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Situative Verkennungen von Menschen mit Demenz, in deren Folge es zu "herausfordernden Verhaltensweisen" kommt, ereignen sich oftmals in pflegerischen Situationen, in denen die Bedürfnisse und Begegnungsangebote von Menschen mit Demenz nicht erkannt, fehlgedeutet oder übergangen werden. Der begegnungsorientierte Ansatz geht davon aus, dass Verhaltensäußerungen von Menschen mit Demenz immer einen Sinn haben, auch wenn dieser sich nicht immer sogleich situativ erschließt. Das Buch möchte Pflegende und Betreuende dazu ermutigen, Möglichkeiten der gemeinsamen Interaktion und Begegnung auch dort zu erschließen, wo eine sprachliche Verständigung nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr möglich ist.
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Seitenzahl: 255
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Der Autor
Sebastian Kraus, Altenpfleger, Gerontopsychiatrische und leitende Pflegefachkraft, Gerontopsychiatrische Fachkraft bei der Seniorenstiftung Prenzlauer Berg, Berlin.
»Vom Standpunkt der Kommunikationsforschung ist die Einsicht unvermeidbar, daß jede Verhaltensform nur in ihrem zwischenmenschlichen Kontext verstanden werden kann und daß damit die Begriffe von Normalität oder Abnormalität ihren Sinn als Eigenschaften von Individuen verlieren.« (Paul Watzlawick)
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Fallbeispiel
Information
1. Auflage 2019
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-036977-1
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-036978-8
epub: ISBN 978-3-17-036979-5
mobi: ISBN 978-3-17-036980-1
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Warum ist etwas, das wir tun, richtig oder falsch? Warum sollten wir eine uns vertraute Praxis plötzlich durch eine andere ersetzen? Und warum sollten wir mit einem Mal damit anfangen, unsere bislang gewohnten Sichtweisen und von uns gebrauchten Begriffe womöglich neu zu überdenken?
Die Entwicklung person-zentrierter Ansätze für den Umgang mit Menschen mit Demenz hat auch hierzulande eine kritische Reflexion und Bestandsaufnahme der bestehenden Praxis und Pflegekultur eingeleitet. Das von Kitwood beschriebene Modell hat dabei nicht zuletzt unsere Wahrnehmung der Demenz zu verändern begonnen. Liegt der eigentliche Schritt hin zu einer tatsächlich individuell und bedürfnisorientiert gestalteten Alltagsbegleitung und Pflege in der Arbeit mit Menschen mit Demenz vielleicht trotzdem erst noch vor uns?
Wenn wir die Demenz nicht mehr primär unter dem Gesichtspunkt von Krankheit und Fähigkeitsverlusten zu begreifen versuchen, sondern erst einmal als »Lebensweise« von Menschen betrachten, ändert sich dadurch nicht allein unsere eigene Perspektive.
Gleichermaßen wird die Frage nach einer weniger an Defiziten als vielmehr an Möglichkeiten einer an Interaktion und Begegnung orientierten Identität und Alltagsnormalität von Menschen mit Demenz aufgeworfen. Eine Frage, die auch uns dazu führt, unsere bislang als sicher geglaubten Annahmen über die Demenz noch einmal zu überprüfen. Manches von dem, was wir bislang als kennzeichnend für die Eigenschaften und das situative Verhalten von Menschen mit Demenz zu betrachten gewohnt waren, wird sich dabei womöglich als fraglich erweisen.
Anderes – von uns selber als typisches und als charakteristisches Merkmal eines dementiellen Verlaufs Angesehenes – könnte sich bei eingehender Betrachtung eher als Ausdruck einer allgemein menschlichen Problematik erweisen, die uns letztendlich auf Bedürfnisse verweist, die sich nur in der Form ihrer Äußerung von den unseren unterscheidet.
Gleiches gilt für die grundlegenden Bedingungen unserer wechselseitigen Interaktion und Begegnung. So mag einiges von dem, was wir in der Arbeit mit Menschen mit Demenz als von uns unterscheidend und kennzeichnend wahrnehmen, sehr viel mehr Ausdruck des Gemeinsamen sein als des Trennenden.
Nicht nur Menschen mit Demenz leben in ihrer »eigenen Realität« und Wahrnehmungswelt, auch wir selbst tun es. Nicht nur sie suchen in ihrem Alltag nach Orientierung und nach Selbstvergewisserung und Identität. Nicht nur wir allein haben ein Bedürfnis nach Selbstbestimmung und danach innerhalb des sozialen Raumes, in dem wir uns bewegen, so sein zu können, wie wir sind.
Wenn wir über die Veränderung der bestehenden Praxis unseres Umgangs und Zusammenlebens mit Menschen mit Demenz sprechen wollen, geht es einerseits um die Frage einer anderen, weniger an den Defiziten und Verlusten orientierten Wahrnehmung und Herangehensweise und andererseits, um die damit verbundene Problematik einer möglichen sozialen Teilhabe und gesellschaftlichen Inklusion. Zugleich kommen wir nicht umhin, dabei auch über strukturelle Voraussetzungen und die notwendigen Rahmenbedingungen für einen tatsächlichen Paradigmenwechsel in der Arbeit mit Menschen mit Demenz zu sprechen.
Der soziale Raum unserer Interaktion und Begegnung ist immer auch ein gesellschaftlicher Raum. Die Veränderung einer bestehenden Pflegekultur hin zu einer individuelleren und bedürfnisorientierteren Wahrnehmung und Praxis kann nicht ohne eine Verbesserung der gegebenen Arbeitsbedingungen von Pflegenden und Betreuenden erreicht werden.
Sie bedarf jedoch gleichzeitig der konkreten Vision einer anderen Form der Begleitung und Pflege von Menschen mit Demenz in ihrem Alltag als dies bislang vielerorts noch der Fall ist.
Eine kritische Betrachtung unserer gegenwärtigen Pflegelandschaft muss dabei ernstzunehmende Zweifel an der Wirksamkeit und der praktischen Relevanz der von Einrichtungen und Trägern für die eigene Arbeit selbst entwickelten Leitvorstellungen wecken.
Allzu oft, scheint es, klaffen Anspruch und Wirklichkeit, ein nach außen hin dargestelltes Selbstbild der Einrichtungsträger und die tatsächlich zu beobachtende Realität in den Pflegeeinrichtungen auseinander.
Ich erinnere mich noch, wie ich während meiner Ausbildungszeit in einem Pflegeheim von der dortigen Pflegedienstleitung gefragt worden war, inwieweit mir der Inhalt des Pflegeleitbilds der Einrichtung bekannt sei. Ich selbst war erst den zweiten Tag dort gewesen und hatte noch keine Zeit gefunden, mich mit dem Einrichtungsleitbild vertraut zu machen, wollte mir aber im Gespräch gegenüber dem Vorgesetzten keine Blöße geben. So begann ich zu improvisieren. Ich erzählte von Individualität und von Wertschätzung. Und davon, dass der pflegebedürftige Mensch und Bewohner stets im Zentrum stehe. Schließlich nickte der Pflegedienstleiter, allem Anschein nach mit der Antwort zufrieden, und ging weiter. Als ich später am Tag dann den Inhalt des Pflegeleitbilds der Einrichtung nachzulesen begann, fand ich, fast im gleichen Wortlaut gehalten, die von mir genannten Sätze darin wieder.
Die Beliebigkeit und die Austauschbarkeit solcher Leitbilder, wie im gerade genannten Beispiel veranschaulicht, geben Hinweis auf eine mancherorts von ihren eigenen Leitvorstellungen längst entkoppelte Wirklichkeit in der Pflege und Alltagsbegleitung von Menschen.
Die in pflegerischen Konzepten gern hervorgehobene Wichtigkeit der Gewährleistung einer »verlässlichen Tagesstruktur« bedeutet in der Realität vieler Pflegeeinrichtungen nach wie vor häufig eine Anpassung des Lebensalltags von Menschen mit Demenz an die eigenen stationären Abläufe.
So bestimmen oftmals weiterhin rein funktionale Aspekte und strukturelle Vorgaben der Einrichtungsträger über Tagesablauf und Alltagsnormalität in den Einrichtungen, nicht aber die Bedürfnisse und die Lebensgewohnheiten der dort lebenden Menschen.
Der begegnungsorientierte Ansatz für die Arbeit mit Menschen mit Demenz wurde aus der pflegerischen Praxis innerhalb eines geschlossenen gerontopsychiatrischen Settings heraus entwickelt. Ausgangspunkt war dabei der Versuch, neue Wege im Umgang mit »verkennenden Situationen« und mit sogenannten »herausfordernden« Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz zu gehen.
Lag die primäre Zielsetzung zunächst ursprünglich darin, eskalierenden Situationsentwicklungen vorzubeugen, und dabei den bisherigen Einsatz von Psychopharmaka zur »Verhaltensmodulation« und »Einbindung« einzuschränken und nach Möglichkeit vielleicht ganz einzustellen, entstand nach und nach aus der reflektierten Erfahrung heraus ein ganzheitliches Modell für die Arbeit von Pflegenden und Betreuenden.
In Momenten, in denen wir in der Interaktion und Begegnung mit Menschen mit Demenz selbst an eigene Grenzen geraten, oder in denen Andere uns gegenüber Grenzen zu überschreiten beginnen, fangen wir damit an, unsere eigenen Handlungsmöglichkeiten kritisch zu reflektieren und im Zuge dessen vielleicht auch unsere eigenen Leitvorstellungen wieder in Frage zu stellen.
In Gesprächen mit Pflegenden wurden mir häufig solche Grenzsituationen genannt, oft zugleich mit der Frage verbunden, wie ich selbst im einen oder anderen Fall handeln würde oder gehandelt hätte.
Dabei war es mitunter schwierig, sich anhand der jeweiligen Schilderungen und Beschreibungen eines situativen Verlaufs und bestimmten Verhaltens darin selbst ein »objektives«, den tatsächlichen Zusammenhängen gerecht werdendes Bild des Geschehenen zu machen.
Nicht selten aber schien es, insbesondere im Verlaufe von Interaktionen, in denen es zu abwehrenden und gewaltsamen Verhaltensäußerungen von Menschen mit Demenz gegenüber den Pflegenden und Betreuenden gekommen war, zu einer wechselseitigen Verkennung der Situation und der jeweiligen Bedürfnisse und Begegnungsangebote des Anderen gekommen zu sein.
Wenn wir selbst gewohnt sind, ein verkennendes Verhalten in der Interaktion als bestimmtes für das »Krankheitsbild« symptomatisches Verhaltensmerkmal von Menschen mit Demenz zu betrachten und in diesem Zug die Verkennung der Situation ausschließlich auf der Seite unseres Gegenübers wahrzunehmen, wird uns häufig kaum bewusst, welchen Anteil unser eigenes Handeln an der Entstehung einer negativen und in ihrem Verlauf eskalierenden Situationsentwicklung haben kann.
Ein Buch über die Interaktion und Arbeit mit Menschen mit Demenz kann in diesem Zusammenhang nicht für jede denkbare situative Entwicklung ein mögliches schon vorab angelegtes Handlungsschema entwerfen.
Ein begegnungsorientierter interaktiver Ansatz wird die »Antworten« auf bestimmte situative Reaktionen und Begegnungsangebote unseres Gegenübers vielmehr in der Interaktion und Begegnung mit dem Anderen selbst suchen. Es geht womöglich weitaus weniger, als wir früher geglaubt haben, darum, einzelne Verhaltensregeln im Umgang mit Menschen mit Demenz zu erlernen und uns selbst in der Interaktion an bestimmten Techniken und Methoden zu orientieren. Viel entscheidender ist vielleicht, die Bedürfnisse und Mitteilungen unseres Gegenübers in der Begegnung wahrzunehmen und im gleichen Zug in den eigenen Handlungen und Begegnungsangeboten authentisch und dabei für den Anderen »lesbar« zu sein.
Die Veränderung unserer gegenwärtigen Pflegekultur kann nicht ohne eine Veränderung unserer Sprache erfolgen. Dies betrifft nicht allein unsere direkte sprachliche Kommunikation mit Menschen mit Demenz und die darin zum Ausdruck kommende Haltung in der Interaktion und Begegnung selbst, sondern ebenso auch die Art und Weise, in der wir über Demenz sprechen.
Die Einführung neuer Begriffe in den aktuellen Diskurs und die laufende Praxis sollte an diesem Punkt nicht zum Selbstzweck werden, oder vorrangig einer möglichen Abgrenzung gegenüber anderen schon bestehenden Ansätzen und Modellen für die Arbeit mit Menschen mit Demenz dienen, indem andere Worte gebraucht werden. Es geht nicht darum, gleiche Dinge anders zu benennen, sondern vielmehr darum, eine Sprache zu finden, die das Neue ermöglicht.
Dafür ist es erforderlich, dass wir uns nicht allein von den früheren defizitorientierten Wahrnehmungsmustern der Demenz loszulösen versuchen, sondern ebenso auch von einer damit einhergehenden negativen oder mystifizierenden Metaphorik, nach der Menschen mit Demenz »nur noch in ihrer eigenen Welt leben«, und dabei im Vergangenen oder Nebelhaften »versunken« sind.
Menschen mit Demenz leben nicht in ihrer Vergangenheit, sondern in der Gegenwart, jetzt. Auch wenn diese Gegenwart manchmal von lebenden Erinnerungen durchdrungen sein mag, ist es dennoch der gleiche Moment, in dem wir uns begegnen.
Dieses Buch möchte Pflegende und Betreuende dazu ermutigen, in der Alltagsbegleitung und Pflege von Menschen mit Demenz Neues auszuprobieren und mitunter auch andere Wege zu gehen, als die bislang gewohnten.
Es soll neugierig darauf machen, Möglichkeiten der Interaktion und Begegnung auch dort auszuloten, wo eine Kommunikation mit Worten nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr möglich ist und es notwendig wird, aus der Sprachlosigkeit heraus gemeinsam mit dem Anderen eine andere Sprache zu finden.
Vorwort
Einleitung
In Begegnungen lernen
Der begegnungsorientierte Ansatz
Psychische und physische Grundbedürfnisse
Begegnungen initiieren
Begegnungen gestalten
Nähe und Distanz
Identität und Erinnerung: Die Begegnung mit sich selbst
Basale Begegnungsebenen erschließen
Grenzsituationen
Das nicht Planbare planen
Die Begegnung mit Angehörigen
Begegnungen brauchen Räume
Leitbild und Soziale Praxis
Nachwort
Literatur/Quellenabgaben
Unsere Arbeit mit Menschen mit Demenz ist ein fortlaufender Prozess der Entwicklung. Sie wirft Fragen auf, führt zu Antworten, anderen neuen Fragen. Eine zentrale Frage, die uns in unserer Praxis begleitet, ist die nach dem Weshalb und Warum. Warum zeigt unser Gegenüber in der konkreten Situation ein gewisses Verhalten? Weshalb reagieren Menschen mit Demenz innerhalb der Begegnung auf ein bestimmtes Begegnungsangebot so und nicht anders? Und warum kommt es dabei in manchen Situationen zur Verkennung unserer Handlungsabsichten durch den Anderen?
Wenn es uns nicht gelingt, die tiefer liegenden Ursachen von bestimmten Verhaltensäußerungen zu ergründen, können wir unsere Fragen anders stellen. Statt zu fragen »Warum«, können wir nach dem »Was« fragen, nach dem »Wann« und dem »Wie«.
Was löst eine bestimmte Reaktion und Verhaltensweise bei meinem Gegenüber aus? Wann, an welchem Punkt und in welcher situativen Konstellation kommt es in der Interaktion zu verkennenden Reaktionen oder eskalierenden Situationsentwicklungen? Wie gelange ich mit dem Anderen in Kontakt, wie erreiche ich ihn in der Interaktion und Begegnung?
Während uns das »Warum« dabei mitunter auch zu irrtümlichen Annahmen und zu vorschnellen vielleicht falschen Schlussfolgerungen führen mag, sind die Antworten auf die Frage nach bestimmten situativen Bedingungen, Auslösern und Faktoren in der konkreten Praxis und Interaktion manchmal womöglich leichter überprüfbar.
So erhalten wir auf unsere Frage nach dem Wie eines interaktiven Verlaufs im konkreten Falle vielleicht mitunter eher praktische Antworten und Erkenntnisse für die eigene Arbeit, als bei unserem Versuch, den letztendlichen Grund für die Handlungsweisen des Anderen und für dessen Reaktionen auf uns zu erfahren.
Dennoch kommen wir nicht umhin, nach den Ursachen von Verhalten zu fragen, dabei ist es wichtig für uns, das darin Mitgeteilte zu entschlüsseln und die darin zum Ausdruck kommenden Bedürfnisse und Emotionen wahrzunehmen und zu erkennen.
Ausgangspunkt des begegnungsorientierten Ansatzes war zunächst die im Rahmen der täglichen Arbeit innerhalb eines stationären gerontopsychiatrischen Settings von einer Gruppe von Pflegenden verspürte Notwendigkeit, die bestehende Praxis in der Alltagsbegleitung und Pflege im eigenen Bereich kritisch zu hinterfragen.
Wir begannen damit, das von uns in der täglichen Arbeit und Interaktion mit den bei uns lebenden Menschen mit Demenz Wahrgenommene und Erprobte und die dabei gewonnenen Erfahrungswerte systematischer, als das bislang geschehen war, innerhalb unseres Teams zu besprechen und gemeinsam zu reflektieren.
Wollten wir dabei von einer eher funktional ausgerichteten »Basisversorgung« der auf unserem Bereich untergebrachten Bewohner*innen hin zu einer individuellen Begleitung der bei uns lebenden Menschen mit Demenz gelangen, mussten wir die entsprechenden stationären Arbeitsroutinen und Abläufe anpassen und individualisieren und uns zugleich die Frage stellen, welche pflegerischen Maßnahmen, in welchem Umfang und wann dabei wirklich »zwingend« erforderlich waren und welche nicht.
Wollten wir den bisherigen Einsatz von Psychopharmaka zur Verhaltensmodifikation der bei uns lebenden Menschen reduzieren und im gleichen Zuge die Häufigkeit des Auftretens sogenannter situativer Verkennungen insbesondere dort, wo diese mit Gewalt einhergingen, reduzieren, mussten wir zunächst deren situativen Ursachen und Erscheinungsformen auf den Grund gehen.
Häufig lasen wir in den Epikrisen der von uns neu aufgenommenen Bewohner*innen von »fremdaggressiven« und »herausfordernden« Verhaltensweisen, ohne dabei jedoch nachvollziehbare und für uns Aufschluss gebenden Hinweise auf deren jeweilige situative Entstehung, deren auslösende Momente und darauf, was sich eigentlich in der Interaktion ganz konkret wirklich abgespielt hatte, zu finden.
Hatte sich ein vorausgegangener Vorfall in der Häuslichkeit abgespielt und nicht innerhalb einer Pflegeinrichtung, gab es dazu häufig keine pflegefachlich begründete Einschätzung des Beobachteten und Geschehenen, sondern ausschließlich den Bericht und die darin enthaltene Darstellung und Version der Ereignisse der Person, die die Einweisung selbst veranlasst hatte.
Diese »fremdaggressiven« und nicht selten im Rahmen von Pflegemaßnahmen aufgetretenen Verhaltensweisen wiederum, waren dann oftmals Anlass und Auslöser gewesen, für eine daraufhin eingeleitete klinische Einweisung und die nachfolgende, an den stationären Klinikaufenthalt anschließende Überleitung auf unseren geschlossenen gerontopsychiatrischen Wohnbereich, auch wenn die Unterbringung dort mit einem selbstgefährdendem Verhalten begründet und auf Basis dessen veranlasst worden war.
Selbstgefährdendes Verhalten kann in diesem Zusammenhang beispielsweise bedeuten, sich aufgrund eingeschränkten Orientierungsvermögens und der damit einhergehenden mangelnden Fähigkeit, Risiken »adäquat« einzuschätzen, im Alltag mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst in Gefahr zu bringen.
Solche »selbstgefährdenden« Verhaltensweisen konnten sich dabei mitunter auch in direktem Zusammenhang mit der vorangegangenen Einweisung in die Klinik entwickeln, deren Anlass ja zunächst ein »fremdgefährdendes« Verhalten gewesen war.
Dies geschah etwa dann, wenn die eingewiesene Person, nur im Schlafanzug oder Nachthemd bekleidet, im Rahmen einer »Hinlauftendenz« versucht hatte, die Klinik zu verlassen, um von dort aus »nach Hause zu gehen«, oder aber auch zu einem anderen Ziel zu gelangen und im Zuge dessen nicht witterungsgerecht gekleidet außerhalb der Station draußen aufgefunden wurde.
Auf der anderen Seite konnte sich auch ein »fremdgefährdendes« oder »fremdaggressives« Verhalten im Laufe des Krankenhausaufenthaltes entwickeln und dort festgestellt werden, dem ein »selbstgefährdendes« Verhalten in der Häuslichkeit vorausgegangen war. Dies geschah etwa dann, wenn eine Person in der Häuslichkeit oder innerhalb einer Pflegeeinrichtung bei akutem Delir keine Flüssigkeit oder lebensnotwendige Medikamente mehr zu sich genommen hatte und nach Einweisung in die Klinik bei den medizinischen oder pflegerischen Maßnahmen verkennend und körperlich abwehrend reagiert hatte.
Die Entlassungsmedikation aus dem Krankenhaus enthielt in solchen Fällen zumeist Psychopharmaka mit sedierender Wirkung, wie etwa Risperidon, dies mitunter auch in hoch angesetzter Dosierung.
Vor diesem Hintergrund war es mitunter schwer und nur eingeschränkt möglich gewesen, bei der Aufnahme einen wirklichen Eindruck von den neu bei uns eingezogenen Menschen in ihren jeweiligen individuellen Bedürfnissen und Mitteilungsmöglichkeiten zu gewinnen.
Wir entschlossen uns dazu, die vorhandenen Informationen zur Person, ihre Diagnosen und Krankengeschichte, oder das, was uns von ihrer Biografie und Vergangenheit her bekannt wurde, und uns mögliche Anknüpfungspunkte in der Interaktion bieten konnte, in die Arbeit miteinzubeziehen. Unser Hauptaugenmerk aber galt zunächst einmal dem konkreten und gegenwärtigen Menschen, der uns jetzt gegenüber stand, und nicht demjenigen, der er möglicherweise früher gewesen sein könnte.
Eine klassische Informationssammlung und Anamnese und die damit verbundene Position des Beobachtens und Dokumentierens rückte dabei für uns mehr und mehr in den Hintergrund. An ihre Stelle trat vielmehr eine wahrnehmende Erprobung von möglichen Interaktionen, Fähigkeiten und Begegnungsangeboten und ein neues an den dabei für uns erfahrbar gewordenen Bedürfnissen orientiertes »Assessment«.
Dabei ging es uns weniger um das Sammeln und Dokumentieren von Daten, als vielmehr darum, einen Zugang zu finden, der es uns erlaubte, auch in diesem frühen Zeitpunkt bereits mit dem Anderen in Beziehung zu treten und die pflegerische Versorgung und Begleitung im Rahmen der Begegnung zu organisieren.
Nach einer Zeit der Eingewöhnung und einer schrittweisen Anpassung und Reduzierung der Medikation zeigte sich oftmals dann ein ganz anderes Bild als am Anfang und Aufnahmetag.
Zu unserer damaligen obligatorischen Aufnahmeroutine hatte unter anderem auch die Durchführung eines Minimental Status Tests (MMST) zur Ermittlung des kognitiven Leistungsvermögens und die Erfassung sogenannter »herausfordernder« Verhaltensweisen anhand der Cohen-Mansfield-Skala gehört.
Dabei stellten wir fest, dass die anfänglich, nach den ersten Tagen nach Aufnahme im Minimental-Test ermittelten Werte, oftmals deutlich von den späteren, bei einer Wiederholung des Tests etwa nach sechs Wochen, erzielten Resultate abwichen, die nach einer Zeit der Eingewöhnung und der schrittweisen Reduzierung der Psychopharmaka-Medikation häufig deutlich »besser« ausfielen.
Zugleich aber wurde uns in der täglichen Praxis in zunehmendem Maße klar, dass die auf diese Weise ermittelten Testergebnisse uns aus pflegerischer Sicht kaum darüber Aufschluss geben konnten, an welchen Punkten genau Unterstützungsbedarfe, oder konkrete Ressourcen, bestanden.
Die Erfahrung zeigte uns zudem, dass das Vorliegen eines dabei erzielten geringen »Scores« wenig über den möglichen Grad der Selbständigkeit eines Menschen in bestimmten Alltagshandlungen, wie der Nahrungsaufnahme, Körperpflege oder räumlichen Orientierung, aussagte. Er erlaubte uns weder eine verlässliche Voraussage über einen aktuellen notwendigen Bedarf an pflegerischer Begleitung, noch darüber, inwieweit sich die zu uns gekommene Person innerhalb des Bereiches, nach einer gewissen Orientierungsphase und Zeit, wiederkehrende Abläufe und Alltagsrituale würde einprägen oder sich auf dem Wohnbereich würde selbständig bewegen und den Weg in ihr Zimmer alleine zurückfinden können.
Zugleich aber bestand hier das Risiko, dass Vorhandensein individueller Handlungsmöglichkeiten und vorhandener Potentiale in der Selbstsorge nicht mehr wahrzunehmen und im Rahmen der Interaktion wirklich auszuloten, wenn das Resultat eines solchen Assessments eine negative Einschätzung und Prognose bedeutete.
Gleiches galt im Zusammenhang mit der von uns routinemäßig vorgenommenen Erfassung herausfordernder Verhaltensweisen anhand der dafür vorgegebenen Skala. Diese barg die Gefahr bestimmte Verhaltensweisen eines Menschen in der Interaktion als persönliche Eigenschaften und Verhaltensmerkmale zu betrachten, und nicht erst einmal als Handlungen und Reaktionen innerhalb eines interaktiven Kontextes.
Ein auf diese Weise vermitteltes Bild und ein darauf basierendes pflegerisches Handeln aber konnte, im negativen Falle, dazu führen, eben diese Verhaltensweisen beim Anderen ungewollt selbst erst auszulösen.
Zudem konnte uns eine solchermaßen vorgenommene Erfassung »herausfordernder« Verhaltensweisen weder Aufschluss über deren situative Entstehung, deren auslösende Faktoren und die ihnen zu Grunde liegenden Bedürfnisse und Emotionen verschaffen, noch entsprechende Hinweise für unseren möglichen Umgang mit diesen geben.
Auch eine mögliche Zuordnung von bestimmten Verhaltensweisen und kognitiven Fähigkeiten in bestimmte Entwicklungsstufen oder Stadien eines dementiellen Verlaufes, eine leichte und beginnende oder mittelschwere, fortgeschrittene oder schwere Demenz, im Rahmen der Aufnahmeanamnese erschien uns in der praktischen Arbeit wenig hilfreich.
So zeigte sich für uns, dass bestimmte kognitive Merkmale und »Verhaltensmuster«, die als Charakteristika unterschiedlicher Entwicklungsgrade einer Demenz galten, sich in der Praxis nicht selten innerhalb einer einzigen Person überschneiden konnten und somit parallel zueinander auftraten.
Auch hier erschien uns eine so vorgenommene Typisierung und Zuordnung letzten Endes wenig aussagekräftig und für unsere eigenen praktischen Fragestellungen letztlich kaum relevant, in denen es weniger darum ging, »kognitive Leistungen« zu bewerten und bestimmte Verhaltensweisen statistisch zu erfassen, sondern vielmehr darum, die im Rahmen der Interaktion und der unterschiedlichen Verhaltensäußerungen darin zum Ausdruck kommenden Mitteilungen und Bedürfnisse des Anderen wahrzunehmen und zu verstehen.
Zugleich aber mussten wir, auch um situative Verkennungen zu vermeiden, in der Interaktion ebenso für den Anderen wahrnehmbar und »lesbar« sein. Dies aber konnte nicht aus einer äußeren Position der Beobachtung und Bewertung heraus geschehen, sondern nur aus der Interaktion und Begegnung selbst heraus.
Für die konkrete Praxis schienen dabei dreierlei Dinge erforderlich: Erstens galt es, sich von früheren und gewohnten defizitorientierten und bewertenden Betrachtungsweisen und den damit verbundenen Interpretationen und Zuordnungen von Verhalten zu lösen.
Um Missverständnisse innerhalb der Kommunikation des Teams selbst zu vermeiden, galt es zweitens sicher zu stellen, dass wir über das Gleiche redeten und nicht aneinander vorbei, wenn wir bestimmte Worte gebrauchten oder manche davon bei ihrer Verwendung in »Anführungszeichen« setzten.
Nicht zuletzt aber ging es drittens darum, selbst bereit zu sein, unsere eigene Arbeit und die dabei gewonnenen Erfahrungen transparent zu machen und gemeinsam zu reflektieren, insbesondere was die mögliche Deutung des von uns in der situativen Wahrnehmung Erlebten betraf.
Dabei wurde auch klar, dass ein unreflektiertes Verdrängen der subjektiven Anteile unseres Wahrnehmens und Erlebens, als vermeintliche unprofessionelle Herangehensweise und Haltung von Pflegenden, zugleich umgekehrt schnell zur »Objektivierung« eigener subjektiver Wahrnehmungen führen kann.
Ein Verhalten, das wir selber als störend empfinden, kann auf diese Weise in der eigenen Interpretation und Einschätzung zur »Verhaltensstörung« des Anderen, eines das wir als aggressiv wahrnehmen zur »Fremdaggressivität« werden.
Eine Lösung der vorhandenen Probleme in der Kommunikation und Verständigung mit dem Anderen wird infolge dessen womöglich nicht mehr dort gesucht werden, wo diese aufgetreten und entstanden sind, in der Interaktion selbst, sondern außerhalb dessen, etwa durch eine medikamentöse Intervention.
Die Verkennung der eigenen Subjektivität in der Interaktion und Wahrnehmung führt auf diese Weise zugleich auch zur Verkennung des Anderen.
Die Bereitschaft, einen Menschen in seinen Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten einzuschränken, etwa durch die Gabe von Sedativa, wird eine andere und größere sein, wenn wir seine Verhaltensäußerungen als gestört oder aber als fremdaggressiv bewerten, anstatt sie zunächst einmal als Handlungen und Reaktionen innerhalb eines bestimmten interaktiven Kontextes zu betrachten.
So spiegelt die Form, in der wir über etwas zu reden gewohnt sind, nicht allein unsere Wahrnehmung und unser Denken wider, sie bestimmt immer auch unsere eigene soziale Praxis.
Ob wir in unserer Arbeit, wie es früher noch üblich war und mitunter auch heute noch ist, von Demenzkranken, von Dementen oder aber stattdessen von Menschen mit Demenz sprechen, ist dabei keineswegs beliebig oder bloß eine Frage der Form. Es ist Ausdruck unserer Einstellungen und der darauf basierenden Haltung und wird so immer auch die Art und Weise bestimmen, in der wir Menschen mit Demenz wahrnehmen und begegnen.
Am Beginn der Begegnung steht die eigene Wahrnehmung und das Wahrgenommen werden durch den Anderen. Wir nehmen aufeinander Bezug. Das gemeinsame »In-Beziehung-Treten« zueinander bildet dabei den Ausgangspunkt und die Basis für die spätere Interaktion und die Kommunikation unserer gegenseitigen Begegnungsangebote. Erleben wir die Verständigung mit dem Anderen als schwierig, greifen wir in der Interaktion und Begegnung gern auf vertraute und von uns schon erprobte Handlungsmuster zurück.
Hilft uns unsere eigene Erfahrung in der konkreten Situation nicht weiter, werden wir womöglich versuchen, uns im weiteren Verlauf anhand einer bestimmten für den situativen Umgang mit Menschen mit Demenz entwickelten Methode zu orientieren. Dies mag in manchen Situationen hilfreich sein, in anderen nicht.
Gehen wir schon von vorneherein mit der Erwartung in die Situation und Begegnung, dass der situative Verlauf eine negative oder eskalierende Entwicklung nehmen wird, wächst damit die Wahrscheinlichkeit, dass dies im Rahmen einer sogenannten »selbsterfüllenden Prophezeiung« vielleicht tatsächlich so eintreten wird.
Legen wir uns im Vorfeld bereits auf eine bestimmte Handlungsweise fest, anhand derer wir auf das Begegnungsangebot des Anderen reagieren wollen, und die uns dabei helfen soll, in der Situation einen bestimmten Halt zu finden und in dieser navigieren zu können, laufen wir Gefahr, das Verhalten des Anderen und die darin zum Ausdruck kommenden Bedürfnisse einseitig zu interpretieren und zu überlesen. Wir werden womöglich Schwierigkeiten haben, mit spontanen und von uns nicht vorhergesehenen situativen Entwicklungen umzugehen.
Wird uns dann in der Interaktion mit dem Anderen klar, dass uns weder die eigene Erfahrung noch die von uns erlernte Methode in einer bestimmten Situation weiterhelfen und tragen, können wir in dieser nicht mehr authentisch handeln und fortfahren, sondern fühlen uns unecht in der Interaktion.
Die von uns verspürte Unstimmigkeit und das damit verbundene Gefühl des »Falschen« ist für den Anderen oftmals wahrnehmbar. Beides wird unsere situative Beziehung und damit auch den weiteren situativen Verlauf der Begegnung wahrscheinlich in negativer Weise beeinflussen.
Wir selbst aber werden aus der von uns erlebten und gescheiterten Interaktion und Beziehungsaufnahme zum Anderen womöglich den Schluss ziehen, dass die von uns verwendete Methodik, anhand derer wir uns zu orientieren versucht haben, in der Praxis »nicht funktioniert«, und falls doch, dann nur von Fall zu Fall.
Es kann sein, dass uns diese Schlussfolgerung zu der Ansicht gelangen lässt, dass vorhandene Ansätze und Modelle für die Interaktion und Arbeit mit Menschen mit Demenz letztlich doch eher »Theorie« und nicht so wie erwartet wirklich umsetzbar seien und wir im Zuge dessen wieder zu unserer früheren »intuitiven« Praxis zurückkehren.
Der begegnungsorientierte Ansatz sieht personenzentrierte, validierende, milieu- oder biografieorientierte Ansätze und Methoden, um nur einige wichtige und bekannte an dieser Stelle zu nennen, als zentrale Bestandteile und Bausteine in der Arbeit und Begegnung mit Menschen mit Demenz. Ihr jeweiliger »Einsatz« in der Interaktion und Begegnung sollte dabei jedoch immer situationsbezogen erfolgen und dabei für beide Seiten authentisch erfahrbar sein.
Die Beziehungsaufnahme und Kommunikation mit Menschen mit Demenz ist keine einseitige. Unsere eigenen Begegnungsangebote treffen auf die des Anderen. Im Zentrum steht im begegnungsorientierten Ansatz nicht das Handeln für unser Gegenüber, sondern das gemeinsame Handeln mit ihm.
Geraten wir dabei selbst an Grenzen, suchen wir nach geeigneten Lösungen, neuen Handlungs- und Verständigungsebenen, einer möglichen Handhabe für den richtigen Umgang.
Lösungen aber können immer nur dort entstehen, wo sich zuvor Probleme gezeigt haben, in der Interaktion mit dem Anderen selbst.
Angesichts der vorhandenen Vielfalt möglicher situativer Entwicklungen und der individuellen Voraussetzungen ihres jeweiligen Verlaufs, ist es dabei kaum möglich für jede denkbare Form der Begegnung im Voraus ein Szenario zu definieren, anhand dessen wir uns in der konkreten Situation bewegen können, auch wenn wir uns einen solchen »Plan« insbesondere in schwierigen Situationen mitunter wünschen mögen.
Es geht vielmehr darum, eine Haltung zu finden, die es uns erlaubt, die Begegnungsangebote des Anderen und die darin zum Ausdruck kommenden Bedürfnisse zu »lesen« und im Gegenzug selbst für unser Gegenüber lesbar zu sein.
Vor diesem Hintergrund sollen die im weiteren Textverlauf beschriebenen Fallbeispiele aus der Praxis weniger dazu dienen, die darin dargestellten Begegnungsangebote und »Methoden« als verbindliche und in dieser Form übertragbare Handlungsmuster darzustellen, als vielmehr dem Zweck, eine ihnen zugrunde liegende Wahrnehmung und Haltung zu veranschaulichen und zu vermitteln. Die im konkreten Fall jeweils gefundenen Lösungen waren rückblickend im Ergebnis betrachtet häufig sehr viel einfacher als der mitunter langwierige und für uns manchmal schwierig zu findende Weg dahin nahelegen mag. Schnelle Resultate zu erzielen, um möglichst rasch etwas »Greifbares« in der Hand zu haben, kann nicht das primäre Ziel sein. In Begegnungen zu lernen ist ein Prozess. Einer bestimmten Fragestellung zu folgen, und daran festzuhalten, kann im Einzelfall womöglich wichtiger sein, als schnelle Antworten zu finden und zu raschen Ergebnissen zu gelangen.
In der Interaktion und Begegnung mit Menschen mit Demenz erleben wir eine andere Art von Nähe und Distanz, von sich unbekannt und vertraut sein, als wir es aus dem eigenen Alltag, unserem gewohnten sozialen Umfeld gewohnt sind. Um den Anderen in seiner »Normalität« wahrnehmen und annehmen zu können, gilt es, uns von eigenen normativen Vorstellungen von Alltag und Normalität zu lösen. Die Voraussetzung und grundlegende Basis der Begegnung ist Akzeptanz.
Akzeptanz beruht auf unserem Wissen um Gemeinsames und der wechselseitigen Verständigung darüber mit dem Anderen innerhalb der Begegnung mit ihm, ungeachtet der Unterschiedlichkeit zwischen uns, der Verschiedenheit unserer Persönlichkeiten, unserer früheren Lebenswege und der Gegenwart jetzt.
Der Philosoph und Soziologie Jürgen Habermas beschreibt die gemeinsame Basis in der zwischenmenschlichen Kommunikation als Resultat einer wechselseitigen Verständigung und Übereinkunft:
»Indem sich Sprecher und Hörer frontal miteinander über etwas in einer Welt verständigen, bewegen sie sich innerhalb des Horizonts ihrer gemeinsamen Lebenswelt; die bleibt den Beteiligten als ein intuitiv gewußter, unproblematischer und unzerlegbarer holistischer Hintergrund im Rücken.« (Habermas 1988, S. 348f.)
Das Gemeinsame wird für uns innerhalb der Begegnung mit dem Anderen »intuitiv« erfahrbar. Die Grundlage und situative Basis, auf der wir uns begegnen und interagieren ist das »Fraglose« eines ganzheitlichen und unproblematischen Hintergrunds unserer Interaktion und Bezugnahme aufeinander.
Führt uns unsere gewohnte, aus der Kommunikation mit Anderen her vertraute Art zu kommunizieren, in unserer Begegnung mit Menschen mit Demenz nicht weiter, gilt es, eine eigene Verständigung miteinander zu entwickeln, und darin eine »eigene Sprache« zu finden.
Die Suche und Entwicklung einer solchen gemeinsamen Sprache ist kein einseitiger und von Menschen mit Demenz nur passiv erfahrener Prozess. Nicht nur wir allein, sondern auch unser Gegenüber lernt darin, sich verständlich zu machen und den Anderen, dessen situative Mitteilungen und Begegnungsangebote zu verstehen.
Eine pauschalisierende Sichtweise, nach der Menschen mit Demenz nichts mehr neu hinzulernen können, ist nicht nur Ausdruck eines aus heutiger Perspektive nicht mehr zeitgemäßen defizitorientierten Verständnisses der Demenz, sondern gleichzeitig, wie die Praxis zeigt, schlichtweg falsch.
So stellt das Vergessen früher erlernter Kommunikationsformen Menschen mit Demenz vor die Notwendigkeit, ihre Emotionen und Bedürfnissen auf andere als die einstmals erlernte Art und Weise zum Ausdruck zu bringen.
Wenn wir diese Ausdrucksformen nicht nur rein negativ als Ergebnisse und Folge eines kognitiven Abbauprozesses und der daraus resultierenden »Fähigkeitsverluste« betrachten und damit ausschließlich als defizitär, sondern vielmehr als vorhandene kommunikative Ressourcen, finden wir hier einen wichtigen Anknüpfungspunkt für die eigenen Begegnungsangebote in der Interaktion und für unser Verständnis der Begegnungsangebote des Anderen.
Eine Sprache zu finden in der individuellen Begegnung mit Menschen mit Demenz bedeutet, Mitteilungen und die darin enthaltenen Inhalte austauschen zu können. Es beinhaltet gleichermaßen die Wahrnehmung und das Wahrgenommen werden durch den Anderen und die wechselseitige Kommunikation von Bedürfnissen und Begegnungsangeboten.