Radibutz - Ina May - E-Book

Radibutz E-Book

Ina May

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Beschreibung

Eine Allgäu-G'schicht – lustig, fesselnd und mit Herz erzählt. Bürgermeisterin Evelyn Eberius ist geschockt – im Nesselwanger Rathaus wurde ein Skelett gefunden. Eins ist sicher: Der Tote saß schon länger dort unten hinter der Kellerwand. Bald ist klar, dass es sich um den exkommunizierten Pfarrer Kurt Ganswein handelt. Ihm wurde vorgeworfen, etwas mit dem Verschwinden zweier Jugendlicher zu tun zu haben, bevor sich auch seine eigene Spur verlor. Evelyn macht sich daran, die letzten Stunden im Leben des Ermordeten zu rekonstruieren, und stößt dabei auf ein dunkles Geheimnis ...

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Ina May wurde im Allgäu geboren und verbrachte einen Teil ihrer Jugend in San Antonio/Texas. Nach ihrer Rückkehr in die bayerische Heimat absolvierte sie ein Sprachenstudium und arbeitete als Fremdsprachen- und Handelskorrespondentin für amerikanische Konzerne. Heute ist sie freie Autorin und lebt mit ihrer Familie im Chiemgau.

www.inamay.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2020 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: iStockphoto.com/manfredxy

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Uta Rupprecht

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-632-6

Allgäu Krimi

Originalausgabe

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In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige.

Am 19. Tag

Sie gestehen besser, forderte er.

Sonst was? Das brauchte sie nicht zu fragen, sie konnte es sich denken. Er würde ihrer beider Geschichte aus der Vergangenheit dem »Allgäuer Blatt« erzählen, nachdem die Polizei von ihm bereits alles erfahren hätte. So dachte sie es sich jedenfalls. Was er tatsächlich tun würde – nun, da konnte man sich überraschen lassen. Ein winziges Lächeln von ihr, mehr gab es dazu nicht.

Es ist zu spät, lautete ihr Entschluss. Für vieles war es zu spät. Das Schicksal käme von außen, ein Zufall auszuschließen. Kein Geständnis. Nicht mit Worten. Nicht von ihr.

Sie sperrte ihre Tür ab, als hätte sie vor, zurückzukommen.

An der Ampel überlegte sie, ob sie die Kaffeemaschine ausgeschaltet hatte. Alltagskram. In ihrem Kopf tummelten sich Alltagsgedanken.

In den letzten vierzehn Jahren war ihr jeder Tag, an dem sie nicht einem Polizisten gegenüberstand, der, vielleicht mit bedauernder Stimme, aber undurchdringlichem Blick zu ihr sagte: »Ich weiß, was Sie getan haben«, wie ein Geschenk vorgekommen.

So viele geschenkte Tage. Wie hatte sie annehmen können, es würde immer so weitergehen? Tatsächlich hatte sie irgendwann angefangen, das zu glauben. Doch da hatte sie noch nicht gewusst, was sie jetzt wusste.

In den dunklen Träumen waren oft die Erinnerungsbilder gekommen. Irgendwann hatte es aufgehört.

Sie hatte bereut, sie hatte bezahlt. Doch jetzt waren die Bilder wieder da. Es war allein seine Schuld.

Als wäre eine Taste in ihrem Kopf auf Wiederholung geschaltet. Auch die Jahreszeit stimmte, Juni, Frühsommer. Und so traf das Damals auf das Jetzt.

Vielleicht hatte er den Zeitpunkt zufällig gewählt. Denn warum hätte er mit seinem kleinen Brief und der Anklage so lange warten sollen?

Du hast es nicht gewusst, oder? Nein, du weißt es erst seit Kurzem. Das war ihr gerade aufgegangen. Und sie hatte es anders gewusst – zu wissen geglaubt. In ihrem Szenario gab es keine Leiche, die man vergraben hatte. Sie hatte in jedem Krankenhaus angerufen, ob jemand eingeliefert worden sei.

Sie gestehen besser. Sie haben sie umgebracht, die Schuld muss Sie doch auffressen!

Hatte er das Datum dazugeschrieben und auch noch unterstrichen, falls sie sich nicht erinnerte? Als könnte sie die Nacht vor vierzehn Jahren jemals aus ihrem Gedächtnis streichen. Sie würden es beide nie können, doch die Vorstellung, dass ihr Geständnis ihm irgendeine Art von Erleichterung verschaffte, kam ihr unsinnig vor. Realität; alles brauchte sein Gegenteil, um wahr zu werden.

Ihre Buße sah anders aus.

Sie ließ das Wohngebiet hinter sich und ging über die kleine Holzbrücke. Von da an roch sie den Wald, sie schmeckte ihn auf der Zunge, empfing seine Geräusche. Das wirst du vermissen, dachte sie und schlug die Richtung zum Wasserfallweg ein. »Nur mit festen Schuhen begehbar«, mahnte das Schild. Der Bach zu ihrer Rechten würde sie noch ein Stück weit begleiten.

Es dämmerte, lange Schatten fielen über den Weg. Sie hoffte, niemandem zu begegnen. Die beiden Jungen mit dem Hund, die weiter vorne liefen, würde sie nicht einholen.

Ihr Blick folgte den hölzernen Treppen, die im Zickzack steil den Hang hinaufführten. Abenteuerlich. Am Anfang gab es ein hölzernes Geländer, an dem man sich festhalten konnte. Nach dem ersten Drittel war da nur mehr ein Drahtseil. Man war auf sich allein gestellt.

Sie lauschte dem herabstürzenden Wasser. Dem dicken Strahl entwischten winzige Tropfen, wenn er über die steinernen Platten sprang. Es prickelte kühl auf der Haut.

Die Ränder der Stufen waren feucht, auf einigen hatte sich ein wenig Moos gebildet. Das Wasser kannte seinen Weg, sie kannte den ihren. Noch eine Stufe und eine weitere. Dazwischen wurde der Felsen sichtbar.

»Gleich«, flüsterte sie.

Ihre Hand wechselte nicht vom Geländer auf das Drahtseil, sie ließ einfach los …

1

Mir saget »Griaß di« statt »Hallo«.Eindeutig ein Allgäuer

Als Evelyn an diesem Morgen das Haus verließ, roch die Luft nur nach dem Regen. Wie sollte einem auch ein sich näherndes Unheil schon zuvor in die Nase steigen?

An ihrem Schreibtisch im Nesselwanger Rathaus saß die Erste Bürgermeisterin zurückgelehnt, aber kein bisschen entspannt und schaute durch die Gegend, die Hände aneinandergelegt. Da war kein klarer Gedanke zu fassen – seit sich die Handwerker der Firma Schimmling im Nesselwanger Rathaus austobten. Renovierungsarbeiten.

Es lärmte und staubte ungemein. Sie wagte kaum, ihren PC hochzufahren. Hoffentlich waren die Spezialisten, wie sie sich nannten, bald fertig, und sie musste nicht noch einmal hören: »Mir hand do no ebbas gseache.« Was anschließend natürlich unbedingt sofort in Angriff genommen werden musste. »Ebbas« griff in der Regel viel zu kurz, fand Evelyn.

Sie erwartete auf der Rechnung eine Zahlenkolonne jenseits von Gut und Böse. Der gefällige Kostenvoranschlag würde sich eben nach der Decke strecken. Politik. Jemandem etwas vorrechnen, sich dann – auweia – ein bissle verrechnen und sich danach rechtfertigen, dass sich am Ende die zusätzlichen Maßnahmen doch gelohnt hätten.

Evelyn unterbrach die schlimmen Gedanken. Die Schreibtischlampe flackerte. Sie schaltete sie aus. Sie würde drei Kreuzzeichen machen, wenn das hier endlich erledigt war.

Inmitten des Baulärms glaubte Evelyn, ein Klopfen zu hören. Tatsächlich, es klopfte lauter. Kein Publikumsverkehr. Kein Termin. Es konnte nur Peter Pamel sein, der Hauptamtsleiter, denn sonst traute sich wohl niemand durch den Verhau der Handwerker.

»Ich komme jetzt rein! Wenn du irgendwas tust, was mich nichts angeht, dann hörst du damit besser auf, Frau Bürgermeister.« Schon stand er grinsend im Zimmer, Evelyn war nicht zum »Herein«-Sagen gekommen.

Wenn er so lachte, gab es womöglich keine Probleme. Oder war er, wenn er so lachte, womöglich dabei, sie zu überspielen?

»Werden die Leute vom Schimmling heute vielleicht fertig?«, fragte sie hoffnungsvoll. Die noch anstehenden Spachtel- und Malerarbeiten konnten unmöglich so laut sein. Peter Pamel warf die Lippen auf. »Allerspätestens morgen, heißt es. Aber im Keller sind schon ewig diese feuchten Stellen. Da entwickelt sich womöglich noch Schimmel …«

Evelyn hatte nichts übrig für den Witz.

»Und wo man schon dabei ist, sollte da nachgeschaut werden«, fuhr er fort.

Evelyn mochte ihm da nicht widersprechen, bloß war auch ihre Laune genau dort, nämlich im Keller.

Genau genommen waren da unten nur zwei Lagerräume, aber in einem davon wurden die Akten archiviert. Vor sich hin moderndes Papier muffelte sicher grauenhaft. Sie hatte seit Längerem nichts mehr nachgeschlagen und keine Ahnung, wie es da aussah.

Ihr Blick, den Peter auch richtig verstand, sagte Nein.

»Also eher nicht?«

Die Idee stammte nicht von ihm, was Evelyn auch verstand, weil er »sollte nachgeschaut werden« gesagt hatte. Hätte sie sich denken können.

»Das letzte Wort«, drängte er und wartete mit leicht schräg gelegtem Kopf auf ihre Antwort. Wenn irgendwo etwas feucht war, musste es einen Grund dafür geben. Falls sie jetzt beschloss, es konnte ihnen gleich sein, dann musste sie die Entscheidung erklären, falls später irgendwo Wasser reinkam.

Evelyn nickte. »Sag dem Vorarbeiter, er soll mal einen Blick darauf werfen und dann einen Vorschlag machen.«

»Es gibt keinen, das sind alles Subunternehmer – die Firma Schimmling ist der Auftraggeber. Der macht es ziemlich schlau und bietet seinen Kunden ein Gesamtpaket an. Renovierung und Sanierung im Innen- und Außenbereich. Aber ich kümmere mich gleich, zwecks des Blicks und einem Befund.«

Ein weiteres »Ebbas«. Bei Peter klang es, als handle es sich um eine ernste Krankheit.

Dem genauen Blick folgte … geraume Zeit später eine ungenaue, ziemlich sparsame Auskunft. »Da ist vielleicht eine Leitung leck.« Es müsse ein Thermogerät her, das Undichtigkeiten und Leckstellen fand. Am besten solle man eine Haustechnikfirma zurate ziehen, wurde empfohlen.

Bei diesem Vorschlag fröstelte Evelyn. Sie werde sich ein paar Gedanken machen, gab sie zur Antwort. Gemeint war, sie würde die Abrechnung fürs Wasser überprüfen. Ein Leck hätte man bemerken müssen. Aber da hörte sie den Rums und war sicher, dass die Lösung, für die man sich gerade ohne weitere Rücksprache mit ihr entschieden hatte, ganz ungünstig war.

Evelyn rannte die Stufen, die sie kurz zuvor hinaufgelaufen war, wieder hinunter, kritisch beäugt von den Fotoporträts der ehemaligen Bürgermeister. Aber was es auch war, die Herrschaften blickten ja stets so wissend.

Die Tür zu den Lagerräumen stand offen, eine rötlich graue Wolke Ziegelstaub hing in der Luft. Was machten die da drinnen?

Sie hielt sich eine Hand vors Gesicht und wedelte. Eine nackte Glühbirne funzelte von der Decke. Der erste Raum schien eher ein Durchgang zu sein, dahinter schloss ein zweiter, nur wenig größerer, an.

Ein erster Blick zeigte auf der linken Seite ein langes Regal, unverrückbar, gefüllt mit Ordnern. Zwei vollgepackte Kisten hatte man ans andere Ende geschoben. Der Staub war dabei, sich zu setzen. Was immer dort aufbewahrt wurde, es würde anders aussehen als zuvor.

Der Gedanke war kleinlich, aber er duckte sich gerade nicht weg: Man konnte sicher nicht wirklich vor Wut in die Luft gehen … nur fühlte es sich in etwa so an.

Der Vorarbeiter, den es laut Peter nicht gab, stand mit erhobenem Vorschlaghammer und aufmerksamem Blick beim Geschehen. Auf Evelyn machte der Mann einen unbeirrbar entschlossenen Eindruck, als wäre er derjenige, der die Sache in der Hand hatte.

»Sie hatten mein Vielleicht, meine Zustimmung in dieser Sache hatten Sie nicht!«, polterte Evelyn.

Dafür, dass sich nur acht Steine aus der Wand gelöst hatten, war es ein ziemliches Gerumse gewesen. »Ein Vorschlag sollte es sein … aber nicht der mit dem Hammer!« Sie sah den Arbeiter mit dem schweren Gerät in der Hand ungehalten an.

Peter Pamel hatte sich hinuntergebeugt. Wollte er die Steine wieder einsetzen? Das wäre vielleicht nicht so verkehrt. Immerhin strömte kein Wasser aus der Öffnung. Das Leck, wenn es denn eines gab, war offenbar undramatisch. Er leuchtete mit einer Taschenlampe.

»Wir müssen die Wand öffnen.« Offenbar fand er die Sache nicht undramatisch. Der Hauptamtsleiter war mit einem Mal geisterhaft bleich. Er zupfte an etwas herum, was er auf der anderen Seite der Wand entdeckt hatte.

Der Arbeiter reckte den Hals, drehte den Holzstiel des Hammers und sah angeekelt aus. »Zefix, da in dem Loch hockt der Tod.«

Evelyn hoffte, er übertrieb. Was da zugemauert worden war, sah aus wie eine Vertiefung in der Wand. Sie glaubte nicht, dass sie davon gewusst hatte. Nicht, dass es diese Nische gab, nicht, dass sie irgendwann verschlossen worden war. Sie stellte sich hinter Peter Pamel, um einen besseren Blick zu haben, hielt sich an seiner Schulter fest und schaute in die Öffnung. Der Strahl der Taschenlampe konnte das Dunkel kaum durchdringen.

War das ein Ärmel, der da hervorspitzte?

Waren das Knochen, die in dem Ärmel steckten?

Ein Zwischenraum für eine Leiche. Hatte einer sich so etwas gedacht?

Evelyn schüttelte sich. »Wir müssen die Wand öffnen«, wiederholte sie Pamels Worte. Wir müssen uns vergewissern, uns auf den Grusel einlassen.

In Gedanken hatte sie zu dem Mann an ihrer Seite immer einen gewissen Abstand gehalten. Der Pamel war, wie er eben war. Klug und konsequent genug, sich für alles eine Lösung auszudenken. Bloß hatten seine Lösungen zuweilen etwas Filmisches. Und ein Malheur wie das hier verlangte selbst in Gedanken einen Vornamen.

Peter zog sie beiseite. »Kann sein, es ist das, wonach es aussieht.«

Er sah drein, als wäre es die dümmste Entscheidung gewesen, da nachzuschauen.

»Kann sein, wir sollten es den Spezialisten überlassen«, gab sie zurück. Peter lachte krächzend auf.

Der Arbeiter nickte, und noch bevor Evelyn einen weiteren Ton sagen konnte – nämlich, dass damit andere Spezialisten gemeint waren –, sauste der Hammer sehr präzise auf die Ziegel hernieder und wanderte von dort aus weiter die Wand hinauf, bis ein Haufen Steine auf dem Kellerboden lagen. Der Staub nahm einem die Luft, und ein fauliger Geruch umwaberte sie.

Evelyn streckte die Hand aus, um die schwebenden Ziegelpartikel zu durchdringen, während Peter seine Finger an den Seiten seiner Hose abwischte. Im Licht von Peters Taschenlampe konnten sie die Leiche grinsen sehen. Die Feuchtigkeit hatte, wie es aussah, einen glänzenden Schmierfilm auf den Knochen hinterlassen. Ein Riss ging von der linken Schläfe bis hinauf zu einer Spalte im Kopf. Der Schein der Taschenlampe illuminierte die Todesszene. Niemand würde annehmen, dass jemand sich den Schädel aufschlug und sich anschließend einmauerte.

»Ein schlimmer Sturz wird es wohl nicht gewesen sein«, schlussfolgerte der Hauptamtsleiter. Evelyn meinte, ein Schluckgeräusch zu hören. Eine Erinnerung schoss ihr durch den Kopf: Peter und sie bei der Bestatterin, weil es ein Problem gegeben hatte. Peter versuchte die ganze Zeit, die Luft anzuhalten. Anschließend war er fest davon überzeugt, der Leichengeruch habe sich auf seine Kleidung übertragen. Gefunden hatte er schließlich Katzenscheiße am Schuh.

Sie hoffte, er fing jetzt nicht an, herumzuschnuppern.

Das war ein Fall für die Kriminalpolizei, wobei Evelyn sich die Folgen einer solchen Meldung gerade nicht vorstellen mochte. Die Stimmen und die Mienen des Gemeinderats blendete sie gleich mit aus. Sie würde Justus Abeling anrufen.

Die Nummer des Polizeipressesprechers hatte Evelyn fest eingespeichert, schon aus persönlichem Interesse an dem Mann. Sie kannten einander lange, doch nähergebracht hatte sie erst ein Leichenfund am Kögelweiher, der ihrer beider Vergangenheit berührte.

Die Kriminalpolizei war nicht nur für Mord und Totschlag zuständig, und dieser »Polizeipressesprecher« war ein Hauptkommissar, der zu seinen Fällen meist auch die Öffentlichkeitsarbeit übernahm. Jedenfalls im engeren heimischen Umfeld, wozu Nesselwang gehörte.

Evelyns erste Wahl – im wörtlichen Sinn – war Justus. Und am liebsten überhaupt nicht in seiner öffentlichen Funktion. Sie brauchte den Kommissar. Und gestattete sich einen genaueren Blick auf das, was sich da vor ihr befand.

»In meinen Träumen wird er noch eine ganze Weile da sitzen«, sagte Peter.

Er. Sie wusste nicht, warum ihr das auffiel. Sie wusste auch nicht, ob sie etwas anderes gedacht hatte. Könnte es nicht auch eine Sie sein?

Die Lederjacke … er. Die Jeans … er. Die Sportschuhe … er. Mittelgroß. Schlank. Sie wandte den Blick ab.

»Da fällt mir was ein, Frau Bürgermeister«, sagte Peter.

Evelyn schüttelte den Kopf. Wenn es ihm später einfiel, genügte das.

»A bissle misslich«, ließ sich jetzt der zweite Mann im Raum vernehmen. Fast hätte sie den Handwerker vergessen. Evelyn nahm ihm den Vorschlaghammer ab, lehnte das Werkzeug gegen das Regal.

Nicht die Leiche, nicht die Situation, nichts war bloß »a bissle misslich«.

Sicher hatten sie hier einige Spuren vernichtet. Womöglich eigene hinzugefügt. Peter hatte die Hände an der Leiche gehabt.

Der Blick des Arbeiters und das Wippen seines Kopfes verrieten ihr, dass der sich gerade etwas ausdachte. Ein Skelett im Rathaus. Und er hatte es entdeckt. Das gab eine spannende Geschichte.

Sie musste handeln. Zuallererst die Leute aus dem Haus schaffen, ohne das Geschehen großartig zu erläutern.

Evelyn erklärte kurz und knapp, obwohl das sicherlich ein Nachspiel haben würde: »Sie sagen den Kollegen bitte, dass sie alle nach Hause gehen können. Und morgen braucht erst mal auch niemand zu kommen.«

»Des isch klar. Das ist ein Tatort. Saget dia im Sonntagskrimi.«

Auch das noch! Ein Sonntagabendkrimi-Schauer.

Behalte einen kühlen Kopf, mahnte sie sich und versuchte, nicht an den Schädel des Toten zu denken.

»Gemäß meinem Amt als Erste Bürgermeisterin der Marktgemeinde Nesselwang erkläre ich …«, ein zutiefst ernsthafter Blick, dazu ein offizieller Ton, Evelyn legte ihm eine Hand auf die Schulter, um ihre Worte zu betonen, »dass die Ihnen anvertrauten Geheimnisse nicht unbefugt an Dritte weitergeleitet werden dürfen.« Sie legte einen Finger an die Lippen – Schweigepflicht. Sie mussten den Mann davon abhalten, dass er mit der gruseligen Neuigkeit hausieren ging.

»Hoi!« Was ihn so erstaunte, war ihr ganz egal. Leider war keine Ausrede passend, um den Leichenfund irgendwie herunterzuspielen.

»Hoi«, schloss sich Peter an.

»Name und Anschrift hinterlassen, falls die Polizei etwas wissen will.« Sie versuchte, den Arbeiter zur Kellertür hinauszubugsieren.

»Wir haben alle Daten.« Peter hob bedeutsam eine Augenbraue. »Uns haut keiner ab.« Er näselte ein wenig. Tiefes Luftholen kam für ihn nicht in Frage.

Natürlich hatten sie alles. Die Aufregung war schuld. Der Arbeiter nickte. »Sie melden sich dann, wenn’s weitergehen soll, oder? Von wegen letzte Ruhe, gell?«

Er verschwand über die Treppe und rief den anderen zu: »Mir sind für heut fertig. Zeug einpacken, mitnehmen. Ob wir morgen noch mal eintrudeln, ist nicht sicher. Die Frau Bürgermeister sagt, ich muss den Mund halten. ’s gibt da so ein Verschwiegenheitsdings. Aber ich verrat so viel: Es ist gemein gruslig, und sie sagt plötzlich ›Sie‹ zu mir.«

Evelyn lehnte sich luftholend gegen den Türstock. Sie war nicht auf Du und Du mit ihm gewesen. Jetzt würde sie ab- und Peter, sich selbst und den Tod einschließen. Gleich. Sobald sie keine Stimmen mehr von oben vernahm.

Peter hob eine Schulter. »Man darf bezweifeln, ob das den Filz wirklich vom Rumratschen abhält.« Filz war der Spitzname des Mannes, Evelyn hatte gehört, wie die Kollegen ihn riefen.

»Zum Sich-interessant-Machen taugt es jedenfalls. Und zum Herumgeheimnissen«, gab Evelyn zurück. »Ich lass dich mal kurz allein. Du hütest unsere Leiche, ich versuche, Justus Abeling irgendwo zu erwischen.«

»Da wär noch was, Frau Bürgermeister«, meinte Peter. Offenbar packte er den Satz jedes Mal aus, wenn es knifflig wurde.

»Was denn?«, fragte sie.

»Der neue Pfarrer. Du hast dich mit ihm verabredet. Heute.«

»Hm«, meinte Evelyn. Den Geistlichen hatte sie über alldem ein wenig vergessen.

Wolfgang Hager folgte auf den alten Pfarrer Winkler, über den es nicht viel Gutes zu sagen gab. Doch der bezahlte längst für alles Ungute: Diagnose Gehirntumor.

Evelyn musste Hager bald treffen und vor allem seine Ansichten kennenlernen, es gab da einige Gemeindeprojekte.

»Den Pfarrer kann ich jetzt nicht dazwischenschieben«, sagte sie dennoch.

»Wie du das betonst!« Peter zog ein Gesicht.

Und wie es in keiner Weise gemeint war. Jetzt hörte sie sich schon an wie er.

»Den rufe ich später an«, beschloss sie. Wenn sich der Nebel in meinem Kopf verzogen hat.

»Raus mit dir jetzt! Ich mache hinter uns die Tür zu, der stinkt zum Himmel.« Peter wedelte mit der Hand, um den Totengeruch zu verscheuchen. »Ich frag mich schon, wie der da reingekommen ist.«

Ich will es gerade gar nicht wissen, war Evelyns lautlose Erwiderung.

Dieser Filz, der Arbeiter, hatte ganz recht, von wegen letzte Ruhe. Sie hatte wegen Nebensächlichkeiten vor sich hin gebrummelt und aus Mücken Elefanten gemacht, anstatt an das Naheliegende zu denken. Hätte sie die Zeit, würde sie sich über sich selbst ärgern. Sie hatte keine.

Evelyn drehte den Schlüssel des Osteingangs herum, lief zum Vordereingang und versperrte auch den.

Hinter ihrem Schreibtisch drehte sie den Bürostuhl zum letzten Licht des Nachmittags und ließ sich am Handy mit Justus Abeling verbinden.

»Eve.« Wie er es sagte, klang es, als ob er sich gerade ein Stückchen Schokolade auf der Zunge zergehen ließ.

Sie räusperte sich. »Ich muss dich dringend sprechen.«

»Beinahe jederzeit, ich schließe gleich die Akte hier. Dann bin ich zu jeder Schandtat bereit.«

Wäre ich auch gern, dachte sie. Stattdessen musste sie die Stimmung verderben, durfte sie gar nicht erst aufkommen lassen. »Justus, wir haben ein Problem. Im Rathaus liegt ein Toter.«

Einen Augenblick herrschte Stille, dann: »Was ist passiert?«

»Das werdet ihr herausfinden müssen. Passiert ist es schon vor längerer Zeit.« Doch im selben Moment, als ihr das über die Lippen kam, wusste Evelyn, dass sie das Herausfinden auf keinen Fall nur der Polizei überlassen konnte. Wie auch, sie würde es nicht schaffen, den Anblick der Leiche in eine der praktischen Schubladen in ihrem Kopf zu verbannen.

»Du kennst doch die W-Fragen … gib mir einfach ein paar Fakten.«

Justus hatte auf dienstlich umgeschaltet.

»Mysteriöse Todesumstände würde ich es nennen.« Auch wenn so die Zeitungen titelten, es war dennoch eine Tatsache.

Von den W-Fragen konnte sie nicht eine beantworten. Wo ist es passiert? Nicht zwangsläufig hier im Rathaus. Aber wahrscheinlich, wenn man sich nicht direkt anlügen wollte.

Was ist passiert? Die Leiche hat einen Riss im Schädel, an einer Stelle ist der Knochen eingebrochen.

Wer ist betroffen? Unmöglich, das zu sagen. Sie hatten sich nicht vergewissert. Wer wollte schon in dieser Situation nach einer Brieftasche und Ausweispapieren suchen?

Evelyn beschrieb Justus die Entdeckung, die ihren Anfang genommen hatte, als sie beschlossen hatte, die feuchten Stellen im Keller prüfen zu lassen. Von den Handwerkern, die gerade im Haus waren.

»Einer der Arbeiter vom Schimmling hat mit seinem Vorschlaghammer ausgeholt, und – rums! – schon war die halbe Wand eingerissen.« Das hatte Evelyn jetzt etwas abgekürzt.

»Das heißt, halb Nesselwang weiß schon Bescheid«, lautete seine Übersetzung. Bevor Evelyn dazu etwas sagen konnte, fuhr er fort: »Es wird gleich ein Beamter bei euch sein, außerdem ein Polizeifotograf, und ich schicke die Ambulanz los.«

»Eine halbe Ewigkeit zu spät«, sagte Evelyn. »Er wurde in diese Nische da gestopft. Er hängt in seiner Kleidung und sieht aus, als wäre er dort im Feuchten langsam verfault.« Sie empfand einerseits Mitgefühl und andererseits Wut, dass einer es gewagt hatte, in ihrem Rathaus einen Toten zu verstecken.

»Er?«, hakte Justus nach.

»Ich weiß natürlich nicht sicher, ob die Leiche männlich oder weiblich ist. Ich denke, sie fühlt sich eher männlich an.«

»Eve, das ist jetzt wirklich unpassend.«

Sie hörte ihn schwer atmen.

Unpassend. Die komischen Wieworte, mit denen sie es heute zu tun bekam, waren unnötig und drückten sich an den Umständen vorbei.

»Justus, es ist wirklich eine ganz besonders ekelhafte Gesamtsituation«, sagte sie. »Der Zustand der Leiche.«

»Ich kann es mir nicht einmal denken. Die Bilder, die der Polizeifotograf machen wird, sollen die Umstände und die Bergung des Toten dokumentieren. Ich muss wissen, wer damit zu tun hatte. Aktuell.«

Der Arbeiter, Peter, sie selbst. Wenigstens diese Personenliste ließ sich überblicken. Die Hände an der Leiche, schoss es Evelyn durch den Sinn. Auf Anfang konnten sie die Auffindesituation nicht mehr stellen. »Wird man herausfinden, wer es ist?«, wollte sie wissen.

»Wer das Opfer ist oder wer der Täter war?«

»Justus, die Polizei sollte nicht versuchen, den Leuten Angst einzujagen.«

»Leute.« Das war nicht sie selbst.

»Eve, das habe ich nicht vor. Am Ende sollten wir herausgefunden haben, wer tot ist und wer getötet hat.«

Mit »wir« war ausschließlich die Polizei gemeint. Da konnte sie sich sicher sein.

Auch wenn Evelyn sich auch noch nicht damit auseinandersetzen konnte, war eines doch klar: Der Mörder könnte einer gewesen sein, den sie kannten, ein Mitarbeiter oder jemand, der im Rathaus zu tun hatte.

Justus erklärte, wie es nun weiterging. Die Ambulanz werde vorfahren.

Es wurde kompliziert, sie bemühte sich, alles zu kapieren.

»Jemand muss sich die Leiche anschauen. Ein Arzt. Es klingt umständlich, aber derjenige entscheidet dann aufgrund der Todeszeichen auf einen fremdverschuldeten Tod. Er schlägt vor, was für die Überführung ins Memminger Klinikum benötigt wird.«

Evelyn stutzte. »Nach Memmingen?«

»Das pathologische Zentrum ist in Kempten, aber wir arbeiten gern mit Dr. Geier. Die gute Frau sitzt in Memmingen, und in ihrem Keller befindet sich ein Sektionssaal.«

Heute klang einfach alles absonderlich. Evelyn hatte vielleicht einen Ton von sich gegeben.

Justus sagte: »So jemand nennt sich Landgerichtsarzt. Diese ärztlichen Dienststellen sind eine bayerische Besonderheit. Frau Doktor ist es auch – sie hat schon Mumien begutachtet.«

»Eine Mumie ist furztrocken – dieser Jemand ist es nicht, weil das hinter der Wand ein Feuchtgebiet ist.«

»Wir verfrachten den Toten nicht in den Notarztwagen, solltest du Sorge haben«, sagte Justus beruhigend.

Evelyn wusste schon nicht mehr genau, was ihr eigentlich Sorgen bereitete. »Lässt sich der Polizeipressesprecher heute noch hier sehen?«, fragte sie.

»Wenn ich alles in die Wege geleitet habe. Der Notarzt ist vor mir da und vermutlich vor mir wieder weg. Ich bringe nachher Kaffee für alle mit, denn bevor jemand von der Rechtsmedizin auftaucht und die Leiche einpackt, wird uns die Dämmerung erwischt haben.«

Es könnte spät werden. Sie versuchte, seinem Gedankengang zu folgen. Die Leiche still und heimlich abzutransportieren, das würde nicht ganz gelingen, aber vielleicht hatte man bei Dunkelheit weniger Gaffer zu fürchten.

»Wird hinterher noch jemand kommen und nach verwertbaren Spuren suchen? Dann brauchen wir aber viel Kaffee«, betonte sie. Als gäbe es im Rathaus keine Kaffeemaschine. Vielleicht misstraute er ihrem Geschick.

»Wir werden dich ein wenig aufhalten«, bestätigte Justus. »Das Team wird sich das anschauen … du hast es Nische genannt, sie werden sich diese Nische ansehen. Ohne den Toten. Interessant dürfte sein, was da nicht zu finden ist, was fehlt.«

»Oh, ihr seid Hellseher«, sagte sie.

»In gewisser Weise durchaus«, lautete die Antwort. Das konnte Evelyn auch. Sie ging nicht davon aus, dass der Mensch im Keller gestorben war. Vielleicht war es schlimmer – in einem der Büros.

»Mach auf, wenn es klopft, Eve«, bat er.

Sie sagte ihm, sie freue sich darauf, ihn zu sehen. Das konnte er jetzt wieder »wirklich unpassend« finden. Er sagte ihr, er werde alles tun, was in seiner Macht liege, um die schwarze Wolke, die über dem Rathaus hing, zu vertreiben. »Halte uns nur den gefürchteten Marktgemeinderat vom Leib!«

Evelyn konnte sich gerade glücklicherweise an nichts verschlucken. Falls jemand aus dem Gemeinderat mitbekommen hatte, wie die Handwerker die Flucht ergriffen, stünde Evelyn sagenhafter Ärger ins Haus. Der Marktgemeinderat war der Inbegriff der schwarzen Wolke.

Ihr Lächeln war unecht, als sie sich gut zuredete, dass schließlich alle Türen verschlossen seien und auch die Fenster und somit erst einmal niemand seine neugierige Nase in diese Mordangelegenheit stecken konnte.

Sie musste schnell noch den Pfarrer erwischen.

Kaum hatte sie seine Nummer herausgesucht – Wolfgang Hager, privat – und auf »Verbinden« gedrückt, klopfte es sehr kurz an ihrer Tür. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, schneite Peter herein, mit einem klagenden »Bis du wieder auftauchst, Frau Bürgermeister, ist man schon selbst gestorben!« auf den Lippen.

»Es ist grade ganz schlecht«, sagte Evelyn, an ihn gerichtet, aber der Pfarrer sagte: »Sie rufen mich an«, begleitet von einem Lachen.

»Die Leiche kann da nicht bleiben!«, brauste der Hauptamtsleiter auf ohne Rücksicht auf Verluste und Mithörer. Warum gönnte er sich diese Aufgeregtheit erst jetzt?

Hoffentlich hatte Evelyn schnell genug das Pausenzeichen auf dem Telefon gedrückt. Sie sandte einen, wie sie dachte, feurigen Blick in Peters Richtung, er schnaubte. Einmal Luft holen, dann schaltete sie wieder ein und auf Lautsprecher.

»Manches Mal haben die Toten ein Widerwort«, sagte jetzt laut der neue Pfarrer.

Peter schlug sich die Hände an den Kopf. Als Nächstes erschien zwischen seinen Augenbrauen eine scharfe Linie, als ihm sein Fehler auffiel.

»Hoffentlich nicht«, gab Evelyn zurück. »Doch die Widerworte der Lebenden bedrücken mich eher.« Sie bat Pfarrer Hager um Verzeihung, es sei ihr unmöglich, die Verabredung heute einzuhalten. Sie fügte noch eine Höflichkeit hinzu und wollte das Gespräch beenden. Aber Peter schrieb etwas auf einen Block und hielt ihn ihr entgegen. Sie nickte.

»Übrigens, lieber Pfarrer Hager, was den ›Jugendtreff‹ angeht, freue ich mich auf einen regen Austausch mit Ihnen und viele gute Ideen.«

»Hab ich fürchterlich geschummelt?«, fragte sie Peter anschließend.

»Vielleicht was vergessen, Frau Bürgermeister?«, fragte er zurück. Den Jugendtreff. Ganz sicher.

»Der Hager kriegt schneller was von unserem Toten spitz, als wir zwei Vaterunser hintereinander beten können«, erklärte Peter.

»Erzähl mir mal beizeiten was über Hochwürden«, schlug Evelyn vor.

»Es heißt, der Neue sei ganz ordentlich. Er kann gut mit den Jugendlichen«, erwiderte Peter gleich.

Da hatte der Hauptamtsleiter definitiv mehr mitbekommen als sie. Evelyn war sicher, sie hatte nichts vergessen, sie hatte es gar nicht gewusst. Aber »beizeiten«, das musste nicht jetzt sein. Der Neue war nicht mehr so neu, doch die Erste Bürgermeisterin hatte kaum etwas mit ihm zu tun. Im »Nesselwanger Leben« war er kurz vorgestellt worden. Er war in ihrem Alter, sah ganz gut aus, war mittelgroß und schlank und kleidete sich leger, glaubte sie sich zu erinnern, sein Kreuz trug er an einer Anstecknadel. Irgendwie ähnelte er jemandem, den sie kannte. Sie kam nicht drauf, wem. Es würde einige Zeit brauchen, bis die Nesselwanger ihn auf seine Tauglichkeit abgeklopft hatten. Mögen mussten sie ihn nicht, aber recht machen konnte er es ihnen vielleicht.

Evelyn strich sich über die Stirn. »Gleich geht’s weiter«, sagte sie zu Peter und wiederholte, was Justus ihr zuvor angekündigt hatte.

»Ganz verzweifelt weghören und wegschauen wird niemand.« Peter Pamel, der Prophet des Unheils?

»Vielleicht kriegen wir heute wenigstens noch einen guten Kaffee«, sagte Evelyn.

»Am Ende krieg ich Bauchweh von dem ganzen Duranand.«

Das Klopfen konnte man nicht überhören, der Mann haute mit der Rückseite seiner Faust auf die Tür ein. Evelyn öffnete dem Polizeibeamten.

»Sie haben ein Problem?« Er reckte den Kopf herein wie ein Vertreter, der etwas verkaufen wollte. Womöglich hatte man ihm nur die Hälfte berichtet? Evelyn erwiderte den Blick von Peter, der die Wangen mit Luft füllte wie einen Blasebalg und sie wieder ausstieß. Eine Art, seinen Unmut auszudrücken.

»Im Keller«, gab sie zur Antwort. Der Polizist folgte ihr die Stufen hinunter.

Den Toten schaute er kurz an, drehte den Kopf schnell wieder weg und sagte, er übernehme die Sicherung oben. Niemanden reinlassen? Hoffentlich machte er das aus lauter Angst nicht von draußen.

Als Nächstes kam der Fotograf. Der hatte sein Notebook dabei und eine Kamera mit einem Riesenobjektiv und sein eigenes Licht im Gepäck und wusste genau, was er tat. Er schoss unten im Kellerraum Bilder aus jeder Richtung. Dann packte er die Geräte wieder zusammen. »Kann ich in Ihr Büro? Mir die Bilder auf den Rechner laden?«, fragte er Peter und bekam ein »Lieber nicht«.

»Ich will mir bloß schnell anschauen, ob die Einstellung und das Licht passen«, behauptete er. »Tut sicher keinem weh, und ernst wird es erst nachher.«

Evelyn bot an, er könne gern in ihr Büro gehen.

Anschließend erklang das Signalhorn des Rettungswagens. Evelyn gab einen überraschten Ton von sich. Musste das denn sein?

Der Notarzt mit seiner Ausrüstung stürmte herein, wobei er den Polizisten, der an der Vordertür stand und Wache hielt, wegdrückte. »Wohin?«, fragte er.

»In den Keller«, sagte Evelyn. »Sicher kein Notfall.«

Der Arzt nickte. »Schon gehört.«

Peter schüttelte den Kopf. »Was wird das jetzt, eine Aufforderung: ›Kommet alle und schaut mol schnell nei ins Loch zu eisrer Leich?‹«, regte er sich auf.

»Sie kann da nicht bleiben, oder? Also die Leiche. Und wenn sie nicht bleiben kann, muss jemand sie mitnehmen.« Für wen sagte Evelyn das …

»So ein Totenlicht geht gar nicht, Herrschaften!«, schimpfte der Arzt und deutete auf die Glühbirne, die den Raum gerade einmal neumondhell erleuchtete.

Der Fotograf tauchte wieder auf. Es wurde hell. Der eine wartete auf den anderen. Die Dokumentation ging weiter.

Der Notarzt hatte sich Handschuhe übergestreift, zeigte, wo er das Licht haben wollte, legte dem Toten eine Hand an den Hinterkopf und die andere unters Kinn, wäre das noch vorhanden gewesen.

»Ein Kopftreffer. Womit hier zugeschlagen wurde, muss eine andere Instanz feststellen. Der Schlag wurde hart genug ausgeführt. Einige Knochennähte sind gerissen, Teile der Knochen in den Schädelinnenraum eingebrochen. Vielleicht keine Absicht, aber danach fragt der Tod nicht«, lautete sein Kommentar. War es das, was Justus von ihm hören musste?

Unnatürlicher Tod. Fremdverschulden.

»Das muss Blut sein auf der Jacke.« Es sah aus, als würde er etwas davon abkratzen. Er verrieb es zwischen den Fingern und roch daran. Dann machte er einen Schritt zurück, bevor er in die Hocke ging. »Kopfwunden bluten grässlich. Auch wenn es schnell gegangen ist, muss da irgendwo mal eine Lache gewesen sein. Wenigstens war es keine Lebend-Einmauerung.«

Er zog einen Beutel aus seinem Utensilienkoffer, streifte die Handschuhe ab, gab sie hinein und reichte den Beutel an Evelyn weiter. »Es gibt noch einiges zu tun.« Er hob die Hände. »Ich informiere die Rechtsmedizin, die sollen ihn sich holen. Das wird keine schöne Angelegenheit, den Kameraden dort rauszulupfen.«

Wie nett er das sagte, dachte Evelyn. Als wollte man ein Kind aus seinem Gitterbett heben.

»Rauszulupfen«, wiederholte Peter tonlos. Der Hauptamtsleiter hatte nicht mehr die Nerven, etwas Nettes zu denken. Er zeigte nach oben und war gleich darauf verschwunden.

Ihn. Hatte der Arzt das Geschlecht des Toten festgelegt? »Ein Mann?«, fragte Evelyn.

»Würde ich sagen. Soll ich nachschauen?«

Die Vorstellung, wo er nachschauen würde, war wirklich unpassend, fand sie.

»Er meint den Adamsapfel der Leiche«, bemerkte der Fotograf, der sicher ihr Mienenspiel gesehen hatte.

»Ich meine die Augenhöhlen der Leiche«, sagte der Arzt. »Bei einem Mann sind sie eckiger.« Er packte seinen Koffer und wünschte: »Allerseits noch einen guten Abend.«

»Hm«, erwiderte Evelyn. Daran war wirklich nicht zu denken. Sie warf den Beutel mit den Handschuhen in einen Mülleimer.

Justus hatte, wie von ihm angekündigt, den Notarzt verpasst. Am Rettungswagen ging das Signallicht wieder an. Es würde sich magisch in den umliegenden Fensterscheiben spiegeln. Wer von der Aktion jetzt noch nichts mitbekommen hatte, musste blind und außerdem taub sein.

Der Polizeibeamte lief unruhig im Vorraum herum.

»Wia a legende Henn«, lautete Peters Vergleich. »Wo bleibt jetzt der Kaffee? Das Leichenfluidum macht einen komischen Geschmack im Mund.«

Es war, als hätte Justus die Ankündigung gehört. Auch wenn der Polizist wahrscheinlich nicht den Kaffee gerochen hatte, sondern vermutlich ungeduldig alle paar Minuten hinausschaute, öffnete er, bevor geklopft werden konnte. »Justus, das ist der Horror!«, überfiel er den Ankömmling und wackelte aufgeregt mit dem Kopf. »Der Typ da unten gammelt massiv vor sich hin.«

»Berni, was war ausgemacht?«, fragte Justus zurück.

»Aufpassen, dass niemand stört.«

»Genau«, pflichtete Justus ihm bei. »Du hättest nicht neugierig zu sein brauchen.«

Berni würde sicher eine ganze Weile lang nicht mehr neugierig sein.

Der Polizeipressesprecher schwenkte zwei Thermoskannen und sagte: »Fanni macht einen wunderbaren Kaffee.« Evelyn staunte. Er war nach Hopferau gefahren und hatte in seiner Pension Kaffee kochen lassen? Dieser Mann war für Überraschungen gut.

Justus übergab die Kannen an den Hauptamtsleiter, und Evelyn nahm Peter eine ab. Sie hatten Tassen, Milch und Zucker. Die Löffel waren irgendwohin verschwunden. Wahrscheinlich in der falschen Schublade.

Evelyn organisierte, was sonst noch gebraucht wurde, und stellte das Tablett der Einfachheit halber auf der Treppe ab, die ins Obergeschoss hinaufführte. So konnte sich jeder einschenken und Milch und Zucker nehmen.

Evelyn und Justus hatten nur einen kurzen Blick und noch kein Wort miteinander gewechselt. Die Kellertür fiel ins Schloss. Er war auch neugierig gewesen. »Kein Gedanke, wer irgendwann mal verschwunden und nicht wiederaufgetaucht ist?«, fragte Justus.

»Nein, überhaupt kein Gedanke«, sagte Evelyn. Sie war auch noch nicht großartig zum Nachdenken gekommen.

Justus hatte sich sofort eine Tasse Kaffee eingegossen. Sein Telefon gab einen Ton von sich, jemand schickte eine Nachricht. Er schaute auf das Display. »Flott«, lobte er. »Dr. Ursel Geier, die forensische Rechtsmedizinerin, will sich das Umfeld anschauen.«

»Seit wann kommen denn diese Damen und Herren an den Ort des Verbrechens?« Eigenartig, dachte Evelyn, denn normalerweise gehörte so was doch eher in einen Sonntagabendkrimi. Die Rechtsmedizin lief ihren Leichen nicht hinterher.

»Sie sprach von ›Ärger über einen dämlichen Sektionstisch-Dialog mit dem Kollegen‹, sie müsse sich abreagieren.«

Wie abreagieren?, hätte man da gern gewusst.

»Wo ist denn unser Fotograf?«, fragte Justus.

»Der hockt mit der Leich zam«, sagte Peter.

»Da war ich gerade, im Keller ist er nicht«, gab Justus zurück.

»Nein, er hängt über seinem Bildmaterial. Oben im Büro der Bürgermeisterin«, antwortete Peter. Aber da hörten sie auch schon die Schritte auf der Treppe.

Eine Kaffeerunde später hämmerte es an der Tür zum Osteingang. Die angekündigte Dr. Ursel Geier. Beim Anblick der zierlichen kleinen Frau verlor das Wort »abreagieren« seine brutale Bedeutung.

Ihre beiden bullig aussehenden Helfer brachten eine Rolltrage mit einer Vertiefung und einem hellen weichen Füllmaterial, als rechnete man damit, dass das, was dort hineingepackt wurde, auslaufen könnte. Evelyn musste unsinnigerweise an eine Riesenwindel denken. Peter schluckte an seinem Kaffee.

Die Rechtsmedizinerin stellte sich vor. »Ich kann euch den Abend nicht mehr versauen, das hat schon ein anderer geschafft. Für einen Kaffee melde ich mich auch an«, gab Ursel Geier zu verstehen. »Ich schau mir zuerst an, was wir haben.« Sie zupfte den Fotografen am Ärmel. »Ein Video wäre ganz prima, und ich spreche meine Kommentare dazu.«

Der Fotograf fand das »machbar«.

Was Dr. Geier am Ende hatte, war ein Toter, der sicher seit mehr als zehn Jahren dort drin saß, nahezu luftdicht abgeschlossen, sodass sich Leichenwachs gebildet hatte. Sie war sich sicher, manche Organe waren noch erhalten. Fingerabdrücke zu nehmen war nicht mehr möglich, aber das Zahnschema könnte einiges verraten. Sie versprach, dem Toten all seine Geheimnisse zu entlocken.

Kein Geheimnis war, dass sein letztes Hemd zwar etliche Taschen hatte, doch … »Ich hab geschaut – keine Papiere, aber ich würde darauf tippen, seine karamellfarbene Lederjacke gehört vom Schnitt her, so eine Art Blouson, irgendwo in die Jahre 2005/2006/2007. Was euch nicht weiterbringt, wenn die Vermisstendatei nichts dazu weiß.« Sie nickte zu Justus hinüber. »Ich kann wahrscheinlich überhaupt nicht mit einer Todeszeit dienen.«

»Überhaupt nicht« bedurfte keiner Erläuterung.

»Ich freue mich schon jetzt, die große Anzahl an Suchkriterien einzugeben«, sagte Justus. »Männlicher Weißer«, er unterbrach sich, »dessen Haut im Farbton eher der Lederjacke ähnelt, Alter zwischen dreißig und fünfzig, Körpergröße … ein Meter achtzig? Wenn man einrechnet, dass er geschrumpft sein könnte. Ich meine das nicht sarkastisch«, fügte er hinzu.

»Kannst du auch nicht, davon ist nämlich auszugehen.« Sie lachte leise. »Sehnen und Muskeln ziehen sich zusammen.«

Evelyn hatte nicht zusehen wollen, wie der Tote schließlich auf dieser Trage fortgebracht wurde. Jetzt warteten sie noch auf diejenigen, die sich dort unten umsehen und die noch verbliebenen Spuren zusammentragen sollten.

Mittlerweile fand Evelyn, der Kaffee schmecke etwas bitter.

»Versuch es mit ein wenig mehr Zucker«, empfahl ihr Justus.

»In meinem Kopf geht es drunter und drüber«, gestand sie. »Die Aktion hat mich müde gemacht, ich sehe ständig Gruselbilder vor mir. Kein Kaffee der Welt kann mich noch recht viel länger wach halten.«

»Ich hab so was von keine Lust mehr auf dieses Totengeschäft. Mich graust, was da noch auf uns zukommt – die Ergebnisse der Frau Doktor und dass der Tod da unten still gewartet hat.« Damit war Peter nicht allein, obwohl Evelyn es weniger leidenschaftlich gesagt hätte. »Wie renken wir das bloß wieder ein, am End kommen d’ Leit bloß wegen dem ins Rathaus.« Der Hauptamtsleiter verzog das Gesicht.

»Am besten nichts kommentieren, nichts erzählen«, riet Justus.

»Ich denke immer, ich müsste den Toten kennen«, sagte Evelyn.

Peter war des Augenverdrehens und Kopfschüttelns müde, doch jetzt schossen seine Augenbrauen in die Höhe.

Doch wer ihn schließlich erkannte, war nicht die Erste Bürgermeisterin.

2

Ma isch it direkt nachtragend, aber ma vergisst au nix.Weiß ein Allgäuer

Es war schon lange zu einer lieben Gewohnheit geworden: Floriane machte eine Abendrunde durch Nesselwang. Nicht, um jemanden zu treffen, nein, sie war ganz zufrieden mit ihrer eigenen Gesellschaft. In der frischen Luft, unter dem kobaltdunklen Firmament ließen sich Dinge gut überdenken.

Als wären die Eingebungen, die einem außerhalb der eigenen vier Wände, unter freiem Himmel, kamen, schwereloser.

Eine milde Stimmung, Himmel und Menschen. Außerdem gefiel es ihr, dass gegen Abend nur wenige Leute unterwegs waren, und diejenigen, die sich aufmachten, hatten ein bestimmtes Ziel. Ein Lokal, ein Restaurant, eine Veranstaltung.

Floriane musste nur auf sich selbst schauen und nicht auch noch für die anderen mitdenken. Sie wollte mit ihrem Stock den Eiligen nicht unbeabsichtigt ein Bein stellen, aber ohne den stützenden Helfer waren selbst kürzere Strecken mühevoll. Sogar der fürchterliche Verkehr auf der Füssener Straße, der sich tagsüber mörderisch durch den Ort quälte, war um diese Zeit abgeflaut, und man konnte es wagen, den Zebrastreifen zu benutzen. Floriane hatte ihn beim Bekleidungsgeschäft gerade überquert, als ein Rettungswagen vorbeifuhr und ein Stück weiter vorne hielt.

Sie wollte herausfinden, wo etwas passiert war. Ein einwandfreier Zufall, wie es ihr schien. Vielleicht konnte sie ihn nutzen.

Eine Ambulanz rüttelte inzwischen nicht mehr an ihrer Erinnerung. Seit dem blöden Unfall hatte Floriane ihre Leichtigkeit eingebüßt. Man durfte Zebrastreifen nicht in blindem Vertrauen auf die anderen Verkehrsteilnehmer überqueren. Das wusste sie nun sicher, wenn auch ein wenig spät.

Aber wen hatte es diesmal getroffen?

Kaum seltsam, dass ein Mann mit einem Arztkoffer ausstieg, aber mehr als seltsam, dass er mit der Faust gegen die Tür des Rathauses trommelte, ein Polizeibeamter ihm öffnete und der Sanitäter entspannt im Wagen sitzen blieb. So lief es normalerweise nicht. Da war etwas anderes im Gange.

Ihr Bein mochte dann und wann streiken, doch ihr Spürsinn ließ sie nie im Stich.

Wie könnte sie an die Fakten kommen? Floriane verpackte, wenn sich etwas Seltsames zutrug, ihren Gedanken in eine Schlagzeile. Die Geschichten ergaben sich noch immer, doch so mühelos zu recherchieren waren sie nicht mehr. Früher war Floriane Richter jedem Geheimnis auf der Spur gewesen. Ihre Antworten hatte sie meist bekommen.

Die Antwort auf die Frage, was da im Nesselwanger Rathaus vor sich ging, interessierte sie brennend. Noch ein wenig warten und beobachten. Wenn man im Schatten des Steinbogens vom Gasthof Bären stand, wurde man ein wenig unsichtbar.

»Wollen Sie wissen, was da drüben los ist, Frau Richter?« Das fragte genau der Richtige. Sie hatte Tim schon vorher gesehen, sich aber noch nicht entschieden, ob sie den Zwölfjährigen tatsächlich bemerken wollte. Er zog eine Schulter hoch. »Wir könnten verhandeln«, lautete sein Vorschlag.

Er war der Typ Blutsauger; nur handelte er mit Informationen, mit Geheimnissen. Worüber wollte er hier verhandeln? Sie wünschte, sie könnte ihn ignorieren, doch das hätte wenig Sinn, denn er wusste längst, dass sie von Berufs wegen informativ veranlagt war.

Er hatte sie ertappt, wie sie fremde Post aus einem Briefkasten geangelt hatte, um einen Verdacht zu bestätigen. Tim wohnte in der Nachbarschaft, war unglaublich neugierig, und nachdem er sie erwischt hatte, hatte er schnell in Erfahrung gebracht, dass sie für eine Zeitung arbeitete. Er hatte gut kombiniert und ihr angeboten: »Ich kann Ihnen Sachen erzählen.« Nie zuvor war ihr bei dem harmlosen Wort ein Schauer über den Rücken gelaufen.

Von dem Zeitpunkt an war Tim öfter mit irgendwelchen »spannenden Infos«, wie er es nannte, angekommen. Was man sich über eine Erbschaft erzählte, dass der Hausarzt sich geweigert hatte, einen Totenschein auszustellen, Verdacht auf Gift, das muss untersucht werden. Dass im Seniorenheim ein Heiratsschwindler unterwegs war, der schon der dritten betagten Dame einen Antrag machte.

Floriane hatte ihm einige Fangfragen gestellt und war zu dem Schluss gekommen, dass sich das ein Zwölfjähriger wohl nicht ausdenken konnte. Tims Vater arbeitete als Elektriker, und die Mutter schrieb die Protokolle bei den Gemeinderatssitzungen. Tim verstand sich vermutlich auf die Rolle des verbindlichen Sohnes. Da brauchte er die Eltern nur zu fragen, wie ihr Tag gewesen war, und bekam so manches zu hören. Dachten sich Eltern etwas dabei, wenn sie ihrem Kind solche Sachen erzählten? Sicher nicht. Und ganz sicher verhökerte auch nicht jedes Kind die erhaltenen Informationen gewinnbringend.

Sie zog ein Gesicht. Man erfuhr einiges, wenn man die Ohren spitzte. Oder die richtigen Fragen stellte.

Die besonderen Informationen, für die Florianes Artikel bekannt waren, hatten sich noch vor ein paar Jahren wie reife Früchte vom Baum pflücken lassen. Jetzt war der Einsatz ein anderer. Sie wollte sich nicht überlegen, wie tief man fallen konnte …

Einen Geldschein aus der Brieftasche zu nehmen war ein Zeichen, dass man gestümpert hatte. Sie hasste es und sich dafür auch.

»Ich komm da locker rein, ich kenne eine Schwachstelle«, wollte er sie ködern. Möglich, sogar wahrscheinlich, dass er das Rathaus ausspioniert hatte.

Anstiftung zu einer Straftat nannte man das wohl, falls Floriane zustimmte.

Tim hatte wahrscheinlich schon immer eine Nase dafür gehabt, womit sich Geld verdienen ließ. Floriane konnte es nur nicht leiden, wenn es sich dabei um sie handelte. Der würde sogar noch dem Pfarrer ein Geschäft vorschlagen. Sie überlegte. Tim war ungeduldig, sie war zögerlich. Er legte den Daumen unters Kinn, ließ den Zeigefinger erhoben und kippte beides, sodass es aussah wie eine Pistole. »Also, dreißig Euro für einen Blick, was da drin grade los ist. Vierzig mit Foto.« Er förderte ein Smartphone aus seiner Hosentasche.

»Wenn dich jemand erwischt …« Floriane schüttelte den Kopf.

»Ist es saublöd gelaufen«, wiegelte er ab. Eiskalt, wie es ihr vorkam. Kaum hatte er ausgesprochen, streckte er schon die Hand aus. Jetzt hatte Floriane das dumme Gefühl, Tim könnte trotz der abendlichen Schatten in ihrem Gesicht lesen.

»Fotos nur, wenn es sich lohnt«, sagte sie. Er nickte. Sie holte ihre Brieftasche heraus und gab ihm zwanzig Euro. »Den Rest, wenn du mir was bringst.« Das »Allgäuer Blatt« würde einen Artikel mit Foto lieber sehen.

»Sie immer mit Ihrem Misstrauen!« Der Junge wäre weniger unsympathisch, wenn da nicht sein Grinsen wäre.

»Sieht voll danach aus, als gäbe es was.« Er schnippte mit den Fingern. »Sie wollen bestimmt warten.«

Sie wollte nicht, aber sie würde es tun; sie senkte die Augen, aber sich zu schämen brachte gar nichts. Die Themen, zu denen Tim ihr etwas lieferte, erzählten etwas darüber, was sich in der Region abspielte, womit die Allgäuer sich befassten.

Vor dem Unfall, und bevor das dumme Bein ihre Beweglichkeit und die dazugehörenden Schmerzen diktierte, war sie ins Auto gestiegen, ohne groß nachzudenken. Hauptsache, die Sache war es wert, und ihr Gefühl trog sie sehr selten. Sie war die Jägerin der Schlagzeile auf Seite eins gewesen. Und würde einiges tun, um regelmäßig mit ihren Artikeln wieder die erste Seite zu erobern. Dass ihre besten Tipps von einem Zwölfjährigen stammten, hatte sie gründlich satt.

Ein Freizeit-und-Unterhaltungs-Magazin hatte bei Floriane angefragt, ob sie für die Serie »Einfach bärig« einen Beitrag schreiben wolle. Das Wollen musste nicht überlegt werden, es wurde gut bezahlt, aber etwas anderes schon: Wie sollte man über ein Berglokal berichten und Wohlfühlpunkte vergeben, wenn man sich zuerst damit auseinandersetzen musste, wie man den Ort überhaupt erreichte? Mit der Gondel hinauffahren, über Stock und Stein? Nicht einmal dafür war sie fit genug.

Ehemals war Floriane tatsächlich eine Reporterin ohne Grenzen gewesen. Sie war zwar noch immer Mitglied der Organisation, doch ihre Physis verdammte sie zum Stillhalten, und nicht alle Grenzen ließen sich überwinden. Nebenbei gab sie Schreibkurse über Magazinjournalismus – wie man aus einer lahmen Geschichte die Story herauskitzelte. »Nebenbei« sagte sie noch immer, doch in Wahrheit war dieser Online-Verdienst ihre beste Einnahmequelle.

Im World Wide Web durfte sie sein, wer immer sie wollte.

In Nesselwang musste sie die sein, die sie war. Und gerade wusste Floriane leider genau, dass Seite eins im »Allgäuer Blatt« durchaus drin wäre, wenn sie dafür bezahlte, denn ihr Gefühl sagte, im Rathaus spielte sich gerade Merkwürdiges ab, das sich auch für sie lohnen könnte.

3

Gloge wead it. Allgäuer sind wahrheitsliebend.Würde man so stehen lassen

Als ihr Bett plötzlich nachgab und eine feuchte Zunge ihr Gesicht bearbeitete, wusste Evelyn sicher, dass die Nachtruhe vorbei und überdies sehr kurz ausgefallen war. »Bine!«, jammerte sie. »Hör auf, das mache ich selbst.«

Der Hund konnte keine Türen öffnen, das musste ein anderer getan haben.

»Paulinus, es ist wahrscheinlich Samstagmorgen, und ich wollte länger liegen bleiben«, lautete die Information für ihren Enkel.

Er lehnte an ihrer Schlafzimmertür. »Ich hätte dich auch gelassen, aber du wärst sicher nicht dankbar gewesen«, sagte er voller Überzeugung. »Ist selten, dass das ›Allgäuer Blatt‹ eine Sondermeldung bringt, oder? Aber ziemlich überzogen, das ›Brandmeldung‹ zu nennen.«

»Wo hat’s gebrannt?«, fragte Evelyn.

»Nicht im Sinn von Feuer und Rauch«, erklärte er. »Aber im Sinn von ›Das müsst ihr unbedingt erfahren!‹. Komisch, dass jemand von der Zeitung das gestern schon wusste, nachdem es erst gestern passiert ist … Frag lieber mal, wer von deinen Leuten was rumerzählt.«