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The Letter to the Galatians is intended to resolve a conflict. New missionaries are spreading the view that one has to be circumcised in order to belong to God=s people. Against this, Paul argues that through Jesus Christ, the son of Abraham and the son of God, and his sacrifice on the Cross, those who belong to him are also children of Abraham and at the same time children of God, and they are free from the Law. This view of the Gospel as representing freedom from the Biblical and Jewish Law went on to make history & often with anti-Jewish undertones. But in the Letter to the Galatians, Paul again advocates a very much wider understanding of the Hebrew Bible. On the basis of that understanding, he presses the view that devotion to Jesus Christ means liberation into a new life. In hermeneutic reflections and in a longer concluding section, the commentary enters into an engaging and critical discussion with the Pauline Gospel.
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Theologischer Kommentar zum Neuen Testament
Herausgegeben von
Ekkehard W. StegemannAngelika StrotmannKlaus Wengst
Band 9
Peter von der Osten-Sacken
Der Brief an die Gemeinden in Galatien
Verlag W. Kohlhammer
Umschlagbild entnommen aus „Nestle-Aland – Novum Testamentum Graece“, S. 498
27. revidierte Auflage
© 1898,1993 Deutsche Bibelgesellschaft
1. Auflage 2019
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-033339-0
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-033340-6
epub: ISBN 978-3-17-033341-3
mobi: ISBN 978-3-17-033342-0
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Der Galaterbrief soll einen Konflikt bewältigen. Neue Missionare propagieren, man müsse sich beschneiden lassen, um zum Volk Gottes zu zählen. Dem setzt Paulus entgegen: Durch Jesus Christus, Abrahams- und Gottessohn, und seine Hingabe am Kreuz sind die, die zu ihm gehören, Kinder Abrahams und zugleich Kinder Gottes und frei vom Gesetz.
Das Evangelium als Freiheit vom biblisch-jüdischen Gesetz hat - oft mit antijüdischen Untertönen - Geschichte gemacht. Doch Paulus vertritt auch im Galaterbrief ein sehr viel weiteres Verständnis der Bibel Israels. Auf dessen Grundlage prägt er ein: Bindung an Jesus Christus heißt Befreiung zu einem neuen Leben.
In hermeneutischen Reflexionen und in einem längeren Schlussteil tritt der Kommentar in ein einstimmendes und kritisches Gespräch mit dem paulinischen Evangelium ein.
Peter von der Osten-Sacken war bis zu seiner Emeritierung Professor für Neues Testament und Christlich-Jüdische Studien sowie Leiter des Instituts Kirche und Judentum an der Humboldt-Universität Berlin.
Vorwort
A. Einleitung
1. Der Verfasser: Apostel des Messias für die Völker
2. Die Adressatenschaft
3. Situation und Problem des Briefes
4. Das Dokument: Ein apostolischer Gemeindebrief
5. Zum Galaterbrief in Theologie- und Kirchengeschichte
6. Hermeneutische Fragen
7. Aufbau des Kommentars und Literaturrezeption
8. Lesehilfen
B. Auslegung:Der Briefbeginn (1,1–5)
Flüche statt Dank: Das Proömium (1,6–9)
I. Die Herkunft des Evangeliums für die Völker und der Kampf des Apostels für dessen Erhaltung (1,10–2,21)
0. Zum Aufbau
1. Die Zeit vor dem Apostelkonvent: Berufung und erste Jerusalemreise (1,10–24)
2. Der Apostelkonvent: Zweite Jerusalemreise und Übereinkunft der Apostel (2,1–10)
3. Der Konflikt in Antiochien und seine theologische Durchdringung (2,11–21)
II. Das Evangelium und die Schrift: Der Sohn und die Seinen als Erben Abrahams (3,1–4,31)
0. Zum Aufbau
1. Von Abraham, seinem Samen Christus und der Gabe des Geistes (3,1–18)
1.1 Die Erinnerung an den Anfang: Der Empfang des Geistes aus der Kunde vom Vertrauen (3,1–5)
1.2 Das Zeugnis der Schrift: Die aus dem Vertrauen Lebenden sind Kinder Abrahams und Empfänger/innen des Segens (3,6–9)
1.3 Das Zeugnis der Schrift: Die, die aus dem Tun des Gesetzes leben, sind unter dem Fluch (3,10–12)
1.4 Das Kreuz Christi als Befreiung vom Fluch des Gesetzes und als Erfüllung der Abraham gegebenen Verheißung (3,13f.)
1.5 Die Unverbrüchlichkeit der Verheißung (3,15–18)
2. Der Erbe und die Erbengemeinschaft (3,19–4,7)
2.1 Schrift, Verheißung und Gesetz: Eine Gratwanderung (3,19–25)
2.2 In Christus Jesus: Gottes Kinder und Abrahams Erben (3,26–29)
2.3 Vater, Sohn und Geist: Paulinische Soteriologie (4,1–7)
3. Familienprobleme, Erbschafts- und Verwandtschaftsfragen (4,8–31)
3.1 Befürchtungen (4,8–11)
3.2 Erinnerung an das Glück des Anfangs: Die erste Begegnung (4,12–20)
3.3 Erbberechtigte Kinder Abrahams: Die mütterliche Linie (4,21–31)
III. Evangelium und Gesetz: Das Geschenk der Freiheit als Erbe (5,1–6,10)
0. Zum Aufbau
1. Das Geschenk der Freiheit und seine Gefährdung (5,1–12)
2. Gelebte Freiheit als Kampfexistenz (5,13–24)
3. Gelebte Freiheit zwischen Drohung und Verheißung (5,25–6,10)
Grußlos nach Galatien: Der Schluss des Briefes (6,11–18)
C. Resümee und Reflexionen
1. Das Abraham verheißene, von Christus und den Seinen angetretene Erbe: Konturen des Briefes
2. Globale Ausrichtung und gelebter Ort des paulinischen Evangeliums
3. Erst kommt der Mensch und dann die Konfession: Die Wende seit der Aufklärung
4. Menschenwürde und Menschenrechte in theologisch-kirchlicher Perspektive
5. Ausprägungen und Perspektiven des paulinischen Evangeliums
Anhang
Literatur
Register
Das Fluchgeschehen
Das Evangelium
Offenbarung und Deutungshoheit: Paulus und die Rabbinen
Die Wahrheit des Apostels (a): Seine Biografie
Zu jüdischem Verständnis des Judentums
Die Wahrheit des Apostels (b): Der Apostelkonvent
Einheit statt Spaltungen
Zum Bericht über den Apostelkonvent in Apg 15
Die Wahrheit des Apostels (c): Der Konflikt in Antiochien
Ungelöste Fragen: Ein Wort für Petrus und Barnabas
Glaube/Vertrauen, Kreuz und Auferweckung
Die Aufhebung der Unterschiede
Gal 4,1-7 als Beispiel paulinischer Theologie
Die Anrede Gottes als Abba: Texte als Korrektiv
Zeit und Gesetz
Die paulinische Interpretation der Bibel Israels
Nein zu Israel als Erben?
Nein zur Kirche als Erbin?
Ein neuer vierfacher Schriftsinn
Zur spirituellen Seite der Beschneidung
Begierden oder Kataloge einst und jetzt
Liebe macht glücklich oder die Rehabilitierung des Gesetzes
„… und niemandem untertan“! Zum geistlichen Geschenk der Freiheit
Unentrinnbare Vergeltung? Von Säen und Ernten, Verderben und ewigem Leben
Der Schwur vom Berg im Lande Morija
Gerne statte ich zu Beginn meinen von Herzen kommenden Dank an alle die ab, die auf diese oder jene Weise mit dem vorliegenden Kommentar verbunden sind.
In der weiter zurückliegenden Anfangszeit seiner Vorbereitung haben sich Viola Körner und Dr. Christoph Kock durch ihre Literaturrecherchen um ihn verdient gemacht. Das Team der Bibliothek der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität unter Leitung von Dr. Agnes Winter, namentlich Martin Wolf, war eine stets freundlich-hilfsbereite Anlaufstelle für alle Bücherwünsche. Dr. Judith Rohde, Dr. Roger D. Aus und Pfarrer em. Dieter Zeile haben mich auf ganz unterschiedliche Literatur aufmerksam gemacht, die mir sonst entgangen wäre. Mit Dr. Ulrich Victor habe ich förderliche Gespräche über Fragen der griechischen Grammatik führen können, und mein Berliner Kollege Rainer Kampling hat mir solidarisch den Weg zum gleichsinnigen Gebrauch des lateinischen Adjektivs solidarius frei gemacht. Florian Specker, der stellvertretend für alle seitens des Kohlhammer Verlages Beteiligten genannt sei, hat als Lektor den Kommentar in der Phase der Vorbereitung der Drucklegung durch sein Verständnis, seine Geduld und nicht zuletzt durch seine unermüdliche Hilfe bei der digitalen Erstellung der Register gefördert. Der Herausgeber der Kommentarreihe Klaus Wengst hat das Manuskript so sorgsam und anregungsreich durchgesehen, wie es sich ein Autor nur wünschen kann. Dr. Viola Schrenk und Philipp Schulz haben akribisch und mit manchem förderlichen Hinweis die Korrektur des druckfertigen Manuskripts gelesen. Sollten dennoch Druckfehler übersehen sein, so gehören sie zu den Teilen, die ich allein durchgesehen oder in denen ich nach Abschluss ihrer Arbeit noch diese oder jene kleinere Ergänzung vorgenommen habe. Nicht zuletzt danke ich Philipp Schulz für seine Mitarbeit bei der Überprüfung der Zitate.
Ich widme den Kommentar meinen ehemaligen Studentinnen und Studenten, die mir durch ihre wache Teilnahme das Lehren und gemeinsame Lernen zur Freude gemacht haben.
Berlin, den 12. Mai 2018 Peter von der Osten-Sacken
Fünfmal ist er ausgepeitscht, dreimal mit Stockschlägen zugerichtet, einmal gesteinigt worden. Dreimal hat er Schiffbruch erlitten, einen Tag und eine Nacht ist er auf dem Meer getrieben, auf Reisen in Sachen Mission vielfach in Gefahr geraten, durch Flüsse, Wegelagerer, im eigenen Volk und unter den Völkern, in Städten, Wüsten, auf hoher See, unter falschen Brüdern … (2 Kor 11,24–28). Zäh wie das Material, das er als Zeltmacher verarbeitet hat, hat dieses „arme, dürre Männlein“, wenn es angegriffen und zur Verteidigung gezwungen wurde, einem Narren gleich seine übermenschlichen Leistungen rühmen können und sie doch nicht sich selber zugeschrieben.1 „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht“ (Phil 4,13), getreu dieser Gewissheit war er stark, wenn er schwach war, weil dann die Kraft Christi in ihn einzog und zur rettenden Mitte des Lebens wurde (2 Kor 12,9f.). So war es zu Beginn bei ihm selber, als er aus einem unnachgiebigen Verfolger zu einem hingegebenen Nachfolger wurde. Und so sollte es bei den Völkern sein, zu denen er sich als ihr Apostel gesandt wusste, damit er den Sohn, den Gott ihm offenbart hatte, unter ihnen verkündigte (Gal 1,16). Auch sie, die Gojim, sollte der Gesandte aus der himmlischen Welt, verkündigt durch den Apostel, „herausreißen aus der gegenwärtigen, bösen Welt nach dem Willen Gottes, unseres Vaters“ (Gal 1,4). Nicht zuletzt deshalb, weil er seine ganze Existenz darangegeben hat, um im Auftrag seines Herrn den Weg des Evangeliums zu den Völkern zu ebnen und freizuhalten, ist Paulus zu einer der tragenden Säulen der weltweiten Gemeinde des Messias Jesus geworden.
Die Einheit von Leben und Lehre, Person und Theologie, umschließt weitere, in heutiger Perspektive eher problematische Aspekte, die im Allgemeinen weniger im Vordergrund stehen und doch mit den angedeuteten Sachverhalten zusammenhängen. Wie kaum ein anderer Brief bezeugt das Schreiben an die galatischen Gemeinden in Kap. 1–2 den unlöslichen Zusammenhang von Apostel und Evangelium. Den hier erkennbaren Angriff auf seine Person verstand Paulus als Angriff auf sein Evangelium für die Völker, den Angriff auf sein Evangelium als Angriff auf seine Person. Je harscher die Attacken der Anderen in solchen Konflikten waren, umso heftigere Formen nahm seine Gegenwehr an, bis hin zu Verfluchung (Gal 1,6–9), Sarkasmus (Gal 5,12) und Verunglimpfung (Phil 3,2).2 Selbst wenn es von Mal zu Mal verständlich sein mag – auch die Gegner sind nicht zimperlich verfahren –, steht dieses Verhalten des Apostels in erheblicher Spannung zu den weitgreifenden ethischen Leitfäden, wie er sie in Röm 12,9–21 und 1 Kor 13 formuliert hat. Die verbalen Ausfälle, zu denen sich Paulus dann hinreißen ließ, wenn er sein Werk oder das des Kyrios in Gefahr sah, haben den einst von Albert Schweitzer hochgelobten Paulusausleger William Wrede urteilen lassen: „Kein Zweifel, auch der bekehrte Paulus hätte solche Gegner oder auch Abtrünnige als Feinde Gottes gewalttätig zu verfolgen vermocht, wenn er nur die Macht gehabt hätte.“3
Dies steht zwar in den Sternen;4 aber Wredes Einschätzung („auch der bekehrte Paulus …“) verweist auf die Frage und am Ende auf den Tatbestand der Kontinuität zwischen Einst und Jetzt im Leben des Saulus Paulus. Die krasse Entgegensetzung des Pharisäers Saulus und des Apostels Paulus, gegründet auf den Gegensatz von Gesetz und Evangelium, gehört ins Reich der Legende. Biografisch lässt dies bereits Lukas erkennen (Apg 13,9), theologisch bezeugt es der einfache Tatbestand, dass sich das gesamte Evangelium des Paulus ohne die Verkündigung des Einen Gottes, Schöpfer und Gott Abrahams, Isaaks und Jakob-Israels, in Luft auflösen würde. Muss auch Wredes Vermutung zum virtuellen Verfolgungseifer des Paulus als Apostel in der Schwebe bleiben, so geht doch der Tatbestand der Kontinuität in seinem Leben und Wirken unmissverständlich aus seinen eigenen Worten hervor. In Gal 1,13f. sagt er von seinem „Wandel einst im Judentum“, dass er viele seiner Altersgenossen in seinem Volk weit übertroffen habe und über die Maßen ein Eiferer (zēlōtēs) für die väterlichen Überlieferungen gewesen sei. Ganz ähnlich gleicht er später seine schmachvolle Vergangenheit als Verfolger der Gemeinde Gottes durch den kraftvollen Hinweis aus, dass er – auf der Grundlage der göttlichen Gnade – mehr gearbeitet habe als alle anderen Apostel (1 Kor 15,10). Und ähnlich schleudert er den von ihm „Lügenapostel“ genannten Gegnern in Korinth in seiner Narrenrede entgegen: „Sie sind Diener Christi? Ich rede wider alle Vernunft: Ich bin’s weit mehr. Ich habe mehr gearbeitet, bin öfter gefangen gewesen, habe mehr Schläge erlitten …“ (2 Kor 11,23).
All dies ist überhaupt nicht zu bezweifeln, aber es bleibt bemerkenswert, dass sich die Struktur durchhält: Ich noch mehr … Auch wenn stets die Klausel gilt: „durch den, der mich mächtig macht“, legt sich die Annahme nahe, dass dieser Drang des Paulus nach vorne Teil seines Naturells, vielleicht auch seiner Erziehung war. Sollte es sich so verhalten, dann ergäbe sich eine bemerkenswerte Parallele zu einem Aspekt des paulinischen Charismen-Verständnisses. In der Aufzählung von Gnadengaben in 1 Kor 12 nennt er einige Charismen, die deutlich natürliche Begabungen oder erlernte Fähigkeiten darstellen, über die die korinthischen Gemeindeglieder bereits verfügt haben dürften, bevor sie zur jungen messianischen Gemeinde kamen – man denke an Redegewandtheit (V. 8) oder auch an die Befähigung zur Gemeindeleitung (V. 28). Charismen werden diese Talente dadurch, dass sie in den Dienst Jesu Christi gestellt und in der Kraft seines Geistes zum Aufbau der Gemeinde eingesetzt werden. In diesem Sinn lässt sich auch die Mehr-Arbeit des Paulus einst und jetzt verstehen, die er ausdrücklich auf die Gnade (charis) Gottes zurückführt (1 Kor 15,8–10). Mit Blick auf die Zeit vor seiner Kehre nennt der Apostel sich einen Eiferer/zēlōtēs für die väterlichen Überlieferungen. Angesichts der aufgezeigten Kontinuität zwischen Einst und Jetzt mag man ihn im Hinblick auf seine apostolische Zeit einen Zeloten des Evangeliums nennen, ohne ihn damit als verlorenen Sohn der vermeintlichen Aufstandsbewegung im 1. Jahrhundert n. Chr. einzustufen oder ihn in seiner vorapostolischen Zeit in deren Nähe zu rücken.5
Die erörterten Zusammenhänge werfen Licht auch auf weitere Phänomene. Die neue Existenz des Apostels fällt nicht nur wie einst das Manna in der Wüste vom Himmel. Sie knüpft vielmehr, wie im Fall einzelner Charismen, an Vorhandenes an und verwandelt es dem Kyrios und der Gemeinde zugute. So verhält es sich auch bei der gesamten, weit in seine vorapostolische Zeit zurückreichenden Arbeit als Schriftausleger. Alles, was er auf diesem Felde von seinen Lehrern und auch eigenständig gelernt hat, wird von ihm aufgenommen und in den Dienst des Messias gestellt. Er ist für ihn der Schlüssel zu den heiligen Schriften Israels, so wie diese Schriften für ihn die Voraussetzung dafür bilden, den Messias und Gottessohn und sein Wirken zu verstehen und zu deuten.6 Im Galaterbrief sind Kap. 3–4 dafür ein eindrückliches Beispiel. Wenn Paulus in Röm 10,2 von seinen Geschwistern im Volk Israel in anerkennendem Sinn sagt, sie hätten „Eifer um Gott“ (zēlos theou), dann dürfte dies – wie der gesamte, darum kreisende Zusammenhang Röm 9,30–10,13 zeigt – nicht zuletzt ihre Schriftauslegung einschließen. Freilich ist es nach Paulus ein Eifer „nicht der (rechten) Erkenntnis gemäß“. So hätte er sein eigenes Wirken im Gegenzug wohl als „zēlos theou der rechten Erkenntnis gemäß“ bezeichnen können. Doch selbst wenn man vor der Bezeichnung „Zelot des Evangeliums“ angesichts der problematischen Vorprägung des Begriffs „Zeloten“ zurückschreckt, bleiben die angeführten Beispiele für Kontinuität zwischen Einst und Jetzt im Wirken des Apostels davon unberührt.
Hinweise, die seine Herkunft und sein Leben vor seiner Zeit als Apostel betreffen, gibt Paulus durchweg in Zusammenhängen, in denen er sich gegenüber Angriffen auf sein Apostolat oder sein Evangelium verteidigt.7 Sie dienen entweder dazu hervorzuheben, dass er seinen Kontrahenten in Herkunft und genealogischem Rang in nichts nachstehe;8 oder sie zielen darauf ab, den krassen Gegensatz zwischen Vergangenheit und Gegenwart des Apostels als Faktor der Beglaubigung seines Apostolats und seines Evangeliums hervorzuheben.9 Im Einzelfall finden sich auch beide Intentionen zusammen.10 Am ergiebigsten sind die stichwortartigen Angaben Phil 3,5f.: „Am achten Tag beschnitten, aus dem Volk Israel, Stamm Benjamin, Hebräer von Hebräern, im Verhältnis zum Gesetz Pharisäer, dem Eifer nach Verfolger der Gemeinde, im Hinblick auf die Gerechtigkeit, die aus dem Gehorsam gegenüber dem Gesetz resultiert, untadelig.“ Im Zusammenhang des Philipperbriefes sind für Paulus allein die Kennzeichen von Interesse, die ihn als vorbildlichen Angehörigen der gehobenen religiösen Schicht seines Volkes ausweisen. Im Übrigen gibt die zitierte Aufzählung lediglich zu erkennen, dass er seinen jüdischen Namen „Saul(us)“ seiner mit König Saul gemeinsamen Zugehörigkeit zum Stamm Benjamin verdankt und als „Hebräer von Hebräern“ wohl auch über Kenntnisse des Hebräischen und Aramäischen verfügt hat, auch wenn seine Muttersprache Griechisch war. Wie nebenher erwähnt er an anderen Stellen, dass er unverheiratet (1 Kor 7,8) und gegen Ende seiner Wirksamkeit ein alter Mann war (presbytēs, Phlm 9), nach damaligem Verständnis vemutlich Anfang Fünfzig.11 So ist er etwa zur gleichen Zeit wie Jesus von Nazaret geboren, eher später als früher.
Mehr Daten liefert der Verfasser der Apostelgeschichte, weithin in Reden, die Lukas den Apostel bei seinem letzten Aufenthalt in Jerusalem und dann in Caesarea, dem Sitz des römischen Statthalters, halten lässt. Von Belang ist vor allem seine – nach Lukas auf Aramäisch gehaltene – Rede auf dem Tempelplatz in Jerusalem, in der sich Paulus zu Beginn mit den Worten vorstellt: „Ich bin ein Jude, geboren in Tarsus in Kilikien, aufgezogen in dieser Stadt, zu Füßen Gamaliels akribisch unterrichtet in dem väterlichen Gesetz, ein Eiferer (zēlōtēs) Gottes, wie ihr alle es heute seid“ (Apg 22,3). Nach einem Jahrhundert verbreiteten Zweifels an der Verlässlichkeit der lukanischen Angaben ist das Zutrauen zu ihm als Historiker erneut gewachsen und so auch zu den Angaben über das Toralernen des Paulus in Jerusalem.12 Vor allem seine Zugehörigkeit zur Bewegung der Pharisäer dürfte sehr viel besser dorthin als in die Diaspora passen, sodass sein von Lukas berichteter Wechsel von Tarsus in das Zentrum jüdischen religiösen Lebens völlig plausibel ist.
Tarsus war die Hauptstadt der römischen Provinz Kilikien im Südosten Kleinasiens und gehörte in der Antike zu den renommierten Universitätsstädten. An wichtigen Straßen ins Landesinnere Kleinasiens, dazu an einem schiffbaren Fluss mit Zugang zum Meer gelegen, war es ein bedeutender Handelsplatz und bot mit seinen ökonomischen Vorausssetzungen die Grundlage für eine wirtschaftliche und kulturelle Blüte.13 Paulus beherrschte das Griechische auch als Schriftsprache, vermochte zu argumentieren, wie es in der hellenistischen Popularphilosophie geläufig war, und war mit Begriffen vertraut, die in der griechischen, nicht in der jüdischen Tradition beheimatet waren.14 All dies zeigt, dass seinen Eltern an einer Erziehung des Sohnes in der hellenistischen Kultur und – wie dann wohl vor allem in Jerusalem – in der jüdischen Tradition gelegen war. Wie andere Schriftgelehrte auch hat Paulus, wohl eher bereits in Tarsus als in Jerusalem, als Existenzgrundlage ein Handwerk erlernt. Dass er seinen Lebensunterhalt mit seiner eigenen Hände Arbeit zu verdienen vermochte, hat später seine weitgehende Unabhängigkeit von den von ihm gegründeten Gemeinden gewährleistet, sodass er gegen den Vorwurf gewappnet war, auf ihre Kosten zu leben.15
Die zuerst im 2. Jahrhundert v. Chr. bezeugte Bewegung der Pharisäer, die den Lebensweg des Apostels geprägt hat, ist aus verschiedenen Gründen nicht leicht zu erfassen. Zum einen hat die im Neuen Testament beginnende Polemik gegen sie und die dadurch bestimmte, bis in die Umgangssprache der Gegenwart reichende Gleichsetzung von Pharisäer und Heuchler lange einen fairen Zugang zu dieser Gruppierung versperrt. Zum anderen ist in jüngerer Zeit die Skepsis gewachsen, dass das sogenannte rabbinische Judentum, das sich nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 ausbildet, mehr oder weniger die Fortsetzung der pharisäischen Bewegung gewesen ist. Die in Mischna und Talmud greifbare und ab dem 3. Jahrhundert schriftlich fixierte mündliche Tradition ist damit nicht mehr, wie lange Zeit üblich, ohne Weiteres als Niederschlag weitergeführter pharisäischer Auffassungen zu werten.16
Ungeachtet seiner Polemik gegen die pharisäische Bewegung enthält das Neue Testament als zeitgenössisches Dokument wichtige Einzelinformationen. Dies gilt selbst für die bekannteste polemische Überlieferung, die Beispielerzählung vom Pharisäer und Zöllner (Lk 18,9–14). In seinem ihn dekuvrierenden Gebet dankt der hier vorgeführte Pharisäer für seine ethische und religiöse Integrität und veranschaulicht letztere, indem er hervorhebt, dass er zweimal die Woche faste und den Zehnten für alles gebe, was er erwerbe. Dies ist nicht eben extrem viel und entspräche etwa dem, wenn ein guter Christ sagte, er würde freitags Fisch essen, gewissenhaft seine Kirchensteuer zahlen und sonntags reichlich in den Klingelbeutel geben. Falls es alles gewesen wäre, was der Beter von Lk 18 vorzuweisen gehabt hätte, wäre er von den sehr viel rigoroseren Qumranern als lasch bezeichnet worden.17 Am ehesten wird man die beiden genannten Punkte deshalb als exemplarisch für ein Leben zu nehmen haben, in dem nicht nur wie bei den priesterlichen Sadduzäern die unveränderte schriftliche Überlieferung, d. h. die Bibel, sondern auch die über sie hinausgehende mündliche Tradition als wesentliche Orientierung für eine toratreue Existenz diente. Dazu gehörte fraglos das, was sich in gewissenhafter Sabbatbeobachtung, Festgestaltung und Reinheitswahrung als jüdisches Leben manifestierte und je und dann auch andere anlockte.
Zu den Unterschieden zwischen Sadduzäern und Pharisäern gehörte, dass erstere die Auferstehung der Toten als Glaubensgewissheit ablehnten, während die Pharisäer sie teilten (Apg 23,8). Nach sadduzäischer Auffassung war sie nicht in der Bibel bezeugt, während die Pharisäer dieser Basis aufgrund des Gewichts der weitergebildeten mündlichen Tradition nicht bedurften.18 In Phil 3,5f. sagt Paulus, er sei im Verhältnis zur Tora ein Pharisäer und im Blick auf die Gerechtigkeit, wie sie aufgrund des Gehorsams ihr gegenüber zugesprochen werde, untadelig gewesen. Dies heißt mithin, dass er in seiner vorapostolischen Zeit in seinem religiösen Selbstverständnis dem Pharisäismus verpflichtet war und die Gebote Gottes in der dort gepflegten Auslegung und Fortführung der biblischen Tradition befolgt hat. Der Faktor aber, der für die überraschende Wende in seinem Leben durch seine Hinkehr zum Messias Jesus und damit auch für sein Wirken unter den Völkern das größte Gewicht gehabt hat, dürfte der Tatbestand sein, dass er als Pharisäer den Glauben an die Auferweckung der Toten geteilt hat.19 Ohne diesen Glauben würde die entscheidende Voraussetzung für die Ausbildung der Gewissheit entfallen, die das A und O des paulinischen Evangeliums und seiner Entfaltung ist: Der gekreuzigte Jesus ist von Gott auferweckt, d. h. in sein Leben hineingenommen worden, und in der Verkündigung seines Todes und Lebens präsent. Durch das Vertrauen auf die Kraft seiner Gegenwart ist bereits jetzt – unter den Bedingungen von Zeit und Geschichte – Teilhabe an dem von ihm, dem Messias und Gottessohn, repräsentierten und durch das Evangelium zugänglichen Leben möglich. Sie geschieht dort, wo durch die Kraft des Evangeliums aus Feinden Gottes Versöhnte, aus Schuldigen Freigesprochene, aus Sündern Gerechtfertigte, aus Ich-Süchtigen Menschen werden, die dem Anderen zugewandt sind.20 Weil dieses Herzstück des paulinischen Evangeliums auf der pharisäischen Lebenshoffnung und Lebensgewissheit aufruht, schuldet das Christentum dem Pharisäismus an erster Stelle nicht eine Kritik dieser oder jener Auswüchse, die leicht bei Christen und in Kirchen selber zu finden sind, sondern eine anhaltende Dankbarkeit. Es gehört zu den seltsamen Wegen der Geschichte, dass der Messias Jesus ohne die Gewissheit der Auferweckung der Toten für Paulus stumm geblieben wäre und dass die – im umschriebenen Sinn pharisäisch ermöglichte – Begegnung mit ihm am Ende zur harschen Absage des Apostels an seine vorapostolische Zeit geführt hat. Seine genealogische Abkunft und seine Zugehörigkeit zum Pharisäismus hat er rückblickend als Schaden und Kot bezeichnet (Phil 3,7f.). Man mag dies der Hitze des Gefechts gegen die Gegner zuschreiben – immerhin hat Paulus später seine Zugehörigkeit zu Israel noch einmal ganz anders in die Waagschale werfen können (Röm 11,1f.). Ein Höchstmaß an Ungerechtigkeit ist es jedoch, wenn spätere christliche Zeiten sich die paulinische Polemik zu eigen machen, als hätten sie unter dem Pharisäismus gelitten. Im Sinn einer leicht provokativen Korrektur kann man angesichts der pharisäischen Gabe der Auferweckungshoffnung und ihrer Folgen für die messianische Gemeinde Jesu nur sagen: Gott sei Dank, dass Paulus Pharisäer war!21 Und dies gilt auch, falls die offenkundige ekstatische, visionäre Veranlagung des Apostels dazu beigetragen hat, dass es ihm gegeben war, „ihn (Christus) zu erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinen Leiden“ (Phil 3,10) und damit den „Donnerschlag von Damaskus“ zu erleben.22
Seine visionären Himmelfahrten haben ihn seine Erdgebundenheit nicht vergessen lassen. Er weiß, dass sexuelles Begehren brennen kann (1 Kor 7,9), auch wenn es nicht seine Sache ist (1 Kor 7,7). Irgendwann – vielleicht in seiner Jugend, mit oder ohne elterliche Begleitung – muss er einen Boxkampf angeschaut haben. Er hat vor Augen, dass der eine Kämpfer dann, wenn sich der andere wegduckt, in die Luft schlägt und vermag es sich als Bild zunutze zu machen (1 Kor 9,26). Ihm ist vertraut, dass ohne Disziplin kein Siegespreis zu gewinnen ist (1 Kor 9,25). Auch muss er einmal eine Siegerehrung miterlebt oder von ihr gehört haben. Im übertragenen Sinn erhofft er sie mit einem unvergänglichen Siegeskranz für sich und die ihm Anvertrauten (1 Kor 9,25).
Paulus war kein Schreibtischtheologe, wie es die Meisten von uns sind, die wir heute über ihn reden oder schreiben. Der Ort seiner Theologie ist die Praxis. Der Apostel gründet neue Gemeinden und betreut die gegründeten. Er organisiert sie, hilft ihnen bei der Lösung bestimmter Probleme, kritisiert und ermutigt sie. Erfolge und Misserfolge wechseln einander ab. Indem seine Theologie nur aus seinen Briefen erkennbar ist, erscheint sie als Reflex seiner Praxis. Sämtliche theologischen Argumentationen, Erwägungen, Entscheidungen stehen im Dienst der Regelung konkreter Fragen, die in den jungen Gemeinden aufgebrochen sind. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist der 1. Korintherbrief. Eine gewisse Ausnahme bildet allein der Römerbrief, da die Gemeinde in der Hauptstadt nicht von Paulus gegründet ist, er sich ihr vielmehr mit seinem Brief als Völkerapostel vorstellt. Aber auch hier greift er im letzten Teil Fragen auf, die unmittelbar die Praxis des Gemeindelebens betreffen (Röm 12–16). Ort der paulinischen Theologie – wenn man Evangelium und Lehre des Apostels so nennen kann – ist damit genauer, der Struktur seiner Briefe gemäß, das Verhältnis von Apostel und Gemeinden.
Ohne die Bedeutung des Apostels als Gemeindegründer zu schmälern, bedarf das Gesagte der Ergänzung: „Paulus arbeitete nicht allein. Er vervielfältigte sich selbst durch seine Schüler, Gehilfen und, nicht zu vergessen, Gehilfinnen.“23 Wie oft mögen sie die eingangs aufgezählten Gefahren und Mühen mit ihm geteilt, wie oft ihn darin bewahrt, im Gefängnis gehegt und gepflegt, Diktatdienste übernommen und ihn mit alldem nicht selten durchgetragen haben. Ungeachtet der eingestandenen Schwäche im Auftreten und Reden war Paulus im Verhältnis zu den Gemeinden kein Leisetreter und Titus ein Meister darin, die vom Apostel hinterlassenen Scherben aufzusammeln und zu kitten.24 Zwar wendet Paulus sich in Übereinstimmung mit seiner Verkündigung des Gekreuzigten im mündlichen Wort und im persönlichen Auftreten „in Schwachheit und in Furcht und mit großem Zittern“ an die Gemeinden und nicht, wie es landauf landab bei vielen beruflichen Rhetoren üblich war, „mit überredenden Worten menschlicher Weisheit“ (1 Kor 2,2–4).25 Gleichwohl lassen die Briefe keineswegs jemanden erkennen, der im Gemütszustand von Furcht und Zittern an sie schreibt. Wenn seine Gegner urteilen, im Unterschied zu seinem schwachen Auftreten und seiner kläglichen Rede seien seine Briefe „schwer und gewichtig“ (2 Kor 10,10), dann trifft dies durchaus zu. Hier und da haben sie geradezu einen herrischen Ton, so wenn der Apostel in demselben Schreiben, in dem er seine Schwäche bekennt, unerwartet die Muskeln spielen lässt: „Was wollt ihr? Soll ich mit dem Stock zu euch kommen oder in Liebe und sanftmütigem Geist?“ (1 Kor 4,21). Anscheinend hat er dieses beides, sein Dominanzstreben, wie es auch in seiner unbeirrten Ausdauer wirksam ist, und seinen sanftmütigen Geist in gespannter Einheit gelebt. Nur so, in diesem Miteinander der Extreme, hat er wohl der sein können, der er geworden ist, imposant und fremd zugleich in seiner Berge versetzenden Schwachheit und doch wieder die Zeiten überbrückend nah, wenn er im Hohelied der Liebe in Demut bekennt: „Jetzt erkenne ich teilweise, dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin“ (1 Kor 13,12).
Wer sind die „Gemeinden Galatiens“, an die Paulus schreibt? Zwei Möglichkeiten kommen infrage. Galatia ist einmal Bezeichnung einer Landschaft im Innern von Kleinasien in der Umgebung des heutigen Ankara, benannt nach ihren Bewohnern, den Galatai. Es sind Nachfahren keltischer Stämme (Keltai), die in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts vom bithynischen König im Norden Kleinasiens als Söldner angeworben wurden26 und sich in einem Landstreifen ansiedelten, der sich im Innern Kleinasiens etwa 350 km in südwest-nordöstlicher und 160 km in ost-westlicher Richtung erstreckte.27 Wechselnd selbstständig und beherrscht, verbündeten sie sich im 2. Jahrhundert mit den Römern, wurden unter dem Schutz Roms autonom und erhielten von dort weitere Gebiete zugesprochen. Nach dem Tod des Galaterkönigs Amyntas 25 v. Chr. wurde das von ihm beherrschte Gebiet zusammen mit weiteren, zum Teil wechselnden Regionen römische Provinz mit dem Verwaltungsitz in Ankyra (Ankara). Sie umschloss zur Zeit des Paulus weite Gebiete im mittleren Kleinasien, die sich im Norden über das Kernland Galatien hinaus Richtung Schwarzes Meer, im Süden Richtung Mittelmeer erstreckten.28 Außer der Landschaft Galatien in der Mitte umfasste sie in der 1. Hälfe des 1. Jahrhunderts im Norden die Distrikte Paphlagonien und Pontus Galaticus, im Süden Phrygien (Paroreius), den nördlichen Teil von Pisidien, Isaurien und Lykaonien.29 Bei lateinischen Schriftstellern findet sich verschiedentlich der Name Galatia als Bezeichnung für die Provinz,30 jedoch bleibt er auch nach 25 v. Chr. als Bezeichnung der Landschaft erhalten.31 Vom Namen her kann der Brief des Apostels deshalb an die Gemeinden des Messias Jesus allein im Gebiet der Landschaft oder an die Gemeinden in der Provinz gerichtet sein. Die Frage nach der Stichhaltigkeit der beiden Möglichkeiten ist eng verbunden mit den Fragen der Zeit und des Umfangs der Gemeindegründungen in Kleinasien.
Nach der weithin akzeptierten Geografie und Chronologie des paulinischen Wirkens, wie sie aus einem Abwägen der Nachrichten vor allem im Galaterbrief und in der Apostelgeschichte resultieren, ergeben sich folgende Eckdaten:32 Vor dem in Gal 2,1–10 und in Apg 15,1–29 skizzierten Apostelkonvent im Jahr 48 unternehmen Paulus und Barnabas vom syrischen Antiochien aus eine erste Missionsreise nach Zypern und in den südlichen Teil Kleinasiens (Apg 13–14). Eine zweite Missionsreise führt Paulus 49–51 oder 50–52 durch Kleinasien, genauer „durch Phrygien und das galatische Land“ (Apg 16,6), über Makedonien und durch Achaia nach Korinth, von dort über Ephesus zurück nach Jerusalem (Apg 15,36–18,22). Eine dritte Reise beginnt nach dem Durchzug „durch das galatische Land und Phrygien“ (Apg 18,23) mit einem mehr als zweijährigen Aufenthalt in Ephesus (Apg 18,23–21,15; vgl. 19,8–10) etwa 52–54 bzw. 53–55. Sie bringt den Apostel wiederum nach Korinth, von dort aus über Kleinasien erneut – und ein letztes Mal vor seiner Überstellung nach Rom – in die jüdische Metropole. Versteht man unter den Adressaten des Galaterbriefes die Gemeinden in der Provinz Galatien, dann handelt es sich um diejenigen, die Paulus im Süden Kleinasiens auf seiner ersten Missionsreise noch vor 48 n. Chr. gegründet hat. Sieht man in ihnen Bewohner der Landschaft Galatien, dann sind die angesprochenen Gemeinden erst während der zweiten Missionsreise gegründet worden, da Paulus die Landschaft Galatien vorher nicht berührt hat.
In Gal 4,13 erinnert er daran, dass er to proteron bei den Galater/innen als kranker Mann gewirkt habe. Legt man dafür die Bedeutung „das erste Mal“ (von zwei Malen) zugrunde, bedeutet dies, dass er zur Zeit der Abfassung des Briefes bereits auf zwei Besuche in Galatien zurückblickte. Da Paulus bei Annahme der Provinzhypothese die Galatergemeinden auf der ersten Missionsreise (vor 48) gegründet und auf der zweiten (Anfang 49) besucht hat, könnte der Brief dann bereits um 50 n. Chr. geschrieben sein. Und da der Apostel die Galater/innen nach Apg 18,23 zu Beginn der dritten Missionsreise (etwa 52–54/53–55) zum dritten Mal besucht, müsste der Brief vor 52 oder 53 abgefasst sein. Im Fall der Landschaftshypothese könnte er entsprechend erst danach verfasst sein.
Allerdings kann to proteron auch einfach nur „einst“ bedeuten, sodass es dann vor dem Brief an die Gemeinden in Galatien nur einen Besuch gegeben hätte. Unter Voraussetzung der Provinzhypothese wäre er in diesem Fall bereits vor der zweiten Missionsreise (50–52/51–53) geschrieben. Bei Annahme der Landschaftshypothese hätte Paulus die Gemeinden hingegen erst zu Beginn dieser zweiten Missionsreise gegründet, und der Brief an sie könnte erst entsprechend später verfasst sein, am ehesten während des mehr als zweijährigen Aufenthaltes in Ephesus und hier eher gegen Ende oder auf der anschließenden Reise nach Griechenland.33
Im Blick auf die Kommentierung ist es schwerlich notwendig, sich an der Frage festzubeißen, welcher der beiden Hypothesen der Vorzug zu geben ist.34 Von Bedeutung scheinen vielmehr vor allem die folgenden Feststellungen zu sein: Einerseits weiß die Apostelgeschichte von keinem missionarischen Wirken des Paulus in der Landschaft Galatien, sondern allein in der Provinz. Andererseits bestehen zwischen dem Galater- und dem Römerbrief an so zahlreichen Stellen enge Berührungen,35 dass es ausgesprochen nahe liegt, die Abfassung des Briefes in zeitlicher Nähe zur Entstehung des Schreibens an die römischen Hausgemeinden anzusiedeln und sie damit in die Spätzeit des paulinischen Wirkens zu datieren. Auch der Rückblick auf die eingesammelte Kollekte (Gal 2,10) spricht dafür.36 Wer dennoch zur Provinzhypothese neigt, hat mit dem erheblichen Problem zu tun, dass der Apostel die Bewohner als „unverständige Galater“ anspricht, da eine solche Anrede zeitgeschichtlich eher zu den Bewohnern der Landschaft passen würde.37 Man mag außerdem fragen: Wie mögen sich die Bewohner von Pamphylien und des mittleren und südlichen Pisidien – Hauptgebiete der ersten Missionsreise (Apg 13) – gefühlt haben, wenn sie als „Galater“ angeredet wurden, nachdem sie bereits seit 43 n. Chr. nicht mehr zu Galatien, sondern zur neuen Provinz Lycia-Pamphylia gehörten?38 Fraglos scheint in jedem Fall, dass es sich um Gemeinden ehemaliger Gojim, Pagani oder „Heiden“ handelt. Da die Gründung der Gemeinden zur Zeit der Abfassung des Briefes allenfalls ein paar Jahre zurückliegt, wird man im einen wie im andern Fall eher an Hausgemeinden als an umfassender strukturierte Einheiten zu denken haben. Richtet man sich nach den sonstigen Missionsgepflogenheiten des Apostels, ist von vornherein an Gemeinden in Städten zu denken, nicht an ländliche Gemeinschaften.39
Felix John hat unlängst versucht, den sozialen und religiösen Gegebenheiten in den Gemeinden in Galatien durch eine historische Kontextualisierung des Briefes näherzukommen. Das Ergebnis ist eher ernüchternd: Sowohl Paulus als auch die konkurrierenden Missionare in Galatien seien dort auf Menschen getroffen, „die prinzipiell die gleichen kulturellen und religiösen Vorprägungen aufwiesen wie ihre Zeitgenossen andernorts im Mittelmeerraum“.40 Das, was im Galaterbrief vorausgesetzt sei, wiederum lasse „sich nicht mit externen Evidenzen aus der Lebenswelt der Erstadressaten verknüpfen“.41 Dies stimmt zu dem Tatbestand, dass der Brief, abgesehen von dem von Paulus polemisch behandelten Hauptproblem, ausgesprochen wenig an Informationen über die Situation erkennen lässt, in die hinein der Apostel schreibt. Darüber hinaus gibt das Schreiben Anlass zu fragen, ob Paulus wirklich allein an die irritierten Galater/innen schreibt oder ob nicht seiner Intention nach permanente Mitadressaten jene Leute sind, die seiner Auffassung nach in den Gemeinden Verwirrung stiften. Dies würde jedenfalls die erhebliche Spannung zwischen dem hohen Niveau des Briefes und dem Tatbestand erklären, dass Paulus an keine akademischen Gemeinden schreibt, sondern an sozial gemischte, auch wenn man die Verhältnisse etwa in der Hafenstadt Korinth nicht einfach auf die (namentlich unbekannten) galatischen Gemeinden übertragen kann.42
Im Unterschied zu Felix John hat Brigitte Kahl einen spezifischen Zusammenhang zwischen Galaterbrief, Galater/innen und deren Umwelt ausgemacht, indem sie den Galaterbrief auf den Stufen des Pergamonaltars als Protest gegen römische imperiale Ideologie und Praxis ausgelegt hat.43 Nicht zuletzt zwei Zusammenhänge machen es schwer, ihren eher metahistorischen, homiletischen Ausführungen zu folgen: Das Verständnis des römischen Imperiums, das sie voraussetzt, ist eher für die Apokalypse des Johannes kennzeichnend als für Paulus.44 Sodann deutet sie den vorapostolischen Paulus mit seinem Eifer für das Gesetz als Kämpfer für den jüdischen Schlachtengott, den sie den heidnischen Göttern zuordnet, die auf dem Fries des Pergamener Altars mit Gewalt Kosmos und Ordnung gegenüber dem – durch die Giganten repräsentierten – Chaos durchsetzen. Dieses Bild des jüdischen Gottes überwindet Paulus nach Kahl in seiner Kehre. Die Autorin verschärft damit unkritisch den dem Brief des Apostels innewohnenden Anti-Ioudaïsmos. Ungeachtet dessen ist nicht zu bestreiten, dass die christliche Verkündigung mit ihrer Orientierung an einem anderen Kyrios als dem Kaiser implizit eine Alternative zu einer Rom-Gläubigkeit welcher Art auch immer darstellt. Desgleichen hat es fraglos je und dann – freilich weithin im Dunklen liegende – Zusammenstöße des Apostels mit Vertretern des Imperiums gegeben. Und nicht zuletzt ist unbestritten, dass eine heutige, die Differenz der Zeiten ignorierende Interpretation des Evangeliums, die der Stabilisierung von Unrechtsverhältnissen dient, obsolet ist.45
Welches Problem hat den Anlass zur Abfassung des Galaterbriefes gebildet? In der Wahrnehmung des Paulus stellt es sich wie folgt dar:46 In der Gemeinde sind sogenannte Unruhestifter aufgetreten. Sie predigen ein anderes Evangelium, das nach Paulus in Wahrheit kein anderes ist, mithin ein Pseudo-Evangelium. Das paulinische haben die Angegriffenen, folgt man der Argumentation des Apostels in Gal 1–2, zu entkräften gesucht, indem sie die Legitimität des paulinischen Apostolats bestritten. So haben sie anscheinend die Behauptung aufgestellt, Paulus sei nur Delegierter von Menschen, nicht aber von Gott selbst berufener Bote.47
Die gegnerischen Lehrer haben damit ihren Angriff auf den Punkt gerichtet, der für Paulus selbst von grundlegender Bedeutung war, den engen Zusammenhang von Apostolat und Evangelium. Der Brief lässt nicht erkennen, um wen es sich bei den Gegnern des Näheren handelt. Doch scheinen sie mit dem Anspruch aufgetreten zu sein, ein gleichsam vollständiges – und damit das wahre – Evangelium zu bringen und kein verkürztes wie der in ihren Augen illegitime Apostel Paulus. Es ist offen, wie sie ihren eigenen Autoritätsanspruch begründet haben, das zentrale Anliegen ihrer Verkündigung ist jedoch erkennbar. Paulus zeigt die Konsequenzen für den Fall auf, dass sich die Galater beschneiden lassen, sodass diese Forderung und mit ihr die Bindung an das Gesetz in seiner jüdischen Auslegung im Zentrum ihres Wirkens gestanden hat (5,2f.), vermutlich die Verpflichtung auf den jüdischen Festkalender eingeschlossen (4,10). Die Übernahme jüdischer Lebensweise war ihrer Auffassung nach anscheinend die Voraussetzung dafür, dass die Gemeinden zur Familie des ebenfalls beschnittenen Abraham gehören (Gen 17) und an dem ihm verheißenen Segen teilhaben würden. Von hier aus wird verständlich, warum Paulus der Beschneidung, in ihrem Gefolge dem Gesetz und der Gestalt Abrahams einen zentralen Platz in seiner brieflichen Reaktion auf die Vorgänge in den galatischen Gemeinden zuweist. Da nach dem Evangelium des Apostels den Völkern durch Jesus Christus die endzeitlich gültige Gottesbeziehung eröffnet worden ist ohne die Bedingung, vorher Jude zu werden, ist mit dem Wirken der Gegner der Nerv der paulinischen Mission getroffen.
Die Forderung der Beschneidung zeigt eindeutig, dass es sich bei den anderen Lehrern in Galatien um Akteure jüdischer Herkunft handelt. Ihre genauere Einordnung ist freilich kontrovers. Über die skizzierte traditionelle, eng am Text orientierte und unverändert am meisten vertretene Auffassung ist schwerlich hinauszukommen.
Handelt es sich möglicherweise nicht um eine, sondern um zwei Gruppen, die die Gemeinden nacheinander heimgesucht haben – zunächst Pneumatiker oder Geistleute, die, von heidnischen Kulten berauscht, das alte Heidentum in die Gemeinden einschleppten und dies mit einer scharfen Polemik gegen den Apostel verbanden, der sich noch nicht weit genug von Judentum und Gesetz gelöst habe? Und die dann später von sogenannten judaistischen Verführern abgelöst wurden – einer Gruppe, die den Galatern die Beschneidung als Zeichen der Zugehörigkeit zum Judentum aufzudrängen suchten, um sie im Schutz der jüdischen Religion anzusiedeln?48 Oder sind die vermeintlichen beiden Gruppen doch zu einer zu vereinen und als „judenchristliche Gnostiker“ zu identifizieren?49 Handelt es sich um Jesusanhänger jüdischer Herkunft, die den Druck, den palästinische Zeloten auf sie ausübten, auf die Jesusgemeinden in der kleinasiatischen Diaspora weitergaben und sie zur Beschneidung drängten?50 Oder waren es freundlichere Repräsentanten der Synagogengemeinden in Galatien, denen es darum ging, die als (heidnische) Jesusanhänger locker zum Judentum gehörenden Galater voll in die jüdische Gemeinschaft zu integrieren?51 Ist die Annahme bestimmter Gegner überhaupt nur eine Schimäre, da der Apostel die Opponenten erfunden habe, um das Interesse an seinem Brief zu beleben?52 Ja, sind vielleicht nicht nur die Opponenten, sondern auch die galatischen Gemeinden selber eine lediglich virtuelle Größe, insofern es sich bei dem Schreiben des Apostels möglicherweise um „eine ausgereifte Zusammenfassung“ seiner Theologie handelt,53 adressiert „an die Kirche der paulinischen Mission insgesamt“ und „an das ‚Judenchristentum’ in Jerusalem“?54 Wie dem auch sei – die Vorschlagsliste ließe sich leicht erweitern55 –, nach dem Durchqueren dieser stürmischen See voll hochschlagender Hypothesenwogen läuft man gerne in den ruhigen Hafen ein, den Hieronymus bereits vor 1500 Jahren mit seinem Prolog zum Galaterbrief errichtet hat:
„Die Galater sind Griechen. Sie empfingen das Wort der Wahrheit zuerst von dem Apostel. Doch nach seinem Weggang sind sie von den falschen Aposteln versucht worden, sich auf das Gesetz und die Beschneidung zu verpflichten. Diese ruft der Apostel zum Glauben und zur Wahrheit zurück, indem er ihnen von Ephesus aus schreibt.“56
Begründet sind die angedeuteten Schwierigkeiten, aus dem Schreiben an die galatischen Gemeinden genauere Informationen zu gewinnen, nicht zuletzt darin, dass Paulus den Gegnern in ihrem Bestreben, über Angriffe gegen die Person die von ihr vertretene Sache zu treffen, kaum nachsteht.57
Anders als ihre Länge suggerieren könnte, sind die Schreiben des Apostels an seine Gemeinden keine Kunstbriefe, sondern echte Briefe, aus bestimmtem Anlass an einen kleineren oder größeren Kreis geschrieben, um die Abwesenheit des Autors zu ersetzen bzw. zu überbrücken.59 Die Briefe rücken damit in die Nähe privater Briefe, sind es jedoch selbst nicht. Ein privater Brief ist kein öffentlich zugängliches Schreiben. Gerade dies trifft jedoch für die paulinischen Briefe zu, allenfalls ausgenommen den einer kleinen Gruppe zugedachten Philemonbrief. Wie die Tätigkeit des Apostels, die Verkündigung des Evangeliums von Jesus, dem Messias und Gottessohn, eine öffentliche Angelegenheit ist, so sind es auch seine Briefe. Sie werden in der oder den Gemeinden während ihrer Versammlungen vorgelesen und sind eine Form der Verkündigung des Evangeliums, wenn auch in unterschiedlichen Grundsituationen. So wendet sich Paulus im Römerbrief an ihm bis dahin unbekannte Glaubensgenossen, während die Briefe sonst – und so auch der Galaterbrief – an Gemeinden gerichtet sind, die Paulus selbst gegründet hat und die nun durch die Briefe von ihm betreut werden. Aufgrund dieser Kennzeichen sind die Briefe wohl am ehesten als apostolische Gemeindebriefe zu bezeichnen.60
Die Briefe des Paulus sind durch einen sich wiederholenden Aufbau miteinander verbunden und gleichen in ihrer Form den zeitgenössischen Briefen.61
Der paulinische Brief beginnt mit einem Präskript. Es umfasst zwei Sätze. Im ersten werden Absender und jeweiliger Adressat genannt. Im zweiten schließt sich die Begrüßung des Adressaten in Gestalt eines Gnadenwunsches an.
Auf das Präskript folgt das Proömium, oft auch als Danksagung bezeichnet. Freilich handelt es sich nicht um einen Dank an Gott im direkten Sinn. Vielmehr beteuert der Apostel gegenüber der angeredeten Gemeinde, dass er ihrer ständig in seinen Gebeten gedenke. Indem er den Grund des Dankes nennt, kommt Paulus im Allgemeinen bereits direkt oder indirekt auf die Fragen zu sprechen, die ihn im Hinblick auf die Adressaten bewegen.
An das Proömium schließt sich der Hauptteil des Briefes an, das Briefkorpus. Es enthält die Erörterung der Fragen, deren Diskussion angesichts bestimmter Zustände in den Gemeinden ansteht.
Der Briefschluss bringt in der Regel Angaben zu Reiseplänen des Apostels oder seiner Mitarbeiter/innen, Grüße an einzelne Gemeindemitglieder und einen abschließenden Gnadenwunsch.
Paulus kann von diesem sich mehr oder weniger durchhaltenden Schema abweichen. So fehlt im Galaterbrief ein Proömium, d. h. die Erwähnung des ständigen Dankens, und ebenso hat der auffällig lange Briefschluss eine sehr eigene Form. Beides ist in den desolaten Zuständen in den Gemeinden begründet, sodass der Inhalt die Form prägt.
Es könnte naheliegen, an dieser Stelle wie oft in den Kommentaren zu verfahren und auf der Grundlage der skizzierten Form eine inhaltlich bestimmte Gliederung des Briefes durchzuführen. Doch ist ein solcher Aufriss bereits mit dem Inhaltsverzeichnis gegeben. Zudem erscheint das im nachfolgenden Kommentar gewählte Verfahren als hilfreicher: Zu Beginn der drei großen Teile, in die sich das Briefkorpus untergliedern lässt – 1,10–2,21: Der Apostel / 3–4: Abraham / 5,1–6,10: Gelebte Freiheit – sind der Gedankengang und das Argumentationsgefälle dieser Einheiten jeweils genauer umrissen.
Wohl aber ist an dieser Stelle ein Problem aufzugreifen, das die Auslegung des Galaterbriefes in den letzten Jahrzehnten nennenswert bestimmt hat. So hat zunächst vor allem Hans Dieter Betz in seinem Kommentar (engl. 1979, dt. 1988) nach Vorarbeiten62 die Auffassung vertreten, Paulus sei in eminentem Maße durch Gepflogenheiten der griechisch-hellenistischen Epistolographie, d. h. der Lehre über den literarischen oder Kunstbrief, und der griechisch-hellenistischen Rhetorik oder Redekunst bestimmt. Er hat den Brief entsprechend wie folgt gegliedert:63 I. 1,1–5 Briefpräskript; II. 1,6–11 Exordium (Einleitung); III. 1,12–2,14 Narratio (Darlegung des Sachverhalts); IV. 2,15–21 Propositio (Thema); V. 3,1–4,31 Probatio (Beweisführung); VI. 5,1–6,10 Exhortatio (Aufmunterung/Ermahnung); VII. 6,11–18 Briefpostskript/Conclusio (Abrundung). So schlagend diese Aufschlüsselung auf den ersten Blick scheint, birgt sie freilich eine Reihe von Problemen.
Betz bestimmt den paulinischen Brief von seinen Voraussetzungen her gattungsmäßig als „apologetischen Brief“. Er setze „die reale oder fiktive Situation eines Gerichtshofes voraus, mit dem Gericht, dem Ankläger und dem Verteidiger. Im Falle des Galaterbriefes sind die Adressaten identisch mit dem Gericht, während Paulus der Verteidiger ist und seine Gegner die Ankläger. Diese Situation macht den Brief des Paulus zu einer Selbstverteidigung. Die Form des Briefes ist notwendig, weil der Verteidiger selbst verhindert ist, persönlich vor dem Gericht zu erscheinen. Deshalb muß der Brief dazu dienen, seinen Verfasser zu vertreten. In dieser seiner Funktion als Ersatz bietet der Brief die Verteidigungsrede vor dem Gericht dar.“64 Gegenüber dieser Sicht, die den Brief dem rhetorischen Genus iudiciale zuordnet, hat Hans Hübner mit Recht hervorgehoben, dass das Schreiben insgesamt einen viel stärker polemischen Charakter hat. Außerdem seien die ausgiebigen paränetischen Passagen in Gal 5–6 (Exhortatio) für die Gattung des apologetischen Briefes ungewöhnlich.65 Hübner möchte Betz im Übrigen grundsätzlich zustimmen, bringt aber selbst so viele Einwände, dass das Gewicht seiner Zustimmung erheblich gemindert wird.66 Die Bezeichnung als „Kampfschrift“67 oder Kampfbrief dürfte deshalb den Charakter des Schreibens unter dem Aspekt der Auseinandersetzung sehr viel genauer treffen.68
Es scheint bemerkenswert, dass sich ähnlich spannungsreiche Aussagen zur Bedeutung der griechisch-hellenistischen Rhetorik für die Auslegung der paulinischen Briefe wie bei Hübner auch bei dem klassischen Philologen Carl Joachim Classen finden, einem ausgewiesenen Kenner von Quellen und Sekundärliteratur des zur Debatte stehenden Bereichs. Er hat sich in einer Reihe von Beiträgen zum Thema geäußert, und auch wenn er den ältesten und grundlegenden69 weitergeführt hat,70 so hält sich doch seine Auffassung im Wesentlichen durch die verschiedenen Beiträge hin durch. Zwar hebt er immer wieder hervor, dass Epistolographie und vor allem Rhetorik bei der Interpretation der Briefe einzubeziehen seien, und nennt auch einzelne, insgesamt eher wenige Beispiele, die zudem gelegentlich nur begrenzt aussagefähig sind.71 Aber charakteristischer für seine Stellung ist aufs Ganze gesehen sein Resümee in seinem letzten Beitrag.72 Nach einem gedrängten allgemeinen (146–153), dann auf den Galaterbrief bezogenen Forschungsüberblick (156–161) und vor abschließenden Hinweisen zu „Möglichkeiten und Grenzen der rhetorischen Interpretation der Schriften des Neuen Testaments“ (169–172) zeigt er auf, dass weder der Rückgriff auf die antike Epistolographie den „Charakter“ des Briefes an die galatischen Gemeinden erhellt (161–164) noch auch ein Rückgriff auf die antike Rhetorik „die Struktur und Intention des Briefes“ erklärt (165–169).73 Aufschlussreich ist desgleichen, dass Classen den Argumentationsablauf im Galaterbrief hat zusammenfassen können, ohne nennenswert von Begriffen und Elementen der antiken Rhetorik Gebrauch zu machen, d. h., etwas salopp gesagt, einfach geleitet vom gesunden exegetischen Menschenverstand.74
Fraglos hat Paulus Elemente vor allem der antiken Rhetorik gekannt, wie auch immer sie auf ihn überkommen sein mögen, und sie sich je und dann zunutze gemacht. Wer im Rahmen seines Kollektenwerbens einen Satz wie 2 Kor 9,8 formuliert: „Gott vermag aber alle Gnade (pasan charin) reichlich auf euch kommen zu lassen, dass ihr in allem allewege alles Genüge (en panti pantote pasan autarkeian)75 und noch Überfluss zu allem guten Werk habt (eis pan ergon agathon)“, und wer rhetorische Glanzstücke wie Röm 8,31–39 und 1 Kor 13 formt, der ist entweder ein rhetorisches Naturtalent oder er hat zumindest auch gelernt, wie man sich rhetorischer Mittel bedient und sie wirkungsvoll einsetzt.76 Betz’ Versuch und verwandte andere77 erwecken jedoch den Anschein, als arbeiteten sie mit einer epistolographisch-rhetorischen Systematik, die der Erkenntnis der Eigenstruktur des Briefes nicht dienlich ist.78 Eine angemessene Umschreibung des Briefaufbaus scheint demgegenüber mit der knappen Charakteristik des englischen Kommentators Joseph Barber Lightfoot gegeben. Anscheinend in Anknüpfung an ältere rhetorische Klassifikationen79 hat er Kap. 1–2 in den Grundzügen überzeugend als „Personal, chiefly in the form of a narrative“, Kap. 3–4 als „Doctrinal, mostly argumentative“ und Kap. 5–6 als „Hortatory. Practical applications“ bestimmt.80 Der Verzicht auf eine weitere begrifflich-formale Untergliederung hat den Vorteil, dass die Inhalte des Briefes stärker in den Vordergrund zu treten vermögen. Im Übrigen ist es erwähnenswert, dass Betz selber nicht ganz ohne Reserve gegenüber seiner eigenen Sicht gewesen zu sein scheint, wenn er urteilt: „Die Konvention wird zwar verwendet, aber der Brief weist nichtsdestoweniger einen hohen Grad von Originalität auf.“81
D. François Tolmie, dem die neutestamentliche Wissenschaft in den letzten beiden Jahrzehnten eine Reihe von Überblicken über in dieser Zeit erschienene Arbeiten zum Galaterbrief verdankt,82 hat am Ende eines Beitrags über die rhetorische Analyse des Briefes in den Jahren 1995–2005 hervorgehoben, dass in einigen Studien eine neue Perspektive eingeführt worden sei, die er als „evaluierenden Zugang“ („evaluative approach“) bezeichnet, „according to which Paul’s strategy is not merely described, but also scrutinised critically“.83 Hier mag der Hinweis angebracht sein, dass der Verfasser in seinen Arbeiten zu Paulus bereits 1989 in Anknüpfung an die wichtige Untersuchung von Jost Eckert über „Die urchristliche Verkündigung im Streit zwischen Paulus und seinen Gegnern nach dem Galaterbrief“ und in Fortführung seines Ansatzes eine Darstellung und kritische Analyse von Gal 1–2 vorgenommen hat, die von der Frage nach dem Umgang des Apostels mit Evangelium, Gegnern und Geschichte geleitet war und die ein Beispiel für einen „evaluative approach“ ist.84 Leitend ist darin – wie auch in der nachfolgenden Kommentierung – das Bemühen, die Art der paulinischen Argumentation nachzuzeichnen und dabei auf Spannungen zwischen Behauptetem und diesem gegenüber Sperrigem zu achten und für die Auslegung fruchtbar zu machen. Dass der Beitrag so gut wie nicht rezipiert worden ist,85 ist ein Grund mehr, seine kritischen Beobachtungen vor allem in der Rubrik „Vertiefungen“ des Kommentars aufzunehmen.86
Die früheste schriftliche Rezeption des Rundschreibens an die Gemeinden in Galatien dürfte eingesetzt haben, als die erste Abschrift des Briefes mit den in solchen Fällen unvermeidlichen versehentlichen Abschreibfehlern sowie den unbewussten oder später auch bewussten Änderungen vorgenommen wurde. Während die alsbald einzubeziehende älteste Textbearbeitung bereits für die Mitte des 2. Jahrhunderts bezeugt ist,87 setzt die erhaltene handschriftliche Überlieferung des griechischen Textes mit Papyrus 46 um 200 n. Chr. ein.88 Auf Papyrus sind sonst nur noch größere Teile von Gal 1 bezeugt (P51, um 400). Im Übrigen beginnt die breite handschriftliche Überlieferung mit den bekannten Majuskeln א B und A C aus dem 4. und 5. Jahrhundert. Dies mag an allgemeinen Hinweisen genügen.89 Einzelne Varianten werden jeweils an Ort und Stelle im Kommentar besprochen.90
Ganz abgesehen von den Briefen, die unumstritten auf ihn zurückgehen, hat die Gestalt des Paulus im Neuen Testament ein Echo gefunden, das sich nur noch mit dem Zeugnis für Jesus Christus selbst vergleichen lässt. Zu nennen sind die Deutero- (Kol, Eph, 2 Thess) und Tritopaulinen (1/2 Tim, Tit) und vor allem die Apostelgeschichte, in der sich knapp Zweidrittel der Erzählungen um die Gestalt des Apostels ranken. Im Rahmen der Rekonstruktion der Geschichte der paulinischen Mission und für die Auslegung des Galaterbriefes kommt der Parallelüberlieferung der Apostelgeschichte zur paulinischen Darstellung des Apostelkonvents (Gal 2,1–10) in Apg 15,1–29 besondere Bedeutung zu.91 Ein ungelöstes Rätsel stellen Nähe und Differenz zwischen Galater- und Kolosserbrief dar.92
Ein Echo eigener Art auf die Verkündigung des Paulus, ebenfalls noch im Neuen Testament, bietet der Jakobusbrief. In 2,14–26 erörtert er unter Einbezug von Gen 15,6 thematisch das Verhältnis von Glauben und Handeln („Werken“). Paulus legt es in einem auffällig verwandten Verbund von Bibelstelle und theologischen Motiven an zentraler Stelle im Galater- und Römerbrief dar, im Brief nach Rom ausführlicher.93 Ob der Verfasser des Jakobusbriefes Bekanntschaft mit einem der beiden Briefe gehabt hat oder, wie eher anzunehmen ist, sich an Kenntnissen aus mündlicher Überlieferung orientiert,94 ob er Paulus missverstanden oder ihn von seinen eigenen Prämissen her richtig verstanden hat, mag hier dahingestellt bleiben. So oder so dürfte es kaum von der Hand zu weisen sein, dass er sich überhaupt – polemisch – auf paulinische Lehrüberlieferung bezieht.95
Der älteste unzweifelhafte Zeuge für den Brief des Paulus an die Gemeinden in Galatien ist der kleinasiatische, später in Rom exkommunizierte Reeder Marcion (ca. 140).96 Er stellt in den kirchlichen Auseinandersetzungen als Erster einen neutestamentlichen Kanon auf, in den er das Lukasevangelium und zehn Paulusbriefe aufnimmt, den Galaterbrief an erster Stelle. Bei den Paulusbriefen hat er sich anscheinend einer bereits vorgegebenen Sammlung bedient.97 Nach Marcion hat Jesus nicht den Schöpfer und Gott Israels verkündigt – für ihn ein liebloser Gott kalter Gerechtigkeit –, sondern den fremden Gott, der nichts als Liebe ist, und Paulus ist ihm darin gefolgt.98 Von dieser Prämisse aus streicht Marcion aus dem Evangelium nach Lukas und den Briefen des Apostels eine Reihe solcher Stellen, aus denen die Identität des Gottes der Juden und der Christen hervorgeht, so vor allem eine Reihe von Bezügen auf die Bibel und Geschichte Israels. Im Lukasevangelium ist es u. a. die Kindheitsgeschichte Jesu,99 im Galaterbrief sind es die Abraham betreffenden Passagen 3,6–9.14a.15–18.29b.100
Ausgenommen den Jakobusbrief sind die verschiedenen bisher genannten Bezugnahmen auf Paulus je auf ihre Weise von einer unzweifelhaften Hochschätzung des Apostels bestimmt. Dies ist allerdings nicht die einzige Art und Weise, in der man Paulus und seiner Lehre im 1. und 2. Jahrhundert begegnet ist. Je mehr man in ihm den Überwinder des Gesetzes sah, umso größere Ablehnung musste er in den Kreisen erfahren, in denen die Tora weiterhin als tragende Grundlage außer Frage stand, im Judentum vor allem, aber ebenso unter den Juden, die sich zu Jesus als Messias bekannten. So werden in einer diesen Kreisen entstammenden, mit dem Galaterbrief (2,11–14) vertrauten Quelle101 dem Petrus als dem wahren Zeugen die Metaphern „Licht, Gnosis, Heilung“, Paulus als dem Lügenzeugen hingegen „Finsternis, Unwissenheit, Krankheit“ beigelegt.102 Gerade im Verein mit der völlig anderen Deutung und Wertung, die Paulus bei Marcion erfährt, wird hieran ein mehr oder weniger unvermeidbares Phänomen deutlich. Die Antworten auf die Fragen nach Person und Lehre des Apostels sind stets mehr oder weniger mitbestimmt durch den theologischen und ideologischen Standort des jeweiligen Auslegers.103
Ein eindrückliches Beispiel dafür ist in protestantischer Tradition die Auslegung des Galaterbriefes durch Martin Luther. Der Reformator hat in dem Schreiben ein Vorbild für die Hauptaufgabe von Theologen gesehen, nämlich Gesetz und Evangelium zu unterscheiden. So hat er den Brief einmal zärtlich sein „Epistelchen“ genannt, das er sich „angetraut“ habe, seine „Käthe von Bora“.104 Luther hat zwei Kommentare zum Galaterbrief verfasst. Der erste erschien 1519 (21523), in den teilweise seine Vorlesung über den Galaterbrief vom Winter 1516/17 eingegangen ist. Der zweite – die sogenannte große, sehr viel umfangreichere Galaterbriefvorlesung von 1531, der einflussreichste von allen Kommentaren Luthers105 – wurde 1535 veröffentlicht (21538), für den Druck von Luthers Schüler Georg Rörer bearbeitet.106 Beide Auslegungen des Briefes sind in einer umfangreichen Untersuchung von Karin Bornkamm analysiert und miteinander verglichen worden.107 Das Reizvolle an dem Vergleich beider Kommentare besteht darin, dass Luther sie in völlig verschiedenen Zeiten und Situationen unternommen hat: das erste Mal (1516/17) noch innerhalb seiner katholischen Zeit, wenn auch bereits mitten in Auseinandersetzung mit seiner Kirche, die er in der Kommentarfassung (1519) noch einmal verschärft hat;108 das zweite Mal (1531), nachdem längst evangelische Gemeinden bestanden und völlig neue Erfahrungen wie die mit den sogenannten Schwärmern hinzugekommen waren. Karin Bornkamm hat gezeigt, wie sich in beiden Kommentaren „das Neue in Luthers Theologie, das Verständnis Christi als Wort Gottes“ durchhält,109 wie die Kommentare jedoch ungeachtet dessen die je verschiedenen Frontstellungen, in denen Luther steht, widerspiegeln.110
Es würde weit über diese Einleitung hinausführen, würde sie den Spuren folgen, die Luthers Antithese von Gesetz und Evangelium, genährt vor allem durch den Galaterbrief, bis in die lutherische Bildtradition hinein hinterlassen hat. Zumindest zu erwähnen ist jedoch das Gewicht, das der Brief durch Ferdinand Christian Baur in der sogenannten Tübinger Schule und vor allem bei Adolf von Harnack gewonnen hat.111 Harnack knüpft an die Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium bei Paulus, Marcion und Luther an und begegnet einerseits mit Verständnis den Entscheidungen im 2. Jahrhundert und in der Reformation, das Verhältnis zum Gesetz und damit zum Alten Testament insgesamt nicht in der Radikalität eines Marcion zu bestimmen und es nicht zu verwerfen; andererseits vertritt er mit Nachdruck die Überfälligkeit eines solchen Schrittes in seiner Zeit, indem er urteilt, es sei „die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung“, es „seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde noch im Protestantismus zu konservieren“.112 Zwar war Harnacks Postulat in den zwanziger Jahren kein Erfolg beschieden, doch haben es die Deutschen Christen in der NS-Zeit im Sinn einer Zuarbeit zur Entrechtung und Verfolgung der Juden voranzutreiben gesucht. In dem auflagenstarken Projekt eines „Volkstestaments“ ist das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben in Deutschland“ in den Spuren Marcions gewandelt. In den darin aufgenommenen Evangelien hat es so weit wie möglich Bezüge auf das Alte Testament und auf jüdisches Leben getilgt.113 Nur durch das Ende des NS-Regimes ist seine Arbeit ans Ende gelangt.
Das Erbe Harnacks hat vor einigen Jahren Notger Slenczka angetreten, indem er sich dessen Postulat, das Alte Testament zu entkanonisieren, zu eigen gemacht und vorgeschlagen hat, es den Apokryphen im Sinn Luthers gleich zu achten – „gut und nützlich zu lesen“, aber ohne kanonische Relevanz.114 Diese eklatante Degradierung der Bibel Israels im Raum der Kirche hat, nachdem die Diskussion erst einmal durch den evangelischen Präsidenten des Koordinierungsrates der Christlich-Jüdischen Gesellschaften in Deutschland in Gang gesetzt war,115 alsbald heftigen Widerspruch von christlicher und auch jüdischer Seite erfahren.116 Statt der Rekapitulation dieser Kontroverse mögen hier zwei Eckdaten als Orientierungspunkte genügen. Da sich die evangelische Kirche in und außerhalb Deutschlands nach allen Erfahrungen noch in hundert Jahren nicht vom Alten Testament als erstem Teil des Kanons getrennt haben wird, macht die Diskussion über das Postulat seiner Degradierung, wenn anders die Theologie in ihrer Arbeit auf die Kirche bezogen bleibt, wenig Sinn. Ist dieses Postulat vom Tisch, lässt sich mit Sinn über die Frage nach dem sachlichen Verhältnis von Theologie und Kirche zum Alten Testament als erstem und unlöslichem Teil des Kanons diskutieren.117 Die Briefe des Paulus im Allgemeinen und das Schreiben an die Gemeinden in Galatien im Besonderen – alle von kanonischem Rang – lehren, dass man diese Verhältnisbestimmung nur mit dem Neuen Testament, d. h. ohne Degradierung der Schriften des Alten Testaments, vornehmen kann.118
Erwähnenswert ist nicht zuletzt die Rezeption des Galaterbriefes unter der antithetischen Formel „Gesetz und/oder Evangelium“ in Auslegungen von Vertretern der Bekennenden Kirche in der NS-Zeit. So haben Günther Dehn und Hans Asmussen den Kampf zwischen wahrer und falscher Kirche in der NS-Zeit als Manifestation der im Galaterbrief wahrgenommenen Auseinandersetzung zwischen Gesetz und Evangelium verstanden und ausgelegt.119 Während Dehn sehr viel dichter am Text bleibt, hat Asmussen seine Karl Barth gewidmete Abhandlung nicht zu Unrecht „Theologisch-kirchliche Erwägungen zum Galaterbrief“ genannt. Auch wenn nicht wenige seiner Ausführungen ausgesprochen enigmatisch sind und das geistliche rhetorische Schwungrad etwas oft in Gang gesetzt wird, gibt es doch Passagen, die die apokalyptische Prägung des Briefes treffender als manch anderer Kommentar erfassen, ohne dass dieser religionsgeschichtliche Begriff fiele.
Als Beispiel mag gleich die Auslegung von Gal 1,1 dienen: „Das Entscheidende dieser Worte ist … darin zu sehen, daß hier das Unglaubliche auf den Plan tritt. Hier spricht einer aus einer völlig in ihr selbst ruhenden Welt, die in ihrem Bestande unabhängig ist von dem Bestande alles dessen, was wir sehen und hören. Diese Welt des Sichtbaren mag vergehen, die Welt, aus welcher heraus diese Stimme erschallt, bleibt davon unberührt. In dieser anderen Welt ist maßgebend, was hier bei uns Menschen nicht maßgebend ist. Hier herrschen Größen, die von dieser Welt aus überhaupt nicht angreifbar sind. Das Apostelamt des Paulus ist von keinem Orte unserer Welt aus überprüfbar. Es steht in dieser Welt aber als Glied einer Welt, für welche völlig andere Gesichtspunkte und Maßstäbe gelten.“120 In diesem – vielleicht etwas zu statisch gefassten, die apokalyptische Dynamik nicht erfassenden – Sinn entfaltet Asmussen das Präskript insgesamt unter dem Titel „Die andere Welt führt sich ein (I,1–5)“ als Auftakt seiner Auslegung des ganzen Briefes, indem er alte und neue Welt unterscheidet, als Gegensatz entfaltet und beide aus der Perspektive der neuen Welt soteriologisch aufeinander bezieht.121
Zu den bemerkenswerten Wandlungen im Paulusverständnis der jüngeren Zeit gehören die Würdigungen, die seit dem 20. Jahrhundert auf jüdischer Seite bei aller bleibenden Distanzierung zu beobachten sind. Zu den bekanntesten gehören die Arbeiten von Joseph Klausner 1950 (hebr. 1939/40), Martin Buber (1950), Leo Baeck (1961, engl. 1952), Hans-Joachim Schoeps (1959), Schalom Ben-Chorin (1970), R. J. Zwi Werblowski (1977) und aus jüngerer Zeit von Alan S. Segal (1990), Jacob Taubes (1993), Daniel Boyarin (1994) und Mark Nanos (2002), um nur einige aus einer größeren Schar zu nennen.122 Die in einzelnen Titeln begegnende Charakterisierung des Apostels als Apostat wahrt die Kontinuität zu seiner traditionellen Einschätzung. Den Wandel markieren demgegenüber seine Würdigungen als „der gewaltige Mann, den wir als den eigentlichen Urheber der christlichen Glaubenskonzeption ansehen dürfen“,123 als „eine scharf umrissene historische Gestalt von imposanter Größe“124, ja als eine Christen und Juden verbindende und herausfordernde Gestalt der jüdischen Geschichte125 und „an important Jewish thinker“, der „one option which Judaism could take in the first century“ repräsentiert, „a challenge to Jews in the first century, and … a challenge to Jews now as well“.126 Darin, den Apostel als Herausforderung (auch) für das Judentum zu verstehen, ist Schalom Ben-Chorin dem zuletzt zitierten Daniel Boyarin um einige Jahrzehnte vorangegangen. Dass Boyarin und Nanos sich in ihren Monografien vor allem auf den Galaterbrief beziehen und sich an ihm orientieren, stellt eine neue Konstellation in der Geschichte der jüdischen Auslegung dieses Briefes dar und markiert bei Boyarin wie im Fall ähnlicher Ausrichtungen christlicher Interpretationen zugleich ihre Grenze. So hat er in Paulus einerseits mit dessen vermeintlicher Kritik am jüdischen Ethnozentrismus einen antiken Weggefährten auf dem Weg der Trennung von einem nationalistischen Verständnis des Judentum