Der befreite Vertrieb - Karl Pinczolits - E-Book

Der befreite Vertrieb E-Book

Karl Pinczolits

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Beschreibung

Karl Pinczolits nennt die Probleme beim Namen: Die Strukturen von Vertrieben sind verkrustet. Bürokratische Handlungen lähmen die Organisation, sie halten die Verkäufer vom Verkaufen ab. Damit soll Schluss sein. In Der befreite Vertrieb plädiert der Autor für eine Zeltorganisation, die eine flexible Struktur des Vertriebs ermöglicht. Es kommt darauf an, möglichst schnell, oft und hautnah am Point-of-Sale zu sein. Diesem Prinzip sollen alle Entscheidungen zur Organisation im Vertrieb untergeordnet werden.

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Pinczolits, Karl

Der befreite Vertrieb

Mit einer Zeltorganisation individuelle Wege zum Kunden finden

www.campus.de

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2003. Campus Verlag GmbH

Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de

E-Book ISBN: 978-3-593-40274-1

|9|Vorwort: Neue Wege zum Kunden – Die Zeltorganisationen

»Kostenreduktion …« »Produktivität erhöhen …« »Kunden besser betreuen …« – so lauten die Versprechungen neuer Organisationen.

Diese Organisationen werden in unzähligen Spielarten in Weltkonzernen und auch in vielen mittleren und kleinen Unternehmen eingeführt. Banken schließen ihre Filialen und bauen so genannte Mobile Vertriebe auf. Versicherungen arbeiten mit Ferngesteuerten Verkäufern. Anbieter von Bürokommunikation setzen Fliegende Verkäufer zur Kundenbetreuung ein. Sales-Industrien, in denen arbeitsteilig von vielen spezialisierten Verkäufern an einem Auftrag gearbeitet wird, beginnen sich in Maschinenbauunternehmen und im Energievertrieb durchzusetzen. So unterschiedlich die Namen der Zeltorganisationen in den Branchen und Vertriebsformen sind, so klar sind ihre Ziele: die Kosten im Vertrieb zu senken und gleichzeitig den Druck im Markt zu erhöhen.

Die turbulenten Märkte von heute erfordern einen dynamischeren Vertrieb. Der Kunde ist der Schlüssel zur besseren Organisation. Neue Wege zum Kunden und eine stärkere Orientierung hin zum Kunden bestimmen die Vorgaben für eine neue Organisation. Um den Kunden besser zu verstehen, seine Interessen und Bedürfnisse herauszufinden, dadurch intensiver zu betreuen und um öfter bei ihm zu sein, benötigt man Zeit. Zeltorganisationen geben Verkäufern viel mehr Zeit als traditionelle Organisationen.

Der neue Arbeitsplatz des Verkäufers ist beim Kunden! Dadurch werden viele Verkaufskonzepte wie Value-Selling, System-Selling oder Solution-Selling erst zur gelebten Realität. War man in den letzten zwanzig Jahren bestrebt, die Kosten und die Qualität aller internen Abteilungen zu optimieren, blieb die organisatorische Neuausrichtung der dem Markt zugewandten Abteilungen eines Unternehmens auf der Strecke. Die Grundthese dieses |10|Buches lautet: Die nächste organisatorische Revolution verändert den Vertrieb und bringt das Unternehmen hautnah zum Kunden.

Das Buch stellt im ersten Teil die Grundlagen, Abgrenzungen und fundamentalen Prinzipien dieser neuen Organisationen vor. Die Ausführungen im zweiten Teil zeigen Ihnen, wie Sie die Performance Ihrer Organisation analysieren und messen, wie die neuen Geschäftsmodelle aussehen, und sie geben Ihnen einen Plan zur Erstellung einer Zeltorganisation an die Hand. Mit dem dritten Teil lernen Sie, wie Sie eine Zeltorganisation in Ihrem Unternehmen erfolgreich zum Einsatz bringen, was Sie beachten müssen und welche Resultate Sie erwarten können.

Siegendorf im Burgenland, 25. 07. 2002

Karl Pinczolits

|11|Einführung: Der Kunde als Schlüssel zur neuen Organisation

Die Kette, die Unternehmen mit ihren Kunden verbindet, zerreißt an ihrer schwächsten Stelle. Auf der einen Seite ziehen Kunden und Märkte immer heftiger in neue Richtungen, und auf der anderen Seite steht das reorganisierte und vielfach schlanke Unternehmen fest verankert in seinen Strukturen. Ein seit Jahrzehnten nahezu unveränderter Vertrieb versucht die Bindungen und Beziehungen zwischen beiden aufrechtzuerhalten. Wenn die Kette reißt, sitzt das Unternehmen in einer Falle. Auch Unternehmen, die sonst in jeder Beziehung erfolgreich sind, stoßen an Grenzen vertrieblichen Agierens. Es handelt sich dabei weder um die Optimierung der Unternehmensabläufe noch um Qualitätsprobleme, sondern vielmehr darum, dass trotz aller Bemühungen die Schlagkraft im Markt sinkt. Der Plafond scheint erreicht zu sein. Dieses Buch zeigt Ihnen Ansätze, wie diese Grenzen überwunden werden können.

Das Steigern der Vertriebskosten und das Sinken der Schlagkraft am Point of Sale zwingt immer mehr Unternehmen zu einem Kulturbruch. Sie ergänzen oder ersetzen ihre bisherige Organisation durch »Zeltorganisationen«. Das Ziel ist, die Grenzen der bisherigen Strukturen zu sprengen, näher beim Kunden zu sein, dadurch die Kontaktrate im Markt zu erhöhen, zu investieren und gleichzeitig die Kosten zu senken. Die Palaststrukturen, die seit Jahrzehnten den Vertrieb prägen, sind dabei im Weg.

Eine Zeltorganisation ist das Gegenteil der vorherrschenden qualitäts- und kostenoptimierenden Organisationsformen. Bei der Zeltorganisation liegt der Fokus in der Bearbeitung von Märkten und Kunden: Der Arbeitsplatz des Verkäufers ist beim Kunden, der Verkaufsprozess ist häufig spezialisiert; es gibt keine Büros, keine festen Routen- und Besuchsplanungen, keine Trennung zwischen Innendienst und Außendienst, keinen Gebietsschutz, keinen Kundenschutz, keine starren Organisationsstrukturen. Die meisten gängigen |12|Vertriebsformen wie Key-Account-Management, Direktvertrieb, Large-Account-Vertriebe, Projektvertriebe, Händler- und Partnervertriebe sowie Multi-Level-Vertriebe können als Teile von Zeltorganisationen betrachtet werden. Im Gegensatz zum Trend, die Organisationen schlank zu halten, haben erfolgreiche Zeltorganisationen oft viele Managementebenen. Es regieren die Chancen des Marktes, die Zeit und die Kunden. Der Erste, der beim Kunden sein kann, ist der Betreuer. Der Erste, der die Chance nutzen kann, erhält sie auch. Eine Zeltorganisation kann die Kontaktrate eines Unternehmens am Markt erhöhen, das heißt, es können mehr Kunden als bisher betreut werden oder die bestehenden Kunden wesentlich intensiver oder auch beides. Das ist das Faszinierende an dieser neuen Organisationsform: mehr Kundenkontakte bei gleichen oder sinkenden Kosten. Die bisher eingehaltenen Grenzen der traditionellen Vertriebe werden damit erweitert. Die herrschenden Denkverbote im Vertrieb müssen aber aufgehoben werden. Das ist der schwierigste Schritt. Wenn sich aber ein Unternehmen entschlossen hat, diesen Schritt zu gehen, ist der organisatorische Einschnitt so tiefgreifend, dass diese Maßnahmen zu nicht umkehrbaren Konsequenzen führen.

Es gab zwei Zielsetzungen, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts den Vertrieb dominierten: die Steigerung der Produktivität und die Steigerung der Kundenorientierung. Der Ausblick in die Zukunft bedeutet: Wenn Vertriebe überleben wollen, müssen sie bei gleichen Vertriebskosten eine höhere Schlagkraft entwickeln oder bei geringeren Vertriebskosten die jetzige Schlagkraft halten. Die neuen Organisationen gehen neue Wege zum Kunden und sind näher beim Kunden. Dieses Buch zeigt die Voraussetzungen und Erfolgsfaktoren, den Druck am Markt zu erhöhen und die Werte für Kunden und Unternehmen zu steigern. Es beschreibt aber auch, welche ungewöhnlichen Methoden dabei zum Einsatz kommen, die den Vertrieb und das Unternehmen tief verändern.

Was sind nun Zeltorganisationen? Sie stehen für neue Wege zum Kunden und mehr Kundennähe und bedeuten für das Unternehmen folgende Vorteile:

Kostenreduktionen im Vertrieb,

Produktivitätssteigerung,

Marktanteilsvergrößerung,

Verkürzen von Verkaufszyklen,

Reduktion von Abhängigkeiten,

Kulturwandel.

|13|Die Zeltorganisation kann in allen Branchen – von Banken, Versicherungen, bis zu Softwareunternehmen, vom Maschinenbau, Energievertrieb über den Handel bis zur Pharmaindustrie – eingesetzt werden. Es gibt derzeit kein radikaleres Konzept zum Aufbrechen bestehender Unternehmensstrukturen als die Einführung dieser neuen Organisationsform.

In diesem Buch geht es primär um die Vorstellung der Zeltorganisation als einer neuen Organisationsform und ihre Einsatzmöglichkeiten im Unternehmen. Sie wird aufgrund ihrer bisher nicht gekannten Kundennähe, der geringeren Kostenbelastung und der hohen Kontaktrate in Unternehmen eingeführt. Sie unterscheidet sich von den derzeit vorherrschenden kosten- und qualitätsoptimierenden Organisationsformen durch ihren Fokus auf Markterweiterung und Wachstum. Eine Zeltorganisation entspricht mehr den ureigensten Wünschen von Märkten, während die bisher gängigen Organisationsstrukturen mehr den Bedürfnissen der Produktion und Verwaltung entsprochen haben. Sie lernen hier, wie Sie die wesentlichsten Elemente der neuen Organisationen für sich nutzen können.

|15|Teil 1

Grundlagen und Grundsätze

|17|1. Die Entwicklung der Organisationslehre

1.1. Organisationslehre als Kampf gegen das Ineffizienz-Gen

Mehrere Baufirmen treffen auf der Baustelle ein, um Versorgungsleitungen zu verlegen. Das neue Haus soll mit Gas, Wasser, Strom und Telekommunikation versorgt werden. Es wird von einem Bautrupp ein Graben im rechten Winkel zur Straße in den Keller gegraben; darin werden die Gasrohre verlegt. Parallel dazu, jedoch zwei Meter neben der Gasleitung, wird erneut von einer anderen Baufirma gegraben und es wird die Wasserleitung verlegt. Ein neuer Graben – bereits der dritte – für den Strom wird von einem weiteren Bauunternehmen quer durch das Grundstück gelegt. Telefon wird über das Dach geleitet und das Kabelfernsehen wird an der Hausmauer montiert. Aber das Spiel ist noch nicht zu Ende. Nachdem der Garten ordentlich umgegraben wurde, alles verlegt, installiert und eingeleitet ist, werden bei Gas, Wasser und Strom Verbrauchszähler installiert. Diese müssen abgelesen werden. Die Verbrauchsstände von Gas, Strom und Wasser werden getrennt, zu unterschiedlichen Zeiten, von verschiedenen Mitarbeitern – häufig ein und desselben Unternehmens – abgelesen. Wer ein Haus baut und es mit den Annehmlichkeiten der Zivilisation versehen will, dem wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts in vielen Staaten Europas dieses Szenario geboten.

Die Hartnäckigkeit solcher Ineffizienzen – mehr als hundert Jahre, nachdem Frederik Taylor die Effizienz in Organisationen zu erforschen begann – ist gewaltig. Man könnte glauben, es gibt ein Ineffizienz-Gen in der menschlichen Natur, welches alle Veränderungen des 20. Jahrhunderts überdauert hat. Ein Jahrhundert, das wir für ein Jahrhundert der Produktivität und des professionellen Managements hielten. Die Organisationslehre lässt |18|sich als eine Geschichte des ständigen Kampfes gegen das Ineffizienz-Gen beschreiben.

Wer glaubt, er habe alles Mögliche im Unternehmen bereits getan, um erfolgreich zu sein, der liegt immer falsch. Der Irrtum hat in zweifacher Hinsicht schädliche Auswirkungen: Zum einen existiert ein unausgesprochenes Denkverbot in vielen Unternehmen, was davon abhält, kontinuierlich Ineffizienzen zu erforschen und sie zu beseitigen, zum anderen muss man sich klar sein, dass es Ineffizienzen immer geben wird, und jede noch so effiziente Tätigkeit irgendwie, irgendwann, irgendwo, von irgendwem noch viel effizienter erledigt werden kann. Besonders schlimm ist es, wenn Unternehmen, die bisher alles unternommen haben, um rationell, schlank, produktiv und innovativ zu sein, den Glauben entwickeln, es sei damit bereits getan und die Suche nach immer neuen Möglichkeiten hat ein Ende.

Betrachten wir im Sauseschritt die letzten Jahrzehnte, dann erkennen wir, welchen Einfluss organisatorische Ideen in der Welt von Unternehmen hinterlassen haben. Etwa zeitgleich am Ende der siebziger Jahre und zu Beginn der achtziger Jahre wurden zwei neue Wellen von organisatorischen Veränderungen losgetreten – die Kostenrevolution, sie müsste eigentlich Kostenreduktionsrevolution heißen, und die Qualitätssteigerungsrevolution. Im Sog dieser Wellen kamen einige Jahre später als Verfeinerung die Verflachung der Hierarchien, das Business Reengineering und die unterschiedlichen Qualitätssysteme wie ISO 9000, Kaizen, Total Quality Management und Six Sigma hinzu. Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts gab es kaum ein namhaftes Unternehmen auf dieser Welt, das nicht mindestens eine dieser Ideen in ihrem Unternehmen umzusetzen versuchte. Die Fixierung auf Kosten und Qualität brachte den Unternehmen beachtliche Produktivitäts- und Qualitätsgewinne. Nahezu jedes Produkt auf dieser Welt wurde auf die eine oder andere Weise beeinflusst. Jeder, der seit mehreren Jahrzehnten Autos, Fernseher und Computer besitzt, erkennt diese Entwicklung: den dramatischen Preisverfall, die zunehmende Vielfalt und den außergewöhnlichen Qualitätsanstieg.

Aber was passiert heute, nachdem die letzen Rückständigen und Nachzügler unter den Unternehmen diese Ideen bereits umgesetzt und neue Anstrengungen in die bestehenden Richtungen nur mehr marginale Zugewinne haben? Heute existiert ein krasses Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Unsere Produktionen sind so effizient geworden und liefern weit mehr qualitative Produkte als wirklich nachgefragt werden. Produktionsüberkapazitäten in der Investitions-, Automobil- und in der Konsumgüterindustrie |19|sowie das einfache Duplizieren von Software zeigen fast jedem Unternehmen, dass es Vertriebsunterkapazitäten hat. Das Angebot ist weit größer als vertrieblich abgesetzt werden kann. Die Suchaktion nach einer neuen Methode, die Effizienz zu steigern, ist damit gestartet. Die entscheidende Frage lautet: Ist ein Unternehmen, nachdem es diese beiden Revolutionen erfolgreich durchgemacht hat, das nun flach und schlank ist und dessen Produkte nun von einmaliger Qualität sind, am Ende der Entwicklung angelangt? Sicherlich nicht. Unverständnis auf breiter Linie verzögert die Einführung neuer Ideen: Als Frederik Taylor seine Methoden 1910 auf einer Konferenz vorstellte, verärgerte er den Vorsitzenden. Dieser wollte, dass er, Taylor, über Stahl produzierende Techniken sprechen sollte und nicht über das Management der Arbeit. Und als einer der Gründer der Qualitätswelle, W. Edward Deming, in der USA und Europa in den frühen sechziger Jahren seine Ideen zur Kostenreduktion vorbrachte, wurde ihm gesagt, dass Kostenreduktion keine Aufgabe des Topmanagements sei. Erst als japanische Unternehmen zum Beispiel 1980 den Toyota Hiace Van in 2,4 Tagen zu geringen Kosten fertigten – und das in seiner Qualität schlechtere und trotzdem teurere europäische Produkt 12,5 Tage benötigte –, begann man, sich mit diesem Thema zu beschäftigen.

Wann spricht man also von einer erfolgreichen Organisation? Wann ist eine Organisation nicht erfolgreich? Die Frage ist hier falsch gestellt. Sie müsste lauten: Welche Organisation eignet sich am besten für welche Aufgabenstellung? Eine Elitetruppe in einen Kampfeinsatz zu führen bedarf einer anderen Organisation als ein Kirchenfest zu organisieren. Eine Produktion zu optimieren ist eine andere Aufgabe als die Schlagkraft einer Verkaufsabteilung zu erhöhen. Aber niemand kann sich allgemeinen organisatorischen Trends verschließen. Sie bewirken, dass organisatorische Veränderungen auch in Bereichen durchgeführt werden, in denen sie nichts zu suchen haben. Dann ist es Managementfolklore, und der Nutzen dieser Maßnahmen ist zweifelhaft. Aber Unternehmen machen trotzdem mit, um im Trend zu sein. Es hat aber zu jeder Zeit vorherrschende Themen gegeben, welche diese Trends vorgaben und damit die grundlegenden Strukturen der Organisation bestimmten.

Die großen Werke der Menschheit sind das Ergebnis gelungener organisatorischer Aufgaben. Die Cheopspyramide umfasst eine Grundfläche von über 50000 Quadratmetern und wurde aus 2300000 Steinen gebaut, von denen jeder im Schnitt eineinhalb Tonnen wiegt. Die Steinbrüche lagen sehr weit von den Bauplätzen entfernt. Der Transport wurde auf Schiffen in der Regenzeit vorgenommen, um den Landweg zu minimieren. Eine Schätzung besagt, |20|dass für den Bau der Cheopspyramide über 100000 Arbeiter zwanzig Jahre lang beschäftigt waren. Die organisatorischen Maßnahmen hierzu waren sicherlich immens. Egal ob es sich dabei um den Turm von Babel, die Pyramiden, den Bau des Kolosseums oder den des Petersdoms handelte: Es waren gewaltige organisatorische Maßnahmen, die die großen Werke der Menschheit ermöglichten. Bereiche der Religionen, der alten Reiche und späteren Staaten und des Militärs brachten als Erste die verschiedenen Typen und Ausprägungen von Organisation hervor.

Vor etwa hundert Jahren kam eine Wende. Unternehmen waren entstanden, und Wissenschaftler begannen, sich mit ihrer Bürokratie zu beschäftigen. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts entdeckte Max Weber, der Urvater der Organisationssoziologie, die Bürokratie als Ordnungs- und Herrschaftsform. Ihm folgten in regelmäßigen Abständen neue Theorien über die optimalen Organisationsformen. Einer der Grundgedanken war, dass man Organisationen braucht, um etwas zu erbauen oder zu errichten. Die Organisation hat Werkzeuge, um dieses Erbauen und Errichten zu steuern. Eine gute Organisation war demnach dazu besser in der Lage als eine schlechte. Jede Zeit hatte aber ihre dominierende Organisationsform oder ihren Organisationstrend, der alle Lebensbereiche beeinflusste. Vor hundert Jahren wurde der Begriff Organisationsform noch synonym mit Herrschaftsform verwendet. Heute ist einfach alles anders, wir leben in einer anderen Zeit, und unsere Unternehmen unterscheiden sich drastisch von den organisatorischen Konstrukten vergangener Epochen. Aber der intendierte Sinn von Organisation war immer das Erbauen und Erhalten von Denkmälern, Unternehmen und Staaten. Denken und Handeln der Erbauer sind durch das Schaffen eines Outputs im Sinne von Werten bestimmt worden.

»Gut und schön«, denken Sie vielleicht, »aber was hat das in den letzten Jahrtausenden mit der heutigen modernen Unternehmensorganisation zu tun?« Nun – jede der bisherigen Organisationsformen und Theorien war unvollkommen, und auch jede der modernen Organisationsformen ist unvollkommen. Keine kann für sich in Anspruch nehmen, auf ewige Zeit und in jeder Situation Gültigkeit zu haben und vor allem in der Praxis anwendbar zu sein. Würde eine Verringerung der Managementebenen in einem Unternehmen zum Erfolg führen, hieße das nicht zwingend, dass sich der Erfolg auch in anderen Unternehmen einstellt. Und das, was in der einen Abteilung zum Erfolg führte, muss noch lange nicht in einer anderen Abteilung erfolgreich sein. Welche Organisationsform ist für das Bearbeiten von Märkten gerade |21|die beste oder deckt die derzeitigen Anforderungen am besten ab? Dieser zentralen Kernfrage geht dieses Buch nach und diese soll sie beantworten.

Doch bevor es so weit ist, werden in diesem Kapitel die wesentlichsten Organisationskonzepte des letzten Jahrhunderts untersucht. Die Pyramiden, die Kirchen, die Schlösser, die Burgen und die Weltreiche des zwanzigsten Jahrhunderts waren die neu entstandenen Unternehmen und Konzerne. Sie aufzubauen, weiterzuentwickeln und die Produktivität laufend zu erhöhen war das Kernforschungsgebiet der Organisationslehre. Unternehmen und Konzerne gaben den Menschen die notwendige Arbeit und stifteten dadurch Sinn. Das gemeinsame Ziel war, sie für Menschen zu erbauen, zu erhalten und zu optimieren. Zwei dominante Strömungen der Organisationslehre prägten das zwanzigste Jahrhundert. Das Ziel der einen Strömung hieß, die Menschen im weitesten Sinne glücklich zu machen – so die globale Forderung. In dieser Gruppe werden all die auf »Human Relations« bezogenen Organisationslehren zusammengefasst. Die Hauptaufgabe der Organisation ist es, den Menschen glücklich zu machen. Die zweite Strömung basierte auf einer mechanistischen/bürokratischen Ideologie. Sie war seit jeher technologie- und produktivitätsgetrieben. Ihr Ziel war es, immer schneller, immer größer, immer höher und immer weiter zu produzieren, zu rationalisieren, die Qualität zu verbessern und zu entwickeln. Hier werden all die eher mechanistischen, auf »Hard Facts« beruhenden Organisationsströmungen zusammengefasst.1

1.2. Die »glückliche« Organisation

Eine der bedeutendsten Tendenzen des letzten Jahrhunderts kann verallgemeinert als »Pursuit-of-Happyness«-Ansatz bezeichnet werden. Diese Strömung hat alle wesentlichen organisatorischen Theorien, beginnend mit der »Human-Relation«-Bewegung über Teambuilding bis zu den neuesten Mitarbeiterzufriedenheitsprogrammen und Coachingkonzepten, beeinflusst. Der Ansatz will eine Organisationsform finden oder die Organisation so umgestalten, dass die in ihr arbeitenden Menschen zufrieden und in der Idealform glücklich sind. Fredmund Malik kritisiert: »Es kann nicht Hauptzweck von Organisationen sein, Menschen glücklich zu machen.« Was immer das auch heißen mag: Dieser Ansatz hat im letzten Jahrhundert viele Organisationstheorien, aber auch politische Richtungen und gesellschaftliche Strömungen |22|geprägt. Die Wurzeln dieser Denkhaltung liegen in dem Bewusstsein, dass entweder der Staat, die Gesellschaft oder das Unternehmen ausschließlich für das Wohlergehen von Individuen zuständig ist. Das war sicher eine der dominierenden Ideen des zwanzigsten Jahrhunderts.2

Das Markante an diesem Ansatz ist, dass es immer die anderen sind, die eine Verantwortung tragen, und nie das einzelne Individuum. Und das Resultat dieser Denkrichtung war, dass zuerst der ideale Staat, die ideale Gesellschaft und die ideale Organisation gefunden werden mussten, um erfolgreich arbeiten zu können und glücklich zu sein. Doch kein Fortschritt ist jemals aus der Zufriedenheit geschaffen worden. Erst die Unzufriedenheit führt uns zu neuen Ufern. Das Anspruchsniveau »glücklich zu sein« ist für eine Organisation zu hoch. Der Staat, die Gesellschaft, eine Organisation an sich kann Menschen nicht glücklich machen. Die Organisation hat einen bestimmten Zweck, eine Aufgabe, und auf die ist sie abgestimmt. Dafür kann sie besser oder schlechter geeignet sein. Die Produktion von Autoreifen erfordert einen anderen Organisationsansatz als das Entwickeln von Software. Jede Organisation ist von unterschiedlichen Strukturen und Maßnahmen abhängig. An diesem Zweck, an ihrer Aufgabe soll die Qualität einer Organisation gemessen werden.

Natürlich darf nicht vergessen werden, dass der intendierte Sinn dieser auf »Human Relations« aufgebauten Organisationsformen bei aller Menschenliebe immer die Steigerung der Produktivität war. Der Ansatz lautete im Klartext: »Glückliche Menschen sind produktiver.« Der Vorteil dieser Art von Organisationstheorien, die auch in Kombination mit mechanistischen Ansätzen auftraten, war es, dem Unternehmen ein menschliches Antlitz zu geben. Das ist durchaus gelungen. Es wurde sehr viel getan, um die Arbeitswelt sinngebend zu gestalten und den in ihr tätigen Menschen persönliche Entwicklungspotenziale zu bieten.

1.3. Die »schneller, größer, höher, weiter« - Organisation

Vor knapp 200 Jahren begann das industrielle Zeitalter. Es unterschied sich vom vorherigen agrarischen Zeitalter durch den Siegeszug der Maschinen und Fabriken. Das Ziel war, immer schneller, größer, höher und weiter zu produzieren und zu entwickeln. In der Organisationslehre können unter diesem |23|Sammelbegriff alle »harten«, eher mechanistisch/bürokratischen Ansätze zusammengefasst werden. Beginnend mit Max Weber, dem Urvater der Organisationssoziologie, der die Bürokratie als Ordnungs- und Herrschaftssystem analysierte, über Frederik W. Taylor, dem geistigen Vater des Fließbandes, bis zu den letzten Erkenntnissen angloamerikanischer Managementlehre wie Business Reengineering, Total-Quality-Management und Six Sigma. Die entwickelten Methoden führten gemeinsam und vor allem mit der technologischen Entwicklung vom Fließband bis zur Informationstechnologie auf der Produktivitätsebene zu beachtlichen Erfolgen in den Unternehmen. So sieht heute ein klassisches Produktionsunternehmen elementar anders aus als noch vor dreißig Jahren. Es kann vorkommen, dass kaum mehr Mitarbeiter in der Produktion beschäftigt sind und alles automatisiert abläuft. Wo früher die Organisation von Menschen im Vordergrund stand, ist es heute die Organisation von Prozessen, die bereits ohne Menschen ausgeführt werden können. War der erste Fokus im Unternehmen zu automatisieren und zu rationalisieren, so entwickelte sich der Fokus im letzten Viertel des Jahrhunderts auf Qualitätsbewusstsein und Produktivität. Als Mitte der achtziger Jahre ISO 9000, Kaizen und Total Quality Management die Organisation an immer höhere Qualitätslevels heranführte, wurden im Gleichklang die Anspruchsniveaus der Kunden ebenfalls immer höher. Das war der Grund, warum kein Unternehmen sich diesen Anforderungen entziehen konnte. Vor allem die überragende Qualität der damaligen japanischen Produkte veränderte die Ansprüche an den Qualitätsstandard weltweit. Die komplette Wertschöpfungskette eines Unternehmens war von der Qualitätswelle betroffen. Die Ansätze fanden vor allem in klassischen Produktionsbetrieben eine gute Resonanz und wurden dort vorteilhaft angewandt. Die hier vorgestellte industrielle Kultur basiert nach Alvin Toffler, einem amerikanischen Zukunftsforscher, auf vier Prinzipien:

Standardisierung: Die Organisation zwingt Produkte und Produktionen in standardisierte Rastersysteme. Alle Normen wie ISO oder andere Qualitätssysteme unterstützen dieses Prinzip. Der Taylorismus, der jeden in ein Räderwerk der industriellen Fertigung einpasst, und das Fließband, als Logik der Wiederholung, eroberten die Welt.

Spezialisierung: Arbeitsteilige Prozesse und eine arbeitsteilige Produktion erfordern einen Spezialisten, der seinen Teilbereich rationeller abwickelt als ein Generalist.

|24|Synchronisierung: Unschärfen begleiteten das Leben der Menschen im Mittelalter. Die Bedeutung von Zeit wurde komplett verändert. Nicht mehr Naturereignisse, Zufälle, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang bestimmen das Leben, sondern Öffnungszeiten, Arbeitsbeginn und -ende. Eine Stechuhrkultur beendete das Wage und Unpräzise.

Zentralisierung: Ressourcen, Menschenkräfte und Energien sind zu bündeln, lautet das Merkmal dieser Organisationsstrukturen. Industriekonglomerate ungeahnten Ausmaßes entstehen im neunzehnten Jahrhundert überall auf der Welt. Eine hierarchische Organisationsform der Gesellschaft, die zentrale Betonung des Staates, die Zentralisierung von Pensions- und Krankenkassen – alles gehorcht dem Paradigma der Größe.3

Die Produktivität ist in den letzten 120 Jahren durchschnittlich um eine Rate von 3 bis 4 Prozent pro Jahr gestiegen. Das sichtbare Ergebnis ist, dass 1914 jeder Mensch durchschnittlich 3000 Stunden pro Jahr arbeitete und heute zwischen 2000 Stunden in Japan und ungefähr 1600 Stunden in Europa gearbeitet wird, die Produktivität aber um den Faktor 45 über alle Bereiche gestiegen ist.4

Die Diffusion dieser Ansätze in der industriellen Welt kann als abgeschlossen betrachtet werden. Es gibt heute wohl kaum ein Unternehmen, das nicht einen dieser Ansätze implementiert hätte. Und nun, als diese Ansätze im Unternehmen Fuß gefasst haben, stellt man sich die Frage, was als Nächstes zu tun ist. Wir haben umorganisiert, rationalisiert und waren erfolgreich. Werden wir den Erfolg auch in die Zukunft hinüberretten können?

Der neue Fokus: Markterweiterung und Kundenbetreuung

Wenn ein Unternehmen abspeckte und nur noch das Allernotwendigste vorhanden ist, alle Prozesse im Griff sind, der Verwaltungsapparat schlank ist und die Gemeinkosten reduziert wurden, heißt das noch lange nicht, dass die Organisation dadurch auf ewige Zeit erfolgreich sein wird. Es gibt Unternehmen, die vor lauter Sparsamkeit und Restrukturierung so schlank sind, dass es unmöglich ist, sich im Markt behaupten zu können. Es ist ein großer Unterschied, einen schlanken Vertrieb oder eine schlanke Produktion zu |25|haben. Reinhard Sprenger spricht von »unterernährten und ausgehungerten Unternehmen«, die unfähig sind, den Anforderungen der Zukunft zu entsprechen.5 Und auf der anderen Seite gibt es noch barock anmutende Unternehmen mit vielen Managementebenen, die jeden Betriebswirtschaftler verzweifeln lassen, die aber im Markt höchst erfolgreich sind. Für den Erfolg können auch viele andere Dinge, wie besseres Geschäftsmodell, bessere Vertriebsstruktur, geschlossene, aber auch boomende Märkte, verantwortlich sein. Die Marktbearbeitung dieser Unternehmen ist nicht »lean« und trotzdem erfolgreich.

Ein Gedankenfehler ist aufgetreten: Das Unternehmen besteht nicht nur aus Kosten- und Qualitätsmanagement. Es sind nicht nur die Kosten und die Qualität, die Unternehmen erfolgreich machen. Der Kunde zahlt schließlich die Rechnung. Eine organisatorische Welle, die den Schwerpunkt auf den Kunden legt, hat bisher gefehlt. Das Generalmotto: »Wie kann ich mein Unternehmen so organisieren, damit ich die Kosten senke und die Qualität steigere?«, wird bald so lauten: »Wie kann ich mein Unternehmen organisieren, damit meine Kunden mehr bei mir kaufen?« Die Schlacht bei den Kosten und bei der Qualität ist geschlagen. Nun gibt es ein neues Betätigungsfeld. Der Fokus wird bei Markterweiterung und Kundenbetreuung liegen. Doch Vorsicht: Diese Organisation hat ganz andere Anforderungen an die in ihr tätigen Menschen als Kostensenkung und Qualität. Es ist klar: niemand will eine üppig ausladende Organisation, aber der Schwerpunkt auf Markterweiterung, Kundenakquisition, Umsatzsteigerung oder Durchdringen der Potenziale erfordert andere Ansätze und andere Methoden.

1.4. Tendenzen in der Aufbauorganisation

Ein weiterer Teilbereich der Organisationsforschung beschäftigt sich mit der Struktur von Unternehmen – dem Aufbau der Organisation, der Bedeutung der unterschiedlichen Ebenen des Managements. Die wohl berühmteste Grafik in den letzen Jahren im Bereich der Organisationstheorie war das auf den Kopf gestellte Dreieck. Dieses Bild symbolisiert die Veränderung in der Organisation eines Unternehmens. Die frühere Pyramide hat ausgedient und steht nun mit der Spitze nach unten.

|26|

Abbildung 1: Aufbauorganisationen

Abbildung 1 zeigt ein schönes Bild. Die Entwicklung soll verdeutlichen: Die Mitarbeiter sind die wichtigsten Ressourcen im Unternehmen. Der tätige Mensch gehört in den Mittelpunkt, ist das Maß aller Dinge und soll bestimmen, worum es geht, und der Rest, das »Management«, unterstützt die breite Masse der Arbeitenden. Es ist eine schöne Grafik und sie wurde in Tausenden von Unternehmen in Workshops und Seminaren vermittelt und umgesetzt. Kaum einer, der sich dieser Logik widersetzte, und wenn, dann aus ganz anderen Motiven.6Wenn Affen den Zoo regieren stutzt die Illusionen allzu hierarchiefreier Systeme. Aber mehr als fünfzehn Jahre, nachdem Tom Peters das Ende der Hierarchien verkündet hatte, existieren Hierarchien nach wie vor und haben die Tendenz, sich weiter zu halten. Neue Leadership-Forschungen bestätigen diesen Trend, und es wird bereits in der Financial Times von der neuen Diktatur im Unternehmen gesprochen. Noch nie hatten CEOs und Vorstände so hohe Gehälter und Macht im Unternehmen wie heute.7 Das Thema, das Organisationstheoretiker und Unternehmensberater damals zu wenig analysiert haben, heißt: »Gibt es Hierarchien, gibt es Managementebenen, die wenig kosten oder ausgelagert werden können?« Direkt- und Strukturvertriebe im Business-to-Consumer-Bereich haben weltweit gewaltige Netzwerke aufgebaut, ohne die Vertriebskosten zu erhöhen. Die Verflachung von Hierarchien geschah immer unter dem Gesichtspunkt der Vereinfachung und der kurzen Kommunikationswege und damit der geringeren Kosten. Aber auch das Gegenteil ist möglich: viele Managementebenen und trotzdem geringe Kosten.

Grundannahmen von Palastorganisationen

Organisationsformen basieren auf Grundannahmen. Es gilt hier die Ceterisparibus-Regel: Nur unter gegebenen Umständen ist die eine oder die andere Organisationsform gültig und damit auch wirksam. Und ihre Interpretation |27|ist nur unter den gegebenen Grundannahmen zulässig. Eine dieser Grundannahmen ist, dass ihr Geltungsbereich der bisherigen organisatorischen Wellen auf einen Standort, auf ein Gebiet oder auf ein Territorium bezogen ist. Egal welcher Managementansatz gewählt wird, es liegt den genannten Organisationsformen die Basis eines fixen Platzes, sei dies ein Büro oder eine Fertigungshalle, zugrunde.

Was ist eines der Kennzeichen einer Palastorganisation? Ich habe versucht, es meiner achtjährigen Tochter zu erklären. Nachdem sie einige Definitionsversuche als unverständlich abgewinkt hatte, kam ich zu meiner Arbeitsdefinition. Palastorganisationen sind alle Organisationsformen, die Paläste erbauen und erhalten. Der Palast – egal wie schlank und durchorganisiert er ist – steht an einem Platz. Er ist untrennbar mit einem Ort verbunden. Hier geht es nicht um die Vorzüge einer Palastorganisation; hier geht es auch nicht darum, ob in diesen Palaststrukturen nach vielen Jahren des Lean Managements, Business Reengineerings und fraktaler Strukturen überhaupt noch Produktivitätsschübe möglich sind. In der Produktion, im Service, in der Beschaffung haben diese Organisationsformen mit großem Erfolg Eingang gefunden. Was ist aber mit Abteilungen, die nicht an einen Platz, an ein Gebiet gebunden sind? Abteilungen, die mobil sind, die sich ständig in einem fließenden Strom befinden?

Aber egal welche Organisationsform wir betrachten, wir finden überall Grundzüge von Zielen und eine Art von Kontrolle, ob es sich nun um eine »glückliche« oder um eine »schneller, größer, höher, weiter« oder um eine »Projektorganisation« handelt. Im Detail unterscheiden sich diese Organisationsformen je nachdem, wie die Ziele und wie die Kontrolle durchgeführt werden. Aber der gemeinsame Nenner ist der fixe Ort und der Platz, an dem sie stehen. Dabei ist es egal, ob Hightech oder Lowtech, ob Investitionsgüter oder Gebrauchs- oder Konsumgüter hergestellt und verkauft werden.

Alle Revolutionen in Organisationen hatten stationären Charakter. Die Cheopspyramide wurde an einem Ort erbaut. Das Ford-T-Modell wurde in einer amerikanischen Stadt auf einem Fließband gefertigt, und die Büros der Manager sind untrennbar mit einem Ort, einem Platz, an dem sie arbeiten, verbunden. Das Büro feiert gerade seinen hundertsten Geburtstag! Vor nicht allzu langer Zeit war es den Leuten mit den weißen Mänteln vorbehalten, Büros zu benutzen. Heute hat fast jeder sein Büro. Paläste, Fabriken, Büros sind mehr als nur Gebäude, Zimmer und Fenster. Sie geben einem das Gefühl |28|der Geborgenheit, die Möglichkeit, sich zurückzuziehen und hinter verschlossenen Türen rauszuschauen. Aber wird in diesem neuen Jahrhundert das Büro länger die Bastion des großen Geschäfts bleiben? Es ist kurios, aber das Büro hat sich weiterentwickelt. Ein Fitnesscenter mit Sauna mitten im Großraumbüro bei Skandia Investments in Wien, ein Garten zum Meditieren inmitten von Bürosilos bei Siemens – es gibt viele Beispiele, und eine Kaffeeecke hat jedes Unternehmen. Die Denksperre beginnt aber dort, wo die Grundannahmen infrage gestellt werden. Ist das Büro die ideale Form, um mit Mobilität umzugehen?

Ein Palast an einem Ort ist mehr als nur eine Schachtel mit Fenstern. Ein Palast gibt Prestige und Bequemlichkeit. Ein Palast hat viele Zimmer mit Aussicht – und einer starken symbolischen Ausstattung. Man versucht, ihm Bedeutung zu geben, und jedes Jahr kommen einige Zimmer hinzu, einige Türme und Erker. Doch Paläste neigen dazu, sich selbst nicht mehr zu genügen. Sie wollen immer mehr. Wenn Mitarbeiter nach ihrer Arbeitszufriedenheit gefragt werden, äußern sich immer mehr über ihre Unzufriedenheit mit der Umgebung des Büros, der Ausstattung, und immer weniger über den Arbeitsinhalt. Was hat uns die Verflachung der Hierarchien gebracht? Der Geschäftsführer macht seinen »Workout« neben dem Azubi im hauseigenen Fitnesscenter. Ist man aber deswegen am Markt erfolgreicher?

Erhaltungskosten von Organisationen

»Wenn man reich ist und dumm, kauft man ein altes Haus und baut es laufend um«, lautet ein altes Sprichwort unter Hausbesitzern. Ein Haus, einen Palast zu erbauen ist das eine, ihn laufend zu erhalten das andere. Das Fokussieren auf »Operational Excellence« wird zu einem Hauptproblem. Alles wird immer besser optimiert. Es ist wichtig, alle Abläufe im Griff zu haben und alles immer wieder zu verbessern, aber es ist bei weitem nicht genug. Die »Operational-Excellence«-Zitrone ist vielfach ausgequetscht. Jeder stärkere und weitere Druck auf die Zitrone bringt immer weniger an Ergebnissen. Das Erhalten der bestehenden Konzepte, also hundert Jahre verbessern und optimieren, bringt heute nur mehr marginalen Zugewinn. Und manche Häuser sind heute zu klein, zu unkomfortabel und reif zum Abriss.

Wenden wir uns den Zielen einer Organisation zu: Möglicherweise ist das wichtigste Ziel einer Organisation das Steigern der Produktivität. So war es |29|zuerst; die Produktivität des Handarbeiters im Fokus der Organisationsberater hat sich heute auf die Produktivität des Kopfarbeiters verlegt. Hier haben alle Organisationssysteme im letzten Jahrhundert gewaltige Erfolge verzeichnet. So ist die industrielle Produktion im Durchschnitt um 2 bis 3 Prozent pro Jahr gestiegen. Das gewaltige Ausmaß dieser Produktivitätssteigerung ist nicht einfach zu fassen. Am leichtesten verständlich wird es in der Landwirtschaft, wo heute ein einziger Landwirt mit einem hohen Maschineneinsatz den gleichen Output schafft wie zu Beginn des letzen Jahrhunderts dreihundert Landarbeiter. Die zentrale Frage hier ist: Wie lange darf eine Arbeit dauern? Das war das Kernthema der meisten Rationalisierungen des letzten Jahrhunderts. Fast alle Methoden der Produktivitätsanalyse setzen hier an. Egal ob REFA oder Gemeinkostenwertanalysen, das Kernthema ist: immer mehr in immer kürzeren Zeiten zu produzieren. Aber in den letzten zwanzig Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zeigten sich die Grenzen dieses Vorhabens. Die Produktivität von Wissens- und Kopfarbeitern ließ sich nicht mehr einfach in dieses Schema eingliedern und brachte für die auf den Markt gerichteten Abteilungen nur wenige Fortschritte. Daneben sind viele Ableger der einen oder der anderen Basistheorie entstanden. Reengineering ist ein Neo-Taylorismus, der die Prozesskette im Unternehmen betrachtet. Die Balanced Scorecard dient als Überwachungstool dieser Prozesse, das Total Quality Management und das betriebliche Vorschlagswesen zur Verbesserung der Qualität.

Ganz anders: die Projektorganisation

Raten sie! Wer sind zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts die größten Arbeitgeber dieser Welt? General Electric, Siemens oder vielleicht DaimlerChrysler? Weit gefehlt! Es sind Personalvermittlungsfirmen, die ihre Mitarbeiter auf Projektbasis vermitteln. Diese Tatsache zeigt am deutlichsten, welchen Einfluss die Theorien der Projektorganisation bei den Unternehmen hinterlassen haben. »Everything is a project« – markanter als Tom Peters kann man es nicht sagen. Das ganze Unternehmen, das ganze Wirtschaften ist ein Projekt.8 Diese Organisationsform hatte ihre Hochphase in den achtziger und neunziger Jahren, als ganze multinationale Organisationen nach dieser Struktur umorganisiert wurden. Das »Neue« an der Projektorganisation war, dass das Bearbeiten von Projekten als Ziel des Unternehmens dargestellt wird |30|und dass dieses Projektmanagement als funktions- und hierarchieübergreifende Führungssystematik verstanden wird. Man definiert Tätigkeiten als Projekte mit einem Start und einem Ende, und zwischen Start und Ende überwacht ein Projektleiter den Fortgang. Dabei setzt er spezielle Planungs- und Steuerungsmethoden für die Ressourcen ein. Die Grenzen dieser Organisationsform zeigen sich bei Arbeiten, denen der Projektcharakter fehlt; das ist in der Regel jede Art von kontinuierlicher Arbeit. Eine Lohnverrechnung nach Projektmanagementkriterien zu organisieren war und ist nur schwer möglich, aber auf keinen Fall sinnvoll.

Die erfolgreichsten Anwendungen dieses Prinzips waren – wie der Name schon sagt – im Bereich von Projekten. Der Fernsehsender CNN war von Anfang an als Projektorganisation konzipiert, daher hatte er am Beginn gewaltige Kostenvorteile gegenüber der Konkurrenz. Hier haben die Methoden und Tools in der Planung von Kapazitäten, Zeit und Kosten große Produktivitätsschübe gebracht. Ein weiterer logischer Schritt bei der Einführung einer Projektorganisation ist die Trennung zwischen einer Kompetenzbasis, in der sich die Mehrzahl der Mitarbeiter befindet, und einem Bereich der Projektleiter, die meist in Geschäftsfeldern organisiert sind. Diese Organisation ist das erste Aufbrechen von starren Strukturen in Hierarchien. Der Mitarbeiter ist dort, wo er gebraucht wird, und ist das Projekt erledigt, dann arbeitet er an einem anderen Projekt mit. Eine Projektführungskraft von heute kann morgen wieder als normaler Projektmitarbeiter in einem anderen Projekt arbeiten. Wie gesagt, der Vorteil dieser Organisationsform ist das Planen, Steuern und Führen von Projekten und nicht das Management kontinuierlicher Tätigkeiten. Die zweite Hürde für diese Organisation war, dass sich bestehende Hierarchien nur schwer verändern lassen. Vor allem in Europa, wo diese Form nicht so stark verbreitet ist wie in den USA, spielen arbeitsrechtliche Vorschriften eine große Rolle. Es ist sehr schwer, jemandem etwas wieder wegzunehmen, das er bereits schon hatte – im Sinne von Zulagen für Führungskräfte und anderer Bonifikationen. Dadurch passierte Folgendes: Die Unternehmen beließen die bestehenden Hierarchien und ergänzten ihre Organisationen mit einer Projektorganisation. Damit war aber den Ineffizienzen Tür und Tor geöffnet.9