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Ist das Vergangene jemals wirklich vergangen? Das fragt sich Schwester Althea vom Kloster Frauenchiemsee, als ein Sturm einen alten Überseekoffer mit zwei Skeletten anspült. Althea hat das ermordetet Liebespaar gekannt- in einer Zeit, die sie lieber vergessen würde.. Aber sehr schnell wir aus dem jahrzehntealten Fall ein hochaktueller, denn der See birgt eine weitere Leiche - und diese Frau ist noch nicht lange tot. Schwester Althea nutzt das Sommerfest des Klosters für ihre Nachforschungen und ahnt nicht, wie sehr sie den Mörder damit in Unruhe versetzt. Essbare Blüten und hochgiftige Wildpflanzen, eine Klosteridylle am Chiemsee und ein rätselhafter Mord - ein hochspannender, vergnügter Kriminalroman.
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Seitenzahl: 312
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Ina May wurde 1972 im Allgäu geboren und verbrachte einen Teil ihrer Jugend in San Antonio/Texas. Nach ihrer Rückkehr in die bayerische Heimat absolvierte sie ein Sprachenstudium und arbeitete lange Jahre als Fremdsprachen-Handelskorrespondentin und Übersetzerin für amerikanische Konzerne. Heute ist sie freischaffende Autorin und lebt mit ihrer Familie am Chiemsee. Sie schreibt Kriminalromane, historische Krimis, zweisprachige Jugendbücher, Kurzgeschichten, Gedichte, Artikel für Journale und erarbeitet Konzepte für Brettspiele.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagfoto: fotolia.com/Enno Kingma Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-107-7 Oberbayern Krimi Originalausgabe
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Prolog
Es würde bald passieren. Ihre alten Knochen spürten es.
Der Tod würde sich etwas holen und dafür etwas anderes zurückgeben.
Mittlerweile herrschte dunkelste Nacht, aber sie ging trotzdem noch einmal hinaus. Ihr kleines Haus lag am Uferweg des Chiemsees, bei Gollenshausen. Von dort aus war es nur ein kurzes Stück bis ins Lienziger Moos mit dem »grundlosen« See.
Dort lag er noch immer, tief versunken im weichen Morast. Und wenn sie das Bedürfnis hatte, ihrem Albert etwas zu erzählen, dann lief sie durch das Dunkel, die Sturmlaterne über dem Arm.
Sie trug alte Schnürstiefel an den Füßen und um die Schultern einen Lodenumhang. Es war ein sagenhaft heißer Sommer, aber die Feuchte am See brachte Horden von Stechmücken hervor. Und lieber ein bisschen zu warm als um und um zerstochen.
Katharina, die am See nur die alte Kath genannt wurde, galt als Hexe – so was ging früher schnell, und heute bestimmt auch noch. Ihre Augen hatten in den vergangenen neunzig Jahren viel gesehen, manches Mal eben auch Dinge, die für andere unsichtbar waren.
Die Sache mit dem Sehen hatte zwei Seiten – da gab es die Fragenden, die etwas bedrückte, wofür sie unbedingt eine Lösung brauchten, und die anderen, ängstlich und misstrauisch bis auf die Knochen. Die hätten zwar auch gern eine Lösung gehabt, aber wer nicht den Mut hatte zu fragen, für den konnte es auch keine Antwort geben.
Katharina fand ihren Weg inzwischen traumblind, sie war ihn schon unzählige Male gegangen.
Das Moor konservierte, und irgendwann in tausend oder mehr Jahren würde jemand hier eine Leiche finden. Der Körper gut erhalten, die Weltkriegs-Uniform vielleicht nur mehr ein Überrest.
Sie würde warten. Nicht darauf, dass jemand ihren Albert fand, sondern die anderen Toten.
1
Blauer Natternkopf(Echium vulgare)
Standort: Sonnig, trocken, Ödland und Trockenrasen, gern auf mäßig stickstoffreichen Böden.
Wissenswertes: Die Pflanze gehört zur Familie der Borretschgewächse (Boraginaceae). Ihre Blütenform mit dem gespaltenen Griffel erinnert an den Kopf einer Schlange, daher auch der Name. Die Pflanze ist mit vielen stacheligen Härchen besetzt. Das schützt sie an sonnigen, trockenen Standorten vor übermäßiger Verdunstung – sie spart dadurch also Wasser. Für die Küche ist sie nicht geeignet, sie enthält giftige Pyrrolizidin-Alkaloide, die die Leber schädigen können.
»Leute, es wird heiß«, verkündete der heimische Radiosender freudig, und Schwester Althea glaubte den Moderatoren der Morgensendung aufs Wort.
Es war Mitte Juli, und bisher war jeder Tag mit blauem Himmel und Sonne pur gesegnet. Allmählich vermochte Althea jedoch den Segen an der Sache nicht mehr so deutlich zu erkennen. »Super, ganz klar. Ihr steckt auch nicht in dieser Kutte.« Sie wollte eigentlich nicht grummelig klingen, tat es aber doch.
»Schon gut, ich beklage mich nicht. Wie wär’s mit einem kühlen Bad im See? Wenigstens für meine Füße«, fragte sie denjenigen, der bereits am frühen Morgen den Nerv hatte, ihr zuzuhören. Zu vernehmen war die Antwort nicht, doch sie war sicher, die kleine Gestalt am Kreuz in ihrer Klosterzelle hatte gerade ihre Zustimmung gegeben.
Althea war der Name, den sie im Benediktinerinnenorden für sich gewählt hatte, bürgerlich hieß sie Marian. »Und diese beiden Damen gehen jetzt ins Wasser«, verkündete sie.
Frauenwörth lag mitten im Chiemsee, und zum Kloster gehörte seit Jahrhunderten die kleine unbewohnte Krautinsel, die vielen Wasservögeln als Brutplatz diente. Im Mittelalter hatten die Nonnen dort Gemüse und Kräuter angebaut, daher der Name.
Und natürlich gehörte auch ein ganzes Stück See zum Kloster. Also warum es nicht nutzen und sich hin und wieder nass machen?
Althea raffte ihr Ordensgewand und lief durch den Seitengang, es brauchte sie ja nicht jeder zu sehen.
Kurz darauf saß sie auf der Steinmauer und planschte mit den Füßen im Wasser. Es fühlte sich richtig gut an. Sie seufzte, und das ausgiebig.
Der Morgen war die beste Zeit, um zu planen, die beste Zeit, sich Gedanken zu machen. Denn bei diesen Temperaturen würde ihr Hirn sich schon am späten Vormittag so anfühlen, als läge es auf dem Grill.
Die Benediktinerinnenabtei plante im August ein großes Sommernachtsfest. Das heißt, eigentlich plante Althea, sie wusste schon gar nicht mehr, wie sie zu dieser arbeitsaufwendigen Ehre gekommen war.
Wenn Frauenchiemsee etwas zu feiern hatte, dann waren die Insulaner gefragt und die Touristen gemeint. Es sollte einfach ein schönes und gesprächiges Beisammensein werden. Für Verpflegung war gesorgt, sowohl kompakt als auch flüssig, und natürlich stammte der Likör aus der eigenen Kellerei, und auch das Marzipan wurde von den Schwestern hergestellt. Um den Fisch kümmerten sich die Fischer, und die Bootsbauer am Chiemsee wollte Althea fragen, ob sie sich vorstellen könnten, in dieser Sommernacht ein bisschen Gondoliere zu spielen. Konnten sie sich wahrscheinlich nicht, aber das würde sie schon irgendwie hinbekommen.
»Eine romantische Bootsfahrt, zu einem vermutlich ernüchternden Preis«, flüsterte sie vor sich hin. »Es wäre trotzdem herrlich. Mit Lampions und einer gemütlichen Sitzgelegenheit.«
Althea wischte ihre nassen Füße ab und schlüpfte in die Sandalen.
In Sichtweite bewegte jemand hektisch die Arme auf und ab. »Meine Oma kann nicht schwimmen!«, schrie ein Junge.
Althea hätte zu gern erwidert, dass das auch nicht nötig sei. Stattdessen sprintete sie los, zog ihr langes Gewand durchs Wasser und die Frau an den Schultern zurück an die Wasseroberfläche.
»Der See ist an der Stelle nicht tief, deine Oma kann hier stehen«, sagte Althea. Warum die Oma das nicht gekonnt hatte, wusste nur sie allein.
Prustend und schnaufend schüttelte sich eine füllige Frau Mitte fünfzig, der das kurz geschnittene Haar nach dem Tauchgang wie Kraut vom Kopf abstand. »Maximilian, schau nicht so, ich bin nur umgeknickt. Du hättest nicht gleich göttlichen Beistand herbeiholen müssen.«
Begonnen hatte Altheas Tag mit der Radio-Prophezeiung, es werde sehr heiß, doch jetzt war ihr schlagartig eiskalt.
Es war wie ein Déjà-vu. Friederike Villbrock. Was für ein schauderhafter Morgen!
»Von wegen göttlicher Beistand, Friederike. Der Herr zeigt mir grade meinen schlimmsten Alptraum. Ich muss wirklich ganz übel über die Stränge geschlagen haben.«
Der Kopf der Frau fuhr zur Seite, als hätte jemand sie geschlagen. »Marian? Marian Reinhart? Was machst du denn in den Klamotten da?«
Maximilian grinste, Althea grinste zurück. Fehlte nur noch, dass Friederike die Hand ausstreckte und nach dem Stoff grabschte, um sich zu vergewissern, ob die Kleidung echt war.
»Du bist Nonne«, beantwortete sich Friederike die Frage selbst. Mit einem Lachen. »Ausgerechnet du, ich werd verrückt! Das passt doch gar nicht.«
Schön, wenn einem jemand sagen konnte, was passte und was nicht.
Friederike Villbrock und Althea hatten vor einer halben Ewigkeit gemeinsam dasselbe Internat besucht. Die St.-Irmengard-Schule auf Frauenchiemsee. Friederike Villbrock hatte Karriere gemacht. Althea erinnerte sich, dass das eine ihrer beiden Optionen gewesen war: Sie würde sich entweder einen reichen Mann nehmen oder etwas »Machtvolles« tun. Eines davon hatte sie geschafft – es gab in ihrem Leben keinen Ehemann, dafür hatte sie es bis zur Vorsitzenden Richterin am Landgericht München I gebracht. Das a. D., das seit einem knappen Jahr hinter der Berufsbezeichnung stand, war ihre Entscheidung gewesen.
»Jetzt sind wir beide wieder da – auf Frauenchiemsee.« Tropfend stapfte Friederike in ihrem dünnen Badeanzug an Althea vorbei und an Land.
Wieder da … was sollte das heißen?
»Ich hab mir ein schmuckes kleines Haus gekauft«, ergänzte sie bereitwillig.
Althea wurde übel. Gab es etwas Schlimmeres, als die Erzfeindin aus Schulzeiten in unmittelbarer Nachbarschaft zu wissen? Und unmittelbar benachbart war auf der Insel eigentlich alles. Man konnte Frauenchiemsee ohne Anstrengung zu Fuß ablaufen, im heißesten Sommer und auch im kältesten Winter.
»Komm doch mal vorbei, wenn du grade nicht meditierst oder betest oder womit du sonst deine Zeit vergeudest. Wir tratschen ein bisschen über die alten Zeiten. Mein Gott, Marian, du warst eine von denen, die alles mitgenommen haben, was auch nur ansatzweise nach Spaß aussah. Was ist passiert?«
Althea würde den Teufel tun und auch nur einen halben Rocksaum über Friederikes Türschwelle tragen. Wenn es einen Weg gäbe, die Dame wieder loszuwerden …
»Die Wege des Herrn sind unergründlich«, antwortete sie kryptisch.
Marian Reinhart hatte es damals wirklich heftig getrieben – Widerspenstigkeit, Streiche und nicht zuletzt diverse Freizügigkeiten. Warum sie den Schleier genommen hatte und Schwester Althea geworden war, würde sie sicher nicht zwischen Wiese und See erläutern, im Beisein eines … »Wie alt bist du denn?«, fragte sie den Jungen.
»Zehn – bald«, gab Maximilian zurück. Ihm machte das alles gerade ziemlichen Spaß.
Jedenfalls, Althea würde sicher nicht zwischen einem Stück Wiese und dem See, im Beisein eines bald zehnjährigen Jungen, ihre Beweggründe ausbreiten.
Ein gemeines Lächeln trat auf Friederikes Züge. »Du warst früher richtig hübsch. Jetzt wirkst du eher … nennen wir es, etwas abgestanden …«
Althea hatte keine Lust, sich an diesem Aufguss von längst Vergangenem zu beteiligen. Abgestanden! Sehr freundlich. Natürlich, sie hätte locker zurückschlagen können. Manches Mal schlagen sogar Nonnen zurück, aber nicht heute.
Sie bückte sich nach Friederikes Handtuch und warf es ihr zu. An Maximilian gewandt, erklärte sie: »Deine Oma kann sogar ziemlich gut schwimmen. Das wird ihr aber nicht helfen, wenn ich ihr den Hals umdrehe und sie anschließend ganz unchristlich im See ertränke.«
Althea winkte zum Abschied. Sie ahnte bereits, er würde nur von kurzer Dauer sein.
2
Gänseblümchen(Bellis perennis)
Standort: Das Gänseblümchen wächst auf Weiden und Wiesen, vorzugsweise auf lehmigen Böden. Es stellt keine besonderen Ansprüche und kommt recht häufig vor.
Wissenswertes: Gänseblümchen blühen praktisch das ganze Jahr über. Nicht nur ab dem zeitigen Frühjahr, den ganzen Sommer über und bis hinein in den Spätherbst, sondern auch mitten im Winter schieben sie bei milden Temperaturen ihre weißen Blütenköpfchen aus dem Boden. Die Blüten öffnen sich allerdings nur, wenn die Sonne scheint. Nachts und bei sehr trübem Wetter bleiben sie geschlossen.
Der Lärm hätte gereicht, um Tote aufzuwecken.
Schwester Althea fuchtelte wild durchs Dunkel. Sie stöhnte. Es war immer noch sündhaft heiß. Ein Traum, sagte sie sich. Nur ein lautstarker Traum. Darin war auch Friederike vorgekommen – welch garstige Heimsuchung!
Jetzt sind wir beide wieder da, hatte sie gesagt.
Lieber Gott, war das nötig? Es gibt so viele schöne Flecken auf der Welt. Obwohl ich mich schwertue, ihr auch nur einen einzigen davon zu gönnen, würde ich einen Kompromiss eingehen – die Arktis. Optimal, weil eisig. Da würde Friederikes seelenlose Kälte nicht weiter ins Gewicht fallen.
Althea setzte sich auf und schwang ihre Beine über den Bettrand. Es war erst neun Uhr abends und schon so dunkel, als wäre es tiefste Nacht. Sie hatte das Abendessen ausfallen lassen, weil sie sich nicht wohlfühlte; als sie zu Bett gegangen war, hatte sie noch nicht einmal die Vorhänge zugezogen.
Doch es war nicht der Traum gewesen, der den Lärm veranstaltete, sondern die Unwetterglocke des Klosters. Dazu noch der Regen, der ihr Fenster ins Visier genommen hatte. Er kam waagerecht über den See geschossen. Und ein Wind, der eigentlich mehr Sturm war, peitschte landeinwärts.
Althea sah die Lichter auf dem See. Die Sturmwarnleuchten gaben ein optisches Signal – das Orangerot der Drehscheinwerfer blitzte schnell und regelmäßig auf. Boote der Wasserwacht und der Wasserschutzpolizei rückten aus, um sich um leichtsinnige Segler, Windsurfer und Schwimmer zu kümmern, die die Sturmwarnung ignoriert hatten und sich jetzt in ernsten Schwierigkeiten befanden.
Es wäre eine gute Gelegenheit, frische Luft zu schnappen, fand Althea. Sie könnte für eine wohlbehaltene Rückkehr der Leichtsinnigen beten.
Vielleicht würde der Sturm gnädigerweise auch ihre keineswegs schwesterlich-freundlichen Gedanken an Friederike Villbrock mit sich davontragen.
Sie schlüpfte in ein Paar geschlossene Schuhe und zog sich einen Regenmantel über das Nachthemd. Die Mühe, ihr Haar zu bändigen und unter der Haube zu verstecken, sparte sie sich. In der Dunkelheit würde sich niemand dafür interessieren.
Althea lief durch den Gang und die Treppen hinunter. Im Freien bot sich ihr ein Bild der Verwüstung. Äste flogen umher, der Sturm riss an allem. Schwarze Wellen schlugen gegen den Strand und durchnässten ungnädig, was ihnen im Weg war. Der See tobte. Wer jetzt dort draußen und nicht von Kind an mit den Gegebenheiten vertraut war, der hatte keine Chance, dachte Althea.
Erst der nächste Morgen offenbarte das ganze Ausmaß des Dramas.
»Wer nicht hören will, oder sagen wir, wer nichts sehen will …«, tönte der Radiomoderator, »der muss mit den Konsequenzen leben … oder vielleicht nicht mehr. – Seit der vergangenen Nacht wird eine Seglerin vermisst. Der Rettungsdienst Chiemsee fand ihr havariertes Boot. Die Suche dauert noch an, doch von der Frau fehlt bisher jede Spur. Der Chiemsee ist eben kein harmloser Weiher, aber wünschen wir der Seglerin Glück.«
Harte, aber treffende Worte am frühen Morgen, fand Althea, doch Glück allein würde in einem solchen Fall nicht genügen.
Der Sturm hatte ganze Arbeit geleistet und auch ihren Garten nicht verschont.
Althea bedeutete die Heilende, sie trug die Verantwortung für das, was ihr Name vorgab: Sie war die Kräuterexpertin der Abtei. Sie kümmerte sich um den Garten, stellte Heilsalben her und setzte Tinkturen an.
Ihre Pflanzen waren nicht verloren, auch wenn der garstige Wind viele Blüten und Zweige gefordert hatte – doch die Seglerin wahrscheinlich schon.
Althea schaffte es gerade noch zur verabredeten Zeit zu ihrem Treffen mit dem Künstler Gregor Tümmler, der nebenbei auch ein guter Freund war.
Er wohnte unweit vom Kloster in einem kleinen weißen Haus mit einem schönen Wintergarten zur Seeseite. Der Garten war voll von allerhand bunten Skulpturen. Er arbeitete sowohl mit Eisen als auch mit Holz, und seine Kunstwerke regten die Phantasie an; man konnte lachen und sich nebenbei überlegen, was dem Künstler dabei durch den Kopf gegangen war.
Zwar hatte auch hier der Sturm gewütet. Soweit sie sehen konnte, war aber nichts kaputtgegangen.
Sie wollte Gregor davon überzeugen, dass es für ihn nicht gerade von Nachteil wäre, zum Sommernachtsfest einige seiner Arbeiten im Klostergarten auszustellen. Vielleicht am Rande oder auch mitten im Labyrinth – spiralförmig angelegte Wege auf einer Fläche, die in früheren Zeiten ein Stück Gartenland gewesen war. Entspannung, Erholung, der Weg zur Mitte – na, wenn das eine Künstlerseele nicht ansprach!
Gregor bat sie in den Wintergarten, dessen große Fenster zu beiden Seiten offen standen. Im Hintergrund lief auch hier der heimische Radiosender.
Althea ließ sich in einen der gemütlichen Rattansessel fallen. Gregor holte eine Kanne voll Eistee und setzte sich dann auf den Sessel zu ihrer Rechten.
Gregor Tümmler war noch immer ein attraktiver Mann, obwohl er Mitte sechzig sein musste. Althea kannte ihn schon ewig, und das hieß, seit ihrer Schulzeit auf Frauenchiemsee. Aber bei ihm hatte sie nie ein komisches Gefühl, nicht so wie bei Friederike Villbrock. Gregor war zwar eigen, aber nur, was seine Kunst betraf.
»Meine liebe Schwester Althea, für dich gebe ich alles, weil du kritisch bist und mir nicht erzählst, was ich hören will.«
»Schmeichler«, gab sie lachend zurück. »Ich möchte auch die Nonne dabeihaben.«
Er winkte ab. »Die Nonne nicht – deine Mitschwestern würden sich bloß fürchterlich aufregen. Sie trägt einen kurzen Rock.«
»Sie trägt, was ich gern tragen würde«, sagte Althea. »Und alle anderen zurzeit wahrscheinlich auch. Die Nonne muss dabei sein, Gregor!«
Die Skulptur, von der sie sprach, war aus Holz gefertigt, ihr Schleier und ihre Kleidung aber aus Eisen.
Althea war sicher, er würde ihr den Wunsch nicht abschlagen, und mit aufgeregten Schwestern kam sie schon klar.
»Wie geht’s Tobias?«, erkundigte sie sich dann. Tobias war Gregors Neffe, der bei ihm lebte, weil seine Eltern mit der geistigen Behinderung nicht zurechtkamen. Na ja, sie hatten es erst gar nicht versucht.
Aus dem Jungen war längst ein Mann geworden. Umgänglich, freundlich und hilfsbereit. Eben nur nicht erwachsen, ein wenig langsamer und nachdenklicher als andere. Tobias Tümmler, wie der Delphin, hatte er sich ihr damals vorgestellt. Und wer wusste, dass ein Tümmler zu den Delphinen gehörte, den konnte man nicht als dumm bezeichnen, fand Althea.
»Er ist unterwegs mit seinem Karton. Der Sturm gestern könnte ja irgendwelche Schätze angespült haben«, sagte Gregor.
»Stimmt.« Althea lächelte. Tobias hatte eine Riesenfreude daran, die Insel zu durchstreifen, auch ohne dass es gestürmt hatte. Natürlich waren nicht all seine Funde Schätze, doch die, die er dazu erhob, landeten in einer Schatzkiste.
»Falls Tobi Zeit und Lust hat, würde ich mich freuen, wenn er die Einladungen zum Sommernachtsfest entwerfen würde.« Das war ihr spontan eingefallen, aber Althea dachte, eine gute Tat könnte nicht schaden. Nach ihrer Ankündigung, einen Mord zu begehen, brauchte sie ganz dringend eine.
Sie wusste, Tobias war ein talentierter Zeichner, und es würde ihm außerdem Spaß machen. Von dieser guten Tat hatten also durchaus beide Seiten etwas.
Gregor nickte. »Das macht er bestimmt gern. Was bietet das Kloster seinen Gästen denn zum Sommernachtsfest?«
Althea erzählte Gregor von ihrem Vorhaben, einige Boote zu Chiemsee-Gondeln umzufunktionieren. »Eine Art Wassertaxi.« Jetzt, wo sie es laut aussprach, gefiel ihr die Idee ausnehmend gut.
Ihr Gegenüber reagierte eher amüsiert.
Im Radio kamen jetzt die neuesten Nachrichten. Die letzte Meldung klang auch ohne die üblichen Kommentare des Moderators schon gruselig genug.
»… ein alter Schrankkoffer aus den Tiefen des Sees. Die Seglerin bleibt verschwunden. – Der Chiemsee gibt seine Opfer irgendwann wieder frei, doch den Zeitpunkt behält er sich vor. Genießt den Tag, Leute, besonders die, die nicht mehr viel Zeit dazu haben …«
Nun sah Gregor Tümmler überhaupt nicht mehr amüsiert aus.
3
Arzneikürbis(Cucurbita pepo)
Standort: Sonnig, warm, humoser, tiefgründiger, nährstoffreicher Boden mit guter Wasserversorgung.
Wissenswertes: Früher wurden Kürbiskerne sogar gegen Würmer verwendet. Tatsächlich hat der darin enthaltene Stoff Cucurbitin eine Wirkung gegen diese Parasiten, allerdings erst bei höherer Konzentration. Dazu müssten zweihundert bis vierhundert Gramm Samen auf einmal verspeist werden.
Neugier war keine Sünde, aber sie hatte oft ein Urteil zu Folge. Und das stand einem meist gar nicht zu.
Weiß der Geier, worauf Gregors eigenartige Reaktion zurückzuführen war. Althea konnte sich nicht vorstellen, dass es mit der verschwundenen Seglerin zu tun hatte.
Gregors Gesicht war mit einem Mal undurchdringlich geworden. Gerade hatten sie noch zusammen gelacht, und im nächsten Augenblick entschuldigte er sich eilig, er müsse mal nachsehen, wo Tobi bleibe. Jegliche Lockerheit war verschwunden.
Althea machte sich auf den kurzen Weg zurück zum Kloster, ohne eine Zusage im Gepäck zu haben, doch das lieferte ihr wenigstens einen guten Grund, Gregor bald erneut zu besuchen.
Sie warf einen Blick über den See, der nun vor ihr lag wie ein Spiegel und dem man seine unbändige Kraft nicht mehr ansah.
Dort draußen ist man verloren, hatte sie letzte Nacht noch gedacht. Und dort draußen waren etwas und jemand lange verloren gewesen.
Der Sturm war jedenfalls der Auslöser für die Unruhe, er hatte etwas an die Oberfläche gebracht. In dieser Julinacht war der Tod aus den schäumenden Wellen des Chiemsees aufgetaucht.
Schwester Althea überlegte, wie viel von der schaurigen Schilderung tatsächlich zutraf und wie viel die Radiomoderatoren eigenmächtig dazu fabuliert hatten.
Die Seglerin hatte man noch immer nicht gefunden. Dafür war ein Fischer am Tag nach dem Unwetter auf ein großes Ding gestoßen, das auf der nun ruhigen Oberfläche des Sees hin- und herschaukelte. Der Mann hatte kurzerhand sein Netz ausgeworfen und den Gegenstand, der aussah wie ein überdimensionierter Koffer, am Boot befestigt und hinter sich hergezogen. Als er seinen Anleger erreicht und das Ding von Algen, Schlamm und Dreck befreit hatte, hebelte er den Deckel auf. Es war der Tod, der ihm entgegengrinste. – So jedenfalls hatte es der anonyme Anrufer der Polizei geschildert. Seinen Namen nannte er nicht, nur wo er seinen Fund abgestellt hatte, verriet er dem Beamten.
In dem Koffer lagen zwei Skelette.
»Knochen … erst sind es Leichen, dann setzt die Verwesung ein, aber wann werden daraus Knochen?« Althea stellte die Frage niemand Bestimmtem. Doch einer würde eine Antwort darauf finden müssen.
Einige Tage lang herrschte eine Flaute, die in Altheas Augen nur die Ruhe vor einem erneuten Sturm sein konnte. Eine Warnung gab es diesmal nicht.
Sie erfuhr die Neuigkeit erst nach dem Mittagsmahl, das die Schwestern alle gemeinsam an einer langen Tafel im Refektorium einnahmen. Man hatte dem Herrn wie jeden Tag für das Essen gedankt, doch die Priorin, Schwester Jadwiga, hatte, noch bevor das Tischgebet beendet war, mit ihrer Stellvertreterin geflüstert. Das Flüstern machte Althea argwöhnisch, weil Jadwigas Blick immer wieder an ihr hängen blieb.
Schwester Jadwiga war eine große, schlanke Frau mit Argusaugen und einem Oberlippenbart. Sie wandte sich an Althea: »Ein Kriminalkommissar vom Dezernat München 11 wird wegen der Knochen in diesem Koffer Ermittlungen anstellen. Sein Name ist Stefan Sanders, und wie man mir sagte, ist der junge Mann dein Neffe. Ich habe ihm ein Zimmer im Kloster angeboten. Dann braucht er keine Neugierde und keine Fragen zu fürchten, außerdem hat er hier Ruhe und einen Internetzugang.« Ihre Rede untermalte sie mit anschaulichen Gesten – die Neugierde mit einer langen Nase, die Ruhe mit einer Hand aufs Herz und den Internetzugang, indem sie die Hände weit auseinanderbreitete.
Althea seufzte vernehmlich, denn Gäste wurden für gewöhnlich im Gästehaus neben dem Kloster untergebracht. Außerdem stimmte nur die Sache mit dem Internetzugang.
Ein Zimmer im Kloster für den Kriminalkommissar, das würde die Neugierigen in Scharen anlocken und Althea in der nächsten Zeit zur meistgefragten Schwester der Abtei machen. Ein Prominentenstatus, der ihr gar nicht behagte.
»Damit sitzt du sozusagen an der Quelle. Wenn es Informationen gibt, die uns oder die Insel betreffen, dann wirst du mir das doch sagen …« Es war keine Frage. Es war eine Rückversicherung.
Als ob ihr Neffe mit seiner Tante über einen aktuellen Fall reden würde. Oder einen nicht so aktuellen Fall, denn es handelte sich ja um Gebeine.
Althea schenkte Schwester Jadwiga ein dünnes Lächeln. »Stefan wird den Teufel tun, mir irgendetwas von Wert aufzutischen.« Althea hatte ihren Neffen seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie waren sich fern, und das nicht nur in Kilometern.
»Schwester Althea, über diesen Herrn wollen wir gar nicht reden.«
Nein, über diesen Herrn will niemand reden. Teufel auch! Althea grinste. »Schwester Jadwiga, du entschuldigst mich … unser Sommernachtsfest. Es gibt noch so viel zu organisieren.«
Gab es tatsächlich, aber zuerst gab es etwas zu überdenken.
Friederike Villbrock war hier auf Frauenchiemsee. Ein Koffer voller Knochen war aufgetaucht. Altheas Neffe, der Kriminalkommissar, würde in Kürze eintreffen, um Ermittlungen anzustellen. Und er würde im Kloster wohnen.
Das war ein Eintopf, den Schwester Althea reichlich ungenießbar fand.
Aber noch fehlten ein oder zwei Zutaten.
4
Wolfsmilch(Euphorbia spp.) – giftig
Standort: Halbschattig, humose, kalkhaltige, feuchte Böden.
Wissenswertes: Die hierzulande heimischen Vertreter der Gattung Euphorbia sind krautige Pflanzen mit unterschiedlichsten Blattformen.
Die Besonderheit dieser Gattung sind die als »Cyathien« bezeichneten Scheinblüten. Jedes Cyathium besteht aus einer weiblichen Gipfelblüte, die nach unten umgewendet ist, fünf Gruppen männlicher Blüten und fünf blütenhüllenartigen Hochblättern. Zwischen den Hochblättern sitzt meist eine halbmondförmige Honigdrüse, die mit ihrem Nektar die bestäubenden Insekten anlockt. Alle heimischen Euphorbia-Arten enthalten einen weißen Milchsaft und gelten als giftig. Der Milchsaft kann auf der Haut Reizungen und Entzündungen hervorrufen.
Es gab nichts mehr zu verlieren, es war ja längst alles verloren.
Früher war das Leben so unglaublich leicht gewesen, und dann – hatte sich alles verändert und ins Gegenteil verkehrt.
Der Fischer wusste doch gar nicht, was er da entdeckt hatte. Viel mehr als nur den Tod in einem Koffer. Aber man musste es ihm nicht auf die Nase binden.
Vielleicht hatte er sich darüber gewundert, was sie an dem alten Ding so faszinierte, doch das würde ein Geheimnis bleiben. Er zumindest brauchte nichts davon zu wissen. Aber andere. Das war die Chance, dass das Leben wieder leicht wurde.
Gleich beim Zurückklappen des Deckels starrte einem das Weiß der Knochen entgegen. Grausig. Aber irgendwas war an dem Koffer. Etwas, dessen Botschaft das Hirn erst ganz allmählich erreichte. Es war lange her, doch die Erinnerung hielt viele Dinge unauslöschlich fest.
Da gab es eine vergilbte Fotografie, auf der ein Mann neben einem solchen Monstrum von einem Koffer stand und in die Kamera lächelte. Und wo dieses alte Foto hing, war ebenfalls bekannt, denn die Geschichte dieses Mannes war beeindruckend, und außerdem war die Fotografie einmal Vorlage für ein Acrylbild gewesen.
Die Knochen, zu wem auch immer sie gehörten, lagen blank und bleich dort im Koffer, die Toten würde es nicht mehr kümmern.
Geld heilte nicht alle Wunden, aber für ein paar würde es schon genügen. »Ich weiß, was du getan hast.« Ein heiseres Flüstern. »Und ich teile mein Wissen mit dir.«
Der Satz war noch nicht verklungen, als zitternde Finger das Pergament heraustrennten. Man konnte den Schriftzug immer noch lesen: Bremen – New York.
5
Bilsenkraut(Hyoscyamus niger) – giftig
Standort: Sonnig, mäßig trocken, stickstoffreicher Boden.
Wissenswertes: Das sagenumwobene Bilsenkraut gehört zur Familie der Nachtschattengewächse. Die ganze Pflanze enthält, wie viele ihrer Verwandten, in allen Teilen Alkaloide, die schon in geringen Mengen schwerste Vergiftungserscheinungen bis hin zum Tod verursachen. Natürlich werden diese hochwirksamen Substanzen auch als Arzneimittel eingesetzt. Die genaue Dosierung kann aber nur von einem Arzt bestimmt und mit standardisierten Medikamenten eingehalten werden. Mit Bilsenkraut wird in Shakespeares »Hamlet« der König ermordet.
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