Der Bulle vom Ammersee - Ina May - E-Book

Der Bulle vom Ammersee E-Book

Ina May

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Beschreibung

In Herrsching finden Dreharbeiten zur Krimiserie »Hieronymus Hart - Der Bulle vom Ammersee« statt. Viktor Lässig, der den Kriminalkommissar Hieronymus Hart spielt, wird erpresst. Falls er nicht tut, was von ihm verlangt wird, passiert etwas, so die Ankündigung. Doch Viktor ist nicht der Typ, der sich drohen lässt, und pfeift zunächst auf die Warnungen. Als dann tatsächlich etwas passiert, steht er unversehens im Verdacht, etwas mit dem Unfall des Drehbuchautors zu tun zu haben.

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Ina May

Der Bulle vom Ammersee

Kriminalroman

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © pwmotion/Fotolia.com

ISBN978-3-8392-5764-7

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Fünf Monate zuvor

Launisch war nicht nur dieser April.

Laura fröstelte, als sie in der mondbeschienenen Nacht von der unebenen Wiese auf den Steg hinaus trat.

Das Bootshaus auf der linken Seite warf einen Schatten, der den Eindruck vermittelte, da hätte jemand einen riesigen Schirm aufgespannt. Es fühlte sich an, als müsste sie unter dem finsteren Schwarz hindurchtauchen, ehe sie wieder im Licht stand. Dabei assistierte ihrer Taschenlampe im Moment nur der Mond. Er nahm zu, Lauras Angst auch.

Sie musste eine Entscheidung treffen, genau davor fürchtete sie sich. Die kurze Strecke bis zum anderen Ende des Steges schien ihr eine echte Herausforderung. Etwas schwankte – es waren nicht die Holzplanken. Kurz hielt sie sich am Geländer fest. Sie hatte nur zwei Gläser Wein getrunken, geglaubt, dann wäre es einfacher, das Verlustgefühl und die Gänsehaut in den Griff zu bekommen. Laura hatte sich getäuscht, denn beides war verschwunden.

Unter ihr schwappte das Wasser des Ammersees gegen die Pfosten. Leichter Algen- und Fischgeruch drang ihr in die Nase. Sie war seit fast drei Wochen hier, ein schöner, zumeist sonniger Frühling. Sie hatte begonnen, den besonderen Seeduft zu mögen.

Kurz glaubte Laura, sie hätte ein leichtes Vibrieren unter ihren Füßen gespürt, weil jemand über die Planken lief. Sie wandte sich um, da war gerade ein Schatten gewesen. War er es, oder … »Hiero?« Sie hielt inne, wartete. Keine Antwort.

Laura machte ausholende Schritte über die Spalten zwischen den Brettern und versuchte, das Schwarz darunter zu ignorieren. Ihr Atem ging schneller. Trotz der lauen Nachttemperatur war ihr kalt, sie hätte besser eine Jacke mitgenommen.

Der See wurde am Ufer eingerahmt von Hunderten von Lichtern, die Stimmen und Laute waren weit weg. Tagsüber vermischten sich sämtliche Geräusche, man nahm sie nicht bewusst wahr. In der Abendstille klangen die Wellen, als würden sie mit ihr flüstern.

Komm näher.

Ein paar Tage zuvor war ihr all das noch heimelig und wunderbar vorgekommen, aber das gute Gefühl war verflogen. Geblieben war nur der Verdacht, dass der Mann, in den sie sich verliebt hatte, ihr in mehr als einer Hinsicht etwas vormachte. Sie wischte sich mit zwei Fingern über die Wangen, schalt sich, weil sie jetzt auch noch wegen ihm weinte.

Im Café »Seetang«hatte sich heute ein Ehepaar darüber unterhalten, wie viele Leichen schon in den Fluten des Ammersees verschwunden waren. Es wurde gewettet, wer mit seiner Schätzung der Totenzahl am nächsten kam.

Lauras Erschrecken am Nebentisch war unbemerkt geblieben. Wussten sie nicht, dass es Unglück brachte, Wetten über den Tod abzuschließen? Oder brachte es am Ende Unglück, auch nur über den Tod nachzudenken? Laura blickte auf die Schattenlandschaft hinaus, ging in die Hocke, stützte sich mit einer Hand ab und ließ sich auf dem Holz nieder, das die Wärme des Tages gespeichert hatte. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen das Geländer.

Dass sie die Beine angezogen hatte, als müsste sie sich klein und am besten unsichtbar machen, bemerkte sie erst, als ihr rechter Unterschenkel unangenehm zu kribbeln begann. Sie sog die Luft tief ein und streckte ihre Beine aus, schlug eines über das andere.

Irgendwo am gegenüberliegenden Seeufer wurde etwas gefeiert, sie hörte ein paar Gratulanten ein Happy Birthday anstimmen, dann klirrten Gläser, als miteinander angestoßen wurde. Ein Platschen begleitet von einem Schrei. Laura zuckte zusammen. Gleich darauf wurde gejohlt und Beifall geklatscht. Sie schloss die Augen, biss sich auf die Lippen. Du bist dünnhäutig, sagte sie sich und rubbelte über ihre nackten Arme.

Die Entscheidung, die sie von sich gefordert hatte, war vielleicht schon gefällt. Laura würde sich verabschieden – sie wollte dafür gerade nur noch ein wenig Mut sammeln. Das Wasser des Sees schimmerte friedlich, als hätte sie ihn nicht schon vor Wut toben sehen.

Laura drehte das Armband am linken Handgelenk. Die Diamanten glitzerten im hellen Mondlicht. »Diamanten sind auf keinen Fall die besten Freunde eines Mädchens«, lachte sie bitter auf. Ihr Glanz schien ihr in den Augen zu stechen. Sie zog sich mit einer Hand am Geländer hoch und öffnete den Sicherheitsverschluss, ließ den Schmuck in ihre Handfläche gleiten, beugte sich vor, holte weit aus … und schloss die Hand im letzten Moment wieder, bevor sie das Armband dem See überantworten konnte. »Nein!« Sie schüttelte den Kopf. »Du sollst noch an mich denken und dir wünschen, du hättest es mir nicht geschenkt.«

Als sie sich wieder umwandte, stand da tatsächlich jemand. Die Person kam nicht näher. Laura sah, dass sie eine Brille trug, etwas in der Hand hielt und eine Bewegung machte.

Das Gefühl, als hätte etwas sie getroffen, dann …

1. Kapitel

Mit der Schwerkraft verhält es sich wie mit dem Wahnsinn. Manchmal reicht schon ein kleiner Schubs.

Das Entführungsopfer, die beliebte Deutschlehrerin der Realschule, lief den Uferweg am See entlang, versuchte zu entkommen. Sie rannte vor ihm weg, sie würde nicht weit kommen. Er würde sie abschießen und es genießen. Er hätte geübt, er würde treffen. Eine Kugel für dich, du hübsches Miststück. Mit ihrer Verstauchung im Fußgelenk käme sie nicht weit, wäre nicht schnell genug.

Die Jagd ist eröffnet, sagte er sich.

Ihre Augen wurden groß vor Angst, als sie kapierte, warum er es ihr nicht allzu schwer gemacht hatte, die Tür des Schuppens aufzubekommen.

Sie war schon tot, wusste es nur noch nicht, aber gleich. Er hatte sie vergiftet; zuerst würde sie sich an die Kehle greifen. Dann an den Kopf, wenn die Stahlkugel sie an der Schläfe traf.

Wer zuerst stirbt, den bestraft das Leben.

Es war kein Aufwachen, es war ein nach Luft Schnappen und ein erleichtertes »nur geträumt«. Viktor hatte gestern noch in dem Drehbuch gelesen, das jetzt irgendwo in der Decke verknäult lag. Im Traum war er der Täter gewesen. In Wirklichkeit war er der Hauptdarsteller, im Film ein Kriminalkommissar. Sollte er es prima finden, wenn er vorab schon mal Mordluft schnuppern durfte?

Die Augenlider wollten sich wieder schließen, es war eine anstrengende Nacht gewesen. Aber wenn er sich eines nicht leisten konnte, war es Schlaf. Die Arbeit rief noch nicht, aber der Drehplan musste besprochen werden, und Viktor sollte vorher noch seinen Magen zufriedenstellen.

Wer Freude bei der Arbeit hat, ist imstande viel zu leisten, war der absolute Lieblingsmotivationssatz des Regisseurs.

Geleistet hatte Viktor Lässig noch überhaupt nichts, und wenn er nicht endlich in die Gänge kam, würde Augustin Nagel mit Bestimmtheit eine wenig freundliche Bemerkung zu seiner Antriebslosigkeit abschießen.

Viktor und der frühe Morgen standen seit jeher auf Kriegsfuß. Er schaute auf die Uhr am Nachttisch und wusste, dass er spät dran war. Keine Rasur, hatte er sich gerade noch rechtzeitig erinnert, als er unter die Dusche schlüpfte. Jetzt fuhr er sich über die Wange, fühlte es kratzen, mochte es nicht unbedingt. Aber die Bartstoppeln musste er für seine Rolle stehen lassen. Ein Dreitagebart wäre gut. Was war nach den drei Tagen? Er würde sich das noch mal fragen, wenn es so weit war.

Die gestrige Hochdruckwetterlage war heute nur mehr eine schöne Erinnerung. An diesem Morgen regnete es. Viktor ging die Treppen hinunter. Überall fröhliche Rufe, es sei schön, die Filmcrew des »Bullen vom Ammersee« wieder im Hotel »Wassermann« begrüßen zu dürfen, vor allem natürlich Hiero Hart, ihn, was er grinsend zur Kenntnis nahm. Und falls etwas gebraucht werden sollte, dürfe man sich jederzeit gerne melden. Er würde es im Sinn behalten.

Nahezu geräuschlos tappte Viktor über die Holzdielen, die die Farbe hellen Milchkaffees hatten, an der Rezeption vorbei und fragte sich ernsthaft, welche Szenen sie bei der Düsternis dort draußen drehen konnten. Selbst im Foyer hatte man die Lampen eingeschaltet. Und das Filmlicht hatte einen Haken – zu viel davon konnte die Stimmung ruinieren. »Einen wunderbaren guten Morgen«, grüßte hinter dem Tresen eine jugendliche Stimme mit einem süßen Lächeln wie aus einer Eiswerbung.

»Es regnet in den See«, entgegnete Viktor und erntete einen komischen Blick. Was denn, vielleicht nicht?

Je näher er dem Frühstücksraum kam, umso mehr Stimmen hörte er, die fast oktoberfestmäßig aufeinanderprallten. Ein Geräuschpegel jenseits von Gemütlichkeit. Und das in aller Frühe! So wach war er noch längst nicht. Auf die Tische verteilt saß bereits die gesamte Filmcrew, nebst einigen Hotelgästen, denen es offenbar gefiel, das bavarische Filmflair aufzusaugen.

Es wurde Rührei mit Bacon auf den Tellern herumgewälzt, dazu Kaffee, Tee, Saft oder was auch immer getrunken. Einige waren offenbar schon wieder im Aufbruch begriffen. Viktor war ein Nachtmensch, da schaute er kurz vor halb neun generell noch etwas verschlafen aus der Wäsche. Weil fast alle Plätze besetzt waren, fand er es nicht schwierig, sein Gedeck zu finden. Er legte größten Wert auf einen Fensterplatz; heute hätte er ihn nicht unbedingt gebraucht – man sah die Blätter an den Bäumen hin und her wedeln und hörte den Regen prasseln.

Viktor zog den Stuhl zurück, schlüpfte aus seiner Lederjacke und hängte sie über die Lehne. Mit einem ungnädigen Blick registrierte er die Pflanze auf dem Tisch. Schnell schob er die Vase samt der weißen Rose, die an seinem Platz vor dem Gedeck stand, hinüber zum leeren Platz der Maskenbildnerin. Er konnte die Dornengewächse nicht leiden, auch wenn sie noch so unschuldig aussahen. Wofür standen weiße Rosen? Wenigstens war es keine rote, diese Aussage kannte er, sie hätte ihn nervös gemacht.

»HAUPTDARSTELLER«, hatte jemand in Großbuchstaben auf ein Kärtchen geschrieben und ein Herz dazu gemalt. Er ließ sich auf den Stuhl fallen – das Sitzmöbel, ein helles Geflecht mit einem Kissen darauf, knarzte, als hätte es Grund zur Beschwerde. Versöhnlicher Kaffeeduft drang ihm in die Nase. Auf dem Tisch stand eine Kanne mit normalem Filterkaffee, während der Automat am Buffet Cappuccino und Co. anbot.

Er hatte die Hand schon ausgestreckt, da bemerkte er die vier Ecken, die unter seinem Teller hervorspitzten. Ein Briefumschlag?

Viktor rieb seine Finger gegeneinander, als müsse er erst überlegen, ob er nachschauen wollte. Das Kuvert sah geheimnisvoll aus und wichtig. Allem Wichtigen misstraute er aus tiefstem Herzen, und vor Geheimnissen hatte er einen Riesenrespekt. Er zog es vorsichtig unter dem Teller vor und klappte die Lasche heraus. Das Ding war nicht zugeklebt. Seine Finger griffen nach einer dünnen Karte.

Ein schwarzer Rand ließ ihn an einen Todesfall denken.

Du willst nicht, dass dir etwas passiert?

Viktor riss erstaunt die Augen auf, jetzt war er wach. Der Inhalt las sich nicht ganz so endgültig, aber drohend. Das war keine unschuldige Frage. Er verzog den Mund.

Dann heißt es für dich, zu tun, was ich sage. Es wird lustig, aber es ist kein Spaß. Morgen mehr …

Und komm’ nicht auf die gefährliche Idee, etwas über mich herausfinden zu wollen.

Viktor sprang auf, ihm war heiß geworden. Vielleicht saß der Erpresser irgendwo im Raum. Freude bereitete es doch nur, wenn der Schreiber sah, wie seine Nachricht aufgenommen wurde. Viktor ließ den Blick umherwandern, um zu verfolgen, wer ihn gerade im Visier hatte. Gefährlich, nannte der Schreiber den Versuch, ihn entdecken zu wollen. »Bockmist«, schimpfte Viktor.

Da, Egon Beusel, der Requisiteur, der in Türnähe saß, hatte sich zu ihm herumgedreht. Sein Lächeln schien seltsam, irgendwie vielsagend. Viktor griff sich das Kuvert, drängte sich zwischen den Sitzreihen durch, stellte sich entschlossen vor Egon auf und winkte damit vor dessen Nase herum: »Du meinst, man kann mir so dämlich drohen?«, schoss Viktor seine Frage nicht gerade leise ab. Er erregte Aufmerksamkeit, dabei war er nur wütend. Einige Leute wandten sich ihnen interessiert zu.

»Ach Hiero, was soll das jetzt? Haben wir schlecht geschlafen?«, fragte Egon unaufgeregt.

Wir, keine Ahnung, Viktor hatte nur blöd geträumt.

»Erst Tag 1, und schon jetzt bist du so ungenießbar«, ließ Egon den Satz in der Luft schweben. Viktor konnte sich sein wahrscheinliches Ende denken, und das war kein Gutes. »Was grinst du so katzenmäulig?«, fuhr Viktor ihn an. Egons Lächeln war schuld, dass er ihn überhaupt verdächtigte, der Verfasser der ominösen Trauerkarte zu sein. Viktors Sensoren hatten Egon als Erstes erfasst.

»Katzenmäulig?«, echote Egon kopfschüttelnd. Er rollte jetzt mit den Augen. Geh doch jemand anderem auf den Wecker,sagte sein Blick.Vielleicht war der Säbelrassler mit der warnenden Ankündigung ja nicht Egon Beusel. Aber irgendwer muste es sein. Viktor war sicher, den Verfasser unter den Kollegen zu finden.

Bloß, wer hatte etwas davon, und was wurde von ihm verlangt? Morgen mehr … Viktor wollte nicht auf morgen warten und sich derweil fragen, woraufer da überhaupt wartete. Er hatte gerade laut geschimpft, Egon schob ihm einen freien Stuhl hin, bot ihm an, sich zu setzen. »Wer hat wovon was?«, fragte er. »Oder missfällt dir bloß das Drehbuch der neuen Folge? Du kriegst diesmal eine ganz feine Waffe in die Hand.« Dazu lächelte der Requisiteur. Er machte sich lustig über Viktor.

»Und nicht nur das«, wusste Viktor und drehte den Stuhl wieder zurück. Angebot abgelehnt. Aber Egon zuckte bloß die Schultern. »Die Geschichte ist nicht in deinem Sinn, wie sich jeder denken kann.«

Beschönigend umschrieben. Wer nannte eine Handsteinschleuder ernsthaft »eine ganz feine Waffe«? Die Idee war so was von abartig. Viktor hätte zu gerne etwas geändert, aber das war im Augenblick das kleinere Problem.

»Mir musst du deswegen aber nicht auf den Pelz rücken, ich hab mir den Plot nicht ausgedacht«, rief ihm Egon in Erinnerung.

Als ob er das nicht wusste. Das war Günter Dexter, und er und Viktor redeten normalerweise miteinander. Dieses Mal hatten sie es nicht getan. »Du hattest natürlich meine neue Waffe im Sortiment und freust dich mit mir«, konnte Viktor sich nicht verkneifen. Genauso sah Egon aus, der ihm schon gestern Abend dieses Unikum mit den besten Empfehlungen der Requisite aufs Zimmer schicken ließ. Doch der Kartenschreiber war er wohl nicht, er beachtete das Kuvert, das ihm Viktor hinhielt, überhaupt nicht.

»Ich ducke mich jedenfalls weg, wenn du mit dem Ding loslegst«, lachte Egon. »Ist ja auch bloß für das grandiose Filmfinale. Das wirst du schon schaffen!« Überzeugt. Wenn der Ton nicht so scheinheilig gewesen wäre. Prima. Den Täter mit seiner eigenen Waffe schlagen. Viktors Gesicht sprach Bände, vielleicht gruben sich gerade Marionettenfalten von den Mundwinkeln nach unten.

»Na ja, wenn es damit gar nicht klappt, bekommst du vielleicht deine alte Knarre zurück. Ein Filmskript ist nicht in Stein gemeißelt. Man weiß ja nie, was sich da noch tut.«

Viktor kniff die Augen zusammen. Wie war das gemeint? Egon wollte vielleicht vorhersehend klingen, aber Viktor hatte für Prophezeiungen gerade keinen Nerv.

In seiner Hosentasche klingelte es. Er angelte nach dem Telefon. Mit der anderen Hand schob er das Kuvert am Rücken unter den Gürtel der Jeans, dann feuerte er eine imaginäre Pistole auf Egon ab und marschierte zurück an den Platz für den groß geschriebenen Hauptdarsteller.

»Der macht einen Wirbel!«, hörte er Egon hinter sich schnaufen.

»Hiero Hart«, meldete sich Viktor, ohne auf dem Display zu überprüfen, wer ihn da anrief.

»Junge, lass den Unsinn – das ist bloß deine Rolle in der Krimiserie.«

»Papa.«

»Wer sonst?«

Ja. Wer stutzte ihn zurecht, ohne Rücksicht auf seine Prominenz, wenn nicht Peter Lässig. Gerade wollte Viktor seinem Vater nicht damit kommen, wie hart er für das dahingesagte »bloß« arbeitete. Denn dann würde der ihm erklären, wie viel er jeden Monat für die Schauspielschule abgedrückt hatte und dass das in seinem Job wirklich kein Honigschlecken war. Die Diskussion würde sich, wie so oft, glühend heißlaufen.

»Warum rufst du an?«, fragte Viktor. Um kurz nach halb neun in der Früh. Wo Viktor wusste, dass sein Vater wusste, dass man da besser noch nicht mit ihm rechnen sollte.

»In meiner Post war ein Brief mit einer Karte – die hat einen schwarzen Rand.«

»Wer ist gestorben?« Musste Viktor das überhaupt fragen?

Er zog sein Kuvert unter dem Gürtel hervor und legte es wieder unter den Teller an seinem Platz. Wenn es Zufälle gab, dann keine solchen.

»Du – deine Rolle. Hieronymus Hart«, sagte sein Vater. Dessen Ton ließ ahnen, was er davon hielt. »Deine Kollegen sind nicht witzig. Hast du’s dir mit denen verscherzt?«, wurde in der Wunde herumgestochert.

»Na ja, einen Beliebtheitspreis bekomme ich nicht. Wahrscheinlich purer Neid.« Oder etwas ganz anderes. Viktor glaubte nicht an einen Scherz. Morgen mehr …

»Was steht auf der Karte?«, fragte er.

»Wir nehmen Abschied von Hieronymus Hart.« Peter trug es vor, als wäre tatsächlich jemand über den Jordan gegangen.

»Hm«, machte Viktor. »Nichts sonst, keine Einladung zur Trauerfeier?«, hakte er nach. Es wäre ein echtes Drama, wenn eine beliebte Filmfigur sterben würde, aber Hiero starb im neuen Skript nicht. Die Produktionsgesellschaft wäre entsetzt und die Fans erst recht. Das war eine rhetorische Frage gewesen. Viktor wollte bloß in Erfahrung bringen, wie ernst es demjenigen war und was auf dieser netten Karte stand.

»Da hast du’s, niemand lädt ein, keiner will sich verabschieden. Wahrscheinlich lässt sich auf der Trauerfeier auch kein Mensch blicken.« Sein Vater murrte.

Da hatte er’s. Viktor verzog das Gesicht und bearbeitete seine Nasenwurzel. Nah am Kopfschmerz. Sein Vater redete weiter. »Vielleicht zeigst du deinen Kollegen nichts, was sich zu mögen lohnt. Und vielleicht änderst du das. Wäre an der Zeit, meinst du nicht?«

Ein Vielleicht hier, noch ein Vielleicht da. Das hatte Viktor dringend gebraucht, wo er selber so einen mysteriösen Wisch bekommen hatte. »Papa, jetzt mach mal halblang, es ist niemand gestorben, und Hieronymus Hart muss seinen Fall lösen. Alles wie immer, würde Augustin Nagel sagen.«

»Schön für den Regisseur. Es ist niemand tot, willst du damit sagen und stopfst diese Karte einfach zu dem anderen Drohzeugs.«

»Du stopfst, ich bin ja grade nicht da«, bat ihn Viktor.

»Und ich soll die Polizei nicht verständigen und den Mund halten.« Peter lachte humorlos auf. »Was ist das Gegenteil von einem Fan?«, schloss er die Frage an.

»Kein Fan«, sagte Viktor.

Noch ein Auflachen.

Wem wollte er etwas vormachen? Kein Scherz hieß Ernst.

»Ich kümmere mich darum«, versprach er seinem Vater. Er hatte keine Ahnung, wie er das anstellen wollte. »Du sagst zu niemandem ein Wort«, bestätigte er. »Jetzt frühstücke ich erst mal, wir reden später weiter …« Oder überhaupt nicht.

»Du solltest dir wirklich ein paar Gedanken machen, wegen der Todesnachricht«, ließ Peter nicht locker.

»Vielleicht«, betonte Viktor. »Bis dann, Papa.« Er klickte seinen Vater weg. Er konnte davon ausgehen, Peter würde wieder anrufen.

In Viktors Kehle saß schon seit Sekunden ein Lachen, er ließ es heraus. Befreiend wirkte es nicht im Mindesten, denn er dachte an Filmversicherungen, die zahlen mussten, wenn dem Hauptdarsteller etwas zustieß. Todesnachricht. »Pfff«, schnaubte Viktor, schnappte sich die Kaffeekanne, schraubte den Verschluss auf und schenkte sich ein. Unter dem Dampf wurde es schwarz. Er schluckte, griff sich das Milchkännchen und den Zuckerstreuer. Heute war alles entweder weiß oder absolut schwarz.

2. Kapitel

Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen, man weiß nie, was man bekommt.

Henny machte sich einen Kaffee, den sie mit hinüber in das kleine Büro zu ihrem Schreibtisch nahm. Sie stellte ihre Tasse auf den winzig freien Platz zwischen ihrem aktuellen Recherchematerial über Viktor Lässig alias Hiero Hart, dem Bildschirm und der Tastatur.

Henny wusste, ihre Oma hätte es gar nicht gern gesehen, dass sie sich ausgerechnet hier mit ihrer Arbeit einrichten würde. Als der »gelbe Salon« war dieses Zimmer in die Geschichte eingegangen – in die Familiengeschichte.

Oma Linde fand, genauso müsse der Erker mit den drei großen Fensterelementen heißen, der luftig und heiter wirkte. Die Wände waren cremefarben, gelb nur die Kissen auf der grau-weißen Eckbank mit Schubladen, die perfekt und platzsparend eingepasst worden war. Der schönste Raum im ganzen Haus, hatte sie gesagt.

Aber der schönste Raum im ganzen Haus war immer schon Hennys Jugendzimmer im ersten Stock gewesen, von dem aus man über den Ammersee hinüber zum Waxenstein und bis zur fernen Zugspitze sah.

Das Einfamilienhaus mit dem kleinen Garten in der Seefelder Straße war Hennys Erbe. Obwohl die es viel lieber gesehen hätte, wenn ihre Oma Linde, die quirlige kleine Frau, wieder durch eine dieser Türen käme. Dass das Leben der Menschen endlich war, verstand man erst, wenn man begriff, die geliebte Person würde nie wieder durch eine der Türen kommen. Vermissen würde man sie immer.

Der Drucker gab ein Geräusch von sich, das sich wie ein verhaltenes Stöhnen anhörte. Henny hatte gestern offenbar vergessen, ihn auszuschalten. Aufmunternd klopfte sie auf sein Plastikdeck, als würde das helfen, drehte den Ledersessel herum und setzte sich. Der Mann, über den sie gerade mehr in Erfahrung zu bringen versuchte, hätte ihrer Oma wahrscheinlich ein Lächeln entlockt. Henny entlockte Hiero Hart keines.

Sie startete den Computer, schnell löste sich das Blau des Bildschirms auf und ihre Website erschien:

Detektivbüro Henny Ferber

Sie wollen etwas wissen, wir finden es für Sie heraus.

Ihr Leitsatz.

Wir war geschummelt, doch umständehalber war es ganz nützlich, das zu behaupten, weil sie kein Y-Chromosom in ihrer DNA vorweisen konnte. Einer Frau, noch dazu einer, die meist allein arbeitete, traute man den Job nicht so ohne Weiteres zu.

Diesmal stimmte es mit dem Wir. Eine namhafte Berliner Detektei hatte Henny in einer Mail um Unterstützung gebeten. So ausführlich hatte man ihr selten zu erklären versucht, worum es ging. Es handle sich um eine Person von öffentlichem Interesse, die sich zu Dreharbeiten im Hotel »Wassermann« in der Summerstraße in Herrsching am Ammersee einquartieren würde und über die man ein paar Dinge wissen müsse: Viktor Lässig, der in der bekannten Krimiserie den Hieronymus Hart verkörperte. Der Hauptdarsteller führte offenbar ein geheimes Doppelleben, weshalb seine Schauspielagentur die Detektei Prentz damit beauftragt hatte, in Erfahrung zu bringen, ob das Gerücht stimmte und ihnen daraus ein Schaden entstehen könnte. Die Überlegung war, ob Agentur und Management den Schauspieler weiter vertreten sollten? Denn wenn sein Geheimnis publik würde, wäre der Zug, fadenscheinige Erklärungen abzugeben, abgefahren.

Das erschien Henny ein handfester Grund. Eine Mail-Nachricht mit einem solchen Hinweis würde sie normalerweise vorsichtig behandeln, doch jemand aus dem Büro in Berlin hatte sie außerdem angerufen. Natürlich bräuchten sie über Hennys Tagessatz nicht verhandeln. Weil die Angelegenheit diffizil sei, wurde um Verschwiegenheit und Feingefühl gebeten. Elf Tage, seitdem sie zugestimmt hatte. Neun Tage, seit sie das Kuvert mit dem Vorschuss von 200 Euro aufgemacht hatte. Im Fall einer Nachricht solle sie nicht zögern anzurufen oder eine Mitteilung zu schicken. Einer der Mitarbeiter hätte immer ein offenes Ohr. Auch ein guter Slogan, fand Henny.

Geheimnisse und Rätsel ließen einen aufhören und machten neugierig, auch sie. Henny verrechnete 53 Euro pro Stunde.

Erreicht hatte die Detektei mit dem Barvorschuss jedenfalls eines: Henny fühlte sich verpflichtet, etwas herausfinden zu müssen. Gleichzeitig stellte sie sich die Frage, ob die Herrschaften tatsächlich mit irgendwelchen abenteuerlichen Ergebnissen rechneten.

Dem angeblichen Doppelleben von Viktor Lässig alias Hiero Hart war sie bislang kein Puzzlestückchen näher gekommen. Die Dreharbeiten des »Bullen vom Ammersee« liefen gerade erst an. Sie war nicht untätig gewesen, aber dafür hatte sie sich keine Lorbeeren verdient.

Es war nur eine Handvoll kleiner Hinweise, die sie zusammengetragen hatte, sie war der einzigen Spur gefolgt, der man ganz wunderbar nachgehen konnte: einem Stückchen Vergangenheit des Viktor Lässig.

In der Biografie auf der Website des »Bullen vom Ammersee« fand sich wenig Persönliches. Was dort stand, war dazu gedacht, den 34-Jährigen zu präsentieren und gut aussehen zu lassen, ihn interessant zu machen. Erwähnenswert war es demzufolge, dass Hiero Hart seiner Filmwaffe einen Frauennamen gab. Henny hatte das nur ein müdes Gähnen entlockt. Das Ding war ein Requisit, und er nannte seine Pistole die »hitzige Greta«. Hitzig. Witzig. Normal kam für eine Promibiografie nicht infrage, da musste es schon etwas Individuelles sein.

Was Henny, die Detektivin, tatsächlich herausgefunden hatte, dafür war nur eine Fahrt in die Landeshauptstadt nötig gewesen. Man könnte es auch persönliche Gespräche mit den Nachbarn der Lässigs im Armeleuteviertel am Hasenbergl in München-Feldmoching nennen.

Oma Linde hätte nicht geschmunzelt, wie Henny an ihre Informationen gelangt war. Aber wenn in einem Haus etwas passiert war, befragten Polizisten doch auch immer zuerst die Nachbarn.

»Die nette Rechtfertigung erfindest du bloß für dich!« Und Henny hatte tatsächlich jedes Mal das ungute Gefühl, sich für irgendetwas entschuldigen zu müssen.

Feldmoching ist nicht Hasenbergl. Auch keine Entschuldigung, nur die Sichtweise der Bewohner des Viertels, die sich nichts schlechtreden lassen würden.

Hennys Befragung hatte nicht wie eine solche ausgesehen, sie hatte den Briefkopf von einem bekannten bayerischen Fernsehsender auf ihrem Notizblock mit sich herumgetragen; die Sachen konnte man sich ausdrucken. Dass die Leute da draufschauten und das Logo erkannten – dafür war Henny nicht verantwortlich. Alles, was sie sagte, war, dass sie einige Recherchen anstellte. Und das tat sie. Danach musste sie kaum mehr was sagen.

»Die Mama vom Viktor, die starb ja, als der noch so klein war«, deutete Frau Fries die Größe des Kleinen an. Tischhöhe, hätte Henny geschätzt. Sie hatte genickt.

»Da war der Unfall auf dem Filmgelände, etwas ist explodiert. Bettina, Viktors Mama, war sofort tot.«

»War sie Schauspielerin?«, hatte Henny gefragt, einen vertrauensvollen Tonfall anschlagend.

»Wäre sie gern gewesen. Aber nein, Bettina verkaufte da ihre gebrannten Honigmandeln.« Frau Fries rieb sich über die Augen, aus ihrer Erinnerung war gerade der kleine Viktor getaucht. »Mann und Kind allein, das ging nicht, darum zog kurz darauf Peter Lässigs Schwester bei ihnen ein. Die Frau hatte Haare auf den Zähnen und Viktor von dem Tag an nichts mehr zu lachen.«

Der Augenblick, in dem Hiero Hart Henny ein wenig leidgetan hatte.

»Ich glaub, der Viktor schämt sich für seinen Vater.« Frau Fries lachte auf. »Der König der Unterwelt.«

Der Vater eines Filmhelden ein Verbrecher? Henny hatte geglaubt, dass es jetzt langsam interessant werden würde. Aber dann zerschlug die mitteilsame Frau Fries Hennys Optimismus. »Sie haben’s doch auch nicht gewusst, oder? Dass Peter Lässig seit einer halben Ewigkeit Münchens Abwasserkanäle überprüft.«

So etwas wusste man nicht, hätte Henny ihr sagen können, so etwas erfuhr man von redseligen Nachbarn.

»Den Scheißjob muss jemand erledigen, dafür braucht man sich nicht schief anschauen lassen«, war Frau Fries überzeugt.

Es war der Zeitpunkt, an dem Henny dem »Bullen vom Ammersee« für sein Schämen wünschte, dass eines Tages seine Toilette verstopfte.

Die Frage zum Schluss, für wen Henny noch gleich arbeitete, überhörte sie, auch die Frage des Nachbarn auf der anderen Straßenseite, ob da nicht ein Honorar fällig sein müsste, wo er ihr doch alles erzählt hatte.

»Lässig mag sich nicht gern an seine Kindheit am Hasenbergl erinnern, seinen Vater besucht er nur selten. Überhaupt, Freunde hatte der schon damals keine richtigen. Kam öfter mit einer blutigen Nase heim und aufgeschürften Knien. – Diese Serie mit dem ›Bullen vom Ammersee‹, die ist der letzte Heuler, die schau’ ich gar nicht.« Ein mahnend aufgerichteter Zeigefinger.

Doch, tust du, hätte Henny getippt. Er wirkte wie ein Typ, der mitreden wollte. Sie war sicher, der Unsympath saß bei jeder Folge begierig vor dem Fernseher und verfolgte geifernd die Spur des ehemaligen Nachbarsjungen.

Aufgestöbert hatte sie nichts Großes und nichts, woraus man ein Doppelleben hätte ableiten können. Trotzdem … »Liebe Oma Linde, der Typ ist reichlich sonderbar.« Sie war kein Fan von Hiero Hart. Ein Turnschuhtyp. Die Lederjacke mit dem aufgestellten Kragen machte das Gesamtbild nicht stimmiger. Henny hatte sich ihre Meinung gebildet, obwohl sie den Mann nicht kannte. »Nicht in Ordnung«, schüttelte sie den Kopf.

Sie hatte sich sogar um eine Komparsenrolle in der neuen Folge beworben. Bislang keine Antwort – keine Rolle – keine gute Möglichkeit, Hiero Hart ein wenig näher zu kommen und dem Mann auf den Zahn zu fühlen. Allmählich brauchte sie wirklich Resultate. »Wo ich mich sowieso grade verbiege«, murrte sie. Eine Belohnung gab es nur fürs Durchhalten, hatte sie mal jemanden sagen hören. Keine der Weisheiten von Oma Linde.

Die Detektivin wird das tun, was sie gut kann: herumschnüffeln. Diesmal hatte sie wenig Zeit, darum konnte sie ihr Vorhaben nicht Aug’ in Auge erledigen. Sie rief die Auskunft an und ließ sich eine Nummer geben.

Es wäre leichter, weil sie den Mann nicht sah und er sie auch nicht. »Lässig«, meldete er sich.

»Herr Lässig, H. Ferber hier, es geht um Hiero Hart, die Rolle Ihres Sohnes im ›Ammersee-Krimi‹.«

Sie klang offiziell. Wenn sie Glück hatte, würde er daran anknüpfen.

»Sind Sie noch ganz dicht anzurufen, wo Sie uns vorher ganz feige eine Todesnachricht geschickt haben?«, schrie er ins Telefon, sodass Henny zusammenzuckte. Todesnachricht? »Ich bin eine Kollegin«, brachte Henny mühsam hervor. Fast jedenfalls, hoffte sie.

»Dann machen Sie sich also Sorgen. Sagen Sie ihm das, mir will er ja nicht glauben.«

»Was ist passiert?«, fragte sie und wusste noch in dem Moment, die Frage war dumm.

»Hoffentlich passiert gar nichts. Viktor geht damit immer viel zu locker um. Ich habe ja die Kollegen im Verdacht, aber Sie hören sich eine Spur anständiger an. Was sagten Sie, worum es geht?«

»Es ist gerade nicht so wichtig, ich treffe Viktor später ja noch, da kann ich es ihm selbst sagen.« Henny verabschiedete sich, kam sich kaltherzig vor, dem Mann einen Schrecken eingejagt zu haben.

H. Ferber hatte zwei Dinge erfahren, und beide waren beunruhigend. Manches Mal konnte einem das Ergebnis einer Recherche nicht gefallen. Jemand bedrohte den »Bullen vom Ammersee«.

Hiero Hart, wen hast du gegen dich aufgebracht? Eine Todesdrohung erklärte noch kein Doppelleben, machte es vielleicht eine Spur wahrscheinlicher. Damit bräuchte sie der Berliner Detektivagentur nicht kommen. Sicher bekamen nicht wenige Schauspieler solche und andere Post.

Es war Zeit, sich erst einmal um die übrigen Dinge zu kümmern. Henny öffnete ihr E-Mail-Programm. Die Nachrichten kündigten sich mit dem Geräusch von lauter werdendem Herzklopfen an, dann fiel ein Schuss, und der Absender der elektronischen Post wurde sichtbar. Obwohl sie es wusste, erschrak Henny jedes Mal wieder bis ins Mark. Am Anfang hatte sie es toll gefunden. Schon länger nicht mehr, sie musste den Ton ausschalten.

Gerade erschien eine Mail mit einem blauen Schriftzug auf weißem Grund und einer Kamera. Die Film-Agentur »Roll it!« teilte ihr mit, sie würde als Komparsin in der neuen Folge der Krimiserie »Hieronymus Hart – Der Bulle vom Ammersee« mit einer kleinen Sprechrolle dabei sein. Sie reckte die Faust in die Luft. Damit hatte sie schon gar nicht mehr gerechnet, umso mehr freute sich Henny, dass es geklappt hatte.

Als Nächstes las sie, worum es ging, und ihr Grinsen bekam Risse. Henny würde die Kollegin einer ermordeten Lehrerin spielen und einen Satz in einer Einstellung am Friedhof sprechen. Eine Beerdigungsszene.

Klicken Sie bitte den nachfolgenden Link an, um die Teilnahme zu verifizieren.

Henny sah vor ihrem inneren Auge Blumengebinde und Kränze mit Schleifen, die den Trauernden schriftlich bestätigten, wir haben einen letzten Gruß geschickt. Sie hörte die kleinen Erdklumpen mit einem gruseligen Plong auf dem Sarg in der Grube auftreffen.

Ausgerechnet eine Beerdigung. Henny klickte den Link an und bekam eine kurze Rückmeldung. Es wird gebeten …

»Was?« Henny las das Datum, schaute auf den Kalender und dann auf ihr Handy. Das Filmteam traf sich heute um elf Uhr zur Besprechung des Drehplans im Hotel »Wassermann«.

»Was glaubt ihr, wer ihr seid?« Hennys Augen blitzten, und sie hatte schon einen pikanten Fluch auf der Zunge.

Es folgte ein kurzer Abriss der Handlung. Hennys kleine Rolle: Zusammen mit den Freunden, der Kollegenschaft und einigen Schülern steht sie am Sarg von Melanie Rendl, Deutschlehrerin an der Realschule in Herrsching. Ihr fällt das Verhalten eines 17-Jährigen auf, der sich über Gebühr betroffen zeigt.

Die Vorgeschichte: Melanie Rendl wurde entführt, drei Tage lang festgehalten. Sie konnte entkommen und brach am Seeuferweg zur alten Rieder Straße tot zusammen.

Henny hasste das »sich Verabschieden«. Sogar in Filmen kullerten noch jedes Mal Tränen. Obwohl sie sich darüber freute, dass man sie ausgewählt hatte – eine Beerdigungsszene hätte es nicht unbedingt sein müssen. Heulen durfte sie da schon gar nicht. Diese Tote war nur eine Kollegin, sie hatten sich nicht nahegestanden. Wenn sie die Rolle wollte, musste sie nach der Pfeife der Agentur tanzen. Die Töne, die hier gespielt wurden, behagten ihr nicht sonderlich, aber sie war vor Ort, mit dem Auto vielleicht fünf Minuten vom Hotel »Wassermann« entfernt, und sie hatte noch gut zwei Stunden, sich aufzuhübschen und etwas Passendes zum Anziehen herauszusuchen.

»Was hab ich mir da bloß eingebrockt?« Ihre Bewerbung bei der Filmagentur war eine Blitzidee gewesen. Einige frische Hiero-Hart-Infos nebst 200 Vorschuss-Euros verlangten hinreichenden Eifer und ein paar wertvolle Impulse.

Die positive Nachricht von »Roll It!« erwischte sie jetzt trotzdem eiskalt.

3. Kapitel

Es gibt Augenblicke, da ist es das Beste, positiv zu denken.

Warum sollte ihm etwas passieren? Warum sollte Hiero Hart etwas passieren? Es machte ja letztlich keinen Unterschied.

»Hieronymus Hart – Der Bulle vom Ammersee« war ein Kriminalkommissar, der sich mit tödlichen Rätseln beschäftigte, der Lösung permanent auf der Spur.

Viktor hing wirklich an dieser Rolle, weil er sich mit der Figur wunderbar identifizierten konnte, weil sie nicht 08/15 gestrickt war, vor allem, weil sie nicht vor persönlichen Problemen strotzte, die allein schon den Darsteller an den Rand des Wahnsinns trieben. Dieser Bulle stellte nie offensichtliche Fragen, er kam durch die Hintertür. Hiero Hart ging planvoll vor, grub sich in den Fall hinein und knackte ihn auf. Mit Hirn und Herz, mit einiger List und seiner Pistole, die er im Schulterholster trug. Diesmal trug er … nicht einmal ein Schulterholster.

In der neuesten Folge kam der Kriminalkommissar schnell auf ein mögliches Wie, aber niemand außer Hiero Hart hielt die Ausführung der Tat in der Weise überhaupt für machbar.

Günter Dexter, der Drehbuchautor, hatte das hoffentlich gut recherchiert. Denn Viktor Lässig hegte da eine gewisse Skepsis, dass mit einer Handsteinschleuder ein tödliches Geschoss abgefeuert werden konnte.

Die neue Folge für den Kriminalkommissar hieß: »Hab mich in dich verschossen.« Verschossen bezog sich aufs Verliebtsein gleichermaßen wie auf das Geschoss der tollen Steinschleuder. Viktor war das Grinsen beim Lesen seiner Rolle vergangen. Er hatte geblinzelt, sich am Waschbecken kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt, aber da hatte es immer noch genauso gestanden. Er sah nicht plötzlich schlecht, es lag an der Geschichte. Der Sender war vom Drehbuch begeistert, hieß es, der Regisseur hingerissen, die Produktionsleitung sehr angetan, und Viktor argwöhnte, die hatten sich alle zusammengetan. Aufbäumen war sinnlos, und obwohl er zu den Zweiflern gehörte, wurde verlangt, dass er gute Miene zu einem wirklich bösen Spiel machte, wie Viktor es empfand.

Günter, mit dem er sonst wirklich gut konnte, hatte ihn komplett übergangen – das war neu. Auch der Regisseur Augustin Nagel fiel seinem Hauptdarsteller in den Rücken; Außergewöhnliches sei gefragt, und eine spritzige Geschichte brauche nicht unbedingt eine altbackene Waffe. Über das altbacken hatte Viktor richtig gelacht. Seine Pistole war einfach weggestrichen worden. Ohne sie war er nicht mehr Hiero Hart, wie die Fernsehzuschauer ihn kannten und wie Viktor sich gut fand. Sicher, er könnte sich rundheraus weigern, er stand für die Hauptrolle und war nicht zu ersetzen. Hiero. Es klang nach einem Helden, es klang strahlend. Die Fans riefen es ihm zu, und die Kollegen waren dazu übergegangen, ihn so zu nennen.

Eigentlich müsste er Augustin über die Drohkarten informieren, doch Viktor bezweifelte, dass der Regisseur das hören wollte. Der kehrte jede kleinste Unannehmlichkeit unter den Teppich, wenn er konnte.

Der Schreiber lachte sicher schon darüber, und wenn ihn jemand beobachtete, konnte derjenige Viktors inneren Kampf gerade mit anschauen. Seine Linke hatte die Serviette zu einem Ball zusammengeknüllt.

Morgen mehr … Der Hinweis in einem Halbsatz hatte sich ihm eingeprägt. Was würde Hiero Hart unternehmen, um einen anonymen Briefeschreiber ausfindig zu machen?

Erst einmal würde der Kriminalkommissar versuchen, Fingerabdrücke zu nehmen. Viktor tippte auf eine Ecke des Kuverts. »Du und ich?«, fragte er. Dann wären nur zwei verschiedene Spuren da drauf. Er hätte seinen Vater fragen sollen, ob man dem Sohn in Großbuchstaben drohte.

Schreckschüsse waren schon einige auf Viktor abgefeuert worden, darunter Briefe mit aufgeklebten Buchstaben aus Illustrierten, die er feige, aber belanglos fand. Er hatte seinen Vater gebeten, die in eine Tüte zu stopfen und wegzusperren. Normalerweise wurde dazu geraten, Morddrohungen der Polizei zu melden. Konkret mit Mord drohte hier niemand, es gab auch keine weiteren Andeutungen. Viktor hasste Andeutungen. Diesen Giftbrief empfand er als Provokation, weil der Schreiber persönlich wurde.

Und komm’ nicht auf die gefährliche Idee, etwas über mich herausfinden zu wollen.

Doch.

Seine Fantasie beschäftigte sich gerade noch mit dem möglichen bevorstehenden Übel, als eine frische Brise zu ihm he­­rüberwehte und eine Stimme gut gelaunt verkündete: »Jetzt bin ich wunderbar wach. Ein frühes Bad im See weckt die Lebensgeister.« Gabi Deutmann.

Es regnete und es war ein sehr später Sommertag, das Wasser des Sees war bestimmt kälter als nur ein bisschen kühl.

»Das ist nichts für Weicheier, dachte ich grade«, kleidete Viktor seinen Gedanken ein.

»Uncharmant wie immer«, sprudelte Gabi, die Maskenbildnerin und seine Tischnachbarin, hervor. Nur ihr Lachen teilte ihm mir, wie wenig sie seine Meinung kümmerte. »Ich dachte, du wolltest an deinem Ich arbeiten?«, fragte sie.

»Sagt wer?«, fragte er zurück. Ihr hatte er es bestimmt nicht erzählt. Hatte sie ins Blaue getippt oder kannte sie seinen Therapeuten?

»Ach, Hiero, wo Kissenfalten im Gesicht so unsexy sind«, zwinkerte sie und nahm seines gerade genauer in Augenschein. »Lass mich nachher noch mal gucken.«

Viktor kniff sich in die Wange. Wie konnte sie unter den ul­trakurzen Stoppeln, die noch in der Entwicklung waren, überhaupt etwas erkennen?

»Aber ansonsten finde ich dich richtig schnuckelig. Ein Sahnelächeln wie George Clooney, eine Stimme wie der Typ, der Tom Hanks synchronisiert, auf dem Kopf siehst du ein bisschen wie Matthias Schweighöfer aus, und dein Body« – ein Zögern – »à la Til Schweiger, dazu ein Heck wie Bernd.«

Umpf. Gefiel ihm alles irgendwie nicht. Vergleiche waren der Beginn der Unzufriedenheit. »Wer ist Bernd?«, fragte er.

»Mein Exmann«, sagte sie.

»Ich habe einen A… Hintern wie dein Exmann, willst du andeuten?«, schnappte er und streckte ihr gleich eine Hand entgegen. Stopp. Eine Antwort brauchte Viktor nicht wirklich, doch Gabi fand die ebenfalls unnötig.

»Na, dann werd ich mal schauen, was mich anmacht.« Sie griff nach ihrem Teller, wedelte mit der Hand und schlängelte sich durch die Stühle zum Frühstücksbuffet.

Viktor hätte besser etwas mit den Kärtchen angestellt. Wenn er die Frau jeden Morgen würde aushalten müssen mit ihren komischen Äußerungen und eigenwilligen Metaphern, wäre er nicht zu beneiden. Bad im See, wo das Wasser von oben kam und obendrein die Sommerbadenden einen unansehnlichen Sonnenölteppich auf der Oberfläche des Gewässers zurückgelassen hatten.

Viktors Gedanken drehten sich noch um die sonderbaren Badegewohnheiten der Maskenbildnerin, da kam sie schon wieder zurück. »Ist das nicht nett, eine Rose zum Frühstück.« Gabi strich über die weißen Blätter. »Weiß ist ein Ausdruck von Bewunderung.« Sie stellte ein Schüsselchen vor sich hin, in dem etwas Dunkles in der Milch schwamm. Auf ihrem Teller lagen eine Semmel, ein Butterstück und eine kleine Honigpackung. Sie glitt zufrieden aufseufzend auf ihren Stuhl. Viktor beugte sich hinüber und griff sich die Vase.

»Bewunderung, genau. Die stand nämlich an meinem Platz«, sagte er. Wasser schwappte heraus.

Über Gabis Hals kroch ein dezentes Rot. »Bevor ich was ganz Gemeines sage …« Sie biss sich auf die Zunge und wandte den Kopf, bohrte das Messer in ihre Semmel und schlitzte die Kruste seitlich auf. Langsam. Viktor wusste genau, dass er in ihren Gedanken gerade den Platz der Semmel einnahm. Er murmelte etwas, das keine Entschuldigung war. Aufgeschlossenheit fiel ihm entsetzlich schwer, Viktor war ein echt harter Knochen. Sein Therapeut hatte ihm zu mehr Menschenfreundlichkeit geraten. Er konnte das Wort nicht mal aussprechen, ohne sich übelst daran zu verschlucken. Lass dich dazu hinreißen, genau das zu tun, worüber du normalerweise nicht mal nachdenken würdest, lautete einer der ihm sauer aufstoßenden Therapeutenratschläge.

Viktor schob die Vase entschlossen zu Gabi zurück.

»Du bist echt speziell!«, sagte sie, um ihre Mundwinkel zuckte es. Verständnislosigkeit.

Kompliment hatte er keins erwartet.

Viktor rückte den Stuhl zurück und machte sich auf den Weg zum Buffet; da stand er und glotzte konsterniert auf das verbliebene Angebot. Keine Semmel mehr, nur noch Brot. Keine Eier mehr, auch die Wurst- und Käseplatten waren komplett geplündert, und sogar in den Glaskannen mit dem Saft dümpelten nur noch klägliche Reste. Joghurt und Müsli waren noch zu haben. Milch und Cornflakes auch. Danke, nein! Das Hotel war womöglich nicht auf solch gefräßige Gäste vorbereitet. Viktor griff nach einer Scheibe Brot und trug sie zum Tisch zurück.

»Vielleicht solltest du zuerst ans Buffet gehen und erst danach an den Tisch, Hiero«, empfahl ihm Gabi, die es ja offensichtlich nicht so üppig mochte. Noch ein Vielleicht. Für heute hatte er schon genug davon gehört. Er kommentierte es nicht, riss sein Brot in Stücke und schob es sich in den Mund. Wer zuletzt kommt, den bestraft …

Weiß der Geier. Viktor konnte kluge Sprüche nicht ausstehen.

Ihn wollte in jedem Fall jemand strafen, indem er ein paar unbestimmte Drohungen zu Papier brachte.

Viktor hatte vor herauszufinden, wer drohte. Er schaute zu Gabi, sein Blick fiel auf das Messer. Da drauf wären ihre Fingerabdrücke. Er könnte es in die Serviette packen und einstecken, sich dann den Rest organisieren, um den Abdruck zu bekommen. Gabi Deutmann. Viktor kannte sie, seit sie zusammen drehten, seit sie ihn frisierte und ihn mit Puder und Schminke nervte. Aber wäre die Frau so hintenrum?

Auch Egon, der Requisiteur, war gewohnt geradeheraus, Egon machte normalerweise nicht auf unheimlich bedeutungsvoll. Wenn du schon einen ersten Verdacht infrage stellst, überleg dir was anderes,nörgelte seine vernünftige Stimme.

Hiero Hart steckte nicht in der Bredouille, aber Viktor Lässig dafür umso mehr. Und weil er ein Meister darin war, alle vor den Kopf zu stoßen, war er mit niemandem wirklich befreundet, konnte sich also auch keinem anvertrauen. Am Ende wären die Kollegen noch schadenfroh.

Konnte das tatsächlich nur ein Witz sein, wie sein Vater meinte?

Was Viktor ganz sicher erfahren würde, falls er das: Dann heißt es für dich, tun, was ich sage, ignorierte. Morgen.

Er trank einen Schluck von seinem Kaffee. Bittersüß und lauwarm, wofür er selbst verantwortlich war.

»Hast du das Drehbuch gelesen?«, wollte er von Gabi wissen. Das war nicht der Beginn einer Unterhaltung, es war pures Interesse.

»Du willst doch nicht etwa mein Mitleid?«, fragte sie belustigt. »Hm, ich bin bloß für die Maske zuständig. Aber ich mag Hiero Harts Kriminalfälle. Wobei dieser neue Fall richtig ungewöhnlich ist, das steht außer Frage.« Sie tippte sich mit dem Finger zuerst auf die Lippen und zeigte dann auf ihn. Was auch immer sie damit andeuten wollte, Viktor verstand es nicht. Er stöhnte. Richtig ungewöhnlich. Du hast gefragt, sagte er sich.

»Der Kurzinhalt liest sich spannend. Du bist ohne deine Pistole unterwegs und darfst sogar ein bisschen knutschen.« Gabi drehte ihm den Rücken zu, überkreuzte die Arme vor der Brust und streichelte mit den Fingern über ihre Schultern, dass es aus seiner Perspektive den Eindruck einer Umarmung machte.

»Die Fans mögen Hiero Hart sicher auch ohne seine ›hitzige Greta‹. Übrigens ein echt dämlicher Name für eine was? 38er, 45er …«

»Eine alte Sig Sauer P6, eine Polizeiwaffe, die nicht mehr hergestellt wird«, sagte Viktor.

»Echt?« Gabi stutzte.

Echt. Richtig echt. »Wenigstens kein Plastikding, aber mit Platzpatronen geladen. Günter wollte, dass die Pistole einen Frauennamen kriegt. Das ist Teil der Biografie von Hiero Hart«, informierte er sie. Es war auch Teil seiner eigenen.

»Greta ist nicht sonderlich einfallsreich«, mäkelte Gabi.

»Du hast keine Ahnung«, sagte Viktor. Greta hatte er als Siebenjähriger seine Stoffpuppe genannt. Die war aus lauter Flicken genäht und ein echt scheußliches Ding, aber wenn es dunkel wurde und die fiesen Schrankmonster kamen, die sich tagsüber nie blicken ließen, war sie seine Rettung. Zusammen mit Greta hatte er die Monster alle in die Flucht geschlagen. Der Pistole den Namen zu geben, schien ihm keine schlechte Idee, es erinnerte ihn daran, dass die Welt kein Ort für Angsthasen war.

Viktor beendete die kurze Reminiszenz und kehrte in die Gegenwart zurück. Die Maskenbildnerin war die Kuschelposition leid geworden und hatte sich ein Glas Wasser geholt. Viktor verzog das Gesicht. Er wollte ja nicht drängeln, aber er brauchte ihr Messer, außerdem musste er sein Kuvert einstecken, und für Erklärungen sah er sich nicht gerüstet.

»Allein die Hauptfiguren …«, begann sie. Viktor lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Diesmal klang es, als wollte sie etwas Freundliches sagen. Dem folgte ein: »Ich weiß gar nicht, wen ich am liebsten mag.«

Schwärmte sie? Hiero Hart bekäme den Titel wohl nicht zugesprochen, der war nur eine gefällige Mischung aus Clooney, Hanks, Schweighöfer, Schweiger und ihrem Exmann.

»Unsere Totenwäscherin kümmert sich um die Leichen, nachdem die Rechtsmedizin sich darüber hergemacht hat.– Ich las davon, es gab mal diese Totenfrauen, die Verstorbene wuschen und für die Beerdigung herrichteten. Glaubst du, diesen Job gibt’s noch?«

Nein, glaubte er nicht. »Vor über 200 Jahren wahrscheinlich schon«, gab er zurück. Beim Bestatter passierte genau das Gleiche, weshalb die Dreharbeiten auch in einem der Räume im Institut stattfanden. In jeder Lebenslage ein Fleckchen, um etwas erledigt zu bekommen. Viktor fragte sich ernsthaft, wer diesen Vertrag ausgehandelt hatte, dass die Filmcrew in einem der Versorgungsräume des Bestatters drehen und dessen Equipment benutzen durfte.

»Das hat was: Franziska Schön, die Totenwäscherin, die manches Mal noch etwas zur Lösung des Falles beisteuert.« Fand er tatsächlich. Dazu war es eine eigenwillige Idee für einen Charakter. Günter Dexter, der Drehbuchautor, hatte sich die Geschichten und Protagonisten einfallen lassen. Jede Figur hatte eine Besonderheit verpasst bekommen, die ihren Charakter he­rausstellte, sie einzigartig machte.

Für Hiero Hart hatte Günter beschlossen, der Kriminalkommissar musste ein echter Typ sein und ein Hingucker, »weil Frauen so was wollen«. Genauso hatte er es der Produktionsgesellschaft verkauft, was Viktor nicht im Geringsten störte. Hoffentlich blieb diese abartige Idee mit der Handsteinschleuder ein einmaliger Ausrutscher. Dafür könnte ich dich umbringen!, wetterte Viktor in Gedanken.

»Bene Hotter, der ist ja fast unvergleichlich«, fand Gabi. »Wo Sherlock Holmes schon geniale Dinge aus wenigen Fakten he­rausgelesen hat, schafft es Bene, beinahe aus dem Nichts eine bestimmte Situation zu konstruieren.«

Genial. Genau. Hotter war der Spurenleser, dem normalerweise auffiel, was an den Tatorten fehlte, was da sein müsste, was er aber nicht entdecken konnte oder was zu viel war, und darum vielleicht eine falsche Spur.

»Ideen machen einen interessant, aber groß macht einen erst deren Umsetzung. Und umsetzen müssen sie die Schauspieler.« So lautete jedenfalls Viktors Überzeugung.

»Ich hab dir doch zugestimmt«, sagte Gabi fröhlich. »Wie war das? Es gibt für jede Figur eine eigene Filmbiografie. Bene Hotter ist bei einem Indianer in die Lehre gegangen, um Spuren lesen zu lernen.«

»So ähnlich«, sagte Viktor. Zum Glück machte er jetzt nicht schlapp, er hatte die erfundenen Biografien tatsächlich alle gelesen. »Die Filmfigur hat bei einem Indianer gelernt, Fährten zu lesen, Spuren zu verstehen und sie richtig zu interpretieren. Er hat natürlich eine Polizeiausbildung absolviert, der Schwerpunkt war Kriminaltechnik.«

»Echt?«

Hatte sie vorher schon gefragt. »In der Serie«, betonte Viktor. Die Frau brachte ihn noch ganz durcheinander. Spionierte Gabi vielleicht für Augustin, wie sein Hauptdarsteller sich machte? Wusste man’s?

»Indianer – das sind die Herrschaften mit dem Totem. Sie stehen mit ihrem Schutzgeist in geistiger Verbindung. – Echt«, erklärte ihr Viktor. Er hatte gelesen, in Bayern, am Ortsrand von Olching waren die Indianer zu Hause. – Jedenfalls ein Verein, dessen erklärtes Hauptanliegen es sei, Verständnis und Respekt für das Leben der amerikanischen Ureinwohner zu wecken.

»Was ist mit Juliane Garaus? Das hab ich noch nie kapiert. Wir haben in München eine Rechtsmedizin, eine Leiche würde man eigentlich dorthin schaffen. So weit entfernt ist der Ammersee nicht, dass man eine Außenstelle erfinden muss.« Gabi zuckte fragend eine Schulter.

So etwas wüsste Günter, diese Sache ging auch auf seine Kappe. Viktor hob ebenfalls eine Schulter. »Man hatte schon für den Pilotfilm eine Außenstelle erfunden. Weil wir unsere Leichen eben gern behalten.« Sicher nicht. Eher, weil zu dem Zeitpunkt nicht klar gewesen war, ob die Einschaltquoten einer Fortsetzung grünes Licht geben würden und das Publikum mehr vom »Bullen vom Ammersee« sehen wollte. Das Licht war absolut grün, die Einschaltquoten der ersten Folge übertrafen den bisherigen Rekord der erfolgreichsten Serie des Kanals.

»Bergmann Film« und die Schauspieler durften stolz sein auf ihren Erfolg, mit ihm kamen auch die Fans. Annäherung, Verbindungen, Nähe. Für Viktor fühlte es sich jedes Mal aufs Neue komisch an. Warum war jemand scharf auf ein Foto mit seiner Unterschrift, hatte er sich nicht nur einmal gefragt. Ein wenig spezieller war der Diebstahl gewesen: Zum Teufel, warum musste jemand seine Jeans klauen? Die waren getragen. Die Produktionsfirma lachte, denn nur einen Tag später wurde die Hose im Internet zum Verkauf angeboten. Blöd war nur, dass er sich plötzlich in einem Hotelzimmer nicht mehr sicher gefühlt hatte, aus dem jemand seine Jeans klammheimlich entwenden konnte.

Gabi hatte nach Juliane Garaus gefragt. Die Rechtsmedizinerin war eine Frau ohne besonderes persönliches Merkmal, weil an ihrer Stelle das Gebäude, besagte Außenstelle, in Herrsching etwas Besonderes war.

Im Film obduzierte die Garaus ihre Leichen in einem Bau in der Bahnhofstraße, in dem sich aktuell eine Metzgerei befand. Es gab und hatte zu keiner Zeit eine Außenstelle der Rechtsmedizin in Herrsching gegeben. Die fiktive Lebensgeschichte eines Gebäudes, dachte Viktor.

»Ich bewundere Günter für seine Recherche wegen des Drehbuchstoffs. An dem hängt sicher auch so manche Absprache. Denn bevor er die Geschichte schreibt, muss er sich doch vergewissern, dass die Ideen in Ordnung gehen«, sagte Gabi.

Bei wem? Viktor lachte. Beim Hauptdarsteller, nämlich bei ihm, hatte sich Günter dessen nicht versichert. »Weiter so will ich nicht sagen, am Ende tut er es noch, und Hiero bekommt im nächsten Drehbuch einen Degen«, grummelte er. Gabi fand: »Das wäre was.«

»Wie spät ist es?«, fragte er und rutschte seine Tasse auf die Seite. Die Maskenbildnerin beeindruckte es gar nicht. »Du hast eine Uhr.«

Aber er hatte die Zeit etwas aus den Augen verloren. Gute Frau, nett wäre, du würdest dich verabschieden und mir dein Messer dalassen.

»Am unscheinbarsten scheint mir der Hausarzt zu sein.« Gabi schien sich am Thema festgebissen zu haben oder an ihm? Sie hatte jetzt doch nicht vor, jede Figur mit ihm durchzugehen. Viktor wusste gerade nicht, worauf das hier hinauslief. Thomas Wächsing hieß der Hausarzt im Film, mit seinem G’spür für Mord, der auf der Todesbescheinigung immer »unnatürliche Todesursache festgestellt«ankreuzte.

»Ohne den Hausarzt hat Juliane Garaus keine Leiche, Hiero keinen Fall, der ehemalige Schüler des Indianers keine Spuren, und die Totenwäscherin kann auch nichts entdecken.« Es hing alles zusammen, wie im richtigen Leben, was Viktor auch zu Gabi sagte.

Unnatürlich hieß, Mord wäre möglich, und das bedeutete, der Bulle vom Ammersee ermittelte.

»Es sind Filmfiguren«, sagte Viktor.

»Der toughe Hiero Hart ist auch eine Filmfigur«, erinnerte ihn Gabi.

Allerdings war es Viktors erklärte Lieblingsfigur – die aktuell von einem Unbekannten bedroht wurde. Viktor hatte wieder die Stimme seines Vaters im Ohr, und dazu schien ihm freudig eine Ecke der fiesen geränderten Karte zuzugrinsen. Er schnippte mit dem Finger dagegen. Gabi hatte sie zum Glück nicht bemerkt.

»Etwas hat dich heute geärgert«, vermutete sie.

Ungehörte Gedanken, und von seinem Zusammenstoß mit dem Requisiteur hatte sie auch nichts mitbekommen. Viktor brauchte nichts zu sagen, das tat sie. »Zornfalten sind einigermaßen schwierig zuzukleistern, weißt du?« Ein Zwinkern. Was für eine Eröffnung! Und Pausbacken haben normalerweise bloß Engel. Da sehen sie süß aus. Bei dir gar nicht, dachte Viktor.

»Ist noch Kaffee da?«, fragte er.

Gabi hob die Kanne hoch und schüttelte sie. »Klingt so.« Viktor tauschte seine benutzte Tasse mit der kalten Brühe gegen die frische Tasse zu seiner Linken. Wenn dort noch ein unbenutztes Gedeck war, dann fehlte jemand, oder die Person ließ das Frühstück ausfallen. Er schaute auf den Namen. Dort sollte eigentlich Katharina Kress, die Schulsekretärin und die Frau, die er küssen sollte, sitzen.

Viktor merkte sich für gewöhnlich die Besetzung der verschiedenen Rollen oder den Aufgabenbereich, wer was zu erledigen hatte. Man kam allzu leicht durcheinander.

Er schenkte sich Kaffee ein – kein dampfendes Schwarz mehr, dafür ein abgekühltes Schmutzbraun. Viktor hatte einen Plan, wie er an Fingerspuren auf der Karte kam, aber für alles andere hatte er absolut keinen. Eine Nacht darüber schlafen konnte er auch nicht. Das Drehbuch war nicht in Stein gemeißelt, wie Egon sagte. Viktor glaubte, schon. Günter Dexter ließ mit sich vielleicht um ein paar Dialoge feilschen, aber nicht um die Inhalte seiner Geschichte. Auch wenn Viktor die nicht zu mögen brauchte, er musste überzeugen. Hiero Hart musste, also sollte er sich besser schnell damit anfreunden.

»Bis nachher – dann hoffentlich in peppigerer Laune.« Gabi tippte mit zwei Fingern an die Schläfe und kippte sie nach vorne weg. Ein Gestenleser war er wirklich nicht, und wenn peppig aufgedreht hieß, würde er das wahrscheinlich nicht fertigbringen.

Endlich. Viktor stand auf, nahm den Teller von der Karte und blies die Brösel darauf weg. Dann steckte er sie hinten in den Hosenbund der Jeans. Darüber ließ er das Hemd fallen und schlüpfte in die Lederjacke. Er vergewisserte sich kurz, ob jemand anderer schaute, packte Gabis Messer in die Serviette und fasste seine Beute um die Mitte.

»Nummer eins«, sagte er.

Der Regisseur, Augustin Nagel, streckte den Kopf in den Frühstücksraum. »Nicht vergessen, wir sehen uns um elf im Seminarraum. Leute, heute bleibt kein Auge trocken.«

Viktor schob sich an ihm vorbei. »Ach du lieber Augustin.«

»Du mich auch, Hiero.« Mit einem Lachen.

Viktor gehörte nicht zu den Sportlichen, aber er wollte sich auch nicht in den Aufzug stellen und womöglich einem Fan begegnen, er nahm wieder die Treppe. Sein Zimmer war die 14, die auf die 12 folgte, weil eine 13 Unglück verhieß. Sein Unglück war, dass dieser miese Schreiber ausgerechnet den Hauptdarsteller fragte, Du willst nicht, dass dir etwas passiert?

Viktor rechnete mit Schlimmem. Er hatte Sorge, dass etwas ans Licht kam, das er zu verheimlichen suchte. Er nannte es seine zweite Seite, von der weder die Kollegen noch seine Fans etwas ahnten. Selbst seinen Vater hatte Viktor nicht ins Bild gesetzt. Sein Ruf wäre mindestens angekratzt, wenn jemand es herausfand.

Eine Lachnummer bist du dann. Und alles nur, weil du versuchst, ein besserer Mensch zu sein. Ein anderer Mensch zu sein?

Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch. Es hatte den Anschein, dass der Wind ihm gerade ganz heftig entgegen pfiff, doch ein Angriff wurde immer hinterrücks und meuchlerisch geführt. In einem Actionfilm würde Viktor jetzt höchstwahrscheinlich in seinem Zimmer eine unliebsame Überraschung erwarten.

Er lief den Gang entlang, der Teppich dämpfte seine Schritte. Er hatte für seinen Zimmerschlüssel den Drachenbaum-­Blumentopf entdeckt, der in der Ecke beim großen Fenster stand. Seine Finger senkten sich hinein, wühlten im Tongranulat. »Das kann nicht sein!«, raunte er und legte das eingepackte Messer zur Seite.

Als er glaubte, wirklich jedes einzelne Granulatstückchen im Topf bewegt zu haben, gab er es auf. Der Schlüssel war weg. Was war das hier, wollte der Ausrufer von drohendem Unheil das angekündigte Morgen nicht mehr abwarten, wenn er Viktor eröffnen wollte, was der tun musste?

Viktor schob die Serviette zurück, in die er Gabis Messer eingeschlagen hatte, hielt den Griff in der Faust und senkte die Schneide nach unten. Umsonst seine Warterei, dass die Frau endlich vom Tisch aufstehen möge. Gerade hatte er Gabis Abdrücke verwischt.

Er presste ein Ohr gegen seine Zimmertür, lauschte. Ein Poltern, dem ein unterdrückter Fluch folgte.

Vorsichtig drückte er die Klinke nach unten. Jemand stand vor seinem Schreibtisch und wirbelte erschrocken herum, als Viktor angriffslustig die Tür aufstieß.

4. Kapitel

Das Leben besteht aus Gelegenheiten, auch aus denen, die wir verpassen.

Die Fassade des Polizeipräsidiums Stuttgart war vielleicht dazu gedacht, jemandem Respekt einzuflößen, in jedem Fall vermittelte sie Größe.

Marlene, die Reiseschriftstellerin, zeigte sich unbeeindruckt. Wenn sie ehrlich war, galt ihr Respekt vielmehr denjenigen, die es schafften, in der Spur zu bleiben und sich in dem riesigen Ding nicht gnadenlos verirrten.

Verlaufen hatte sie sich nicht, fand sie. Ihr Gegenüber urteilte darüber ganz anders, dabei sollte er ihr Interesse allmählich gewohnt sein; nicht an ihm, sondern daran, dass er etwas für sie tun konnte. Marlene war schon vor Monaten bei Klaus Klonski, respektive der Kriminalpolizei, vorstellig geworden, weil sie unmöglich glauben konnte, dass ihre beste Freundin sich im Ammersee ertränkt haben sollte.

Jedes Mal, wenn sie durch diese Tür ging, erinnerte sie sich, wie sie diese das letzte Mal hoffnungsvoll aufgestoßen hatte.

In ihrem ersten Gespräch war Klonski auf ihren Verlust eingegangen, hatte ihr die Schulter gedrückt, etwas von den verschiedenen Stufen der Trauer erzählt. Sie hatte ihm gesagt, sie bräuchte keinen Psychologen, sondern eine Antwort, wer ihrer Freundin das angetan hatte. Er hatte versucht, Marlene zu beruhigen. Absolut sinnlos. Als das nicht wirkte, hatte er sich außerhalb seines Büros mit ihr getroffen, wahrscheinlich sollte keiner von den Kollegen mitbekommen, dass er mit ihr auch noch die Befunderörterung durchging.

Die allerdings hatte das Institut für Rechtsmedizin in München gemacht. Marlene kapierte nicht mal ansatzweise, was der Mediziner da Schwammiges formulierte, und verlangte eine Übersetzung.

»Eine kleine Risswunde an der rechten Schläfe ist genau das, was hier steht: eine kleine Risswunde an der rechten Schläfe.«

Keine Übersetzung, stattdessen: »Marlene, Sie stimulieren meinen Plexus ganz unsagbar.« Sein Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, was er meinte. So umständlich hatte ihr noch nie jemand gesagt, dass sie nervte. Ihr war es gleich. »Das könnte doch eine Spur sein«, insistierte sie.

»Dort steht nicht, dass es eine Spur ist«, sagte er.

Nein, dort stand, dass sich Laura Philipp womöglich irgendwo gestoßen hatte. Es musste passiert sein, ehe sie in den See ging.

Die Wochen zogen vorbei, aber noch immer gab es keinen hellen Streifen am Horizont. Es war schon so viel Zeit vergangen. Klonski und Marlene hatten das unpersönliche Sie hinter sich gelassen, waren beim Du gelandet und hätten sich wahrscheinlich gemocht, wenn …

»Warum willst du es nicht begreifen: Sie hat sich umgebracht.« Kriminalhauptkommissar Klaus Klonskis ernsthafte Haltung signalisierte ihr, es reichte allmählich. Er war gereizt, als müsse man einem Kind etwas erklären, was man ihm schon viele Male zuvor erklärt hatte. Klonski frustrierte die Angelegenheit allmählich. Glaubte man ihm, trennten Bayern und Baden-Württemberg Welten.

Sie hatte es gründlich satt und wollte die E-Wörter nicht hören. Endgültig, entschieden, erledigt, Ende; der Mordermittler war nicht interessiert, weil es seiner Ansicht nach keinen Mord gab. Als Nächstes kam für gewöhnlich der Hinweis auf Laura Philipps Blutalkohol und die Tabletten, die sie eingenommen hatte. Und dass er Marlene das alles bereits x-mal gesagt hatte.

Das X stand sicher für Xanthippe, den Inbegriff des zänkischen Weibes. Wenn Klonski so weitermachte, könnte sie ihn bald nicht mehr respektieren, der Typ baute Mauern ohne einen einzigen lockeren Ziegelstein. Wo sie doch da­rauf gehofft hatte, sie könnte ihn überzeugen, sich die Sache genauer anzuschauen.

Jede Woche versuchte sie, ihn irgendwie zu erreichen – wenn sie die Zeit nicht fand, selbst vorbeizuschauen, dann rief sie an oder schickte ihm eine Nachricht. Sie kam zurück wie ein Jo-Jo, war überzeugt, man konnte etwas 1.000 Mal sehen, bevor man es verstand. Bei 1.000 waren sie noch nicht angelangt, dafür reichte ihre Geduld schlicht nicht aus.

»Weil es nichts zu begreifen gibt, weil Laura nie, nie ins Wasser gegangen wäre. Auch nicht mit 0,6 Promille kombiniert mit einer eher harmlosen Beruhigungstablette«, sagte Marlene. Eigentlich flüsterte sie es bloß.

»Niemals!«, hatte Marlene an Lauras Grab geschrien und war auf die Knie gefallen. »DAS hast du nicht getan!«

Das Heben seiner Augenbraue kannte sie. Klonski hatte keine Lust, sich dauernd zu wiederholen, aber sie hatte auch keine, sich weiter abspeisen zu lassen. Schuld war etwas, das man bei einem selbst suchte. Ihre war, dass sie nicht verhindert hatte, was geschehen war.

Wozu waren Freundinnen da? Das hätte sie sich fragen sollen, als Laura ihr am Telefon schluchzend etwas vom Ende erzählt hatte. Die Verbindung über fast 10.000 Kilometer war furchtbar gewesen, die Sätze zerhackt, ein Telefonpuzzle. Marlene hatte es nicht fertiggebracht, die Worte am Ende stimmig zusammenzubekommen.

dumm verliebt/Superheld/Bild kommt/hab etwas entdeckt/Marylin Monroe hat gelogen/der Typ ist jemand ganz anderer/das glaubt mir niemand, aber du

WAS???

Marlene war mitten im Amazonas-Regenwald auf den Spuren der ersten Orchideenjäger, umzingelt von fleischfressenden Pflanzen, als Laura das letzte Wort in den Hörer gehaucht hatte.

Sie würde es nie vergessen. Noch vom Flughafen in Yangon aus hatte Marlene sie zurückgerufen – auch diese Verbindung war alles andere als optimal gewesen, und am anderen Ende hatte sie nicht Lauras Stimme gehört, sondern eine ihr völlig fremde. Jemand von Lauras Agentur setzte Marlene von ihrem Tod in Kenntnis. An genau diese Worte konnte sie sich noch gut erinnern. In Kenntnis setzen. Es hörte sich an, als wäre ihre Freundin ein wenig unpässlich.

»Wer ist der Superheld, von dem Laura gesprochen hat? Hat sich jemand die Mühe gemacht, nach ihm zu suchen?«