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„Lesen ist wie Reisen, es eröffnet neue, unbekannte Welten.“
London, 1939. Die junge Grace kommt in die vom Krieg gebeutelte Metropole, ihr größter Wunsch ist es, endlich ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. In einem kleinen Buchladen in Primrose Hill findet sie eine Anstellung. Sie hat alle Hände voll damit zu tun, Ordnung in den Laden zu bringen und es den Menschen trotz der Kriegswirren zu ermöglichen, Bücher zu kaufen. Als ihr ein ganz besonderes Buch geschenkt wird, taucht sie plötzlich in eine Welt ein, die ihr zuvor immer verschlossen war, und findet den Mut, auch in den dunkelsten Zeiten nicht die Hoffnung aufzugeben.
Herzerwärmend und very British: eine zauberhafte Geschichte über die Liebe zu Büchern
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Seitenzahl: 391
„Lesen ist wie Reisen, es eröffnet neue, unbekannte Welten.“
London, 1939. Die junge Grace kommt in die vom Krieg gebeutelte Metropole, ihr größter Wunsch ist es, endlich ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. In einem kleinen Buchladen in Primrose Hill findet sie eine Anstellung. Sie hat alle Hände voll damit zu tun, Ordnung in den Laden zu bringen und es den Menschen trotz der Kriegswirren zu ermöglichen, Bücher zu kaufen. Als ihr ein ganz besonderes Buch geschenkt wird, taucht sie plötzlich in eine Welt ein, die ihr zuvor immer verschlossen war, und findet den Mut, auch in den dunkelsten Zeiten nicht die Hoffnung aufzugeben.
Herzerwärmend und very British: eine zauberhafte Geschichte über die Liebe zu Büchern
Madeline Martin ist New-York-Times-Bestsellerautorin. Sie hat ihre Kindheit in Deutschland verbracht und liebt es, sich für die Recherche ihrer Bücher in der Bibliothek zu vergraben. Mit ihren zwei Töchtern, einer sehr verwöhnten Katze und ihrem Mann lebt sie in Florida.
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Madeline Martin
Der Buchladen von Primrose Hill
Roman
Aus dem Amerikanischen von Nina Restemeier
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Widmung
Kapitel 1 — London, Ende August 1939
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Epilog — Juni 1945
Danksagung
Impressum
Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...
Für die Autorinnen und Autoren all der Bücher, die ich je gelesen habe. Danke für das Wissen, das sie mir vermittelt haben, und die Möglichkeit, der Welt zu entfliehen. Ihr habt mich zu der gemacht, die ich bin.
London, Ende August 1939
Grace Bennett hatte schon immer davon geträumt, in London zu leben. Doch sie hätte niemals geglaubt, dass ihr einmal keine andere Wahl bliebe, noch dazu am Vorabend des Krieges.
Der Zug hielt im U-Bahnhof Farringdon. Weiß auf Blau vor einem roten Kreis prangte der Name an der Wand. Die Menschen auf dem Bahnsteig hatten es genauso eilig einzusteigen, wie die Passagiere aus den Abteilen hinauszukommen. Alle wirkten schick und großstädtisch in ihrer modisch geschnittenen Kleidung. Viel eleganter als in Drayton, Norfolk.
Eine Mischung aus Angst und Vorfreude durchströmte Grace. »Wir sind da!« Sie schaute ihre Freundin an.
Viv verschloss klickend ihren Lippenstift und schenkte Grace ein frisch aufgetragenes zinnoberrotes Lächeln. Dann spähte sie aus dem Fenster und ließ den Blick über die Reklameplakate wandern, die dicht an dicht an der gewölbten Wand hingen. »So lange haben wir uns gewünscht, in London zu leben.« Sie nahm Grace’ Hand und drückte sie kurz. »Und jetzt sind wir hier.«
Schon als Mädchen hatten sie sich ausgemalt, das langweilige Drayton zu verlassen und in die aufregende Stadt zu ziehen. Damals war es ein unerhörter Gedanke gewesen, das gleichförmige, vertraute Leben auf dem Land gegen das geschäftige, schnelllebige Treiben in London zu tauschen. Niemals hätte Grace es für möglich gehalten, dass sie einmal dazu gezwungen sein würde.
Doch in Drayton blieb ihr nichts mehr. Zumindest nichts, wohin sie gerne zurückgekehrt wäre.
Die jungen Frauen erhoben sich von den gepolsterten Sitzen und griffen nach ihrem Gepäck. Jede hatte nur einen Koffer, verblichen und mehr vom Alter als vom häufigen Gebrauch gezeichnet. Beide waren bis zum Bersten vollgestopft und unglaublich schwer. Dazu kamen die unhandlichen Schachteln mit den Gasmasken, die ihnen an Riemen von der Schulter baumelten. Die grässlichen Dinger mussten sie auf Anweisung der Regierung überallhin mitnehmen, um im Falle eines Gasangriffes geschützt zu sein.
Zum Glück war die Britton Street bloß zwei Gehminuten entfernt, zumindest hatte das Mrs Weatherford, eine Jugendfreundin ihrer Mutter, gesagt.
Sie hatte ein Zimmer zu vermieten, und vor einem Jahr, als Grace’ Mutter gestorben war, hatte sie Grace vorgeschlagen, bei ihr einzuziehen. Es war ein großzügiges Angebot: Die ersten zwei Monate, solange Grace eine Arbeitsstelle suchte, wären mietfrei, anschließend würde sie ihr das Zimmer zu einer reduzierten Miete überlassen. Doch so gern Grace in London leben wollte, und so begeistert Viv sie darin bestärkt hatte, war sie noch fast ein Jahr in Drayton geblieben und hatte versucht, die Scherben ihres Lebens aufzusammeln.
Das war, bevor sie erfahren hatte, dass das Haus, in dem sie aufgewachsen war, in Wahrheit ihrem Onkel gehörte. Bevor er mit seiner herrschsüchtigen Frau und den fünf Kindern dort eingezogen war. Bevor die Welt, die sie gekannt hatte, in unzählige Splitter zerborsten war.
In ihrem Zuhause gab es keinen Platz mehr für Grace, wie ihre Tante nicht müde wurde zu betonen. An dem Ort, der für Geborgenheit und Liebe stand, war sie nicht mehr willkommen. Und als ihre Tante schließlich die Frechheit besaß, sie zum Gehen aufzufordern, wusste sie, dass sie keine Wahl hatte.
Also hatte sie Mrs Weatherford einen Brief geschrieben und sie gefragt, ob das Angebot noch gelte. Das war das Schwerste gewesen, was sie jemals hatte tun müssen. Sie fühlte sich wie eine elende Versagerin, die vor Herausforderungen einknickte.
Grace war nie sonderlich wagemutig gewesen. Selbst jetzt noch fragte sie sich, ob sie es ohne Viv, die darauf bestanden hatte, sie zu begleiten, überhaupt bis nach London geschafft hätte.
Aufregung kribbelte in ihr, während sie darauf warteten, durch die glänzenden Metalltüren eine völlig neue Welt zu betreten.
»Es wird fabelhaft«, flüsterte Viv. »Alles wird so viel besser werden, Grace. Das verspreche ich dir.«
Zischend glitten die Türen des Zuges auf, und sie traten mitten hinein ins Gewimmel auf dem Bahnsteig.
An der gegenüberliegenden Wand zeigte eine Reklame für Chesterfield-Zigaretten einen gutaussehenden rauchenden Rettungsschwimmer, während das Plakat daneben die Männer Londons aufforderte, sich dem Militär anzuschließen.
Das erinnerte Grace nicht nur daran, dass ein Krieg drohte, sondern auch, dass es in der Stadt deutlich gefährlicher war als auf dem Land. Wenn Hitler England angriffe, würde er mit Sicherheit London ins Visier nehmen.
»Oh, Grace, schau mal«, rief Viv.
Grace drehte sich um und sah die stählerne Treppe, die an einem unsichtbaren Band aufwärts glitt und irgendwo oberhalb der gewölbten Decke verschwand. Hinauf in die Stadt ihrer Träume.
Als sie und Viv auf die Rolltreppe zueilten, hatte sie das Plakat schon wieder vergessen. Mühelos ging es immer weiter hinauf, hinauf, hinauf, und sie mussten sich anstrengen, ihre Begeisterung im Zaum zu halten.
Viv straffte die Schultern, sie konnte ihre Freude kaum verbergen. »Habe ich dir nicht gesagt, dass es ganz fabelhaft wird?«
Und endlich ließ sich Grace von ihrer Begeisterung anstecken: Nun waren sie tatsächlich in London!
Fort von ihrem herrischen Onkel, nicht mehr unter der Fuchtel von Vivs strengen Eltern.
Trotz all ihrer Sorgen schwebten sie und Viv aus der U-Bahn-Station wie zwei Vögel, die endlich ihren Käfig verlassen haben und drauf und dran sind, davonzufliegen.
Um sie herum ragten überall hohe Häuser auf, und Grace musste die Augen vor der Sonne abschirmen, um die Dächer sehen zu können. In den Schaufenstern strahlten ihnen die bunt bemalten Schilder von Cafés, Friseuren und sogar einer Apotheke entgegen. Lastwagen ratterten vorbei, und in die Gegenrichtung rumpelte ein Doppeldeckerbus, der genauso rot glänzte wie Vivs Fingernägel. Beinahe hätte Grace ihre Freundin am Arm gepackt und »Schau mal« gequietscht. Viv staunte auch, mit großen, glänzenden Augen. Genau wie Grace wirkte sie wie ein ehrfürchtiges Landei, trotz ihres eleganten Kleids und der perfekt frisierten kastanienbraunen Locken.
Grace war nicht so schick, obwohl sie zur Feier des Tages ihr bestes Kleid angezogen hatte. Es reichte ihr bis knapp unter die Knie und wurde an der Taille von einem schmalen schwarzen Gürtel zusammengehalten, der zu ihren flachen Schuhen passte. Es war nicht so modern wie Vivs schwarz-weiß gepunktetes, aber der hellblaue Baumwollstoff brachte ihre grauen Augen und die blonden Haare zur Geltung.
Wie die meisten ihrer Kleidungsstücke hatte Viv auch das selbst genäht. Die Freundinnen hatten Stunden damit verbracht, zu nähen und sich die Haare zu frisieren, jahrelang Woman und Woman’s Life über Mode und Etikette gelesen und einander wieder und wieder verbessert, um endlich den Drayton-Akzent loszuwerden.
Inzwischen sah Viv mit ihren hohen Wangenknochen, braunen Augen und langen Wimpern aus, als wäre sie einem dieser Magazine entsprungen.
Grace ging voraus. Glücklicherweise war die Wegbeschreibung aus Mrs Weatherfords letztem Brief ausführlich und leicht zu verstehen. Nur davon, dass ihnen sogar auf ihrem kurzen Weg überall die Anzeichen des nahenden Krieges begegnen würden, hatte in dem Brief nichts gestanden.
Einige Plakate forderten die Männer dazu auf, ihren Teil beizutragen, andere schlugen den Menschen vor, Hitler und seine Drohungen gar nicht zu beachten und dennoch ihren Sommerurlaub zu buchen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite säumten aufgetürmte Sandsäcke ein Tor mit einem schwarzweißen Schild, das das Gebäude als öffentlichen Luftschutzraum auswies.
Wie angekündigt erreichten sie zwei Minuten später die Britton Street und fanden sich vor einem Reihenhaus aus rotem Backstein wieder. Es hatte eine grüne Tür mit einem glänzenden Klopfer aus Messing, und auf dem Fensterbrett stand ein Blumenkasten mit weißen und violetten Petunien. Der Beschreibung zufolge war es unzweifelhaft Mrs Weatherfords Haus. Ihr neues Zuhause.
Mit wippenden Locken stürmte Viv die Stufen hinauf und klopfte. Grace folgte ihr aufgeregt. Mrs Weatherford war die beste Freundin ihrer Mutter gewesen und hatte sie mehrmals in Drayton besucht, als Grace noch ein Kind war.
Sie hatten sich angefreundet, als Mrs Weatherford noch in Drayton wohnte, und nachdem sie fortgezogen war, überdauerte ihre Freundschaft nicht nur den Großen Krieg, in dem beide den Ehemann verloren, sondern auch die Krankheit, die Grace’ Mutter schließlich hinwegraffen sollte.
Mrs Weatherford erschien in der Tür. Sie wirkte älter, als Grace sie in Erinnerung hatte. Sie war noch immer rundlich mit roten Apfelwangen und funkelnden blauen Augen, aber trug mittlerweile eine runde Brille, und ihr dunkles Haar war von silbernen Strähnen durchzogen. Als Erstes fiel ihr Blick auf Grace. Sie seufzte leise. »Grace, du bist deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Beatrice war so hübsch mit ihren grauen Augen.« Die ältere Frau öffnete die Tür weiter und gab den Blick auf ihr weißes Baumwollkleid mit blauem Blumenmuster und dazu passenden blauen Knöpfen frei. Der Flur hinter ihr war schmal, aber aufgeräumt, und wurde fast vollständig von der Treppe zum Obergeschoss eingenommen. »Bitte, kommt doch herein.«
Grace bedankte sich murmelnd für das Kompliment und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie ihre Mutter immer noch vermisste. Sie schleppte ihren Koffer über die Türschwelle ins warme Haus, in dem es köstlich nach Fleisch und Gemüse duftete. Grace lief das Wasser im Mund zusammen. Seit ihre Mutter gestorben war, hatte sie keine anständige Hausmannskost mehr gegessen. Zumindest keine gute. Ihre Tante war keine sonderlich begabte Köchin, und Grace war im Laden ihres Onkels viel zu beschäftigt gewesen, um sich selbst etwas Ordentliches zu kochen.
Ein cremeweißer Teppich mit pastellfarbenen Blumen dämpfte ihre Schritte. Er war sauber, wenn auch an manchen Stellen ein wenig abgewetzt.
»Vivienne«, sagte Mrs Weatherford zu Viv, die Grace ins Haus folgte.
»Meine Freunde nennen mich Viv.« Sie setzte ihr unvergleichlich bezauberndes Viv-Lächeln auf.
»Was für Schönheiten ihr doch geworden seid. Ich wette, ihr bringt meinen Jungen zum Erröten.« Mrs Weatherford bedeutete ihnen, ihre Koffer abzustellen. »Colin«, rief sie die Holztreppe hinauf. »Kümmere dich um das Gepäck der Damen, während ich Tee mache.«
»Wie geht es Colin?«, fragte Grace höflich.
Er war wie sie ein Einzelkind und nach dem Krieg ohne Vater aufgewachsen. Obwohl er zwei Jahre jünger war als sie, hatten sie als Kinder zusammen gespielt. Sie dachte gern an diese Zeit zurück. Colin war immer so sanftmütig gewesen, hinter seinen scharfen, intelligenten Augen verbarg sich ein freundliches Wesen.
Mrs Weatherford hob resigniert die Hände. »Er will immer noch die Welt retten und bringt ein Tier nach dem anderen nach Hause.« Ihr amüsiertes Lachen verriet, dass es ihr nicht so viel ausmachte, wie sie behauptete.
Während sie auf Colin warteten, sah Grace sich im Hausflur um. Neben der Treppe befand sich ein Tischchen mit einem glänzenden schwarzen Telefon. Die Tapete aus fröhlichem blau-weißen Brokat war ein wenig verblichen und passte zu den weißen Türen und Türrahmen. Alles war schlicht, aber tadellos sauber. Grace war überzeugt, dass sie im ganzen Haus nicht ein einziges Staubkörnchen finden würde.
Ein Knarzen erklang, und auf der Treppe erschien ein großer, schlanker Mann. Seine dunklen Haare waren ordentlich gekämmt, und er trug ein Hemd und eine braune Hose. Er lächelte schüchtern, was seine Gesichtszüge weicher machte und ihn jünger wirken ließ als seine einundzwanzig Jahre. »Hallo, Grace.«
»Colin?«, fragte sie ungläubig. Er war fast einen Kopf größer als sie, überragte sie so wie sie ihn früher.
Er errötete. Seine Reaktion war herzerwärmend, und es freute sie, dass er sich in all den Jahren seine Liebenswürdigkeit bewahrt hatte. Sie blickte zu ihm auf. »Du bist eindeutig gewachsen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.«
Er zuckte verschämt mit den schmalen Schultern, ehe er Viv zunickte, mit der er ebenfalls als Kind gespielt hatte, da die beiden Mädchen unzertrennlich gewesen waren. »Viv! Willkommen in London. Mum und ich haben uns schon auf euch gefreut.« Er grinste Grace zu, dann bückte er sich nach den Koffern der beiden jungen Frauen. Er zögerte. »Darf ich euch die abnehmen?«
»Gerne«, erwiderte Viv. »Danke, Colin.«
Er nickte, nahm in jede Hand einen Koffer und trug sie mühelos die Treppe hinauf.
»Wisst ihr noch, wie Colin und ich euch besucht haben?«, fragte Mrs Weatherford.
»Natürlich«, sagte Grace. »Er ist noch genauso wie früher.«
»Nur viel größer«, ergänzte Viv.
Mrs Weatherford schaute ihm bewundernd nach, als könnte sie ihn immer noch sehen. »Ein guter Junge. Kommt, trinken wir einen Tee, und dann zeige ich euch das Haus.«
Sie bedeutete ihnen, ihr zu folgen, und öffnete die Küchentür. Vom Fenster über der Spüle fiel Licht durch hauchdünne weiße Vorhänge herein. In der kleinen Küche war alles genauso makellos wie im Flur, und der Essensduft war hier noch verlockender.
Sie deutete auf ein Tischchen mit vier weißen Stühlen und nahm den Wasserkessel vom Herd. »Da hat sich dein Onkel ja einen schönen Zeitpunkt ausgesucht, um Anspruch auf dein Haus zu erheben. Ausgerechnet, wenn uns ein Krieg bevorsteht.« Sie trug den Kessel zum Spülbecken und drehte den Wasserhahn auf. »Das ist so typisch für Horace«, verkündete sie mit offenkundiger Abscheu. »Beatrice hatte befürchtet, dass er etwas Derartiges versuchen könnte, aber ihre Krankheit kam so plötzlich …«
Mrs Weatherford warf einen raschen Blick auf Grace. »Aber was rede ich da? Ihr seid doch gerade erst angekommen. Es ist so schön, dass ihr da seid. Ich wünschte nur, es wäre unter erfreulicheren Umständen.«
Grace biss sich auf die Unterlippe und wusste nicht, was sie antworten sollte.
»Sie haben ein wunderschönes Haus, Mrs Weatherford«, beeilte sich Viv zu sagen.
Grace warf ihr einen dankbaren Blick zu, den Viv mit einem verschwörerischen Zwinkern beantwortete.
»Danke.« Die ältere Frau sah sich lächelnd in ihrer sonnendurchfluteten Küche um. »Es gehörte seit Generationen der Familie von meinem Thomas. Es ist nicht mehr so gut in Schuss, wie es einmal war, aber man tut, was man kann.«
Grace und Viv setzten sich. Die Kissen, auf denen Zitronen prangten, waren so dünn, dass man das harte Holz darunter spürte. »Wir sind so dankbar, dass wir hier unterkommen können. Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
»Das ist doch nicht der Rede wert.« Mrs Weatherford stellte den Kessel auf den Herd und drehte am Knopf, der die Gasflamme entzündete. »Für die Tochter meiner besten Freundin würde ich alles tun.«
»Meinen Sie, es wird schwierig, Arbeit zu finden?«, fragte Viv. Auch wenn sie sich um einen unbeschwerten Tonfall bemühte, wusste Grace, wie sehr sie sich wünschte, eine Anstellung als Verkäuferin zu finden.
Auch Grace fand die Vorstellung verlockend. Wie glamourös es wäre, in einem Kaufhaus zu arbeiten, vielleicht in einem großen und edlen wie Woolworths, dessen Verkaufsflächen sich auf mehreren Etagen über die Länge eines ganzen Blocks erstreckten.
Mrs Weatherford lächelte geheimnisvoll. »Wie es der Zufall will, bin ich mit einigen Ladenbesitzern in London bekannt. Ich kann euch bestimmt behilflich sein. Und Colin arbeitet bei Harrods. Er könnte dort ein gutes Wort für euch einlegen.«
Vivs Augen leuchteten vor kaum verhohlener Begeisterung, als sie tonlos den Namen des Kaufhauses wiederholte.
Mrs Weatherford griff nach einem gelben Geschirrtuch und nahm einen Teller von der Spüle, um die letzten Tropfen abzuwischen. »Ich muss sagen, man hört euch nicht an, dass ihr aus Drayton kommt.«
Viv reckte das Kinn ein wenig höher. »Dankeschön. Wir haben auch viel geübt. Hoffentlich hilft es uns dabei, Arbeit zu finden.«
»Wie reizend.« Mrs Weatherford öffnete einen Schrank und stellte den Teller hinein. »Ihr habt doch sicherlich Empfehlungsschreiben?«
Viv hatte sich am Tag vor ihrer Abreise nach London auf einer geborgten Schreibmaschine selbst eins ausgestellt. Sie hatte auch für Grace eins schreiben wollen, aber die hatte abgelehnt.
Mrs Weatherford widmete sich wieder dem Geschirr. Viv sah Grace mit hochgezogener Augenbraue an, offenbar war sie der Meinung, Grace hätte das Angebot annehmen sollen.
»Natürlich«, antwortete Viv für sie beide, zweifellos schmiedete sie bereits den Plan, ein zweites für Grace zu verfassen.
»Viv hat eines«, berichtigte Grace. »Ich leider nicht. Mein Onkel hat sich geweigert, mir für die Zeit, die ich bei ihm gearbeitet habe, eines auszustellen.«
Das war seine letzte Demütigung gewesen, die Vergeltung dafür, dass sie »den Laden im Stich ließ«, in dem sie viele Jahre gearbeitet hatte. Es kümmerte ihn nicht, dass seine Frau es gewesen war, die Grace weggeschickt hatte, er sah nur, dass er Grace von nun an nicht mehr herumkommandieren konnte.
Der Kessel stieß ein schrilles Pfeifen aus, und aus der Tülle stieg Dampf auf. Mrs Weatherford nahm ihn vom Herd und stellte ihn auf einen Untersetzer.
Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge, löffelte Teeblätter in eine Teekugel und goss das heiße Wasser in die Kanne. »Das ist eine Schande, wirklich eine Schande«, schimpfte sie vor sich hin, während sie die Teekanne auf ein silbernes Tablett stellte, auf dem schon drei Tassen, eine Zuckerdose und ein Sahnekännchen standen. Mit einem resignierten Stirnrunzeln musterte sie Grace. »Ohne so ein Schreiben wird dich kein Kaufhaus einstellen.«
Grace ließ den Kopf hängen. Vielleicht hätte sie Viv doch erlauben sollen, ihr eins zu fälschen.
»Allerdings«, fügte Mrs Weatherford langsam hinzu, während sie das Tablett zum Tisch trug und ihnen allen eine dampfende Tasse einschenkte, »kenne ich ein Geschäft, wo du sechs Monate arbeiten könntest, um dir ein ordentliches Empfehlungsschreiben zu verdienen.«
»Egal, was es ist, Grace wäre perfekt dafür.« Viv nahm ein Stück Zucker aus der Schale und ließ es in ihre Tasse fallen. »Sie hatte in der Schule immer die besten Noten. Vor allem im Rechnen. Den Laden ihres Onkels hat sie praktisch allein geführt und sogar noch erfolgreicher gemacht.«
»Dann glaube ich, dass das sehr gut passen wird.« Mrs Weatherford trank einen Schluck Tee.
Irgendetwas berührte Grace am Schienbein. Sie schaute hinunter und entdeckte eine junge getigerte Katze, die sie mit großen bernsteinfarbenen Augen auffordernd ansah.
Grace streichelte dem Kätzchen sanft über das zarte Fell hinter den Ohren und erhielt ein Schnurren zur Antwort.
»Sie haben ja eine Katze.«
»Nur noch ein paar Tage, ich hoffe, das stört euch nicht.« Mrs Weatherford wollte das Tierchen verscheuchen, aber es blieb beharrlich neben Grace sitzen.
»Der Racker ist nicht aus der Küche zu vertreiben, wenn er Essen riecht.« Verdrossen musterte Mrs Weatherford den Kater, der sie ohne Scham oder Reue anschaute. »Colin hat ein Händchen für Tiere. Wenn ich ihm erlaubt hätte, jeden Streuner zu behalten, den er aufgelesen hat, dann hätten wir hier schon einen richtigen Zoo.« Ihr Lachen verwirbelte den Dampf, der von ihrer Teetasse aufstieg.
Der Kater rollte sich auf den Rücken, so dass ein weißer Fleck auf seiner Brust erkennbar wurde. Grace kraulte die Stelle und spürte sein rhythmisches Schnurren unter ihren Fingerspitzen. »Wie heißt er?«
»Tiger.« Mrs Weatherford verdrehte spöttisch die Augen. »Mein Sohn ist deutlich besser darin, Tiere zu retten, als Namen für sie zu finden.«
Wie aufs Stichwort erschien in diesem Augenblick Colin in der Küche. Tiger sprang auf und tapste zu seinem Retter hinüber. Colin nahm ihn sanft in die großen Hände, und der Kater schmiegte sich zutraulich an ihn.
Dieses Mal war es ihr Sohn, den Mrs Weatherford verscheuchen musste. »Raus mit ihm.«
»Verzeihung, Mum.« Colin lächelte Grace und Viv entschuldigend an, dann verschwand er, den Kater an die Brust gedrückt, aus der Küche.
Mrs Weatherford blickte ihm mit liebevoller Belustigung nach und schüttelte den Kopf. »Ich werde nachher bei Mr Evans vorbeigehen und dafür sorgen, dass du eine Stelle in seinem Laden bekommst.« Sie lehnte sich zurück und schaute seufzend aus dem Fenster.
Grace folgte ihrem Blick in den Garten hinaus, wo neben einem traurigen Haufen ausgerissener Blumen und einem Stapel Wellblech ein gähnendes Loch in der Erde klaffte. Hier sollte vermutlich ein Anderson-Bunker entstehen.
In Drayton, wo die Gefahr eines Luftangriffes nicht sonderlich hoch war, hatte Grace bisher keinen zu Gesicht bekommen, aber sie hatte gehört, dass in mehreren Städten Bausätze für solche Unterstände ausgegeben worden waren. Es handelte sich um kleine Wellblechhütten, die man im Garten eingrub und mit Sandsäcken bedeckte, um darin im Falle von deutschen Luftangriffen Schutz zu suchen.
Ein Schauer lief Grace den Rücken hinunter. Warum nur hatte sie ausgerechnet so kurz vor einem Krieg nach London kommen müssen?
Doch nach Drayton zurückzukehren war auch keine Option. Lieber stellte sie sich der Gefahr hier, wo sie willkommen war, als sich mit der Feindseligkeit ihres Onkels auseinandersetzen zu müssen.
Auch Viv spähte neugierig aus dem Fenster, wandte aber sofort den Blick ab. Nach ihrer Jugend auf einem Bauernhof war sie, wie sie es ausdrückte, »endgültig fertig mit dem Dreck.«
Mrs Weatherford seufzte erneut und trank noch einen Schluck Tee. »Das war einmal ein so schöner Garten.«
»Und das wird er irgendwann auch wieder«, tröstete Grace sie, und es klang zuversichtlicher, als sie tatsächlich war. Denn falls es zu Luftangriffen käme, würde der Garten dann jemals wieder so werden wie zuvor? Oder sie selbst?
Solche Gedanken spukten ihr im Kopf herum und warfen einen unheimlichen Schatten. »Mrs Weatherford«, sagte sie unvermittelt, weil sie nicht länger über Krieg und Bomben nachdenken wollte. »Darf ich fragen, was für eine Art Geschäft Mr Evans führt?«
»Aber natürlich, meine Liebe.« Klappernd stellte Mrs Weatherford ihre Teetasse auf der Untertasse ab, ihre Augen funkelten begeistert. »Einen Buchladen.«
Grace versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Mit Büchern kannte sie sich nicht aus. Sie hatte keine Muße zum Lesen gehabt, viel zu beschäftigt war sie damit gewesen, im Laden ihres Onkels Geld für sich und ihre Mutter zu verdienen. Und dann war ihre Mutter krank geworden …
In Onkel Horace’ Geschäft war sie zurechtgekommen, denn Haushaltsgegenstände waren etwas, das sie selbst benutzte. Es fiel ihr leicht, Teekessel, Geschirrtücher, Vasen und andere Waren, mit denen sie sich auskannte, zu verkaufen. Aber über Literatur wusste sie nichts. Nun, so ganz stimmte das nicht. Sie erinnerte sich an die Ausgabe von Grimms Märchen, die ihre Mutter besessen hatte, mit einer hübschen Prinzessin auf dem Umschlag. Wie gern hatte sie sie sich die bunten Illustrationen angeschaut, während die Stimme ihrer Mutter die zauberhaften Geschichten zum Leben erweckte. Doch abgesehen von den Märchen hatte sie nie Zeit zum Lesen gefunden.
»Wunderbar!« Grace lächelte strahlend, um ihr Unbehagen zu verbergen. Sie würde sich schon arrangieren. Alles war besser, als im Laden ihres Onkels zu arbeiten.
Aber wie sollte sie etwas verkaufen, wovon sie so wenig verstand?
Grace’ erster Besuch bei Primrose Hill Books verlief nicht so wie geplant. Zwar hatte sie keine sonderlich hohen Erwartungen gehabt, aber zumindest war sie davon ausgegangen, dass der Besitzer auf ihr Kommen vorbereitet wäre.
Dank Mrs Weatherfords Wegbeschreibung hatte sie den Laden ohne Schwierigkeiten gefunden. Das schmale Geschäft lag in einer langen Ladenzeile, wo sich der wolkenverhangene Nachmittag trübe in den Schaufenstern spiegelte. Die beiden unteren Geschosse des Gebäudes waren schwarz gestrichen, darüber erhob sich eine gelbliche Stuckfassade, die mit den Jahren rissig geworden und verblichen war. Ein weißes Schild mit schwarz glänzender, geschwungener Schrift verkündete: Primrose Hill Books. Es sollte wohl elegant wirken, kam Grace aber nichtssagend und kühl vor. Verstärkt wurde der Eindruck durch die schmuddeligen Scheiben, die, anstatt eine liebevoll dekorierte Auslage zu präsentieren, kreuz und quer mit weißem Klebeband bedeckt waren. Daran war nichts Ungewöhnliches, viele Leute beklebten ihre Fenster damit, um im Falle eines Bombeneinschlags Splitter zu vermeiden. Normalerweise wurde es aber sorgfältig und ordentlich gemacht.
Grace verspürte ein leichtes Unbehagen. Was, wenn Mr Evans sie fragte, was sie zuletzt gelesen habe? Sie nahm allen Mut zusammen und trat ein. Über ihr läutete ein Glöckchen viel zu fröhlich für diese Tristesse.
In die muffige Luft mischte sich ein Geruch, der an nasse Wolle erinnerte. Eine dicke Staubschicht auf den Regalen verriet, dass die meisten Bücher hier seit einiger Zeit nicht angerührt worden waren, die Bücherstapel auf den abgewetzten Holzdielen verstärkten diesen Eindruck nur noch. Dazu kam der Tresen zu ihrer Rechten, der von scheinbar wahllos gestapelten Abrechnungen, Unmengen von Bleistiftstummeln und anderem Krempel überquoll. Kein Wunder, dass Mr Evans Hilfe benötigte.
»Melden Sie sich, wenn Sie etwas brauchen.« Die unsichtbare Stimme klang so trocken und verstaubt wie die Bücher.
»Mr Evans?« Grace ging weiter in den kleinen Laden hinein. Reihen von ungekennzeichneten Regalen ragten hoch über ihr auf, so dicht beieinander, dass sie sich kaum vorstellen konnte, wie jemand dazwischen noch Platz zum Stöbern finden sollte. Auf Höhe des ersten Stocks säumte eine Galerie den Raum, auf der es genauso unordentlich aussah. Trotz seiner Größe wirkte das Innere des Ladens beengt.
Sie hörte ein Schlurfen, im nächsten Moment zwängte sich ein korpulenter Mann mit weißen Haaren und buschigen Augenbrauen aus einem der schmalen Gänge, in den Händen ein aufgeschlagenes Buch. Er hob den Blick von den Seiten und musterte sie wortlos.
»Mr Evans?« Grace ging vorsichtig um einen kniehohen Bücherstapel herum.
Seine Augenbrauen krochen über den Rand seiner Brille. »Wer sind Sie?«
Am liebsten hätte sich Grace einen Weg durch den Wald aus Regalen zurück zum Ausgang gebahnt. Aber sie war schließlich aus einem bestimmten Grund hier, also straffte sie den Rücken, wie ihre Mutter es ihr beigebracht hatte. »Guten Tag, Mr Evans. Ich bin Grace Bennett. Mrs Weatherford schickt mich wegen der Stelle als Aushilfe.«
Hinter der Brille kniff er die Augen zusammen. »Ich habe dieser aufdringlichen Person doch gesagt, dass ich keine Hilfe brauche.«
»Wie bitte?«, fragte Grace verwirrt.
Er schaute auf sein Buch hinunter und wandte sich ab. »Hier gibt es nichts für Sie zu tun, Miss Bennett.«
Instinktiv wich Grace einen Schritt zurück. »Ich … verstehe«, stammelte sie. »Trotzdem vielen Dank.«
Er würdigte sie keines Blickes, sondern verschwand erneut zwischen den Bücherregalen. Entsetzt blickte sie ihm nach. Wenn er sie nicht einstellte, wie sollte sie dann an ein Empfehlungsschreiben kommen? Sie kannte niemanden außer Mrs Weatherford, Colin und Viv. Sie war in einer fremden Stadt, weit weg von ihrem Zuhause, wo sie nicht mehr willkommen war. Was sollte sie nun tun? Panik stieg in ihr auf und ließ ihre Handflächen heiß kribbeln. Sie brauchte unbedingt die Stelle. Was, wenn sie sich in zwei Monaten nicht einmal mehr die ermäßigte Miete für das Zimmer leisten konnte? Unter gar keinen Umständen konnte sie Mrs Weatherford um weitere Unterstützung bitten, nach allem, was sie bereits für sie getan hatte. Und auch auf Vivs Hilfe wollte sie nicht angewiesen sein. Mit einem Mal wurde die Enge des Ladens erstickend, die hoch aufragenden Regale schienen sie zu erdrücken. Sie sollte bleiben und kämpfen, aber sie war zu aufgewühlt. Gott, wie sehr sie ihre Mutter vermisste, ihre Stärke, ihren Rat und ihre Liebe. Wortlos steuerte Grace auf die Tür zu, vorbei an dicht gepackten Regalen und Bücherstapeln, und verließ das Geschäft. Sie eilte in die Britton Street zurück und wünschte sich nichts sehnlicher, als allein zu sein. Doch der Wunsch wurde ihr nicht erfüllt. Viv und Mrs Weatherford saßen im Salon und betrachteten verzückt das Kätzchen. Colin, der die ganze Nacht im Pet Kingdom, der Tierabteilung bei Harrods, ein neugeborenes Elefantenbaby versorgt hatte, hockte mit einem Stückchen Fleisch auf einem Löffel neben Tiger. Kaum hatte Grace die Tür hinter sich geschlossen, drehten sich alle zu ihr um. Natürlich wusste sie, dass ihre Freunde es gut mit ihr meinten, dennoch wollte sie sich lieber davonstehlen, als zuzugeben, dass sie bei den ersten Anzeichen von Schwierigkeiten geflohen war.
»Wie war es bei Mr Evans?« Mrs Weatherford beugte sich in ihrem burgunderroten Sessel vor.
Grace’ Wangen brannten, aber sie zwang sich zu einem Lächeln und bemühte sich um Gelassenheit. »Ich glaube, er braucht keine Aushilfe.«
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Mrs Weatherford.
Grace trat von einem Fuß auf den anderen. Die Schachtel mit der Gasmaske an dem schmalen Riemen schlug ihr gegen die Hüfte. »Das hat er gesagt.«
Schnaubend richtete Mrs Weatherford sich auf. »Colin, setz den Kessel auf.«
Vom Boden, wo er mit dem Löffel zwischen den großen Fingern neben Tiger hockte, blickte er zu seiner Mutter auf. »Trinkst du deinen Tee heute hier?«
»Der ist nicht für mich.« Sie eilte zur Treppe. »Er ist für Grace, die zweifellos eine Tasse vertragen kann, während ich ein Wörtchen mit Mr Evans rede.«
»Warte.« Bevor Colin aufstehen konnte, legte Viv ihm eine Hand auf die Schulter. Sie kraulte Tiger ein letztes Mal den Kopf, ehe sie selbst vom Boden aufstand. »Lass uns London erkunden, das ist besser als Tee.« Sie wedelte mit den Händen in Grace’ Richtung. »Du bist schon herausgeputzt, und mein Termin ist erst morgen Nachmittag. Komm, wir schauen uns die Stadt an.«
Vivs Termin war ein Vorstellungsgespräch bei Harrods, das sie zum Teil Colins Einfluss, der dort seit einigen Jahren arbeitete, wie auch ihrem Empfehlungsschreiben zu verdanken hatte.
Und obwohl Grace die kühle Stille des Hauses nicht verlassen wollte, konnte sie beim Anblick von Vivs breitem, aufgeregtem Lächeln nicht Nein sagen.
Viv zog sich hastig um und kam gleichzeitig mit Mrs Weatherford die Treppe hinunter. Beide trugen akkurat festgepinnte Hüte, ihre Absätze klapperten auf dem gebohnerten Holz.
»Glaub mir.« Mrs Weatherford warf einen Blick in den kleinen Spiegel neben der Eingangstür und rückte die Krempe ihres schwarzen Hutes zurecht. »Wenn Mr Evans weiß, was gut für ihn ist, wird er dich einstellen.«
Grace wollte protestieren und Mrs Weatherfords freundliche Hilfe ablehnen, aber leider war sie darauf angewiesen.
Bevor sie Mrs Weatherford aufhalten konnte, verschwand die ältere Frau mit einem entschlossenen Schnauben zur Haustür hinaus.
Viv nahm Grace’ Hand. »Wir besichtigen jetzt London, diese Perle, Schätzchen«, verkündete sie in ihrem vornehmsten Tonfall.
Schon bald wurden die beiden jungen Frauen von der geschäftigen Stadt mit den hohen Häusern, grellbunten Reklametafeln und dem lärmenden, rumpelnden Verkehr verschluckt. Sie hasteten von einem Ort zum anderen, während sie versuchten, mit dem schnellen Tempo des Stadtlebens Schritt zu halten. Aber London war nicht die Perle, die sie erwartet hatten. Ihr Funkeln wurde von den Vorboten des Krieges getrübt, zusammengehalten von Klebeband und Sorge. Ihr Glanz verbarg sich hinter Mauern aus Sandsäcken, und ihre Seele lag frei, weil Bunker gebaut und Gräben ausgehoben wurden.
Die Vorzeichen waren nicht zu übersehen.
Natürlich ließen sie sich vorübergehend ignorieren, zum Beispiel, als Grace und Viv zum ersten Mal das Kaufhaus Harrods betraten und die kunstvollen Rollwerk-Verzierungen an den Decken, die ägyptisch anmutenden Säulen und die kostbaren Fächerlampen bewunderten. Der Laden erstreckte sich weiter als die Felder in Drayton, jede neue Abteilung war aufregender und beeindruckender als die letzte. Es gab hauchfeine Seidenschals, die sich anfühlten, als wären sie aus Luft gewebt, und Parfümflakons hinter glitzernden Glastheken, die die Umgebung mit ihrem teuren Duft erfüllten. Das Faszinierendste war jedoch das Pet Kingdom, wo Colin arbeitete. Das Elefantenbaby, das er letzte Nacht versorgt hatte, tollte jetzt in einem frischen Heuhaufen herum, während sich ein Leopardenjunges mit seiner rauen rosa Zunge das Fell putzte und sie mit seinen grünen Augen neugierig beobachtete.
»Stell dir vor«, sagte Grace verträumt, nachdem sie die Tiere hinter sich gelassen hatten und die anderen Abteilungen durchstreiften. »Bald arbeitest du hier als Verkäuferin!«
»Und das könntest du auch«, flüsterte Viv. »Wenn du mir nur erlauben würdest, dir auch ein Empfehlungsschreiben auszustellen.«
Grace’ Begeisterung verblasste ein wenig beim Gedanken daran, wo sie stattdessen arbeiten würde, falls es Mrs Weatherford gelänge, Mr Evans umzustimmen. Und doch konnte sie sich nicht dazu durchringen, ein Empfehlungsschreiben zu fälschen. Sie war keine gute Lügnerin, wurde immer ganz rot im Gesicht und verhaspelte sich. Zweifellos würde sie über falsche Referenzen genauso straucheln. Doch sie wusste, Viv würde keine Ruhe geben, solange sie nicht wenigstens eine Art Zugeständnis machte.
»Falls mir keine andere Möglichkeit bleibt, überlege ich es mir vielleicht noch einmal«, sagte sie vorsichtig.
Vivs Miene hellte sich auf. »Es ist so gut wie erledigt.«
»Nur, wenn mir keine andere Möglichkeit bleibt«, wiederholte Grace und hoffte plötzlich, Mrs Weatherford würde Mr Evans überzeugen.
Aber Viv hatte sich bereits abgewandt, um ein Paar Strümpfe zu begutachten, und quittierte Grace’ verhaltene Aussage lediglich mit einem Brummen. Dann legte sie sie beiseite und strich über die knisternde rosa Verpackung.
»Weißt du, was wir noch nicht gemacht haben?« Sie wirbelte so begeistert zu Grace herum, dass ihr grüner Rock um ihre Knie flatterte. »Wir waren noch gar nicht im Hyde Park.«
Grace grinste. An wie vielen Sommertagen hatten sie im sonnengewärmten Gras gelegen, seinen süßen Duft eingeatmet und so getan, als wären sie im Hyde Park? »Der ist gleich hier ein Stück die Straße hinauf«, sagte sie und zog die Augenbrauen hoch.
Viv blickte sich in den endlosen hell erleuchteten Reihen voller exklusiver Waren um. »Wenn wir wieder hinausfinden.«
Grace reckte den Hals und sah sich um. Es dauerte länger, als beide zugeben wollten, denn sie verirrten sich irgendwo zwischen der Bettenabteilung und den Miederwaren, aber schließlich fanden sie den Ausgang und gingen die Straße hinauf in den Hyde Park.
Sie hatten extravagant gekleidete Menschen in Liegestühlen erwartet, Sonnenlicht, das auf dem Wasser des Serpentine-Sees wie Diamanten funkelte, und eine endlose grüne Rasenfläche, die so weich war, dass sie am liebsten die Schuhe ausgezogen hätten. Sie hatten nicht mit den Gräben gerechnet, die den Boden durchzogen wie offene Wunden, oder – schlimmer noch – mit den riesigen Geschützen.
Die gewaltigen Metallkanonen waren mehr als mannshoch und auf Räder montiert, die Grace bis zur Hüfte reichten. Die langen Läufe dieser Bestien ragten in den Himmel, bereit, jede Bedrohung abzuwehren.
Grace blickte zu den schweren grauen Wolken auf und glaubte beinahe, einen Schwarm von Flugzeugen zu entdecken.
»Machen Sie sich wegen der Deutschen keine Sorgen, meine Damen.« Ein älterer Mann war vor ihnen stehen geblieben. »Die Flugabwehrkanonen holen sie vom Himmel, bevor sie uns erreichen.« Er nickte zuversichtlich. »Ihnen wird nichts passieren.«
Grace krampfte sich der Magen zusammen, ihr fehlten die Worte. Viv wirkte ähnlich betroffen und schenkte ihm lediglich ein schwaches Lächeln.
Der Mann tippte sich an die Hutkrempe und setzte seinen Weg durch den Park, eine Zeitung unter den Arm geklemmt, fort.
»Der Krieg kommt also wirklich, was?«, sagte Viv leise.
So war es. Das wussten alle, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollten. Die Schulferien waren bereits verkürzt und die Lehrer gebeten worden, früher nach Hause zurückzukehren, um mit den Vorbereitungen für die Evakuierung Tausender Kinder aus London zu beginnen. Wenn die Kinder aufs Land verschickt wurden, war der Krieg eindeutig nicht mehr fern.
Doch die Schicksalsergebenheit in Vivs Stimme weckte Grace’ schlechtes Gewissen.
»Du bräuchtest nicht hier zu sein, Viv. Es ist nicht sicher. Du bist nur meinetwegen mitgekommen. Weil ich allein zu ängstlich war. Du könntest …«
»Zurück nach Drayton gehen?« Vivs verzog spöttisch die Lippen. »Eher sterbe ich, als wieder im Dreck zu wühlen.«
Vielleicht sogar schneller, als wir denken. Grace sprach den makabren Gedanken nicht aus, aber sie warf noch einmal einen Blick zurück zu den Flakgeschützen, die sich dunkel und bedrohlich gegen den Nachmittagshimmel abzeichneten.
»Noch ist der Krieg nicht erklärt worden.« Viv arrangierte den Riemen ihrer Handtasche und das Trageband der Gasmaskenschachtel auf ihrer Schulter. »Komm, lass uns nach Hause gehen und schauen, ob Mrs Weatherford Mr Evans zur Vernunft bringen konnte.«
Grace sah ihre Freundin säuerlich an. »Er will mich doch genauso wenig haben, wie ich dort arbeiten will. Der Laden ist alt und verstaubt und voller Bücher, von denen ich noch nie gehört habe.«
Vivs Augen funkelten. »Deshalb ist es perfekt für dich, Entlein.«
Bei diesem Kosenamen konnte Grace sich das Lächeln nicht verkneifen. Als sie noch ein Kleinkind gewesen war, hatte ihre Mutter sie so genannt, weil ihre blonden Locken im Nacken abstanden. Wie der Schwanz einer kleinen Ente, pflegte Mum zu sagen. Der Spitzname war hängen geblieben. Nun war ihre Mutter tot und Viv die Einzige, die sich noch daran erinnerte und ihn benutzte.
»Auch der Laden deines Onkels war ein staubiges Nichts, bevor du dort angefangen hast.« Viv stemmte die Hände in die Hüften. »Und irgendetwas sagt mir, falls Mr Evans sich in sechs Monaten weigern sollte, dir ein Empfehlungsschreiben auszustellen, wird Mrs Weatherford ihn dazu zwingen.«
Die Vorstellung, wie Mrs Weatherford Mr Evans eine Standpauke hielt, war beinahe zum Lachen. »Wer diese Auseinandersetzung wohl gewinnen würde.«
»Ich weiß schon, auf wen ich wetten würde.« Viv zwinkerte. »Schauen wir mal, was sie erreicht hat.«
Als sie in die Britton Street zurückkamen, saß Mrs Weatherford bereits mit einer Tasse Tee im Salon, während der Duft von gebratenem Fleisch in der Luft hing. Zweifellos eine weitere köstliche Mahlzeit. Mrs Weatherford war eine ziemlich begabte Köchin, genau wie Grace’ Mutter.
Sie blickte von ihrer Teetasse auf und wischte die vom Dampf beschlagene Brille ab. »Ah, da seid ihr ja. Mr Evans wird dir einen angemessenen Lohn zahlen und möchte, dass du morgen früh pünktlich um acht Uhr anfängst.«
Grace schlüpfte aus ihren flachen Schuhen und trat ohne Pantoffeln auf den dichten, weichen Teppich im Salon. »Sie meinen …?«
Mrs Weatherford lächelte triumphierend. »Ja, meine Liebe. Du bist die neue Verkäuferin bei Primrose Hill Books.«
In Grace rangen Erleichterung und Aufregung miteinander. Es war eine Stelle, die ihr ein Auskommen in London garantieren würde. Damit konnte sie Drayton und ihren Onkel endgültig hinter sich lassen.
»Danke, dass Sie mit ihm gesprochen haben, Mrs Weatherford«, sagte sie dankbar. »Das war so liebenswürdig von Ihnen.«
»Es war mir ein Vergnügen, meine Liebe.« Das leichte Schwellen ihrer Brust verriet, dass sie das nicht bloß so dahingesagt hatte. Grace hielt inne. »Wieso heißt der Laden eigentlich Primrose Hill Books?«
Mrs Weatherfords lächelte verträumt, und Grace ahnte, dass es einen schönen Grund haben musste. »Mr Evans und seine Frau, Gott hab sie selig, haben sich auf dem Primrose Hill kennengelernt. Sie lehnten beide mit dem Rücken am selben Baum und stellten fest, dass sie beide das gleiche Buch lasen. Stell dir das mal vor.« Sie nahm ein Teeküchlein vom Tablett und hielt es zwischen ihren Fingern. »Als sie den Laden eröffneten, fanden sie, das sei der perfekte Name für ihre Buchhandlung. Ist das nicht romantisch?«
Sie konnte sich den grummeligen alten Ladenbesitzer nur schwer als verliebten jungen Mann vorstellen, aber die Geschichte war in der Tat bezaubernd. Vielleicht würde es doch nicht so schlimm werden, dort zu arbeiten.
Und außerdem wäre es ja nur für sechs Monate.
Am nächsten Morgen um zehn vor acht kam Grace mit perfekt gelegten Locken und flatternden Nerven bei Primrose Hill Books an. Viv hatte ihr am Abend zuvor beim Frisieren geholfen und war früh aufgestanden, um ihr Glück zu wünschen, obwohl sie ihr eigenes Vorstellungsgespräch bei Harrods erst am Nachmittag hatte. Glück konnte Grace jetzt gut gebrauchen.
Als sie eintrat, stand Mr Evans hinter dem überfüllten Tresen. Er trug eine Tweedjacke über einem Hemd und blickte beim Klingeln des Türglöckchens nicht einmal auf. »Guten Morgen, Miss Bennett«, sagte er gelangweilt.
Grace lächelte ihn an, sie war fest entschlossen, noch einmal ganz von vorn anzufangen und sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Oder die andere Wange hinzuhalten, je nachdem, wie man es betrachtete. »Guten Morgen, Mr Evans. Ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie mir die Gelegenheit geben, hier zu arbeiten.«
Er hob den Kopf und musterte sie durch seine dicken Brillengläser. Seine strähnigen weißen Haare und die buschigen Augenbrauen waren viel gebändigter als am Vortag. »Ich brauche keine Hilfe, aber diese Frau hat einfach nicht lockergelassen, bis ich schließlich nachgegeben habe.« Er wackelte mit seinem kurzen, dicken Zeigefinger. »Stecken Sie bloß nicht zu viel Herzblut in diese Aufgabe, Miss Bennett. Es ist nur für sechs Monate.«
Erleichtert ließ Grace die Schultern sinken. Immerhin erwartete er nicht, dass sie bis ans Ende ihrer Tage hier arbeitete.
»Ich werde mein Herz nicht daran hängen«, antwortete sie. So staubig und trostlos, wie es hier war, hielt sie es für völlig unwahrscheinlich. Wieder staunte sie, wie beengt der Laden wirkte. Regale drängten sich aneinander wie riesige Zähne in einem viel zu kleinen Mund, dazwischen türmten sich stapelweise Bücher. Alles ohne ein erkennbares System. Als Grace bei ihrem Onkel angefangen hatte, hatte dort wenigstens eine gewisse Ordnung geherrscht. Aber was sollte sie aus diesem planlosen Durcheinander machen? Hoffnungslosigkeit beschlich sie. Womit sollte sie beginnen? Was war überhaupt ihre Aufgabe? Unsicher stand sie da, die Handtasche und die Schachtel mit der Gasmaske über der Schulter, und hatte noch nicht einmal ihren Hut abgenommen. Mr Evans beachtete sie nicht weiter, während er eine Reihe von Zahlen in ein Kassenbuch kritzelte. Den Bleistiftstummel hatte er konzentriert zwischen die Fingerspitzen geklemmt. Noch einmal anspitzen, und das Ding wäre gar nicht mehr vorhanden.
Grace räusperte sich. »Wo kann ich meine Sachen abstellen?«
»Hinterzimmer«, murmelte er, während seine Hand weiter über das Papier glitt.
Sie warf einen Blick in den hinteren Bereich des Ladens und entdeckte dort eine Tür. »Und was soll ich dann tun?«
Die Bleistiftmine brach ab, und Mr Evans schnaufte missmutig. Er starrte Grace durchdringend an. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich keine Hilfe brauche. Sie können sich ins Hinterzimmer setzen und nähen oder ein Buch lesen oder sich die Nägel feilen. Das ist mir egal.«
Grace nickte und trottete zwischen den schief stehenden Regalen zu der Tür, auf die er gedeutet hatte. Darüber hing ein schmuddeliges Messingschild, auf dem Primrose Hill Books eingraviert war und darunter etwas kleiner die Zeile: Wo Leser Liebe finden. Hoffentlich war das ein gutes Zeichen, dass ihre sechs Monate hier nicht nur schlecht sein würden.
Eine nackte Glühbirne erhellte den schmalen Raum. Darin standen ein wackliger Tisch und ein Stuhl. Kisten säumten die Wände, zum Teil in Zweier- oder Dreierreihen, so dass man sich kaum bewegen konnte. Das Hinterzimmer wirkte noch abweisender als der Laden selbst, was Grace nicht für möglich gehalten hatte. Sie entdeckte ein paar Haken an der Wand, an denen sie ihre Sachen aufhängte, und ging zurück in den Verkaufsraum. Nähen war noch nie ihre Stärke gewesen – das war Vivs Spezialgebiet – und sie hätte nicht gewusst, mit welchem Buch sie anfangen sollte, geschweige denn, wo es einzusortieren wäre. Beim Blick auf ihre Finger bedauerte sie jedoch, dass sie ihre Nagelfeile zu Hause gelassen hatte. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als sich eine Beschäftigung zu suchen. Die dicke Staubschicht auf den Regalen bettelte darum, abgewischt zu werden. Gut, Abstauben gehörte nicht zu den Tätigkeiten, die Mr Evans ihr empfohlen hatte, aber der Laden hatte es bitter nötig. Drei Stunden später, nachdem sie fast am aufgewirbelten Staub erstickt wäre, bereute sie ihre Entscheidung. Ihr weißes Hemdblusenkleid mit dem rosafarbenen Blütenmuster, eines ihrer Lieblingskleider, war von Schmutz überzogen, und Mr Evans warf ihr jedes Mal, wenn er hustete, einen finsteren Blick zu. Und das war ziemlich oft.
In der Zwischenzeit waren einige Kunden in den Laden gekommen. Sie hatte versucht, sich während der Arbeit in ihrer Nähe aufzuhalten, stets darauf bedacht, keine Staubwolken in ihre Richtung zu schicken, aber dennoch nahe genug, falls sie Hilfe brauchten.
Nicht, dass sie hätte helfen können. Glücklicherweise wurde sie erst etwas gefragt, nachdem Mr Evans in ein nahe gelegenes Café gegangen war, um einen Tee zu trinken. Eine ältere Frau in einem karierten Schürzenkleid kam herein, den Blick fest auf Grace gerichtet. »Entschuldigen Sie, haben Sie The Black Spectacles?«
Grace lächelte freundlich. Das war immerhin eine Frage, die sie beantworten konnte. »Es tut mir leid, aber wir führen keine Brillen.«
Die Frau blinzelte irritiert. »Das ist ein Buch. Von John Dickson Carr. Gestern Abend habe ich The Crooked Hinge ausgelesen und brauche jetzt ganz dringend den nächsten Band aus der Gideon-Fell-Serie.«
Grace wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Nun hatte sie zwei Buchtitel und eine Reihe, aber keine Ahnung, wo sie eines davon finden sollte. Beim Aufräumen hatte sie versucht, die Sortierung der Bücher zu durchschauen, aber vergeblich.
»Oh, natürlich.« Grace bedeutete der Frau, ihr zu folgen, in der Hoffnung, sie würde vielleicht rein zufällig über das gesuchte Buch stolpern. Oder auf dem Weg vom Blitz getroffen werden. In diesem Augenblick wäre ihr beides recht gewesen.
»Wie fanden Sie The Crooked Hinge?«, fragte sie zaghaft, um herauszufinden, um welche Art von Buch es sich handelte.
Die Frau presste sich eine Hand an die Brust. »Oh, es war ein hervorragender Krimi. Für das letzte Kapitel habe ich mich im Schlafzimmer eingeschlossen, damit ich es zu Ende lesen konnte, ohne dass die Kinder mich stören.«
Ah, ein Krimi. Vielleicht befanden die sich an der rückwärtigen Wand, wohin sie die Frau gerade führte. »Ich glaube, es ist irgendwo hier.« Ihr Blick glitt über mehrere Buchrücken. Sie waren nicht sortiert, weder nach Titel noch nach Autor, nicht einmal nach der Farbe des Buchumschlags.
»Wenn ich mich einmischen dürfte …«, ertönte da eine Männerstimme hinter Grace.
Sie blickte überrascht auf und entdeckte einen hochgewachsenen Mann in einem edlen maßgeschneiderten Jackett, die schwarzen Haare ordentlich zur Seite gekämmt. Er war ihr vorhin schon aufgefallen, so gutaussehend, wie er war. Doch das war schon eine Weile her, und sie hatte angenommen, er wäre längst wieder gegangen.
»Ich glaube, es steht in dem Regal dort drüben.« Er deutete auf die gegenüberliegende Seite des Ladens.
»Ja, danke.« Grace’ Wangen brannten. Nein, ihr ganzer Körper loderte vor Verlegenheit, und der Blick des Mannes machte es nicht besser. Sie bat die Frau noch einmal, ihr zu folgen. »Hier entlang, bitte.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Miss …« Die Frau sah den gutaussehenden Mann eindringlich an und errötete. »Mir wäre es lieber, wenn er es mir zeigen würde.«
Er zog verblüfft die Augenbrauen hoch, dann lachte er leise. »Aber gern doch.« Er bot der Frau seinen Arm, und sie hakte sich mit einem strahlenden Lächeln bei ihm unter.
Grace beobachtete, wie der Herr ein schwarzes Buch mit großen roten Buchstaben auf dem Umschlag aus dem Regal zog. Die Kundin bedankte sich und trat zu Grace an die Kasse auf dem überfüllten Tresen.