriellen Kraft und der Verbindung zwischen der materiellen und der spirituellen Welt.

2 / Der Baum des Lebens

Am Anfang

Man nimmt an, dass der Baum des Lebens eine hebräische Adaption der bereits in antiken Kulturen verbreiteten Symbole ist (siehe Der Baum der Welt, Nr. 1).

Im ersten Buch des Alten Testaments steht: »Dann pflanzte Gott, der HERR, in Eden, im Osten, einen Garten und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. Gott, der HERR, ließ aus dem Erdboden allerlei Bäume wachsen, begehrenswert anzusehen und köstlich zu essen, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse« (Gen 2,8–9).

Die dem Midrasch (eine der Auslegungsmethoden religiöser Texte nach den Regeln der jüdischen Schriftgelehrten) und dem Zohar (das bedeutendste Buch der kabbalistischen Mystik) verpflichtete Tradition glaubte, dass die beiden Bäume ursprünglich vereint gewesen seien. Adam selbst habe ihre Wurzeln geteilt, als er vor der Erbsünde noch Macht über die Schöpfung und direkten Zugang zur göttlichen Weisheit besessen habe.

Nach dieser Trennung gebot Jahwe dem Menschen: »Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn am Tag, da du davon isst, wirst du sterben« (Gen 2,16–17).

Das Verbot erstreckte sich einzig auf den Baum der Erkenntnis. Vor dem Ungehorsam hatte Adam tatsächlich sämtliche Früchte essen können, auch die vom Baum des Lebens.

Nach dem Sündenfall verbirgt Gott den Baum des Lebens, um Adam, der das Böse inzwischen kennengelernt und gekostet hat, daran zu hindern, Zugang zum Geheimnis des ewigen Lebens zu finden und dadurch das Prinzip des Bösen absolut zu setzen. Die Stammväter sollten zukünftig die Erfahrung des Todes und der Zerstörung machen, die sie selbst gewählt hatten.

Nach dem verlorenen Zustand der Unschuld im Garten Eden (siehe Garten, Nr. 10) hatte die Menschheit keinen direkten Zugang zum Baum des Lebens mehr, der jedoch für die jüdische mystische Kabbala die einzig wahre Antwort auf das dem menschlichen Herzen innewohnende Verlangen nach Freude, Unendlichkeit und Ewigkeit darstellt.

Der Baum des Lebens ist die Synthese der wichtigsten Lehren der Kabbala. Er ist ein abstraktes und symbolisches Diagramm in Form eines Baumes, bestehend aus zehn Sephirot genannten Emanationen des Göttlichen, die entlang dreier parallel verlaufender vertikaler Äste angeordnet sind. Die Sephirot entsprechen wichtigen metaphysischen Vorstellungen, das heißt verschiedenen spirituellen Ebenen, die es zu erreichen gilt, um sich wieder mit dem Göttlichen vereinigen zu können. Dem praktizierenden Juden dienen sie zudem als ethischer Lehrpfad.

Der Baum des Lebens ist das Programm, nach dem sich die Schöpfung der Welten vollzogen hat: ein langer Weg des Abstiegs, in dessen Verlauf die Seelen und Lebewesen ihre aktuelle Form angenommen haben, aber auch ein aufwärtsweisender Pfad, über den die gesamte Schöpfung zu jenem Ziel zurückkehren kann, nach dem sich alle verzehren: zur Einheit im »Schoß des Schöpfers«, laut eines berühmten Ausdrucks der jüdischen Mystik. Der Baum des Lebens ist die Jakobsleiter (siehe Leiter, Nr. 65), deren unteres Ende auf dem Boden steht und deren oberes den Himmel berührt. Wie die Engel steigt auch das Bewusstsein der Menschen auf dieser Leiter auf und ab.

3 / Der Baum der Erkenntnis

Der Griff nach der Weisheit

Der Baum des Lebens symbolisiert sowohl den ursprünglichen Überfluss des Paradieses als auch die Erfüllung der eschatologischen Verheißung vom Ende der Zeiten. Der zweite in der Genesis erwähnte Baum im Garten Eden, der Baum der Erkenntnis, verkörpert mit seinen verführerischen Früchten hingegen die Versuchung, das göttliche Gebot zu missachten, und ist der Quell der sogenannten »Erbsünde«, die aus Adam und Evas Ungehorsam dem Verbot Gottes gegenüber folgt, von seinen Früchten zu essen.

Die beiden Interpretationen – die jüdische und die christliche – jener urzeitlichen Grenzüberschreitung unterscheiden sich fundamental voneinander und dem Baum selbst kommt je nach symbolischer Auslegung eine völlig andere Bedeutung zu.

Folgt man dem Text der Genesis, stand der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse im Zentrum des Gartens Eden.

Adam und Eva aßen von den verbotenen Früchten und verdienten so die von Gott angedrohte Strafe: den Tod. Um das Recht auf Leben wiederzuerlangen, hätten sie die Frucht vom Baum des Lebens essen können, doch Gott entschied: »Aber jetzt soll er nicht seine Hand ausstrecken, um auch noch vom Baum des Lebens zu nehmen, davon zu essen und ewig zu leben« (Gen 3,22).

Nach den Worten der Schlange sollte Adam, nachdem er vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte, so allmächtig wie Gott werden, doch er wurde umgehend aus dem Paradies verjagt, damit bis in alle Ewigkeit kein Mann und keine Frau jemals mehr vom Baum des Lebens würde essen können. Eva gab sodann auch den Tieren vom Saft der verbotenen Frucht zu trinken und von diesem Moment an waren auch sie für immer dem Tod geweiht.

Die Schriftgelehrten der jüdischen Tradition interpretieren den Ungehorsam als den in gewisser Weise entschuldbaren Versuch, nach der Weisheit zu greifen. Diese freie Entscheidung war jedoch Ursprung und Wurzel allen folgenden Übels.

Ein Midrasch lehrt, dass der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ursprünglich mit dem Baum des Lebens verbunden war und beide sich im Garten Eden befanden: Mit der Sünde Adams wurde diese Verbindung zerstört. Eine andere Auslegung bekräftigt, dass Adam, bis zu jenem Moment mit himmlischer Weisheit gesegnet, sehen wollte, was sich auf der anderen Seite des Guten befände, also die Welt der Unreinheit: Die von Adam und Eva geraubte Erkenntnis war tatsächlich nicht die der Thora, sondern jene in der Sünde verwurzelte.

Für einige jüdische Exegeten ist die Thora selbst der Baum des Lebens, doch die Menschen sind sich dessen nicht bewusst. Für das Christentum ist der Baum der Erkenntnis das Symbol der Versuchung und der Sünde, des Hochmuts und der menschlichen Gebrechlichkeit.