Der Teufel vom Chiemsee - Ina May - E-Book

Der Teufel vom Chiemsee E-Book

Ina May

3,8

Beschreibung

Ein mysteriöses Versteck im Kloster Frauenchiemsee. Bei Abbrucharbeiten im Kloster Frauenchiemsee wird ein geheimer Raum entdeckt, in dem eine Million D‑Mark versteckt sind. Schnell kann die Verbindung zu einer alten Entführung mit Lösegeldforderung hergestellt werden. Doch vom Opfer fehlt bis heute jede Spur. Schwester Althea kann das Ermitteln nicht lassen – und kommt einem Täter auf die Schliche, mit dem keiner gerechnet hat ...

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Ina May wurde im Allgäu geboren und verbrachte einen Teil ihrer Jugend in San Antonio/Texas. Nach ihrer Rückkehr in die bayerische Heimat absolvierte sie ein Sprachenstudium und arbeitete als Fremdsprachen- und Handelskorrespondentin für amerikanische Konzerne. Heute ist sie freie Autorin und lebt mit ihrer Familie im Chiemgau.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Paul Mayall/Lake Chiemsee/Alamy

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, Tobias Doetsch

Lektorat: Uta Rupprecht

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-269-4

Oberbayern Krimi

Originalausgabe

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Prolog

München-Grünwald

Der Abend des 26. September 1997

Florian hockte vor dem Fernseher und schaute eine Krimiserie, die er eigentlich nicht sehen durfte, weil sie für einen Elfjährigen zu blutrünstig war. Doch heute kümmerten sich seine Mutter und sein Vater kein bisschen um sein Fernsehprogramm. Sie hatten andere Sorgen und starrten nur wie gebannt auf das Telefon. Die Angst ließ seine Mutter älter aussehen. »Warum Magda?«, flüsterte sie. »Wenn ihr etwas passiert … das überlebe ich nicht.« Ihre Lippen bebten. Immer wieder strich sie den Zettel glatt. Er hatte im Briefkasten gelegen.

ICH LIEBE EUCH – BITTE ZAHLT DREI MILLIONEN IN 20-, 50- UND 100-MARK-SCHEINEN UND FOLGT DEM PLAN. SONST WERDET IHR MICH NIE WIEDERSEHEN.

Dazu die Warnung, keine Polizei einzuschalten. Seine Mutter hielt das rote Zeug zwischen den Zeilen für Blut.

Florian verwünschte seine verwegene sechzehnjährige Schwester. Verdammt, Magda! Warum musst du immer für irgendeinen Aufreger sorgen?

Er hatte sich so auf eine Woche im Indianerlager in Eschenbach gefreut. Am Lagerfeuer sitzen, Würstchen grillen, mit dem Schlafsack im Zelt übernachten. Das konnte er jetzt vergessen. Manchmal wäre es richtig toll, ein anderer zu sein und nicht der Sohn eines reichen Verlegers. Dann würde auch niemand auf die Idee kommen, das Erpresserschreiben könnte echt sein.

Der andere Brief, den Florian in der letzten Woche aus Magdas Tasche gemopst hatte, der war echt und außerdem Zündstoff. Seine Eltern würden es nicht gut finden, dass Magdas Nachhilfelehrer ihr schrieb, vor allem nicht, was er schrieb. Seine Schwester war total verschossen in Sebastian Baumgart. Florian hatte heute nach der Schule beobachtet, wie Magda einen Rucksack packte und dann ohne ein Wort verschwand. Klar, dem jüngeren Bruder verriet man nichts, aber trotzdem – warum musste sie sich ausgerechnet diesen Tag aussuchen, um zu verschwinden?

Konnte bei ihm nicht auch einmal etwas gut ausgehen?

Wenn sie nicht bald anrief, würde er den Brief herzeigen.

Es war später Abend. Das Telefon schwieg noch immer.

Florian ärgerte sich über das brütende Schweigen seiner Eltern, die tatsächlich auf einen Anruf des Entführers warteten.

Magda hatte in der letzten Zeit einige seltsame Dinge gemacht, verraten hatte Florian sie trotzdem nicht. Aber jetzt reichte es ihm!

Papa legte den Arm um Mama, ihr Gesicht hatte inzwischen eine leicht gräuliche Färbung angenommen.

»Magda ist zusammen mit ihrem Nachhilfelehrer abgehauen«, platzte Florian heraus.

Seine Mutter holte aus und gab ihm eine gepfefferte Ohrfeige. »Jemand hat deine Schwester entführt!« Sie schrie es fast.

Überrascht und verletzt hielt Florian sich die Wange, drängte die aufsteigenden Tränen zurück und wandte sich ab.

Blöder Brief, er würde ihn verschwinden lassen. Magda wünschte er aus tiefstem Herzen: Hoffentlich hat dir jemand so richtig den Mund gestopft.

1

Nacht lag über dem Chiemsee. Draußen lärmte es, als würden sich Einbrecher lautstark an Fenstern und Türen zu schaffen machen.

»Ein solcher Sturm bringt meist etwas zum Vorschein«, sagte Priorin Jadwiga und zog mit einem entschlossenen Ruck die Vorhänge zu. Der Regen peitschte vom See her wütend gegen die Fenster des Büros. Das Kloster Frauenwörth hatte schon viele Stürme gesehen, es würde auch diesen überstehen.

Im letzten Sommer hatte ein Sturm den Tod in einem alten Koffer zum Vorschein gebracht, woran sich Althea lieber nicht erinnern wollte. Sie hoffte, dieses Wetter würde einfach weiterziehen und keinen dunklen Schleier lüften.

»Wir müssen auf diese Einladung reagieren«, unterbrach Jadwiga Altheas finstere Gedanken. Eine Einladung? Hatte Jadwiga sie deswegen herzitiert? Die Priorin winkte sie zu sich hinter den Schreibtisch.

Althea warf einen überraschten Blick auf die Nachricht, die Jadwiga gerade im Outlook-Programm des Klostercomputers geöffnet hatte. Der Absender hatte die Mail mit Musik und einem animierten GIF unterlegt, ein pausbäckiger Engel blies eine Posaune.

Das Gedudel war grauenhaft. Der kirchliche Radiosender mit Namen »Die himmlische Fanfare« lud eine Schwester der Benediktinerinnenabtei Frauenwörth zum Interview ein, um über den spannenden Alltag im Kloster auf der Fraueninsel zu berichten. »Spannend« und »Alltag«, eine etwas gewagte Kombination, wie Althea fand. Ihr schwante Übles.

Nicht grundlos.

»Schwester Althea, ich wäre dir sehr dankbar, wenn du diesem besonderen Ruf folgen würdest.«

Überrascht riss Althea die Augen auf. »Ich bin das schwarze Schaf in einer weißen Herde. Jadwiga, du kannst nicht wollen, dass ausgerechnet ich unser Kloster in dieser Radiosendung präsentiere«, sagte sie. »Können wir die Nachricht bitte wieder schließen? Das Gedu… diese Hintergrundmusik ist sehr aufdringlich.«

Die Priorin nickte, und es wurde wieder angenehm leise. »Schwarzes Schaf hin oder her, es geht auch darum, scharfsinnige Antworten zu geben, und darauf verstehst du dich«, parierte Jadwiga. Althea erkannte an ihrem zuckenden Mundwinkel, dass es keinen Anklang fand, wenn sie ihre Mitschwestern als eine Herde Schafe bezeichnete.

Doch ehe sie dazu etwas bemerken konnte, tat es Jadwiga. »Sei unbesorgt, ich werde dir nicht vorschreiben, was du in der Sendung sagen sollst. Wenn möglich, zeige Initiative, sei gesprächig, aber nicht allzu lässig.«

Althea brachte nur ein verkrampftes Lächeln zustande.

Gehorcht dem Herrgott lieber, sonst sendet er euch Fieber, dachte sie. Es reimte sich, darum hatte sie es sich wahrscheinlich gemerkt. Viel zu dramatisch, Althea! Der Herrgott hatte mit dieser infernalischen Fanfare nichts zu schaffen, er brockte ihr so etwas nicht ein. Das tat Jadwiga, und Althea hatte keine Ahnung, wie sie aus der Sache wieder herauskommen sollte.

»Vergiss es bitte nicht.« Auf Jadwigas fragenden Blick fügte Althea hinzu: »Das mit der Dankbarkeit. Es bedeutet doch, ich habe etwas gut?« Hoffentlich. »Wann ist dieser Termin?«

»Du hast die Nachricht nicht zu Ende gelesen«, schnaufte Jadwiga.

Die schmetternde Posaunenfanfare hatte Althea verschreckt.

»Im Oktober zum Erntedankfest heißt es hier.« Jadwiga streckte eine Hand zum Computer aus, sie wollte sich offenbar noch einmal vergewissern.

»Nicht.« Althea hielt sie zurück. »Ein guter Gedanke.« Sie nickte eifrig. »Da wird der Acker vom Schicksal neu gepflügt.«

Jadwiga warf ihr einen seltsamen Blick zu. Wenigstens nahm sie die Hand von der Tastatur.

Bis zum 1. Oktober war zum Glück noch ein wenig Zeit.

»Und dann gibt es da noch eine andere Kleinigkeit«, begann Jadwiga erneut.

»Noch eine andere Kleinigkeit?«, wiederholte Althea beinahe tonlos.

»Sie betrifft das Vermächtnis des verstorbenen Pfarrers Grandner.« Jadwigas Blick fing den von Althea ein, es gab kein Entkommen.

»Ich würde nicht sagen, dass ich den Pfarrer mochte«, gab diese zu.

»Er war sehr eigenwillig, aber das bist du auch. Doch um den Pfarrer geht es nicht, sondern um seine Scleropages und Abramites hypselonutus.« Jadwiga lachte.

»Das ist natürlich ganz was anderes.« Althea brauchte nicht zu sagen, dass sie keine Ahnung hatte, das konnte man ihr durchaus ansehen. »Der Herrgott wird es schon richten.«

»Wieso er, wenn unserem Pfarrer Grandner eine Ordensschwester genügt?« Die Priorin war offenbar zu Scherzen aufgelegt.

»Damit machst du mir wirklich Angst«, bekannte Althea. »Und rascheln nur die Zweige, dann rennt ihr fort ganz feige.« Das reimte sich auch und war ebenso gruselig zu deuten.

»So schlimm wird es nicht«, versprach Jadwiga. »Gute Nacht, Schwester Althea.«

Althea aber war sich dessen nicht so sicher.

2

Am kommenden Morgen wurde Althea von Roy Black geweckt. »Schön ist es, auf der Welt zu sein«, tönte ihr Radiowecker. Ganz sicher, doch es war frühester Montagmorgen. Sie seufzte und drückte auf die Schlummertaste. Noch ein kleines bisschen Ruhe, bitte. Sie hatte in der letzten Nacht einen Traum von dicklichen, posaunenden Engeln gehabt und geglaubt, die himmlische Fanfare zu hören. Ein Alptraum der schlimmsten Sorte. Danach hatte sie kein Auge mehr zugetan und sich irgendwann entschlossen, lieber noch ein paar Kapitel in dem Agatha-Christie-Krimi zu lesen.

»Ich streu euch zu den Heiden, dort sollt ihr weiter leiden«, muffelte sie. Sie hatte über die Sprüche im dritten Buch Moses, die während des Noviziatsjahres im Unterricht besprochen worden waren, immer hellauf gelacht und sich gesagt, Mose könne das nicht ernst gemeint haben.

Aber Jadwiga, der schienen ihre beiden Anliegen sehr ernst zu sein.

Althea schob die Bettdecke bis zu den Knien hinunter. Wenn ihr kalt wurde, würde sie freiwillig aufstehen, und kalt würde es im Nu werden. Sie hatte das Fenster gekippt, als der Regen in der Nacht nachgelassen hatte.

Althea dachte an ihr gestriges Gespräch mit der Priorin. Es hatte ganz den Anschein, als müsste sie sich opfern, aber war es denn nicht schon genug, in einem kirchlichen Radiosender aufzutreten? Althea setzte sich auf und schob die Bettdecke ganz hinunter. Sie hatte keine große Lust mehr gehabt, nach dem Vermächtnis des Pfarrers zu fragen. Ihre Neugier hielt sich wirklich in Grenzen.

»Du willst es bestimmt auch nicht so dringend wissen, oder?« Sie drehte an ihrem schmalen Goldring und schaute zu ihrem stillen Mitbewohner, der sich wie so oft bedeckt hielt. Aber der Blick der kleinen Herrgottsfigur genügte schon, er besagte gerade keine Zustimmung. »Ach!«, erwiderte sie.

Sie wusste, der Pfarrer war ein Sammler gewesen, weil er ihr bei einer Gelegenheit ein paar seiner Stücke gezeigt hatte. »Er hat sie bestimmt jedem gezeigt, den er erwischen konnte«, betonte Althea. »Pfarrer Grandner hat mit Vorliebe Käfer und Schmetterlinge gesammelt. Du weißt schon, präpariert und genadelt und hinter Glas. Tot.«

Doch nicht nur deswegen hatte sie den verstorbenen Pfarrer nicht sonderlich gemocht. Sie war ehrlich genug gewesen, es Jadwiga zu gestehen, allerdings völlig umsonst. Hypselonutus. Das hörte sich an, als wären das noch mehr seltene Schmetterlinge.

»Es wird Zeit.« Sie hätte eigentlich schon vor zehn Minuten aufstehen müssen. Althea gähnte herzhaft, schwang ihre Beine über die Bettkante und streckte sich. Ein leises Knacken. Du wirst älter. Das wollte sie nicht denken und hatte ein Lächeln für sich übrig.

Die Vögel hatten schon früh am Morgen ihr zaghaftes Gezwitscher angestimmt, nun klangen sie bereits um einiges eindringlicher, vor allem lauter. Von ihr wurde ebenfalls Wachheit erwartet, in Kürze würde die Glocke zur Morgenmesse läuten. Dafür fühlte sich Althea leider an keinem Tag ausgeschlafen genug.

Sie schlüpfte in ihren Morgenmantel, schnappte sich ein Handtuch und den Kulturbeutel und hastete zur Tür hinaus. Sie hoffte, die meisten Schwestern hätten sich bereits frisch gemacht und sie brauchte das Badezimmer nicht zu teilen. Gerade hatte sie die Türklinke zum Bad nach unten gedrückt, da zerriss ein schriller Schrei die morgendliche Stille. Der Kulturbeutel fiel ihr aus der Hand und entleerte sich auf den Boden. Althea sammelte schnell alles ein, lief zurück zu ihrer Zelle, warf das Handtuch und den Beutel aufs Bett und zog die Tür wieder hinter sich zu.

Eine Ordensschwester rannte nicht, aber Althea tat genau das, über die Galerie und die Treppe hinunter. Einige der Schwestern standen bereits in ihren Ordensgewändern im Gang zur Küche, es schien, als würden sie von einer wundersamen Kraft an Ort und Stelle festgehalten. Das war merkwürdig, sonst waren die Mitschwestern weniger zurückhaltend.

Althea drängte sich durch das erschrockene Stimmengewirr. Keine wagte sich näher heran.

Mit einem Messer in der Hand stand Schwester Fidelis an der Schwelle zur Vorratskammer und sah verzweifelt aus.

»Was ist passiert?«, wollte Althea wissen.

Es wurde unverständlich durcheinandergeschnattert. Sie hatte es eigentlich von Fidelis wissen wollen, aber die war starr vor Entsetzen.

»Da … da ist Blut auf der Klinge«, stellte jetzt Schwester Ignatia fest. Ihre Hand fuhr vor Schreck an die Kehle, entsetztes Luftholen.

»Fidelis.« Althea berührte die Finger der Schwester, sie waren kalt. Beruhigend redete Althea auf sie ein, versuchte, ihr das Messer aus der Hand zu winden. »Das brauchst du nicht, gib es mir.«

Zögernd lockerte Fidelis ihren Griff und überließ Althea das Schneidwerkzeug. Ein erleichtertes Aufatmen war zu hören, so als wäre von Schwester Fidelis irgendeine Gefahr ausgegangen.

Althea schnupperte an der Klinge. Kein Blut, Himbeergelee.

Jammernd deutete Fidelis auf ihre Schuhe. »Das Biest ist über meinen Fuß geflitzt! Ich wollte mir doch bloß ein Marmeladenbrot schmieren. Der Herrgott möge mir vergeben. Mein Magen knurrt immer so grässlich, dass ich mich auf die Messe kaum konzentrieren kann.«

»Was für ein Biest?«, fragte Althea. Sie musste zugeben, ihr war hin und wieder auch schon der Gedanke gekommen, vor der Morgenmesse einen Happen zu essen.

»Eine Maus. Sie kam von da.« Fidelis’ ausgestreckter Finger deutete auf eine Wand in der Vorratskammer. »Die ist sicher nicht allein.«

Aber Althea und Fidelis waren plötzlich allein. Die ganz und gar nicht frohe Kunde über Mäuse, die sich in der Küche blicken ließen, hatte die anderen Schwestern unversehens in die Flucht geschlagen.

»Was ist hier los?«, wollte jetzt Priorin Jadwiga wissen, die sich nicht abschrecken ließ. Sie musterte die beiden Schwestern. »Ich konnte den Schrei noch auf dem Weg zur Kirche hören.« Ihre lange Nase zuckte, als sie Althea musterte. Die musste nicht raten, dass Jadwiga gleich eine Bemerkung zu ihrem Morgenmantel machen würde.

»Der benediktinische Tag einer Ordensschwester beginnt mit der Prim – übrigens nicht erst seit Kurzem. Da bleibt genug Zeit, sich anzukleiden.« Fehlte nur, dass Jadwiga an Altheas Mantel zupfte. »Wir werden nicht in aller Herrgottsfrüh aus dem Bett geläutet.« Sie nickte feierlich.

Ach nein? Das sagte Althea besser nicht. »Es ist sozusagen eine Notsituation«, erklärte sie. »Denn der Herrgott hat sicher etwas dagegen, wenn sein täglich Brot angefressen wird.« Das war übertrieben, und sie wusste es genau.

»Willst du mir damit sagen, du hattest keine Zeit, dein Marmeladenbrot aufzuessen? Wirklich, Schwester Althea …« Jadwiga beendete den Satz nicht und verzog den Mund, was wahrscheinlich ihre Enttäuschung zum Ausdruck bringen sollte. »Frühstück gibt es nach der Frühmesse – übrigens auch nicht erst seit Kurzem.«

Diese Diskussion wollte Althea nicht führen. Sie schaute zu Schwester Fidelis, die ihren Kopf gesenkt hielt. Von dieser Seite war keine Unterstützung zu erwarten. »Es geht nicht um unser Frühstück, sondern um das Frühstück der Mäuse in der Vorratskammer«, sagte Althea entschlossen.

Jadwiga blickte irritiert. »Mäuse«, murmelte sie, und ihre Hand krampfte sich um die Perlen an ihrem Rosenkranz.

***

Wenig später hatte sich Althea erfrischt und die Zähne geputzt.

Zuvor hatte sie noch gedacht, es wäre schön, das Bad für sich allein zu haben, jetzt war Tempo gefragt. Sie schlüpfte in ihr Ordensgewand, legte den Schleier an und lief eilig zur Messe. Während der Predigt schweiften ihre Gedanken immer wieder ab. Sie war sicher, diese Mäusesache würde Auswirkungen haben, aber das flinke Pelzgetier hatte bestimmt die längste Zeit Spaß in der Klosterküche gehabt. Als die Organistin ihre Hände von den Tasten der Orgel nahm und das letzte Gebet gesprochen war, legte sie das Gotteslob zur Seite.

Gespannt, was dieser Tag bringen würde, gesellte sich Althea zu den Schwestern an den Frühstückstisch. Es wurde offen über eine beginnende Mäuseinvasion gesprochen, obwohl außer Fidelis keine der Schwestern auch nur ein Schwänzchen zu sehen bekommen hatte.

»Wir könnten Fallen aufstellen. Mit Speck fängt man Mäuse«, schlug Schwester Ignatia gerade vor und tauchte den Löffel in ihr Müsli.

»Unsinn!«, behauptete Schwester Hortensis vehement. »Da kann nur ein Kammerjäger helfen.«

»Der sprüht Gift«, wusste Schwester Dalmetia. Sofort entbrannte eine heftige Diskussion.

Reinholda sagte: »Der Herrgott wird sich sicher etwas einfallen lassen, schließlich sind es seine kleinen Geschöpfe. Wir sollten beten.«

Ein wunderbarer Vorschlag, fand Althea und verdrehte die Augen. Nichtstun war natürlich auch eine Möglichkeit.

»Man könnte die Vorräte aus der Kammer in die Küche räumen und nachschauen, wo genau die Mäuse herkommen«, schlug sie vor.

»Hausmäuse kommen ursprünglich aus Afrika.« Fidelis, die Mäuseseherin.

Althea grinste. »Die, die du gesehen hast, Fidelis, hatte die einen Koffer dabei?«

»Natürlich musst du unsere Sorge wieder ins Lächerliche ziehen«, murrte Fidelis, und gleich darauf bekam Althea noch ein »Typisch!« hinterhergereicht.

»Ich nehme die Sache sogar sehr ernst«, erwiderte sie. Irgendwie zumindest. Doch was sie gar nicht leiden konnte, war das Gezeter.

Althea versuchte, nicht weiter zuzuhören, und biss in ihr Marmeladenbrot.

Schwester Fidelis stupste Althea an. »Wie du so genüsslich da reinbeißen kannst, wo du doch vorhin gesagt hast, die Mäuse hätten sich daran gelabt.«

Althea hätte besser den Mund gehalten. Der Brotlaib war nicht in der Vorratskammer, er lag im Brotkasten in der Küche. Die Vorräte lagen nicht offen herum, sie waren entweder verpackt, eingeschweißt oder befanden sich in Gläsern. Was die Mäuse offenbar nicht davon abhielt, herumzuschnüffeln.

Priorin Jadwiga wollte nichts glauben und auch den Herrgott nicht behelligen. »Ich rede mit Valentin Zeiser«, warf sie entschlossen ein. »Die Holzverkleidung in der Vorratskammer sollte entfernt werden. Anschließend reden wir darüber, welche Arbeiten sonst noch erledigt werden müssen.« Und damit hatte sie die Diskussion erst einmal abgewürgt.

Valentin Zeiser war der Pächter des »Klosterwirts«, das Hotel mit seinen Nebengebäuden befand sich in kirchlichem Besitz. Glücklicherweise war der Mann handwerklich ziemlich geschickt. Wenn es kleinere Probleme gab, hatten die Schwestern ihn schon des Öfteren um Hilfe gebeten. Althea erinnerte sich, dass er ihr von einer abgeschlossenen Schreinerlehre erzählt hatte. Hilfreich, insbesondere jetzt gerade, doch unglücklicherweise tratschte Valentin gern. Wenn es eine Mäusekolonie im Kloster gab, dann würde in Kürze die ganze Insel davon wissen.

Jadwiga kündigte an: »Nach dem Frühstück gehe ich rüber und bitte ihn, ob er nicht Hand anlegen kann. Wir werden aber nicht drum herumkommen, die Vorratskammer vorher auszuräumen. Schwester Althea hat ganz recht. Also brauchen wir etwas, um die Vorräte zu verstauen, und mehr als ein paar Hände, um alles zu schaffen, bevor Valentin mit seinem Werkzeug anrückt.«

»Mäuse sind Krankheitsüberträger, ich rühre da nichts an«, sagte Ignatia und brachte es fertig, einen Schmollmund zu ziehen.

»Genau«, fiel Pia ein und nach ihr auch die Übrigen.

»Wir helfen gern an anderer Stelle«, beeilte sich Fidelis anzumerken.

Jadwiga blinzelte überrascht.

Wenn Althea eine passende Bibelstelle eingefallen wäre, sie hätte sich nicht gescheut, sie zum Besten zu geben. Aber mit Bibelstellen war das so eine Sache, die fielen meist anderen ein. Stattdessen hatte sie einen Vorschlag.

»Die Vorratskammer ist schnell ausgeräumt. Ein paar stabile Kartons genügen, dann packe ich die Sachen hinein. Valentin ein bisschen zur Hand zu gehen, dürfte mich auch nicht überfordern. Allerdings würde ich für die Arbeit lieber Jeans tragen. Außerdem möchte ich wegen der ›himmlischen Fanfare‹ gern noch ein paar Worte verlieren.« Althea lächelte die Priorin unschuldig an. »Worte verlieren« war eine beschönigende Umschreibung.

Jadwiga sagte: »Du willst kneifen.«

Althea gab zurück: »Ich will nichts Falsches sagen.«

»Wirst du nicht«, behauptete Jadwiga, und damit hatte sich Altheas Widerspruch erledigt.

Es fühlte sich gut an, wieder einmal in eine Jeans zu schlüpfen und ein T-Shirt mit kurzen Ärmeln zu tragen. Die Gelegenheiten dafür waren allzu selten. Althea schüttelte ihr Haar mit den Fingern auf und schlang im Nacken ein Gummiband um die blonden Locken. Kein Habit, kein Schleier.

Althea hatte heute eigentlich vorgehabt, ein wenig Arbeit im Garten zu erledigen; der Herbst zeigte sich gerade von seiner sonnenwarmen Seite. Die Sieben-Söhne-des-Himmels dufteten mit dem Mönchspfeffer um die Wette. Aber wie es aussah, war die Mäusesache dringlicher.

»Vielleicht hast du gar keine Maus gesehen, Schwester Fidelis?« Der Gedanke war Althea gerade erst gekommen. Die Schwester hatte womöglich vor lauter Hunger halluziniert. Aber sie würden in Kürze herausfinden, ob sich Mäuse einquartiert hatten.

Ein paar leere Kartons standen im Gang bereit, die Küche war verlassen. Althea machte sich daran, den Inhalt der Vorratskammer in den Kartons unterzubringen; die Küchenuhr tickte vernehmlich. Bei der Arbeit hatte sie den Eindruck, als würden die Sachen auf den Regalen überhaupt nicht weniger, bloß ihre Kartons voller. Im hintersten Winkel entdeckte sie eine Kirschlikörmarmelade, von der sie dachte, die hätte man probieren müssen, sie war aber leider schon lange abgelaufen.

Nachdem Althea sämtliche haltbaren Vorräte verstaut hatte, wartete sie auf das Erscheinen des Klosterwirts. Sie setzte Kaffee auf, bestimmt würde auch Valentin das begrüßen. Kaffeetage waren für Althea ungefähr so selten wie die Jeans-und-T-Shirt-Tage.

»Die schöne Nonne«, schmunzelte Valentin Zeiser wenig später, als er sich mit einem chromfarbenen Koffer durch die Tür schob. Er hatte seinen Helfer im Schlepptau, von dem Althea wusste, dass er als Servicekraft im Restaurant arbeitete.

»Warum überrascht es mich nicht, ausgerechnet dich zu sehen, Schwester Althea«, sagte Valentin. Es war keine Frage, darum nickte sie nur. Als »schöne Nonne« hatte eine Zeitung Althea bezeichnet, als sie versucht hatte, einem Rätsel auf den Grund zu gehen, und dafür in den Chiemsee getaucht war. Ein Boot der Wasserwacht und ein neugieriger Reporter, der Fotos schoss, hatten Althea erwartet, als sie wieder auftauchte.

Einer Nonne in Unterwäsche zu begegnen, war nicht alltäglich, und diese Nonne hatte rote Unterwäsche getragen. Seitdem zog Valentin sie damit auf.

Althea schenkte die Kaffeetassen voll und stellte Milch und Zucker dazu.

»Wenn mir die Priorin gesagt hätte, dass du hilfst, dann hätte ich Hannes nicht gefragt«, erklärte Valentin. Er nahm sich eine Tasse und ließ fünf Zuckerwürfel hineinfallen.

»Jetzt bin ich schon mal da. Vielleicht ist ja mehr zu tun. Warum sollen die Holzpaneele weg?«, wollte Hannes wissen.

Althea kannte den vollen Namen des jungen Mannes nicht. Valentin hatte ihn erst vor zwei Monaten eingestellt, aber Hannes hatte sich bereits unentbehrlich gemacht. »Er ist verlässlich und kapiert auf Anhieb, was ich will«, hatte der Klosterwirt ihr verraten. Dass Hannes gut aussehend, schlank und groß gewachsen war, entging auch einer Nonne nicht.

Althea legte verschwörerisch einen Finger an die Lippen. »Vielleicht stoßen wir auf kleine graue, unfreundliche Nagetiere«, sagte sie.

»Dann erübrigt sich die nächste Frage, warum sich keine der anderen Schwestern blicken lässt.«

»Hannes, du bist nicht mitgekommen, um dich zu unterhalten«, beklagte sich Valentin, doch er maulte mit einem Grinsen im Gesicht. Er hatte sich Handschuhe angezogen und inspizierte den kleinen Vorratsraum.

»Die Regalbretter sind verzapft, die sind nicht zu retten«, erklärte er gewichtig. »Gib mir den Hammer«, sagte er zu Hannes. Der reichte ihm das verlangte Werkzeug. Die Schläge donnerten auf die Bretter, rissen an der Verzapfung. Das Holz kreischte, als Valentin an den Verbindungen riss. Hannes, der seinerseits Handschuhe übergezogen hatte, nahm ihm die Regalbretter ab.

»Unglaublich, Kastanienholz. So was gibt’s heute nicht mehr. Könnte auch niemand bezahlen«, sagte Valentin, streckte die Hand aus und verlangte nach einem schmalen Hebeleisen.

»Jetzt bist du auch noch Handlanger«, sagte Althea lachend zu dem jungen Mann.

»Egal, das mache ich gern – und überlasse es dir, Schwester Althea, die Bretter genau anzuschauen, ob da irgendwo Nägel drin sind.«

»Vertraust du einer Nonne?«, scherzte sie.

»Im Moment sehe ich keine«, erklärte Hannes. »Und ärgern würde sich derjenige, der das Holz im Winter in den Kamin schlichtet.«

Valentin machte sich an den Paneelen zu schaffen. Dass Ärgernisse heute Thema waren, hatte Althea nicht vergessen, doch der eigentliche Ärger fing gerade erst an.

Sie kam nicht dazu, überhaupt einen Blick auf die Regalbretter zu werfen. Der Klosterwirt hatte vier zusammenhängende Paneele gegen die Wand gelehnt und war plötzlich verschwunden.

»Schwester Althea, schau mal, da ist was ziemlich Komisches.«

Was sie aufscheuchte, waren der Klang seiner Stimme und die Tatsache, dass es in der kleinen Kammer kein Versteck gab. Valentin konnte sich nicht in Luft aufgelöst haben.

Althea trat auf die Holzsplitter, ohne sie zu registrieren, und tauchte durch die Öffnung. Es roch plötzlich abgestanden, eine Spur modrig. Ihre Hand fuhr durch Spinnweben.

Valentin stand in einem kleinen Raum und blickte sich wie ein Entdecker um. Althea überlief eine Gänsehaut. »Ziemlich komisch« hatte es Valentin genannt. Ziemlich beängstigend nannte es Althea.

Alter Staub kitzelte sie in der Nase. Sie hörte, wie Hannes neben ihr murmelte: »Das gibt’s doch nicht.«

In einer Ecke der Kammer lag ein Schlafsack, daneben ein prall gefüllter Rucksack, etwas, das aussah wie ein Fallschirm, und eine alte blaue Sporttasche, die ihren Blick magisch anzuziehen schien.

Nicht nur ihren.

Althea ließ sich auf ein Knie nieder. Zu erfahren, was sich in der Tasche befand, reizte sie, doch ihr Gefühl sagte ihr, das war im Moment nicht klug. Valentin beobachtete sie voller Interesse.

Der Klosterwirt hatte Stielaugen, ihm war anzusehen, dass er selbst gern die Hand nach dem Reißverschluss ausgestreckt hätte. »Das sieht mir wieder einmal nach einem Geheimnis aus, Schwester Althea. Sicher eines, das sich gewaschen hat.«

Ein angebissenes Stück Brot, auf dem sich längst schon Schimmel gebildet hatte, verriet, es war schon lange niemand mehr hier drin gewesen. Aber irgendwann war da jemand gewesen und hatte etwas zurückgelassen.

»Die Mäuse sind offenbar keine Brotliebhaber«, sagte Althea und stupste den kleinen Rest an. Damit würde sie vielleicht Schwester Fidelis beruhigen können. Beinahe hätte sie gelacht, denn sie hatte Jadwigas Bemerkung im Ohr, ein Sturm bringe meist etwas zum Vorschein.

Valentin hatte ihr die Überraschung mit Sicherheit angesehen. Sie musste versuchen zu retten, was zu retten war, doch versprach sie sich angesichts der begierigen Blicke des Klosterwirts nur wenig Erfolg.

»Wieder einmal bittet dich die Abtei um Stillschweigen, Valentin.« Althea begriff sofort, wenn sie das so sagte, dann würde Valentin die Bitte auf die Mäuse beziehen und sein Wissen von dem neuen Rätsel ausposaunen.

Von diesem hier hatte Althea nichts gewusst. Es war um die Mäuse gegangen. Darum ging es natürlich immer noch, und eine spitzte gerade aus dem Schlafsack.

Aber Valentin hatte recht mit dem Geheimnis. Im vergangenen Winter war der Klosterwirt Zeuge geworden, als nach einem Blitzschlag eine Mumie aus der Klostereiche geschnitten wurde. Ein gruseliges Spektakel war das gewesen, erinnerte sich Althea, und was war dagegen schon eine geheime Kammer?

Doch der Raum samt Inhalt genügte sicher, um an der falschen Stelle Interesse zu wecken.

»Valentin, Hannes – entschuldigt, aber von der Kammer und davon«, Althea machte eine entsprechende Geste zu den Gegenständen, »muss Priorin Jadwiga erfahren.« Diesen Raum hatte jemand irgendwann gekonnt hinter Holzpaneelen verschwinden lassen. Sie brauchte Valentin nicht zu fragen, wie alt die Bretter waren, er hatte ihr die Antwort schon gegeben. So was gibt’s heute nicht mehr. Könnte auch niemand bezahlen. Altheas Übersetzung war: sehr alt.

Wie wurde man zwei Neugierige möglichst schnell wieder los?

Valentin blieb wie festgewurzelt stehen.

»Du solltest nachschauen, was da drin ist, Schwester Althea. Mich würde interessieren, wer da sein Lager aufgeschlagen hat. Ich sehe mich schon in meiner Zeitung etwas vom Geheimnis im Kloster Frauenwörth lesen.«

»Nein, Valentin«, sagte Althea und baute sich vor ihm auf. »Falls du auch nur ein Wort über das verlierst, was du hier gesehen hast, erschlage ich dich persönlich mit deiner Zeitung.«

Er kicherte. »Liebe Schwester, du würdest doch nicht gegen das dritte Gebot verstoßen.«

Drittes Gebot? So ein Unfug. »Heute ist Montag«, sagte Althea. Auch wenn sie nicht mit Bibelversen aufwarten konnte, die zehn Gebote kannte sie.

Er runzelte die Stirn. »Dann war es eben eine andere Nummer. Die, die besagt, du sollst nie die Hand gegen einen Mitmenschen erheben.«

»Dafür gibt es keine Nummer.« Althea musste schmunzeln und wusste gleichzeitig, es war völlig sinnlos, weiter über die Gebote und welches wofür stand zu diskutieren. Valentin war kein Schweigsamer, da half auch keine Drohung.

Hannes dagegen hatte kein Wort mehr gesagt, er schien mit seinen Gedanken beschäftigt.

»Ihr nehmt bitte das Holz mit. Das Kloster entscheidet, was gegen die Mäuse getan wird und ob die Vorratskammer wieder eine Verkleidung bekommt«, sagte Althea. Allerdings erst, wenn das Rätsel um den Inhalt der blauen Tasche geklärt war.

Valentin warf noch einen letzten verlangenden Blick darauf, dann nickte er murrend.

***

Als Althea sicher sein konnte, allein zu sein, schenkte sie sich frischen Kaffee aus der Kanne nach, gab Milch dazu und nahm die Tasse mit in die kleine Kammer. Ihre Gedanken überschlugen sich, dabei hatte sie den Reißverschluss noch nicht einmal berührt. Sie trank einen Schluck und stellte die Tasse auf dem Boden ab.

»Lass es nichts Schändliches, Unrechtmäßiges, Kriminelles, Verbotenes und Böses sein«, bat sie denjenigen, der ihr sicher nicht immer zuhörte, doch vielleicht verfolgte er ja gerade gespannt, wie Althea die Tasche aufmachte. Der Reißverschluss klemmte, aber sie bekam eine Hand in die Öffnung. Es raschelte, als sie die Finger hin und her bewegte.

Sie kannte dieses Rascheln: Geldscheine. Einen Moment verharrte sie so, dann zog sie einen Schein heraus. Ein blauer Hunderter mit dem Konterfei von Clara Schumann, die unschuldig dreinblickte. »Die gibt es nicht mehr«, flüsterte Althea. Sie tauchte ihre Hand ein zweites Mal in die Tasche und förderte einen braunen Geldschein zutage. Ein Männerporträt. Auch der wurde nicht mehr herausgegeben.

Hundert Mark, fünfzig Mark, und wenn sie weiterkramte, was würde sie dann noch entdecken? Althea trank von ihrem Kaffee, er war nicht mehr heiß. Sie stellte die Tasse zurück.

Sie wollte es genau wissen und zerrte am Reißverschluss, dessen Schiebergriff sie gleich darauf in der Hand hielt. Sie hatte es irgendwie geschafft, die feinen Metallzähne zu verbiegen und die Naht aufzureißen. Das Papiergeld quoll ihr entgegen, Althea zuckte zurück, als hätte sie sich verbrannt.

Es war zu viel, um es herumliegen zu lassen, zu viel, um es einfach irgendwo zu vergessen. Viel zu viel. Etwas Schändliches, Unrechtmäßiges, Kriminelles, Verbotenes und Böses. Halleluja – alles, was sie zuvor aufgezählt hatte, befand sich in dieser Tasche.

»Was geht hier vor?«, riss sie die Stimme der Priorin aus ihren Gedanken.

Das wüsste ich auch gern, dachte Althea.

Jadwiga wollte zuerst wissen, wohin Valentin so schnell verschwunden war, er hatte sich doch um die Holzverkleidung kümmern sollen. Althea beobachtete, wie nach und nach ein Schimmer des Begreifens auf ihrem Gesicht erschien und sie sich gleich darauf erschrocken an der Wand abstützte. »Herr im Himmel, was ist das?«

Althea musste der Priorin nicht erklären, dass sie in einer zuvor abgetrennten Kammer des Vorratsraumes stand. Es war keine Zauberei. Was sie erklären sollte und nicht konnte, war das Geld in dieser blauen Sporttasche. Und das war auch keine Zauberei.

»Wusstest du von dem Raum?«, erkundigte sich Althea. Sie glaubte es nicht wirklich, Jadwiga machte nicht den Eindruck einer Wissenden.

Die Priorin widersprach. »Er wurde offenbar schon seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt. Ich hatte keine Ahnung.«

»Hier war jemand«, widersprach ihr Althea. »Es ist sicher schon länger her, aber keine Ewigkeit.«

»Wo vergräbst du deine Hände, Schwester Althea, und woher sind die alten Geldscheine?«, fragte Jadwiga überrascht.

Dass die Scheine aus dieser Tasche waren, dürfte fraglos klar sein. Althea stand auf und klopfte sich den Staub von der Jeans. Es waren alte Scheine, und genau darauf konnte sie sich gerade keinen Reim machen. »Irgendeine Beute, wir müssen es zählen«, sagte sie. »Es wäre vielleicht sinnvoll, wenn wir diesen Fund erst einmal für uns behalten.«

»Ja. Erst einmal«, stimmte Jadwiga zu. »Den Raum können wir nicht verschwinden lassen, aber das hier schon. Wäre heute Morgen nicht diese leidige Mäusediskussion gewesen, ich hätte dafür gestimmt, den Schwestern davon zu berichten. Jetzt stimme ich dagegen. Wir räumen den Schlafsack weg und stopfen alles andere in einen Wäschekorb.« Jadwiga deutete auf den Rucksack, den Fallschirm und die blaue Tasche. »Später sehen wir uns die Sachen im Büro genauer an. Warum nur müssen wir immer wieder auf etwas stoßen, das aufgeklärt werden muss?« Jadwiga verzog den Mund wie bei einem sauren Geschmack. »Die Mäuse sollten wir trotzdem loswerden.«

Aus dem Augenwinkel sah Althea, wie aufs Stichwort, einen kleinen Schatten.

»Worum ich mich kümmere«, versprach sie. Sie würde es mit Knoblauch versuchen. Die Nager reagierten empfindlich auf den Geruch, so hieß es zumindest. Weniger erfolgversprechend würde hingegen der Versuch sein, den Klosterwirt zu vertreiben. »Valentin hat den Raum natürlich gesehen und auch seinen Inhalt.« Althea hob die Hände in einer Dagegen-konnte-ich-nichts-ausrichten-Geste. Zum Glück hatte er keinen Blick auf den Inhalt der Tasche werfen können. Trotzdem.

Wenn er etwas interessant fand, dann drängte es Valentin stets, darüber ein paar Andeutungen fallen zu lassen, bis sein Gesprächspartner wissen wollte, worum genau es da ging. Althea hatte er damit auch schon geködert.

Jadwiga schluckte. Sie konnte kaum noch ratloser dreinschauen.

Althea stellte die Tasse mit dem mittlerweile kalten Kaffee zurück in die Küche. Sie hatte es bisher nicht erwähnt, aber hier musste sauber gemacht werden. So, wie es gerade aussah, würde keine der Schwestern etwas kochen wollen. Vielleicht würde auch in einer sauberen Küche keine kochen wollen. Schließlich gab es noch immer die Mäuse und dazwischen nichts mehr, keine Tür, die zumindest den Anschein erweckte, etwas abzuschließen.

Althea hätte es auch spannender gefunden, sich den Rucksack und die Geldtasche genauer anzuschauen, aber das mussten sie auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Sie würde die Sachen im Wäschekorb ins Büro verfrachten und hoffen, dass es niemandem auffiel.

Priorin Jadwiga übernahm die undankbare Aufgabe, den Mitschwestern die Lage zu schildern. Ein zusätzlicher Raum, tatsächlich Mäuse und keine Barriere, Holzsplitter, Spinnweben, Staub, die Vorräte in Kartons und das Problem, dass die Heinzelmännchen die Putzarbeiten nicht übernahmen.

Althea konnte die lauten Proteste bis in die Küche hören. Schwester Jadwiga hatte ihren Befehlston angeschlagen, doch man drohte ihr mit Streik.

Wen oder was wollten die Schwestern denn bestreiken?, fragte sich Althea. Jedenfalls tauchte keine von ihnen auf.

Sie hatte keine Lust, sich mit leerem Magen an die Arbeit zu machen. Man konnte sie sicher nicht als gute Köchin bezeichnen. Als Althea noch Marian Reinhart geheißen hatte und in Europas Modemetropolen unterwegs gewesen war, war fürs Kochen selten Zeit gewesen.

Im Moment gab es die Wahl, etwas Essbares zu fabrizieren, die Priorin dazu zu überreden, sie alle in den »Klosterwirt« einzuladen, oder zu hungern. Genau betrachtet konnte man die Einladung sicher streichen, und Letzteres wollte sie nicht in Betracht ziehen. Althea stellte zwei Töpfe mit Wasser auf den Herd und suchte die Nudeln wieder heraus, die sie zuvor eingepackt hatte. Es würde Nudeln mit einer Schinken-Sahne-Soße geben, beschloss sie. Dafür hatte sie alles, sie würde es hinbekommen. Sie schnitt den Schinken, briet die schmalen Streifen kurz an, gab die Sahne dazu und ein paar Gewürze.

Jadwiga streckte den Kopf herein. »Schwester Althea, du erstaunst mich immer wieder.«

»Hoffentlich nicht«, gab Althea zurück. »Kümmerst du dich darum, dass jemand den Tisch für uns deckt?«

»Ich hätte mich auch um einiges mehr gekümmert«, gab Jadwiga zurück. »Aber ich darf keiner der Schwestern einen Vorwurf machen. Mir bleibt nichts übrig, ich muss ihre Angst ernst nehmen.«

Angst? Althea hatte bloß ein kleines Mäuschen aus dem Schlafsack schnuppern und wieder verschwinden sehen.

Halt den Mund, ermahnte sie sich. »Von unserem Wasser bekommt man wahrscheinlich üble Pusteln, und die Putzlumpen haben Zähne«, knurrte sie wider besseres Wissen, aber Jadwiga war längst geflohen.

Das Wetter hatte sich wieder beruhigt, Althea musste sich nicht beruhigen. Sie hatte einfach ihre Ohren verschlossen gegen die spöttischen Kommentare der Schwestern, die Nudeln seien sehr al dente gewesen. Sollten sie doch bissig sein, Altheas Nudeln waren es nicht.

Es fühlte sich schon jetzt nach einem langen Tag an, dabei schickte die Sonne sich gerade erst an, als orangeroter Ball über dem See unterzugehen.

Althea hatte drei Knoblauchzehen angeschnitten und sie in dem kleinen Raum ausgelegt. »Ihr müsst verschwinden, sonst wird es richtig ungemütlich«, warnte sie die Nagetiere.

Sie überlegte, den Schlafsack draußen im Garten auszuklopfen, aber damit würde sie vielleicht Spuren vernichten. Sie ließ es bleiben. Das Ding nannte sich Mumienschlafsack wegen der Rundung am Kopfteil, er war sicher nicht billig gewesen, sah aber gemütlich aus. Da hatte sich jemand auf einen längeren Aufenthalt vorbereitet, und die Person war nicht durch die Klosterküche gekommen.

An der Außenwand der verborgenen Kammer befand sich eine stabile Holztür, sie musste also auch auf der Seite des Hauses, die zum hinteren Garten hinausging, zu finden sein. Irgendwo unter dem Efeu, der über die Jahre meisterlich sein Geheimnis gewahrt hatte. Er rankte sich schon, seit Althea denken konnte, an dieser Mauer hinauf. Sie strich über die Blätter. Er wuchs wild und wurde hin und wieder gestutzt, in der kalten Jahreszeit verlor er seine Blätter nicht. Außerdem war dieser Teil des Gartens wegen der vielen Sträucher und Bäume kaum einzusehen. Althea wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass hier eine Tür ins Freie führte. Sie ließ den Schlafsack liegen und ging nach draußen, um das Rätsel der Tür zu ergründen.

Ihre Augen forschten zwischen den Blättern und Ranken, ihre Finger spürten dem Untergrund nach, suchten Stein, der auf Holz traf. Wenn sie ihre Schritte richtig abgemessen hatte, musste der Zugang hier irgendwo sein. Ihre Hand griff durch das Grün, tastete umher, bis sie meinte, den Übergang von der Ziegelwand zur Holzfläche zu spüren.

Sie hörte, wie sich in der Stille die Küchentür wieder öffnete, die sie nur ein paar Augenblicke zuvor geschlossen hatte. Ein Rascheln, dann Schritte und eine Gestalt, die sich ganz hinten an den Zaun stellte. Wollte eine der Mitschwestern den Sonnenuntergang genießen? Aber diese Schwester schaute gar nicht auf, sie holte etwas aus der Tasche ihres Habits.

Althea wollte sich nicht anschleichen und auch niemanden erschrecken, darum trat sie leise auf. Die Schwester sprach in ein Handy. »Sie haben den geheimen Raum entdeckt.«

Der Satz war leise gesprochen, Althea duckte sich zurück in die Schatten. Sie konnte nicht behaupten, die Stimme zu erkennen, von ihrem Standort hatte sie nicht einmal die Möglichkeit, das Gesicht unter dem Schleier zu sehen. Sie konzentrierte sich auf die Worte.

Die Schwester sagte: »Althea wird es herausfinden.« Es klang wie eine böse Prophezeiung.

Althea zog sich wieder hinter die Büsche zurück, lautlos und unsichtbar. Als wäre sie diejenige, die etwas zu verbergen hatte. Aber wer war die Schwester, die so geheimniskrämerisch tat?

Althea achtete auf die Gestalt und ihre Bewegungen. Die Schwester war mittelgroß und ziemlich geschmeidig. Doch im nächsten Moment schon war sie verschwunden. »Mist«, schimpfte Althea. Eilig schlüpfte sie ums Hauseck, zog an der Tür zur Küche und lief weiter, den Gang entlang. Die Schwester mit dem Handy und der freudlosen Vorhersage »Althea wird es herausfinden« musste außen herumgelaufen sein. Vielleicht konnte Althea sie abfangen.

Jadwiga hielt sie auf. »Schwester Althea, ich würde sagen, es ist wirklich genug für heute.« Sie dachte, Althea hätte sich noch in der Küche nützlich gemacht.

Althea warf einen Blick zur Seitentür, die sich gerade langsam schloss. Sie hatte nicht sehen können, wer hereingekommen war, und brachte ein unglückliches Nicken zustande. »Und ich hab noch nicht mal ein Handy«, flüsterte sie.

»Dein Nudelgericht war fein«, lobte die Priorin. »Der Herr möge dich für deine Opferbereitschaft segnen.«

Hatte Althea »Opferbereitschaft« gehört? Sie biss sich in die Wange. »Möge der Herr lieber seinen Besen schwingen und die aufdringlichen Mäuse zur Tür hinausfegen, auf dass sie eine neue Heimstatt finden«, sagte sie und legte bedächtig ihre Fingerspitzen gegeneinander. »Dann können wir uns endgültigere Maßnahmen sparen, und die Küchenschwestern fänden keinen Anlass mehr, die Hände in den Schoß zu legen.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, war alles, was Jadwiga dazu einfiel. Die Priorin fügte hinzu: »Wenn die Schwestern zu Bett gegangen sind, nehmen wir die Fährte des Geldes auf.« Entschlussfreudig. So hatte Althea sie selten erlebt.

»Es wird dauern, bis wir es durchgezählt haben«, bemerkte Althea. »Die Tasche ist bis obenhin vollgestopft.«

»Und wenn es die ganze Nacht dauert, morgen früh wissen wir, wie viel es ist.« Jadwiga ließ nicht locker.

»Vielleicht will ich es gar nicht so genau wissen«, sagte Althea und dachte mit Schaudern an ihren aufdringlichen Wecker, der sie zur Morgenmesse rufen würde.

»Doch, bestimmt«, hielt Jadwiga dagegen. »Ich möchte außerdem nicht allein sein mit dieser Tasche und meinen Gedanken.«

Althea würde sich später einen Reim darauf machen. Man könnte auch eine üble Absicht heraushören. »Du hast vor, eine Handvoll Scheine zu nehmen, um dir etwas Schönes aus einem deiner Kataloge auszusuchen«, scherzte sie.

»Nein!«, rief Jadwiga erschrocken aus.

Althea hatte eigentlich nur Spaß gemacht, aber die Priorin missverstand es. Man hätte das Angebot dieser Kataloge auch »eine Auswahl von Scheußlichkeiten« nennen können.

***

Jadwigas Vorschlag war, sich um einundzwanzig Uhr im Büro zu treffen. Althea saß derweil mit dem Rücken zum Fenster an ihrem Schreibtisch, den Blick auf ihren stillen Mitbewohner gerichtet, dem sie berichtete, was der Klosterwirt nicht zu sehen bekommen hatte.

»Nicht der Sturm hat uns all die fragwürdigen Sachen ins Haus geweht, aber Valentin wird keine Ruhe geben, bis er weiß, was in der Tasche ist. Ich hingegen interessiere mich mehr dafür, wer das alles zurückgelassen hat. Und ich möchte eigentlich nicht von einem Mord erfahren müssen.« Ein frommer Wunsch. »Weil niemand freiwillig eine Tasche mit so viel Geld abschreibt.« Etwas musste passiert sein, und zwar schon vor längerer Zeit. Sie schaute auf die Uhr auf ihrem Nachttisch. Noch ungefähr zehn Minuten. Die Priorin würde wieder auf eine Schwester in Jeans treffen. Althea sah sich schon auf dem Teppich des Büros sitzen und die Scheine bündeln.

Sie tippte mit dem Kugelschreiber auf den Schreibblock, auf dem sie versucht hatte, die Schwester, deren Gespräch sie im hinteren Garten belauscht hatte, ein wenig zu beschreiben. Die Nonne war mittelgroß, die Statur hatte Althea mit »ein wenig füllig« beschrieben, die Stimme als »belegt« und den Gang mit »flott«. Völlig unnütze Angaben. Außer einer: Der Saum des Habits war an einer Stelle ausgefranst.

»Was, würdest du denken, ist nötig, um in Erfahrung zu bringen, welche der Schwestern telefoniert hat?«, fragte sie ihren stillen Mitbewohner und wartete ungefähr eine Millisekunde auf Antwort. »Besser, du behältst es für dich.« Denn das, was Althea gerade dachte, würde er nicht vorschlagen. Sie müsste in jeder Zelle der Schwestern nachschauen, wer ein Handy besaß.

Vielleicht sollte sie darüber aber noch einmal nachdenken, zumindest eine Nacht darüber schlafen – wenn sie Glück hatte und sich das Geldzählen nicht so lange hinzog.

Sie stand auf, griff nach der Taschenlampe, die für Notfälle wie einen Stromausfall in ihrer Nachttischschublade lag, machte die Tür hinter sich zu und ging leise den Gang auf der Galerie entlang. An der Treppe schaltete sie ihre Lampe ein und kam sich vor wie ein Dieb.

Das ist lächerlich, mach das Licht an! Althea knipste ihre Lampe wieder aus. Wenn jemand den Schimmer sehen würde, ergäbe das am folgenden Tag wirklich eine Schlagzeile: »Heimlichkeiten im Kloster Frauenwörth«. Sie sah es geradezu vor sich. Doch im Augenblick machte sie sich mehr Sorgen, jemand könnte ihre lauten Gedanken hören, weil sonst kein Laut zu vernehmen war. Althea fragte sich, was die Schwestern so ermüdet hatte. Sie ging die Treppen hinunter und schaltete das Deckenlicht ein.

Im Büro hatte Jadwiga den Computer bereits hochgefahren. Der blaue Schimmer schlich sich unter der Tür durch. Althea klopfte kurz und öffnete die Tür. Der Wäschekorb stand in einer Ecke, Jadwiga hatte eine Decke ausgelegt und die Sporttasche in deren Mitte platziert.

»Ich habe uns Kaffee gekocht«, sagte die Priorin und deutete auf eine Kanne und zwei Tassen. Um wach zu bleiben?

Althea drehte den Schlüssel im Schloss herum. »Vorsichtshalber«, sagte sie.

Jadwiga zog die Vorhänge zu. »Vorsichtshalber«, sagte sie.

Der See war auf dieser Seite der Einzige, dem etwas auffallen könnte. Aus einer Packung zupfte Jadwiga zwei Paar Einmalhandschuhe. Althea überkam ein komisches Gefühl.

»Es könnten Fingerabdrücke auf den Scheinen sein. Ich weiß, du hattest deine Finger schon drin, aber das kann ich der Polizei erklären.« Jadwiga reichte ihr das eine Paar.

»Fingerabdrücke«, wiederholte Althea. Warum nicht, der Gedanke war gut. »Wir sollten einige abnehmen«, regte sie an und schenkte sich aus der Kanne Kaffee ein.

»Du weißt, wie man das macht?«, fragte Jadwiga. »Interessieren würde mich das auch.«

»Wir brauchen einen Bleistift, einen Pinsel, Tesafilm und ein Blatt Papier«, zählte Althea auf, und auf Jadwigas überraschten Blick hin sagte sie: »Ich habe als Jugendliche einmal ein Detektivset zum Geburtstag bekommen. Das wäre jetzt richtig praktisch. Wir müssen improvisieren.« Dann erklärte sie Jadwiga, wie sie mit Hilfe von Bleistiftabrieb Fingerspuren sichtbar machen konnten, indem sie sie vorsichtig einpinselten. Anschließend nahm man das Pulver mit dem Klebestreifen auf, drückte ihn auf das Papier und hatte den Abdruck.

Die erste Hürde war nicht der Bleistift, sondern ein Pinsel. Althea musste zurück in ihre Zelle und schweren Herzens den Rougepinsel aus ihrem Kulturbeutel holen. Sie schüttelte ihn einige Male aus, bevor sie ihn gleich darauf auf den Schreibtisch im Büro legte, wo die Priorin für die Bleistifte, das Papier und einen Klebebandroller gesorgt hatte. Außerdem für einen kleinen Mörser mit Stößel; der würde jemandem fehlen, glaubte Althea, und diejenige wäre bestimmt nicht erfreut, wenn sie wüsste, wofür er benutzt wurde. Althea fragte besser nicht nach, sie konnten ihn gut gebrauchen.

Jadwiga aber fragte: »Farbiger Puder?«, als Althea mit dem Pinsel zurückkam. »Kneif dich lieber einige Male in die Wangen für einen gesunden rosigen Farbton.«

Althea erwiderte nichts. Sie trank einen Schluck von ihrem Kaffee und verzog das Gesicht. Die Priorin machte nicht oft Kaffee.

»Gib mir den ersten Schein.« Althea drückte die Bleistiftspitze in den Mörser, die Mine brach, mit dem Stößel half sie nach, bis kleinere Partikel und Grafitstaub in der Schale lagen. Das wiederholte sie noch einige Male, bis sie glaubte, es könnte für etliche Abdrücke reichen. Jadwiga zog sich die Handschuhe über und griff in die Sporttasche. Sie zog einen Hundert-Mark-Schein heraus.

»Bitte auf den Schreibtisch«, wies Althea sie an, nahm das Grafitpulver des Bleistifts vorsichtig mit dem Pinsel auf und tupfte es auf den Hunderter.

»Sieht nach einer Drecklerei aus«, schnaufte Jadwiga.

Altheas Augen blitzten. »Dafür hab ich aber was.« Sie trug keine Handschuhe, zog einen Streifen vom Roller auf dem Schreibtisch ab und drückte ihn vorsichtig auf die Fingerspur auf dem Geldschein, die das Pulver sichtbar gemacht hatte. »Ich weiß nicht so recht, warum wir das machen«, sagte Althea, »wir haben nämlich keine Vergleichsspuren. Aber falls es welche gibt, wissen wir, wer den Geldtransport überfallen oder die Bank ausgeraubt oder als Erpresser eine Lösegeldforderung gestellt hat«, zählte Althea einige Möglichkeiten auf. »Was mich einigermaßen verwirrt, ist, dass die Person das Geld im Kloster zurückgelassen hat«, sagte sie. »Noch einen Schein, bitte.«

Die Priorin versenkte ihre Hand wieder in der Tasche und gab Althea einen weiteren Hunderter. »Es sieht so aus, als hätte eine Schwester damit zu tun«, bemerkte Jadwiga leise. Normalerweise war sie diejenige, die die Schattenseiten nicht sehen wollte. Jadwiga würde auch in tiefster Dunkelheit kein Licht entzünden, wenn es jemanden verriet, der lieber verborgen blieb.

»Zumindest sieht es aus, als wüsste eine der Schwestern mehr darüber«, sagte Althea.

Und ich habe gehört, wie jemand am Handy eine andere Person darüber informierte, der geheime Raum sei entdeckt worden.

Althea schwieg lieber, es war Halbwissen, sie hatte nicht einmal eine Ahnung, wer die Schwester war.

Sie unternahmen die Prozedur mit den Fingerabdrücken noch einige Male, und Althea hatte am Ende einige ziemlich gute Exemplare, von denen sich drei wiederholten. »Na ja, Bankangestellte fassen die Scheine auch an«, sagte sie.

»Wir sollten uns anschauen, wie viele Scheine in der Tasche sind. Ich leere sie auf die Decke, wir sortieren erst, danach zählen wir«, schlug Jadwiga vor. Sie kippte den Inhalt der Tasche aus. »Es scheint eine sehr große Summe zu sein.« Sie klang beinahe ein wenig ängstlich.

Und warum sollte jemand das Geld einfach vergessen, wenn die Person vorher wahrscheinlich einiges dafür getan hatte, um es zu bekommen? Althea sah vor ihrem inneren Auge einen Mann, der mit einer Pistole einen Bankangestellten bedrohte. Eher nicht, sagte sie sich, so viel wäre in einer Bank nicht zu holen.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach Altheas Überlegungen. Jemand drückte die Klinke.

Jadwiga sah kurz Althea an. »Wie erklären wir das?«, flüsterte sie.

Althea fand nicht, dass sie es erklären konnten. »Gar nicht. Du machst auf, nur einen kleinen Spalt, und ich mache mich unsichtbar.«

Schon klopften die Fingerknöchel einer Faust vernehmlich und entschlossen auf das Holz. »Schwester Jadwiga!«, rief eine Stimme. »Es ist vielleicht ein Einbrecher im Kloster. Valentin hat etwas gesehen.«

Althea zupfte an Jadwigas Ärmel. »Er hat das Licht meiner Taschenlampe gesehen«, flüsterte sie.

»Wozu brauchtest du eine Taschenlampe?«, flüsterte Jadwiga zurück. Sie schüttelte den Kopf, drehte den Schlüssel im Schloss und zog die Tür einen Spalt auf. »Ich bin sofort da – ich habe noch ein wenig in den Dokumenten von Pfarrer Grandner gelesen.« Sie schloss die Tür wieder, ohne auf eine Antwort zu warten, und zog sich die Handschuhe von den Fingern. »Ich kann zu Valentin schlecht sagen: ›Was du gesehen hast, war Schwester Altheas Taschenlampe.‹ Was sage ich also? Und was erzähle ich den Schwestern?«

»Die Schwestern dürften inzwischen alle hellwach sein. Valentin wird sich erst zufriedengeben, wenn er sich davon überzeugen konnte, dass kein Einbrecher durch unser Kloster streift. Das Geld und die anderen Utensilien verstaue ich einstweilen wieder im Wäschekorb, dann kann ich mich euch hoffentlich unbemerkt anschließen. Wenn ich wegbliebe, würde es auffallen.« Althea begann damit, die Decke einzuschlagen und sie samt Inhalt in den Korb zu stopfen.

»Das gefällt mir gar nicht«, seufzte Jadwiga. »Es hört sich nach einem Komplott an.« Sie verschwand eilig durch die Tür.

»Es ist eins«, sagte Althea. Sie hatte kein gutes Gefühl dabei, das Geld zurückzulassen. Sie würde das Büro wieder abschließen und den Schlüssel einstecken.