Der Bürger - Leonhard Frank - E-Book

Der Bürger E-Book

Leonhard Frank

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Beschreibung

Im Traum und in der Liebe Jürgen Kolbenreiher, Sohn einer angesehenen Patrizierfamilie, träumt davon, die Welt zu einem gerechteren Ort zu machen, und schließt sich den Sozialisten an. Hier verliebt er sich in die freigeistige Katharina. Als er dann jedoch die Bankierstochter Elisabeth kennenlernt, ist er völlig fasziniert. Mit ihr lockt ihn die alte vertraute Welt des Reichtums, der Macht und des Genusses – und er muss eine schwerwiegende Entscheidung treffen.

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Informationen zum Buch

Im Traum und in der Liebe

Jürgen Kolbenreiher, Sohn einer angesehenen Patrizierfamilie, träumt davon, die Welt zu einem gerechteren Ort zu machen, und schließt sich den Sozialisten an. Hier verliebt er sich in die freigeistige Katharina. Als er dann jedoch die Bankierstochter Elisabeth kennenlernt, ist er völlig fasziniert. Mit ihr lockt ihn die alte vertraute Welt des Reichtums, der Macht und des Genusses – und er muss eine schwerwiegende Entscheidung treffen.

Leonhard Frank

Der Bürger

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Über Leonhard Frank

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Zuerst 1924 veröffentlicht

I

Endlich beschloß der Gymnasiast Jürgen Kolbenreiher: ›Wenn noch ein Auto kommt, bevor die Turmuhr fünf schlägt, geh ich hinein und kaufe die Broschüre … Ehrenwort?‹

›Ehrenwort!‹ sagte er heftig zu sich selbst und las wieder den Titel der philosophischen Abhandlung. Seine Hand, die das Geld hielt, war naß. Der Blick zuckte fortwährend von der Broschüre zum Ziffernblatt. Der Zeiger stand knapp vor fünf.

Da sauste das Auto um die Ecke, am Buchladen vorbei und war weg. Die Uhr hatte noch nicht geschlagen. Jürgen wollte eintreten.

Er nahm seinen Schritt zögernd wieder zurück. ›Was wird mein Vater sagen, wenn ich sie kaufe …? Und was würde er sagen, wenn er wüßte, daß ich sie kaufen will und dazu den Mut nicht habe …? Oder würde er verächtlich lächeln, wenn ich jetzt kurz entschlossen in den Laden ginge?‹

Die Finger vor dem Leibe ineinander verkrampft kämpfte er weiter, las den Titel, sah, wie der große Zeiger einen letzten Sprung machte. Und fühlte, während er sich ›Feigling! Elender Feigling!‹ schimpfte, daß sein Wille hinter der Stirn zu Nebel wurde. Das Phantom des Vaters stand neben ihm.

Das Werk rasselte und schlug. Der Nebel verschwand. Und Jürgen dachte: ›Ich kann auch jetzt noch hinein. Aber sofort! Hat der Buchhändler soeben gelächelt? Über mich?‹

Der stand im Türrahmen und blickte gelangweilt über die gepflegte, sonndurchwirkte Anlage weg, in der die kreisenden Rasenspritzen Regenbogen schlugen.

›Solange er unter der Tür steht, kann ich ja nicht hinein.‹

Der Buchhändler gähnte, trat gähnend in seinen Laden zurück.

›Jetzt …! Wenn ich den Mut jetzt nicht aufbringe, wird das Leben auch in Zukunft mit mir machen, was es will. Das ist klar.‹

Da erschien bei der Kirche ein Mitschüler Jürgens, Karl Lenz, Sohn eines Universitätsprofessors. ›Jetzt natürlich kann ich nicht hinein‹, dachte Jürgen und ging mit Karl Lenz in die Anlage, sah abwesend eine Bonne an. Die gestärkten Röcke strotzten, und der elegante Kinderwagen federte von selbst auf dem gewalzten Sandwege am Tulpenrondell vorüber.

Knapp hinter dem Kinderwagen ritt, das frischbackige Gesicht stolz erhoben, in verhaltenem Trabe ein kleines Mädchen im Knieröckchen so feurig auf dem Steckenpferde, daß die langen, schön gewölbten, nackten Schenkel sichtbar wurden. Die Gruppe machte sofort halt, als der im Wagen strampelnde Säugling die Hand nach dem zu hoch hängenden Hampelmann ausstreckte.

Das Mädchen ritt, die Locken schüttelnd, in gezähmter Pferdeungeduld feurig an der Stelle weiter und sah, Brust vorgestreckt, über den abgerissenen, abgezehrten, blutleeren Proletarierjungen weg, der sich aus der Fabrikgegend in die Sonne verirrt hatte und, das Drama der Armut im Blick, offenen Mundes den Reichtum bestaunte.

Jürgen konnte die Augen nicht abwenden von dem Jungen, der seine Augen von dem glänzenden Mädchen erst losriß, als er sich beobachtet fühlte. Dunkel fragend sah er empor zu Jürgen, der, plötzlich breit durchzogen von einem bisher nie empfundenen Gefühl, zu Karl Lenz sagte: »Man muß Empörer werden.«

»Warum Empörer? Wegen dieses Ferkels?«

Der Junge blickte seine schwarzen, skrofulösen Beine an und beschämt empor zu Jürgen, in dem, unter dem Grinsen des Mitschülers, das Eigene wieder versank. Verwirrt ging er, während Karl Lenz in den Konditorladen eintrat, heimwärts und geduckt die teppichbelegte Treppe hinauf.

Es war drückend still im Hause. Unbeweglich saß Jürgen in seinem Zimmer vor dem blauen Schulheft und grübelte darüber nach, ob es einen Gott gäbe.

Plötzlich hingen in der Dämmerung die hellen Gesichter der Schulkameraden, höhnisch grinsend. Und die Tante sagt: ›Nein, so einen unselbständigen Jungen wie dich gibt’s nicht mehr. Ein Unglück für deinen Vater!‹

Preisgegeben ließ er sich von den Gespenstern der Verachtung weiter quälen, stellte ihnen entgegen: ›Ich habe doch gestern zum Professor gesagt: Abraham, der seinen Sohn schlachten wollte, kann unmöglich ein guter Mensch gewesen sein. Ein furchtbarer Vater! Meiner Ansicht nach dürfte Gott so einen Befehl auch gar nicht geben.‹

Fragt die Tante sehr erstaunt: ›Was, das hast du gewagt?‹

Und Jürgen läßt sich sofort vom Professor, der geantwortet hatte: ›Wie kommen Sie zu dieser unerlaubten, sträflichen Ansicht?‹ bei der Tante in Schutz nehmen: ›Ihr Neffe hat öfter solche erstaunlich selbständigen Ansichten.‹

Sagt die Tante erfreut zum Vater: ›Da ist er ja gar keine Schande für die Familie.‹

Und der Vater sagt: ›Entschuldige, daß ich dich ein »Schmähliches Etwas« genannt habe … Wie konnte ich dich nur so verächtlich und gleichgültig behandeln. Unbegreiflich!‹ Jürgen lächelte bescheiden.

Die Tür des nebenan liegenden Bibliothekzimmers wurde nach dem Gange zu geöffnet. Und Jürgen hörte, wie der Vater, der krank im Lehnsessel saß, zu Herrn Philippi, einem alten Freunde des Hauses, sagte: »Ich werde ihn in den Staatsdienst stecken. Ein kleiner, verschrullter Amtsrichter oder so etwas Ähnliches! Er taugt zu nichts anderem. Tölpelhaft, unvernünftig und lebensuntüchtig ist er!«

Jürgen drehte, als stünde er vor dem Vater, Kopf und Schultern gedemütigt seitwärts und hob die Brauen, daß die Stirn Falten bekam.

»Niemand kennt die Möglichkeiten, die in einem so jungen Menschen liegen. Niemand kennt das Maß einer unfertigen Seele«, sagte Herr Philippi. Die Brillengläser in seinem vertrockneten Geiergesicht funkelten. ›Auch die Seele deiner Frau hast du so lange mit dem Lineal gemessen, bis dieses leidensfähige Gemüt einging wie ein krankes Vögelchen‹, dachte er und sagte es nicht.

Auf dem Gange fing die Tante Herrn Philippi ab. »Wie geht’s ihm? Wie ist mein Bruder?«

»Unvernünftig, meine Liebe!« Herr Philippi wollte fortstelzen.

Sie erwischte ihn noch am Ärmel. »Daß dieser bedeutende Mann so einen Sohn haben muß! Wir schämen uns seiner … Heute sagte der Vater zu ihm: ›Du kommst in ein Büro. Das ist das beste für dich …‹ Und das ist auch meine Meinung.«

Zornig blickte Herr Philippi in die harten Augen des alten Mädchens und betrachtete, als zähle er sie, schweigend die mit der Brennschere sorgfältig gedrehten, an Stirn und Schläfen platt angedrückten schwarzen zwölf Fragezeichen. »Dann erziehen wohl Sie ihn, falls Ihr Bruder sterben sollte …? Kann ich mit Jürgen sprechen?«

»Ja, ich erziehe ihn. Er schreibt gerade seinen deutschen Aufsatz: ›Die Bedeutung der Tinte im Dienste des Kaufmanns.‹ Sprechen können Sie ihn jetzt nicht. Der Stundenplan muß streng eingehalten werden.«

Die Tante stellte sich zu einer langen Erzählung zurecht. »Hören Sie! Jürgen war schon als ganz kleiner Junge so ängstlich, daß er nicht einmal zu sprechen wagte. Wir alle glaubten, er sei stumm geboren. Eines Tages – er war vier Jahre, es war auf dem Geflügelmarkt – sagte er plötzlich: ›Hühnchen.‹ Das war sein erstes Wort. Nicht etwa ›Papa‹, wie bei andern Kindern. Bewahre! ›Hühnchen‹, sagte er und lockte: ›Bi bi bi bi‹, so mit Zeigefinger und Daumen … Sollte man das für möglich halten? Diese Unselbständigkeit …! Er ist ganz seiner Mutter nachgeschlagen. Auch sie war so lebensuntüchtig. Sie hatte Angst vor Mäusen. Ich habe ja auch schreckliche Angst vor Mäusen; aber als einmal eine Maus gefangen worden war, weinte seine Mutter stundenlang, weil die Maus ertränkt wurde.«

Sie sah erwartungsvoll zu ihm auf, weil er sie am gehäkelten Spitzenkragen gepackt hielt und noch immer nicht sprach. Da schüttelte er sie kräftig und sagte: »Bi bi bi bi, Hühnchen! Adieu!«

Abweisend blickte sie ihm nach und horchte dann einige Minuten strengen Gesichts an Jürgens Tür. Der saß glühend am Tisch und schrieb, da er anderes Papier nicht gleich gefunden hatte, in das Schulheft eine lange Abhandlung mit vielen Beweisen, daß es einen Gott nicht geben könne. ›Folglich bin ich Atheist.‹ Dann erst quälte er sich den deutschen Aufsatz ab.

Und übergab das Heft am Montag dem Professor, der die Beweise für das Nichtexistieren Gottes fand und sie dem Religionslehrer schickte.

Das Ereignis wurde zu einer Professorenkonferenz und hatte nur deshalb keine schlimmen Folgen für Jürgen, weil die Tante plötzlich an der Stirnseite des Konferenztisches stand und die Lehrerrunde sprengte. »Herrn Kolbenreiher hat soeben der Schlag getroffen … Mein Bruder war ein bedeutender Mann.« Ihre Hand wanderte, wurde mitleidig geschüttelt.

»Aber mit seinem Sohne müssen die Herren viel Geduld haben … Mit viel Geduld und Strenge geht’s vielleicht.«

Daran solle es nicht fehlen. Vom Rektor wurde sie hinausgeleitet. »Jürgens schwankende Seele … Seine Unsicherheit …«, vernahmen die Zurückbleibenden.

»Folglich bin ich Atheist.« Der Religionslehrer riß die Augen auf. »Bin ich Atheist, schreibt der Junge! Und neulich diese Geschichte mit Abraham!«

Der Geschichtsprofessor beruhigte ihn. »Das Leben wird dem Burschen diese Gedanken schon abschleifen … Gut und schnell auffassen tut er ja.«

»Bei mir nicht«, sagte der Mathematikprofessor und hielt die Hand erhoben. Sie rügten noch seine außerordentliche Faulheit und schlossen die Konferenz.

Der Rektor schüttelte schweigend die Hand der Tante. Furchtsam und unbeachtet stand Jürgen daneben. Und ging dann, vor Schuldgefühl vornüberhängend, mit der aufrechten Tante nach Hause, wo Weihrauchwolken standen.

Gegen Abend zog sie den willenlos Folgenden ins Sterbezimmer, in dem der Vater, bekränzt und kerzenumstanden, schon auf der Bahre lag, schlug das Kreuz und benutzte den Endschwung gleich dazu, auf des Toten Gesicht zu deuten. »An dir hat er keine Freude gehabt. Das kannst du jetzt in deinem ganzen Leben nicht mehr gutmachen … Bete! Drei Vaterunser! Und dann komm und iß.«

Das Gewicht des Hauses legte sich auf den gekrümmten Rücken. Die still brennenden Kerzen beleuchteten des Vaters Gesicht, das in Unzufriedenheit erstarrt war, als habe ihn auch der Tod enttäuscht.

Lange kämpfte Jürgen mit sich; endlich versuchte er, das wächserne Gesicht im Blick, die gefalteten, toten Hände zu berühren. Und wich zurück, als er das bekannte Lächeln der Verachtung zu sehen glaubte.

Ganz langsam kniete er nieder, die befohlenen drei Vaterunser zu beten. Kein Wort fiel ihm ein. Seine flehende Hand wollte die äußerste Spitze des Leintuches berühren. Und sank kraftlos zurück.

Der Tote lag unberührbar, in ungeheuerer Macht.

Da drehte sich ein Stachelrad brennend schmerzhaft in Jürgens Kopf und schleuderte die Worte ab: ›Na, du schmähliches Etwas!‹

»Na, du schmähliches Etwas!« wiederholte Jürgen verächtlich und wandte, irr blickend, Kopf und Schultern gedemütigt weg, weil er glaubte, nicht er, sondern der Tote habe gesagt: ›Na, du schmähliches Etwas!‹

Die Macht des Toten vor sich, die Macht der Tante hinter sich, kniete er ausgeliefert und verloren, schief und tränenlos im Zimmer.

»Jetzt bist du eine Doppelwaise«, sagte die Tante, ergriff seine Hand und führte ihn hinaus.

Jürgen versuchte gar nicht mehr, Übersicht über seine Gefühle zu gewinnen. In die Träume schickte die vergewaltigte Seele drohende Ungeheuer. Der Vater stand immer daneben.

Und wenn ihn der qualenerfüllte Schlaf entließ, empfing ihn die Tante, schüttelte verächtlich den Kopf und gab ihm Briefe mit an die Professoren, in denen sie für Jürgen, der leider nicht seinem bedeutenden Vater nachgeschlagen sei, um Nachsicht bat.

In der schon gewohnheitsmäßigen Erwartung, wieder gedemütigt zu werden, drehte Jürgen Kopf und Schultern weg, als im Zimmer plötzlich Herr Philippi stand. »… Da fällt mir ein: Sie glauben vermutlich immer noch, Ihr Vater habe nicht viel von Ihnen gehalten? Selbst wenn es so wäre, dürften Sie ihm das weiter nicht nachtragen. Er war ein alter, kranker Mann, der den Glauben an das Gute eingebüßt hatte. So einer ist leicht blind und ungerecht.«

Als habe der Vater gesprochen, war der Knabenkopf immer tiefer gesunken.

›Der Vater ist tot … Seine Autorität lebt‹, dachte Herr Philippi. Und log: »Ich habe Ihnen etwas von Ihrem Vater auszurichten. Kurz vor seinem Tode war ich bei ihm. Er saß im Sessel, Sie wissen ja, saß wie immer im Sessel und blickte zum Fenster hinaus auf einen vorüberfliegenden Vogelschwarm … Es waren Stare«, dichtete Herr Philippi. »Plötzlich sagte Ihr Vater nachdenklich: ›Meinem Jürgen habe ich zeitlebens furchtbar unrecht getan. Warum eigentlich? Das ist mir ein Rätsel.‹ Er wußte es nämlich tatsächlich selbst nicht … ›Denn ich bin mir ja in Wirklichkeit ganz klar darüber, daß Jürgen ein‹ – wie sagte er doch – ›ein ausgezeichneter und sogar sehr kluger Junge ist … Das muß man ihm bei Gelegenheit einmal sagen.‹«

Es gelang Herrn Philippi, wie ein Knabe zu lächeln, als er auch die Autorität der Tante zu erschlagen versuchte. »Und dieses alte Mädchen, Ihre Tante! Aus der brauchen Sie sich natürlich gar nichts zu machen. So eine vertrocknete Schachtel ist ja ganz ahnungslos! Das ist übrigens die volle Wahrheit … Besuchen Sie mich einmal.«

›Diese Bürgeraristokratie sagt sich: Wir lassen unsere Kinder nicht hungern, nicht arbeiten; wir asphaltieren ihnen mit Körperpflege, reichlichem Essen, höherem Unterricht und Geld, mit viel Geld eine breite, glatte Straße ins Leben … Die psychischen Ungeheuer, die sie in die Seelen stoßen, zählen nicht. Da fallen die allerhand Autoritäten über so einen Jungen her, nehmen ihm, auch wenn er beim Spiel mit Sand mehr Phantasie und Geist offenbart als sie in ihrem ganzen Leben, seine Selbständigkeit und wundern sich dann über seine Unselbständigkeit‹, dachte der Alte auf der Straße, während Jürgen vor der Tante stand.

Sie blickte beim Sprechen hinaus in den Garten, steil aufgerichtet. »Ich habe alles gehört. Du hast keine Zeit, Herrn Philippi zu besuchen. Deine Schularbeiten sind wichtiger. In meinen Händen liegt deine Erziehung.«

Ein Automat sagte: »So eine vertrocknete Schachtel! Du bist ja vollkommen ahnungslos … Das ist übrigens die volle Wahrheit.«

Die Tante schnellte entsetzt herum. Auch Jürgens Mund blieb in übergroßem Schrecken geöffnet. »Was hast du gesagt? Wiederhole, was du eben gesagt hast!«

»Das habe doch ich nicht gesagt.« Sein Tonfall der Überzeugung riß der Tante die Empörung ins Gesicht.

»Du leugnest, was ich mit meinen Ohren gehört habe?«

Jürgen, überzeugt, diese Worte nicht gesprochen zu haben, bekam irrblickende Augen.

»Das werde ich morgen dem Herrn Rektor schriftlich mitteilen. Du übergibst ihm den Brief. Und jetzt … Pfui!«

Erst nachdem die Tante schon draußen war, fühlte Jürgen ein paar Tropfen auf seinem Gesichte kalt werden und wußte, daß sie ihn angespuckt hatte.

Hitze und Kälte wechselten einigemal schnell in seinem Körper. Er trat ans Fenster, starrte in den Garten. Die farbigen, kopfgroßen Glaskugeln steckten still und öde auf den grünen Stangen. Aus dem Nachbargarten klangen Sonntagnachmittagsgeräusche herüber. Abgerissene Worte. Jemand spielte Klavier.

Ein wilder Schrei saß Jürgen im Halse. Er hob die linke Schulter, die rechte, rhythmisch die Beine. Die Bewegungen wurden zu einem gedrückten Tanz.

Am Montagmorgen schlich er, eine Stunde früher als gewöhnlich, ohne Brief, geduckt aus dem Hause, begann plötzlich zu laufen, rannte, galoppierte weit aus der Stadt hinaus, quer über Schollenäcker, hügelan und -ab, bis vor das schwarze Tunnelloch im Berg und glotzte blöd hinein, kehrte um und kam, verschwitzt und keuchend, noch rechtzeitig im Schulzimmer an, wo der Professor soeben mit dem steilgestellten Bleistift auf das Katheder klopfte.

Die Blicke der sechzig Augenpaare trafen beim Bleistift zusammen, der in dieser Stellung immer etwas Außergewöhnliches bedeutete. Der Professor zog die Stille hinaus. Jeder lauerte: ›Wen trifft es?‹ Jürgen hatte das Gefühl, sein Herz sei so rund und so groß wie ein schwarzer Mond und schlage nicht mehr.

»Leo Seidel …! Sie wissen, daß Ihr Vater Sie leider aus dem Gymnasium herausnehmen muß. Umstände halber …! Euer bisheriger Schulkamerad verläßt euch heute. Er muß verdienen … Leo Seidel, Armut ist keine Schande.«

Der Sohn des Briefträgers blickte beschämt ins Tintenfaß.

»Auch ein Hausdiener kann sich heraufarbeiten … In Amerika, zum Beispiel, soll das öfter vorkommen«, sagte der Professor und lächelte. »Diesen Vormittag bleiben Sie noch in unserer Mitte«, zeigte er mit einer Handbewegung über die ganze Klasse weg. Und deutete mit dem Daumen über die Schulter zur Tür. »Dann treten Sie in Ihren neuen Pflichtenkreis ein.«

Kreisende Rasenspritzen. Sonne. Hinter dem eleganten Kinderwagen reitet das Mädchen auf dem Steckenpferd in gezähmter Pferdeungeduld durch das Klassenzimmer. Offenen Mundes starrte Jürgen den abgezehrten Proletarierjungen an.

»Wollen Sie etwas sagen, Kolbenreiher …? Nun? Heraus damit!«

Die übergroße Erregung fraß Jürgens ganze Kraft auf. Seine gelähmten Lippen stammelten: »Ich wollte nichts sagen.«

»Karl Lenz …! Sie haben vorhin mit Adolf Sinsheimer Fingerhakeln geübt; erklären Sie uns jetzt den Flaschenzug.« Auf dem Katheder stand ein kleines Modell. »Nichts …? Setzen Sie sich. Und lassen Sie sich’s von Leo Seidel erklären.«

Während hinten das Duell der Fingerhakelnden ausgetragen wurde und der Professor mit den kleinen Bleigewichten des Modells spielte, erklärte die einsame Stimme Leo Seidels das Gesetz des Flaschenzuges.

Jürgen litt unter der Feigheit, seine Meinung nicht geäußert zu haben, brüllte in Gedanken: ›Nur weil Seidels Vater arm ist? Das ist gemein! Gemein …! Alles ist gemein.‹ Er glotzte besinnungslos den Professor an, bis der ihm zurief: »Kolbenreiher, wo werden Flaschenzüge gebraucht?«

»Flaschenzüge?«

»Aber gewiß, Flaschenzüge! Nun …? Leo Seidel, sagen Sie es ihm.«

»Zum Beispiel am Neubau. Da kann ein einzelner Arbeiter mit einem Flaschenzuge …«

»Mit Hilfe!«

»… mit Hilfe eines Flaschenzuges Lasten in die Höhe winden, die zehnmal so schwer sind wie der Arbeiter. Infolge der Übersetzung.«

»Infolge der Übersetzung«, sollte Jürgen wiederholen, hatte aber »Überrumplung« gesagt.

Die ganze Klasse durfte lachen. Sie lachten noch auf dem Heimwege, wo alle sich von Leo Seidel, der vielleicht schon morgen einen Handwagen durch die Stadt schieben mußte, abgesondert hielten.

Auch Jürgen, gelähmt, wagte nicht, ihn zu begleiten. Nur in Gedanken trat er mit kühner Ritterlichkeit zu ihm. ›Ich fürchte die Meinung der andern nicht.‹ Er ließ sich von Seidel verehren.

Beim Mittagessen beachtete ihn die gefährlich schweigende Tante nicht. Schickte das Dienstmädchen, mit dem Befehl, Jürgen habe den Brief am nächsten Morgen dem Herrn Professor zu übergeben.

Erst nachmittags konnte Jürgen so viel Entschlußkraft finden, Seidel zu besuchen. In der Kellerstube stand der Armeleutegeruch, der das Vorhaben des schwindsüchtigen Briefträgers, den Sohn studieren zu lassen, als schwer ausführbar erscheinen ließ. Seidel saß still am Fenster und sah hinaus in den stinkenden Hof. Qual und Scham drehten Seidels Kopf und Schultern zur Seite, so daß er plötzlich Jürgen glich, der sich im selben Moment zum erstenmal in seinem Leben frei fühlte.

Er reichte Seidel eine in Leder gebundene Weltgeschichte und konnte scherzen: »In der biblischen Geschichte steht zwar: Gehe hin, verkaufe alles, was du hast, und … Aber nicht deshalb gebe ich dir das Buch. Denn ich glaube ja gar nicht an Gott.«

Die fahle Mutter lag im Bett. Der Säugling, wegen dessen unerwünschter Ankunft der Vater den Sohn aus dem Gymnasium hatte nehmen müssen, begann zu schreien. Die Bettlade knackte. Vier Kinder, in verschiedenen Größen, bleich und blutleer, standen reglos da, mit großen Augen.

»Hast eine schöne Weltgeschichte. Zum Andenken an mich. Hast eine Freude … mit hundertsiebenunddreißig Illustrationen.«

Ohne den Blick zu erheben, sagte Seidel, daß er voraussichtlich bald der Klassenfünfte geworden wäre.

Und Jürgen rief: »Also deshalb, weil dein Vater kein Geld hat, mußt du Hausdiener werden, anstatt vielleicht … Minister. Das ist ja …! Alles was recht ist!«

»Mein Gott, was redet ihr Buben!« Die Wöchnerin spuckte in den Napf. »Was ihr redet!«

Jürgen redete sich in Zorn hinein. »Absolut! Das ist maßlos ungerecht. Gemein ist das! Einfach hundsgemein! Wahrhaftig, das sage ich jedem, der’s hören will.« Auch Seidel hatte rotgefleckte Wangen bekommen.

Die Mutter beruhigte den Säugling. Und zu den Knaben: »Mein Gott, das sind ja lauter Dummheiten.«

»Nehmen wir an«, sagte Herr Philippi, »es sei schon von vornherein eine Dummheit gewesen von dem schwindsüchtigen Briefträger mit der großen Familie, seinen Sohn ins Gymnasium zu schicken.«

»Wenn Leo Seidel doch gescheit ist …! Postdirektor werden kann! Wer kann’s wissen?«

»Ganz recht, wer kann’s wissen. Mancher Dummkopf wird Professor; manch kluger Kopf muß sich eine Kugel in den Kopf schießen. So ist das heutzutage. Und so wird es auch noch einige Zeit bleiben. Man muß sich schon überlegen, ob man Hoffnungen wecken soll, denen von vornherein die Armut schwer im Wege liegt … Da eröffnen sich verschiedenerlei wüste Perspektiven.«

»Ich würde Seidel aber doch helfen, wenn ich Sie wäre. Sie sind reich.«

Alt lächelnd sagte Herr Philippi: »Und ich, ich habe nicht den Mut dazu.« Und schwankend zwischen Abweisung und Güte: »Du gehst jetzt nach Hause, verstehst du, nach Hause, und hältst alles aus. Verschwinde!«

Die Tante ging selbst zum Briefträger, holte die Weltgeschichte zurück. Und einen Tag später stand die ganze Begebenheit auf den Gesichtern der Mitschüler.

Die Lücke, die Seidel hinterlassen hatte, war durch Vorrücken ausgefüllt worden.

»Jetzt trägt er Backsteine an einem Neubau.« Karl Lenz machte das Backsteintragen vor, krümmte den Rücken, ächzte.

»Und so las er Roßballen auf.« Adolf Sinsheimer, Sohn eines reichen Knopffabrikanten, tat, als habe er einen Besen in der Hand, und log: »Ich sah, wie Seidel die Straße kehrte … Die frischen Roßballen kehrte er zusammen.«

Vorsichtig und ängstlich näherte Jürgen sich dem Gelächter, stimmte ein, ohne zu wissen, weshalb die anderen lachten.

»Braucht Seidel zum Sammeln der Roßballen eine Weltgeschichte?« Alle sahen Jürgen erwartungsvoll an, hielten das Lachen noch zurück.

Da erlachte Jürgen sich die Achtung seiner Mitschüler: »Zum Roßballensammeln braucht man, weiß Gott, keine Weltgeschichte.«

Sie waren zufrieden, nahmen ihn auf. Jürgen sagte noch: »Zu Hause bei ihm …« Er hielt sich die Nase zu. »Und jetzt dazu noch Roßballen!« Alle hielten sich die Nase zu.

Plötzlich wich aller Druck von ihm, durch das Gefühl, nicht mehr allein zu stehen. Und Jürgen nahm sich vor, von nun an immer und in allem so zu sein wie die anderen. Das würde das Leben leicht machen.

Am nächsten Morgen saß Leo Seidel wieder an seinem Platze, in einem neuen Anzug, das Gesicht verschlossen.

›Warum, warum habe ich das getan!‹ Jürgens Körper bewegte sich selbsttätig nach Hause, ins Wohnzimmer.

»Zuerst lies mir aus der Zeitung vor! Dann gehst du an deine Schularbeiten.« Die Tante stickte weiter am Stramintischläufer »An Gottes Segen ist alles gelegen«. Mit dem Schnabel hielt diese von Rosengirlanden durchzogene Wortkette ein Papagei, der noch unfertig in der Mitte saß.

Der Satz, im Reichstag sei wieder ein Antrag zur Einführung einer hohen Vermögenssteuer gestellt worden, kam automatisch aus Jürgens Mund. ›Ich allein habe zu Seidel gehalten, habe mit Herrn Philippi gesprochen. Jetzt darf er das Gymnasium weiter besuchen. Ich! Ich habe das veranlaßt. Hilfe! Ich!‹

›Jawohl, Jürgen ist der Beste von euch allen. Hat zu mir gehalten. Der hat Mut. Hat mich gerettet. Ihr habt mich verraten.‹

›Und ich …? Ich auch!‹ Jürgen sah die Tante irr an. »Wie schrecklich!«

»Das ist ja einstweilen nur ein Antrag. Lies weiter! Zuerst die Todesanzeigen!«

»Man muß gut sein … So lange gut sein, bis man etwas Schlechtes gar nicht mehr zu tun vermag.«

»Merke dir das«, sagte die Tante und zog dem Papagei einen grünen Faden durch das Auge. »Alle Todesanzeigen!«

»Gott dem Allmächtigen hat es gefallen …« – ›Weshalb hat Herr Philippi mir nicht gesagt, daß er Seidel helfen werde? Dann wäre ich vielleicht nicht so furchtbar gemein gewesen … Jetzt ist alles verloren.‹

Jürgen bemerkte nicht, daß die Tante vom Dienstmädchen gerufen worden war.

Er überschrie noch eine Weile seine qualvolle Ohnmacht mit den Worten: »Gott dem Allmächtigen hat es gefallen …«, blickte die Nadel an, die im Papageienauge steckte, den Faden, der lang und grün herunterhing, umklammerte in Gedanken mit beiden Händen ein Messer und drückte die Klinge langsam in seine Brust.

Entwurzelt taumelte er beim Unterricht mit, während Leo Seidel sich bald zum Primus in die Höhe arbeitete und, da er vorsichtig und schwer angreifbar strebte, von der ganzen Klasse gefürchtet wurde. Wer sein eigentlicher Retter war, erfuhr Seidel nie. Auch dann nicht, als er sich eines Tages mit der ganzen Klasse gegen Jürgen verband und von der Weltgeschichte sprach, die er bei sich zu Hause absolut nicht finden könne.

Jürgen flüchtete aus dem immer schwerer werdenden Drucke der Einsamkeit wiederholt zu seinen Mitschülern und, vor Ekel, sich angebiedert zu haben, immer wieder zu sich selbst zurück und wieder zu den Mitschülern. Er schloß sich schließlich enger dem Sohne des Knopffabrikanten an, zu dem ihn anfangs der gemeinsame Haß gegen die Mathematikstunde hingezogen hatte und später seine immer stärker werdende Bewunderung für Adolf Sinsheimers Fähigkeit, außerhalb der Schule wie ein Erwachsener ohne Schwierigkeit mit dem Leben fertig zu werden.

»Wenn du eine Geliebte hast, ist das noch gar nichts; wenn du aber eine Geliebte hast und zu ihr sagen kannst: ›Heute nacht, meine Liebe, bin ich verhindert, tut mir leid, der Klub geht denn doch vor‹ – dann erst bist du ein Mann, gewissermaßen. Bedauerlicherweise jedoch wird man in den Klub junger Kaufleute erst nach dem Abiturientenexamen aufgenommen. Ich werde dir das Klubhaus zeigen. Livrierte Diener natürlich!«

»Wenn man aber gar nicht Kaufmann wird?«

»Dann ist man ein Esel, heutzutage … Sag mal, aber ehrlich, wie oft warst du schon krank?«

»Dreimal: Scharlach, Masern und Halsentzündung.«

»Du bist ein Säugling, gewissermaßen. Die elegante Männerkrankheit, wie oft du die gehabt hast!«

»Vielleicht habe ich sie schon sehr oft gehabt; ich weiß nur nicht, was du meinst.« Sie waren vor dem Klubhause angelangt. Klaviergepauke und Refraingesang klangen durch das beleuchtete offene Fenster herunter. Adolf sang gleich mit:

»Es haben zwei ’ne ganze Nacht

Zusammen in einem Bett verbracht.

Was ham se wohl gemacht?«

Das vereinzelte, noch unterdrückte Lachen, das plötzlich zum Sturm anwuchs, galt dem Vortragenden, der auf dem Podium stand und wortlos demonstrierte, was die beiden gemacht hatten.

»Es geht doch nichts über lustige junge Leute«, sagte zu seiner verschwitzten, verstaubten Frau ein ziegenbärtiger, mit Waldlaub geschmückter Sonntagsausflügler und schob den Kinderwagen weiter.

Oben sang der junge Kaufmann mit speckiger Stimme. Das Klaviergepauke trug den Refrain herunter: »Was ham se wohl gemacht?«

»Kalte Umschläge, meinst du, was, gegen die Halsentzündung?«

»Bei Nacht und auch bei Licht …«

Mitten in das stürmische Gelächter hinein fragte Jürgen zögernd: »Drückt dich auch alles so? Ich meine, deinetwegen und auch wegen der andern. Das ganze Leben, so wie es ist?«

»Gebetet, gebetet ham se nicht!«

»Unsinn! Ich bitte dich, was soll denn drücken! Der Kragen, der Schuh drückt.« Er streckte den Fuß vor. »Wirklich, beinahe jeder angemessene Schuh drückt. Aber elegant, was? Übrigens, ich spitze einmal hinauf. Warte du hier.«

Da drehte Jürgen sich elefantenhaft langsam um und ging davon, bis zu der Ansammlung waldlaubbehangener Sonntagsausflügler, Kleinbürgerfamilien, Ladenmädchen mit ihren Freunden, die, verstaubt, verschwitzt und grün, still geworden, unter der zischenden Bogenlampe standen und den Anblick eines Mannes auf sich wirken ließen.

Er lag, Augen geschlossen, schwer atmend, Schaum auf den Lippen, langgestreckt im Staub, vor einem Bankhause, auf dessen Schaufenster erhabene Goldbuchstaben verkündeten: »Kapital und Goldreserven 500 Millionen.«

Der Kleinbürger mit dem Ziegenbart sagte energisch: »Epileptischer Anfall! Man muß die Daumen herausziehen. Dann vergeht der Anfall.«

Sofort streifte der Mann mit einem blitzschnellen Blick die über ihn gebeugten Gesichter und richtete sich, von zehn Armen unterstützt, sitzlings auf, ließ den Kopf hängen. »Das macht alles nur das Elend. Ich wollte mit der Straßenbahn fahren, hatte aber das Nötige nicht … Alles nur das Elend!«

Jürgen wurde von Ekel gepackt. ›Er simuliert‹, dachte er und stieß brutal durch den Kreis.

Ein Erlebnis aus seiner frühen Jugend stieg auf. Auch damals lag auf dem Pflaster ein Mann: jung, mit eleganter, blutiger Wäsche, strenggebügelten Hosen, Brillantringe an den Fingern und Schaum auf den Lippen. Die seidene Weste ist aufgerissen, die Brust freigelegt.

›Bei dem war der Schaum blutrot. Die offenen Augen starrten gläsern. Das war echt und entsetzlich; der vorhin hat simuliert … Aber wie furchtbar muß es ihm gegangen sein, bis er sich entschließt, so schamlos Theater zu spielen, sich dermaßen zu demütigen vor den vielen Menschen … Es ist ja vollständig gleichgültig, ob seine Krankheit echt oder nur simuliert war; im Gegenteil, es ist unendlich viel grauenvoller, daß er nur simulierte. Denn wie muß es ihm gegangen sein!‹

Bestürzt über seine Gedankenlosigkeit, rannte er zurück. Der Platz war leer, die Bogenlampe zischte nicht mehr, leuchtete ruhig und weiß. Jürgen lief umher, suchte vergebens, stand wieder vor dem Bankhause und sah die erhabenen Buchstaben an. Deutlich sah er den Bettler liegen.

»Beim Sang der Nachtigallen

Ist Urselchen gefallen.

Wohl über große Steine?«

schallte der Gesang vom Klubzimmer herunter.

»Nein über, nein unter Karlchens Beine!«

›Und daran geht man vorüber, hinauf in den Klub, und singt so ein Lied. Wie furchtbar …! Nun, und jetzt?‹ fragte Jürgen, ging weiter. ›Ist wieder etwas dazugekommen, zu allem andern …? Man muß unausgesetzt wach sein, bis man zu etwas Schlechtem gar nicht mehr fähig ist.‹ Das war ein Gelübde.

Da hatte er einen Gedanken, der ihn so erleichterte, daß er, obwohl es Sonntag und zehn Uhr abends war, die Hausglocke des Lackierermeisters zog.

»… Gewiß, Sie haben recht. Es hätte selbstverständlich auch bis morgen Zeit gehabt; aber ich ging gerade hier vorbei …«

»Also, was für eine Tafel soll ich denn schreiben?«

›»Betteln gestattet« geht nicht‹, dachte Jürgen. ›»Betteln erwünscht« geht auch nicht.‹ – »Schreiben Sie – auf eine hübsche Tafel: ›Hier wird Armen gegeben.‹«

»Und die willst du wirklich aufhängen? Du wirst dich wundern, mein Junge.«

»Nein, die andern werden sich wundern.«

»Das wird wahr sein! Nun, also wie denn …? Weiß auf schwarz? Oder schwarz auf weiß? Man kann auch etwas Farbiges machen. Oder Goldschrift?«

»Vielleicht Gold auf schwarz?«

»Schön. Macht sich gut … ›Hier wird Armen gegeben‹, nicht wahr? Mein Gott, so einen Unsinn hab ich auch noch nie geschrieben, kannst du mir glauben.«

Mit Hilfe des Dienstmädchens nagelte Jürgen die Tafel am Gartenzaun fest, an der Rückseite des Hauses, wo die Tante selten hinkam, und gab dem Dienstmädchen Geld. »Wird das für einen Monat reichen?«

Die goldenen Worte »Hier wird Armen gegeben« glänzten schön. Darunter hatte Jürgen einen Zettel geklebt, auf dem stand: »Zwischen neun und elf Uhr vormittags«. Das war die Zeit, während der die Tante täglich in der Kirche saß.

In Gliedern und Gelenken unbeherrscht wie ein junger Hund, lang geworden und immer in so unruhevoller Eile, daß der vornüberhängende Körper einen schlotternden spitzen Winkel zum Boden bildete, stolperte Jürgen in die Jünglingstage, in seinen siebzehnten Frühling hinein, fragenden Blickes beständig und vergebens in sich selbst und bei der Umwelt suchend nach der erlösenden Antwort.

Maiwind und Spiellust wehten gepflegten, langbeinigen Mädchen, die im öffentlichen Park ihren Reifen nachjagten, die Röcke bis zum Kinn. Seidenblauer Frühlingshimmel war über Tulpen- und Hyazinthenbeete, billardglatte Rasenflächen und knospende Baumkronen gespannt. Alte Gouvernanten sahen rosig aus.

Unschlüssig, ob er, wie auf dem Wege hierher, ziellos weitereilen oder verweilen solle, blickte Jürgen sich um, sog den Blumenduft ein. Wind schüttelte die langen, störrischen Zotteln. Einige Male mußte er sie aus der Stirn streichen, um die fünfzehnjährige, in den Schultern noch eckige Katharina – Tochter des Universitätsprofessors Lenz – betrachten zu können, die, sichtbar vom Leben schon gezeichnet, fremden Blickes die jubelnden Kinder beobachtete, bis sie Jürgens unverwandten Blick fühlte. Da sah sie zuerst in den Teich, wo alte Karpfen und armlange Goldfische aus den Schlinggewächsen langsam zur Wasseroberfläche zogen, langsam wieder in die Tiefe, und las dann weiter in dem Buche.

Die schenkeldicke Fontäne überholte unaufhörlich sich selbst. Die Himmelsbläue über ihr sprang mit.

Mit gemachtem Interesse betrachtete Jürgen Bäume, Teich, Fontäne und umkreiste dabei in immer kleiner werdendem Abstande die Lesende, deren ganzer Körper, obwohl sie reglos saß, sichtbar spröder wurde, je näher Jürgen kam.

Unvermittelt und aus noch fünf Schritt Entfernung: »Das sind Karpfen, richtige Karpfen. Man kann sie essen.« – ›Unheimlich dumm, daß ich das sagte‹, dachte er und setzte sich.

Sie las weiter, das Gesicht interessiert schief gestellt zur Buchseite.

Da traf sein ratlos bittender Blick zusammen mit ihrem, in dem frühzeitige Bewußtheit noch mit mädchenhafter Scheu zu kämpfen hatte.

Als ob diese dunkle Last der Bewußtheit, die wie das zukünftige Ich in ihrem Blicke stand, losgespalten von der lieblichen Kindlichkeit, mit der sie den Rock über die Knie hinunterzupfte, in Jürgen das Gefühl erschlossen hätte, ihr schicksalsverwandt zu sein, empfand er das erstemal in seinem Leben ganz plötzlich rückhaltloses Vertrauen. Dies kam mehr in Blick und Ton zum Ausdruck als in seinen Worten.

Um die beiden herum war die Umwelt. Rede und Antwort im Innersten der Umwelt. Frage und Antwort. Und eine Frage Katharinas, auf die er antworten konnte: »Vielleicht trägt man alles Erlebte in sich. Das reißt uns hin und her. Und täglich und stündlich kommt Neues hinzu, und alles ist furchtbar. Alles! Das ganze Leben, so wie es ist.«

Und als brächte dies Erleichterung, bat er, sie möge mit ihm spazierengehen. Katharina erhob sich sofort. Er überragte sie um Kopfeslänge. Sie verschwanden in dem streng beschnittenen Laubgang von Korneliuskirschen.

Er blickte hinunter auf ihren gebräunten, eigenwillig gebogenen Nacken und, da sie aufsah, auf ihren kleinen, festen Mund. Erbebend blieben sie stehen und wandten erbebend sich ab.

»Ich weiß schon genug über Sie. Mein Bruder hat mir viel von Ihnen erzählt. Auch das von der Weltgeschichte! Er ist dumm. Er begreift gar nichts.«

Das Vertrauen ließ ihn erzählen, daß er an den Gartenzaun die Tafel »Hier wird Armen gegeben« angeschlagen habe. »Aber das sprach sich so schnell herum, daß noch in derselben Woche an einem einzigen Vormittag mehr als dreihundert Bettler kamen. Jetzt weiß ich natürlich schon, daß all das gar nichts nützt. Und wenn meine Tante die Tafel nicht heruntergenommen hätte, würde ich selbst es getan haben … Was aber soll man denn tun?«

Erst nach zwei langen Minuten, und als läse sie es von ihren Schuhspitzen ab: »Es gibt nur eines: Man muß sich opfern, muß sich selbst ganz und gar aufopfern.«

»Das ist – das ist kolossal, ganz kolossal, was Sie da sagen … Aber wie? Wie soll man sich aufopfern?«

Schon eine Weile bekam die Tante, die seit Wochen und auch heute ihren täglichen, vom Arzte verschriebenen Spaziergang im öffentlichen Park gemacht hatte, keinen Atem mehr. Endlich stürzte sie zu Bewußtsein und auf die Bank zurück, auf der sie saß, und raffte ihren Häkelbeutel zusammen, schoß nach in den Laubgang, packte den sie überragenden Jürgen bei der Hand und führte ihn entschlossen und wortlos weg von Katharina.

In durchwachten, verzweiflungsvollen Nächten kam Jürgen zu dem Schlusse, erst nachdem er für immer aus dem Hause gelaufen sei, könne er Katharina wieder vor die Augen treten.

Als das Nervenfieber lebensgefährlich zu werden drohte, mußte der Hausarzt die Behandlung dem Spezialisten überlassen. Erst nach Wochen war des Kranken Gefühlskathedrale wieder so weit in Ordnung, daß er eines Morgens, beim Erwachen, sich allen Eindrücken weich darbieten konnte.

Die Tante schob die auf dem Nachtkästchen stehenden Medizinflaschen zur Seite, schlug ihr Haushaltungsbuch auf, in das sie des toten Vaters »Letztwillige Verfügungen über Jürgen« geschrieben hatte, und begann das viele Seiten lange Erziehungsprogramm abzulesen.

Die Worte tropften glühend in den Ausgelieferten hinein.

»›… Und deshalb nehme ich mir das heilige Versprechen ab, den letzten Sproß der alteingesessenen Patrizierfamilie Kolbenreiher, deren Geschichte bis in den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann, nach dem Willen seines unvergessenen Vaters zu erziehen und ihn Beamter werden zu lassen, da er die Fähigkeiten zu etwas Größerem nach meines seligen Bruders Meinung nicht hat …‹ So ist’s, Jürgen, siehst du! Nun werde mir bald wieder gesund … Wenn du auch nicht so bist, wie du sein könntest, ich habe dich doch lieb.« Sie sah ihn freundlich an, streichelte seine nassen Haare und rief erschrocken: »Du hast ja wieder Fieber!«

Wangen und Augen glühten. Die rechte Gesichtshälfte lachte.

Die Ärzte wurden geholt, Eisbeutel aufgelegt. Der Rückfall war kurz und heftig.

Jürgen verließ das Bett als verschlossener Jüngling, dessen früherer Wille, sich durch die Wirrnisse der Jugend durchzuschlagen, unterbunden war. Die Tante äußerte oft ihre Zufriedenheit. Denn nur, wenn sie ihn fragte, antwortete er, ganz nach Wunsch, »ja« oder »nein«. Niemals »nein«, wenn ein »ja« erwartet wurde.

Seine grenzenlose Nachgiebigkeit lieferte ihn allen, selbst viel jüngeren Schülern, aus. Körperlich wuchs er gleichsam über sich selbst hinaus, wurde lang und sehr stark. Das Lernen für das bevorstehende Examen verschob er von Tag zu Tag, fuhr Schlittschuh, stundenlang flußaufwärts.

Die eisbrechenden Fischer schimpften ihm wütend nach, da hier das Schlittschuhlaufen lebensgefährlich war, der vielen großen, quadratischen Wasserlöcher wegen.

In dem Gefühl, durch eine körperliche Kraftleistung, durch große Schnelligkeit seine seelische Gebundenheit lösen zu können, sauste Jürgen an den unverhofft sich auftuenden grünen Wasserlöchern vorbei, bis die Nacht ihn überraschte.

Schnurgerade führte die Landstraße stadtwärts; der Fluß dagegen zog einen mächtigen Bogen, so daß Jürgen zu Fuß schneller nach Hause gekommen wäre als auf dem Eise.

Der geheime Todeswunsch, der ihm das imaginäre Messer in die Hand gegeben und ihn vor das Tunnelloch getrieben hatte, veranlaßte ihn auch jetzt, blind in die Gefahr hineinzurennen.

Die Fischer waren schon lange heimgegangen. Jürgen stand dunkel in der unwirklichen Helligkeit, die das Eis ausstrahlte. Zehn Schritte von ihm entfernt war tiefschwarze Nacht. Das Eis knackte leise. Jürgen stieß tierische Laute aus, während er als schwarzer rechter Winkel stadtwärts sauste.

War er knapp an einem Wasserloch vorbeigeglitten, dann klang sein wilder Schrei der Genugtuung in die Einsamkeit.

Näher der Stadt mehrten sich die Wasserlöcher, links und rechts von ihm, manchmal unerwartet dicht vor ihm.

Angespannt und stumm geworden, zog er seine Bogen um den Tod herum.

II

Ungeduldig hörten die Abiturienten dem Rektor zu, der die lange Entlassungsrede hielt. Endlich stieg sein Brustkorb hoch, der Zeigefinger deutete zum Fenster. Sofort fühlten alle, daß jetzt die Schlußworte kamen.

Sie sollten denn hinaustreten ins ernste Leben und tüchtige, brave Männer werden. Der Zeigefinger deutete noch zum Fenster hinaus. Es war vollkommen still geworden. »Geachtete Männer!« Da sanken Finger und Brustkorb. Und die Entlassenen brachen los von den Bänken.

Der Lärm entfernte sich rollend, wurde immer dünner, drang noch einmal, wieder stärker geworden, von der Straße aus mit der Sonne durch das Fenster zu den leeren Bänken herein und verebbte schnell.

In die Stille des leeren Schulsaales klang eine Stimme, die aus dem Gitter der Dampfheizung zu kommen schien. »Ich möchte mich noch bedanken für alles, was die Herren Professoren in den Jahren meiner Schulzeit Gutes an mir getan haben.« – ›Ah, ihr niederträchtigen Schufte‹, setzte Leo Seidel in Gedanken hinzu und trat weg von der Dampfheizung, schob seine Schulter unter die ausgestreckte Hand des Rektors. »Wenn der Herr Rektor jetzt auch noch die große Güte haben wollten, mir den weitern Lebensweg zu ebnen …«

»Nicht jeder Deutsche kann die Universität besuchen. Das ist doch einleuchtend.« – ›Denn woher sollten sonst die Briefträger und Hausdiener genommen werden.‹ – »Aber die Schreiberstelle beim Stadtmagistrat bekommen Sie. Ich habe schon gesprochen … Machen Sie mir Ehre. Werden auch Sie ein geachteter Mann.«

Die Professoren ließen dem Rektor den Vortritt und verbeugten sich in höflicher Erregung immer weiter von der offenen Tür weg.

Adolf Sinsheimers Gesicht, das aus einem schwarzen Rahmen oval heraussprang, denn er trug seit Jahren ein schwarzes Seidenband straff über die wegstehenden Ohren gespannt, damit sie sich mit der Zeit anlegen sollten, war während der Prüfung so aufgedunsen, daß er das Band abnehmen mußte. Sofort wurden beide Ohren lebendig, schnellten nach vorne. »Jetzt, mein Lieber, geht das Leben an. Weißt du, was das bedeutet: das Leben? Ich bin grandios glücklich. Morgen kaufe ich mir einen steifen Hut und trete dem Klub junger Kaufleute bei … Man ist ganz unter sich im Klub. Keine Weiber!«

Jürgen setzt nach einem hartnäckigen Kampfe mit der Tante durch, daß er nicht Staatsbeamter werden muß, sondern Philosophie studieren darf, schreibt eine Abhandlung, die ungeheures Aufsehen macht, und wird daraufhin zum Bürgermeister gewählt. »… Das ist Glück!«

»Du kannst dich darauf verlassen, daß das Glück ist.« Während Adolf Sinsheimer von den Anzügen sprach, die er sich machen lassen werde, wurde Jürgen Besitzer einer Fabrik, in der zwanzigtausend Arbeiter beschäftigt sind, und bestimmt mit einem Federzuge, daß alle zwanzigtausend Arbeiter, alle Angestellten und er selbst von jetzt an ganz gleichmäßig am Gewinn beteiligt werden.

Der alte Buchhalter sagt bestürzt: ›Aber ich bitte Sie, Herr Direktor …‹

›Genug! Ich will das so. Das ist nur gerecht.‹ Und Jürgen schickt den alten Buchhalter freundlich, aber entschlossen fort.

»Zu Hause werde ich meinem Alten ganz kalt erklären: Du, unter uns gesagt, ohne Lackschuhe und Frack bringst du mich nicht auf den Abiturientenball … Hör mal, Jürgen – aber Diskretion bitte –, ich sage dir, daß ich mich auf dem Ball nicht mit unseren Tanzstundengänschen abgeben werde. Kann mir nicht passieren!«

›Und wenn einem von euch in meiner Fabrik – das heißt in unserer Fabrik – etwas zustößt, dann bekommt er eine Rente sein Leben lang.‹

»Ich halte mich glatt an die Schönheiten, die tadellos tanzen können. Oder hast du etwas gegen einen Busen einzuwenden? Ich nicht.«

Als Adolf sich verabschiedet hatte – »Ich werde Gelegenheit nehmen, dir heute nachmittag meinen Besuch abzustatten« –, dachte Jürgen darüber nach, weshalb er vor einigen Tagen zum ersten Male in seinem Leben ernstlich über das Dasein und die Not der anderen nachgedacht hatte. ›Weshalb nicht schon Jahre vorher? Weshalb gerade an dem Abend, als ich nach dem Essen im Garten stand und im Nachbarhause die zornige Männerstimme und gleichzeitig vereinzelte Töne einer Ziehharmonika hörte?‹

Bisher habe er doch immer nur, und auch dann nur veranlaßt durch ein qualvolles persönliches Erlebnis, über sich selbst und seine eigene Not nachgedacht; und in jener Stunde, ohne jeden äußern Anlaß und unerforschlicherweise plötzlich darüber, warum Phinchen, dieses gutmütige und nicht dumme Dienstmädchen, ihr Leben lang in der Küche stehen, Stiegen, Schuhe und Fenster putzen, Schlafzimmer aufräumen müsse, häßlich gekleidet und ungebildet sei, zum Beispiel nie lese, gute Bücher gar nicht verstehe, während die Tante und er die sorgfältig zubereiteten Speisen verzehren, die von Phinchen sorgfältig geplättete Wäsche tragen und Shakespeare oder Goethe lesen konnten, wenn sie wollten; warum die siebzehnhundert Arbeiter von ihrem vierzehnten Jahre an bis zum Tode täglich von früh bis abends in der Papierfabrik des Herrn Hommes arbeiten mußten, während ungezählte Tausende junger Männer und Mädchen, die wenig oder nichts arbeiteten, hübsch gekleidet und gepflegt täglich spazierengehen konnten; warum die Arbeiter so schwere, täglich und stündlich zu erfüllende Pflichten hatten und die Wohlhabenden zum Teil recht angenehme oder gar keine; warum es überhaupt Reiche und Arme gab und warum der arm und der reich war; warum die Armen tun mußten, was die Reichen wollten; ob all das ein Naturgesetz oder menschliche Willkür war.

Seit jener rätselhaften Stunde hing er in einem Gedankennetz und suchte vergebens den Mittelpunkt, von dem aus die Grundursache der Gemeinheit des ganzen Lebens, die ihn bedrückte, verstanden werden könnte.

Die Tante empfing ihn freudig mit den Worten: »Alles liegt hübsch klar und geordnet vor dir … Du wirst Staatsbeamter. Amtsrichter in einem hübschen kleinen Städtchen! Das ist dein Lebensweg. Ich bin so glücklich.«

Jürgens Kopf nickte. ›Du taugst zu nichts anderem.‹ Wut wollte herausbrechen. Und wurde zu einem schiefen, gefährlichen Lächeln, während die Tante sich feierlich erhob, das Tischgebet zu sprechen.

»Ich werde nicht Amtsrichter. Ich will keine Urteile fällen über andere.«

Das Dienstmädchen war halben Wegs in der Stube stehengeblieben, die Hände gefaltet.

»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes … Bringen Sie diesmal auch eine Flasche Wein, Phinchen.«

Das besonders feine Damasttischtuch, das selten benutzte schwere silberne Familienbesteck, die Feierlichkeit der Tante und Jürgens Bemerkung machten, daß das Mahl steif und schweigsam verlief.

»Und wenn du nachher Amtsrichter bist«, begann bei der Süßspeise die Tante in gütigem Tonfall, als ob sie Jürgens Weigerung gar nicht vernommen hätte, »wirst du erst so recht einsehen, daß eben gerade die strenge Pflichterfüllung dir die Achtung deiner Mitmenschen einbringt. Du wirst ein geachteter Mann sein. Und das ist die Hauptsache: ein Mann, der sein sicheres Auskommen hat! – Auch wenn ich einmal nicht mehr da sein werde. Die Pflicht vor allem!«

Phinchen brachte hervor, das gnädige Fräulein sterbe gewiß noch lange nicht. Die Tante deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Brosche. »Meine Brust harmoniert nicht.« Und Jürgen fragte: »Aber was ist Pflicht?«

»Das weiß doch jeder Mensch. Jeder Mensch muß seine Pflicht tun … Bringen Sie noch etwas Kompott … Du willst nicht Amtsrichter werden? Ich sage: Du mußt es werden. Du willst keine Urteile fällen? Du mußt Urteile fällen. Denn dein Vater hat dich zum Amtsrichter bestimmt. Ich sage nochmals: Die Pflicht vor allem!«

»Erfüllt der Papierfabrikant Hommes seine Pflicht dadurch, daß er seine täglich spazierenfahrende Gattin zu Pferde begleitet? Wer bestimmt, daß es die Pflicht der siebzehnhundert Arbeiter ist, in die Hommessche Fabrik zu gehen? Und wer sagt mir, ob es meine Pflicht ist, Amtsrichter zu werden und Urteile zu fällen über andere …«

»Dein seliger Vater und ich!«

»… oder in der Fabrik zu arbeiten, oder täglich auszureiten und andere für mich arbeiten zu lassen?«

»Das sind Dummheiten.« Die Tante faltete ihre Serviette genau zusammen. »Räumen Sie ab!« Und stieg voran in Jürgens Zimmerchen.

Er mußte sich auf das Kanapee setzen, über dem, in ovalem Rahmen, symmetrisch zu einem großen Oval geordnet, die vergilbten Photographien der Familie Kolbenreiher hingen, in der Mitte ein Jugendbildnis des Vaters Die Tante rückte das schon genau in der Tischmitte stehende Resedasträußchen, das sie zur Feier des Tages im Garten geschnitten hatte, in die Tischmitte und zupfte ihr Geschenk, das Papageiüberhandtuch, zurecht. »Du wirst also in eine vornehme Verbindung eintreten. Du trägst eine Mütze, eine grüne oder eine schöne blaue, lernst schießen und fechten, natürlich nicht zu echt, eben nur, um deinen Mut zu stählen und weil das dazugehört … Jetzt nimm diesen Leuchter! Den Partner dazu bekommst du, wenn ich einmal unter der Erde liege. Das wird bald sein, und nachher kriegst du alles.«

Dann schilderte sie fließend, als lese sie wieder aus ihrem Haushaltungsbuch vor, wie Jürgens ganzes Leben sich gestalten werde: daß er in soundso viel Jahren diesen und diesen, später einen noch höheren und zuletzt den Beamtengrad eines Amtsrichters erreichen werde, mit soundso viel Gehalt, gelangte zu dem Lebensalter, in dem er einen Orden bekommen würde, und ging über zur Pensionierung. »So will es dein Vater. Wenn du deine Pflicht erfüllst, wirst du als ein Mann begraben, von dem deine Kollegen sagen werden: Er soll uns ein schönes Vorbild sein und bleiben … Mehr kann man vom Leben nicht verlangen, Jürgen. Mein Großvater sagte einmal zu mir: ›Man kann die Achtung, die ein Mensch im Leben genoß, an der Länge seines Leichenzuges messen.‹«

Jürgen schoß über das Lebensziel, ein pensionierter Amtsrichter zu werden, weit hinaus, stieg in wenigen Sekunden zu einer weltberühmten Leuchte der Wissenschaft empor, nahm eine Brust voll höchster Orden, die er nicht einmal beachtete, entgegen, wurde nebenbei Bürgermeister, ließ sich in den Reichstag wählen und übernahm das Ministerpräsidium. Alle Bürger grüßten ihn tief, Dann sah er sich voller Freude seinen kolossalen Leichenzug an.

»Ja, Jürgen, so ist es: seine Pflicht tun und ein geachteter Mann sein …«

Unversehens, wie die Uhr aufhörte zu ticken, starb in Jürgen die Begeisterung. Das grandiose Zukunftsgebäude krachte lautlos zusammen.

»Das erste gibst du dem Leben und bekommst dafür vom Leben das andere … Und unsern Garten und mich hast du ja auch noch«, sagte die Tante und ging. Adolf Sinsheimer war eingetreten.

Er lag im Großvaterstuhl wie der Lord im Klubsessel. »Mein Alter hat sich mir erklärt. Wir haben uns geeinigt über die Zukunft, die ich ergreife.«

›Daß gerade diejenigen, denen ich am allermeisten mißtraue, weil sie mich am allermeisten gequält haben, von mir fordern, ein geachteter Mann zu werden, sollte mir eine Warnung sein, ein solcher zu werden. Vielleicht ist man ganz und gar verloren, wenn man ein geachteter Mann geworden ist.‹ – »Welche ergreifst du denn?«

»Industrie, mein Lieber, Industrie! Nur der enorme Aufstieg unserer Industrie hat Deutschlands Weltgeltung begründet … Mein Vater ist übrigens genau derselben Meinung. Ich werde dir nachher beim Spaziergang die Chose zeigen, in die ich eintrete … Übrigens, rauchst du? Dieses Etui habe ich mir heute zugelegt. Du rauchst nicht? Aber das ist ja toll … Herein!« rief Adolf schnarrend.

Phinchen blieb, verlegen lächelnd, im Türrahmen stehen. Die Kaffeekanne dampfte. Ächzend schlug er das Bein über. »Aber ich bitte, treten Sie doch näher … Trinkst du denn dieses Weibergesüff?

Die ist verliebt, kannst dich darauf verlassen«, sagte er, als Phinchen gegangen war. Und auf der Treppe: »Ein Mädchen, das immer gleich lacht, ist verliebt … Unser Prokurist ist übrigens genau derselben Meinung.« Sie gingen die Straße hinunter.

»Und in wen wäre sie denn verliebt?« Jürgen sah steif geradeaus.

»In uns natürlich! In einen Mann, gewissermaßen.« Er schnallte das Ohrenband ab. »Dies hier … weg damit!« Und schleuderte es auf den Asphalt. Die Ohren erholten sich. »Es fällt einem verteufelt leicht, bei einem so jungen Ding Eindruck zu schinden«, sagte er noch und griff an seinen rosaseidenen Schlips. Da rückte auch Jürgen sein fingerschmales Schülerkrawättchen zurecht.