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In Franks Erzählungen erweist sich, wie beständig bürgerliches Wohlverhalten ist, wenn Ungewöhnliches geschieht: Da löst sich der letzte Wagen eines Zuges, rast vollbesetzt den Berg hinab, und unausweichlich macht sich Panik breit. – Die Erzählungen dieses Bandes erschienen erstmals 1925, als Frank durch "Die Räuberbande", "Die Ursache" und "Der Mensch ist gut" bereits ein anerkannter Schriftsteller war.
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Seitenzahl: 171
Leonhard Frank wurde am 4. September 1882 in Würzburg geboren. Sein Vater war Schreiner, er selbst ging zu einem Schlosser in die Lehre, arbeitete als Chauffeur, Anstreicher, Klinikdiener. Talentiert, aber mittellos, begann er 1904 ein Kunststudium in München. 1910 zog er nach Berlin, entdeckte seine erzählerische Begabung und verfaßte seinen ersten Roman, »Die Räuberbande«, für den er den Fontane-Preis erhielt. Im Kriegsjahr 1915 mußte er in die Schweiz fliehen: Er hatte Zivilcourage gezeigt und handgreiflich seine pazifistische Gesinnung kundgetan. Hier schrieb er Erzählungen gegen den Krieg, die 1918 unter dem berühmt gewordenen Titel »Der Mensch ist gut« erschienen. Von 1918 bis 1933 lebte er wieder in Berlin, nun schon als bekannter Autor. 1933 mußte er Deutschland erneut verlassen, diesmal für siebzehn Jahre. Die Stationen seines Exils waren die Schweiz, England, Frankreich, Portugal und zuletzt Hollywood und New York. 1952, zwei Jahre nach seiner Rückkehr aus den USA, veröffentlichte er den autobiographischen Roman »Links wo das Herz ist«. Leonhard Frank, »ein Gentleman, elastisch, mit weißen Haaren, der in seinem langen Leben alles gehabt hat: Hunger, Entbehrung, Erfolg, Geld, Luxus, Frauen, Autos und immer wieder Arbeit« (Fritz Kortner), starb am 18. August 1961 in München.
In Franks Erzählungen erweist sich, wie beständig bürgerliches Wohlverhalten ist, wenn Ungewöhnliches geschieht: Da löst sich der letzte Wagen eines Zuges, rast vollbesetzt den Berg hinab, und unausweichlich macht sich Panik breit. – Die Erzählungen dieses Bandes erschienen erstmals 1925, als Frank durch »Die Räuberbande«, »Die Ursache« und »Der Mensch ist gut« bereits ein anerkannter Schriftsteller war.
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Leonhard Frank
Erzählungen
Die Schicksalsbrücke / Zwei Mütter / Der Beamte / An der Landstraße / Im letzten Wagen
Inhaltsübersicht
Über Leonhard Frank
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Die Schicksalsbrücke
Zwei Mütter
Der Beamte
An der Landstraße
Im letzten Wagen
Impressum
Zuerst 1925 veröffentlicht
Wieder läutete eine Kirchenglocke in den Sonntagnachmittag. Annette stand immer noch im dunklen Zimmer am Fenster. Sie war sechzehn Jahre alt.
Die Straßenlampen brannten schon; aber die Helle kam vom Schnee. Die Häuser gegenüber standen im Dunkel. Ein Zimmer wurde beleuchtet: Eine alte Dame rückte den Lehnsessel zurecht, ließ sich vorsichtig und mühsam nieder an dem polierten Tischrund und breitete die Zeitung aus.
Das Läuten verklang. Stille und Einsamkeit wurden so drückend, daß Annette plötzlich über den Teppich rannte und stürmisch durch den langen, unbeleuchteten Gang. Vor der Wohnzimmertür preßte sie ihre linke Brust und senkte, atmend an den Pfosten gelehnt, tief den Kopf. Sie trat langsam ein.
Miss Hauk saß vor dem Nähtisch und besserte Wäsche aus. »Ihr Haar ist wieder unordentlich, Annette. Haben Sie Ihre Aufgaben gemacht für morgen?«
Der Blick jedes Menschen, der mit Annette sprach, glitt von den Augen herab zu ihrem Munde. Es war, als ob die Augen, die von rein und fast eckig geschnittenen Lidern gehalten wurden wie dunkle Steine von der Goldfassung, sich zurückzögen zugunsten dieses großen schönen Frauenmundes.
Sie sah auf den Wäschehaufen. »Daß Sie das aushalten, immer an diesem kleinen Tisch zu sitzen und Wäsche auszubessern an den Sonntagen!«
Miss Hauk wurde unwillig. »Ich habe doch keine Zeit während der Woche!«
Annette zog die zu langen Beine an. »Aber daß Sie es aushalten! Immer allein und mit mir! Haben Sie denn nicht das Verlangen, mit Menschen zu sprechen?«
»Seien Sie nicht extravagant, Annette. Beschäftigen Sie sich mit etwas. Die Hauptsache im Leben ist die Pflicht. Daß man seine Pflicht tut!«
»Aber was ist Pflicht?«
»Pflicht ist das, was jeder tun muß ... Hier habe ich einen Stoß Zeitschriften für Sie herausgesucht. Lesen Sie, wenn Sie schon nichts arbeiten wollen.«
Während sie blätterte, dachte sie darüber nach, was Pflicht sei. Wer das zu bestimmen habe. Wer Miss Hauk gesagt habe, daß es ihre Pflicht sei, den Haushalt zu überwachen, Annette zu erziehen und an den Sonntagen Wäsche auszubessern. Was Miss Hauk denken mochte, wenn sie stundenlang dasaß und den Faden zog, ohne daß eine Falte ihres Gesichtes sich bewegte. Ob sie sich mit ihrer Vergangenheit beschäftigte, an ihr langes Leben zurückdachte?
Annette begann an die Zukunft zu denken.
Sie kannte wenig Menschen. Seit dem Tode ihrer Mutter kamen selten Gäste ins Haus. Im Gegensatz zu der ereignisarmen Stille, in der sie aufwuchs, war es die unermeßliche Vielfältigkeit des Lebens, die sie anzog. Sie konnte sich ihre Zukunft nicht vorstellen. Der Gedanke, sich für nur eine von den unendlich vielen Möglichkeiten, die das Leben enthielt, zu entscheiden, war ihr unfaßlich.
Das helle Leben, Wärme, Sonne, Tanz, Blumen, Begehrtsein ... Im Gefängnis sitzen für eine gute Tat ... Krankenschwester im schwarzen Kleid, das Haar kurz geschnitten unter der Haube; nur sprechen, wenn ein Mensch leidet ... Tänzerin. Oder die auffallend gekleidete Frau im Wagen, die so laut lachte, daß alle hinsehen mußten ... Jung sterben – oder viele Enkelkinder haben ... Mußte sie alles sein, um das Leben zu fassen? Oder faßte sie alles, wenn sie nur etwas war?
»Wieder haben Sie die Hände unter dem Tisch, Annette! Wie oft habe ich Ihnen gesagt: Die Hände gehören auf den Tisch! Wie wollen Sie in die Gesellschaft eingeführt werden, wenn Sie nicht einmal verstehen, ordentlich an einem Tische zu sitzen! Man wird mich beschuldigen ... Warum lesen Sie nicht? Oder lösen Sie einen Rösselsprung.«
Annette blätterte weiter in den vergilbten Provinzjournalen, die Miss Hauk während vieler Jahre gesammelt hatte. »Die Rätsel sind schon alle gelöst.«
»Das werden meine früheren Zöglinge getan haben an den Sonntagnachmittagen. Dann häkeln Sie eben.«
Annette legte ein Häkelmuster vor sich hin und daneben heimlich ein Blatt der verbotenen Romanbeilage.
Miss Hauk sah auf die Uhr und öffnete das Fenster. Das tat sie pünktlich jede Stunde, ihrer Gesundheit wegen. Sie ging, in ein Tuch gehüllt, im Zimmer umher und atmete tief ein und aus.
Annette hatte einen Mantel angezogen und sah nun zum Wohnzimmerfenster hinaus. Es schneite. Der Hof war eng und still.
In der kleinen Küche gegenüber richtete die Frau das Abendbrot.
Im Zimmer saß der Mann, hemdärmelig, und spielte Karten mit einem Freunde.
Annette erinnerte sich noch genau, wie dieses Ehepaar vor einigen Jahren von der Hochzeitsreise zurückgekommen und in die kleine Hofwohnung eingezogen war. Die Frau hübsch und frisch, der Mann gepflegt und immer hinter ihr her. Jeden Morgen um acht Uhr ging er ins Büro. Dann erschien die junge Frau mit eingebundenem Haar am Fenster, legte die Betten heraus, schleuderte von Zeit zu Zeit das Staubtuch aus, reinigte die Scheiben. Dabei sang sie. Mittags war alles blank. Das Essen stand auf dem Tisch.
Jetzt sah der Mann nicht mehr so gepflegt aus. Ein Kind lag im Waschkorb. Die Frau war still und blaß geworden. Sie sang nicht mehr. Annette sah immer noch jeden Morgen vom Bett aus zu, wie die Frau, das hellblaue Tuch um den Kopf, die Betten auslegte. Ihr Gesicht war alt.
›Auch sie tut ihre Pflicht. Ist die Pflicht etwas Trauriges?‹
Die Wohnungsglocke läutete. Annettes Freundin kam. »Nur auf einen Augenblick!« Der Wagen wartete unten. Beate legte den Mantel ab und stand in ihrem ersten dekolletierten Ballkleid vor Annette. Der Salon wurde beleuchtet.
Beate glühte. Sie kam von der Hochzeit ihrer Schwester. Sie tanzte im Zimmer umher und umarmte die fassungslose Annette, die nicht begreifen konnte, daß diese Dame mit den entblößten Schultern ihre Freundin war. Das Leben schien doch näher zu sein, als Annette gedacht hatte.
Beate erzählte hastig und pausenlos und stürmte wieder hinaus. Sie hatte sich nur zeigen wollen. Die Wohnung wurde finster. Annette saß wieder neben Miss Hauk.
»Eine merkwürdige Erziehung!« Miss Hauk setzte einen großen Fleck auf das Leintuch. Man dürfe sich aber über nichts mehr wundern. Sie werde dem Vater vorschlagen, diesen Verkehr einzuschränken und später ganz zu verbieten.
Punkt sieben Uhr kam Großtante Emma, um, wie jeden Sonntagnachmittag, nach Annette zu sehen. Sie war über Siebzig und sehr schwerhörig.
Noch kurzatmig von der Kälte schälte sie sich aus einer Unmenge von Kleidungsstücken heraus, küßte Annette und setzte sich mit Miss Hauk auf das Kanapee, über dem zwei Dutzend Familienbilder hingen. Sie schrie laut, und Miss Hauk schrie die Antworten ins Hörrohr. Die Tante nickte immer heftig und sprach weiter von etwas ganz anderem. Annette war überzeugt, daß die Tante seit langem kein Wort mehr verstand.
»Annette, mein Kind, siehst blaß aus.«
»Schwer ins Leben einzuführen!« schrie Miss Hauk ins Hörrohr.
Tante Emma nickte. »Ja ja, Bewegung, mein Kind, Bewegung!«
Zum Abendbrot kam der Student, ein entfernter Verwandter, dessen Familie verarmt war. Er kam seit Jahren täglich zweimal zu Tisch, verbreitete immer einen Geruch wie von eingeregneten, noch nassen Kleidungsstücken, hatte viele Pickel im Gesicht und verschwand sofort, nachdem er gegessen hatte.
»Warum sprechen Sie nie mit Ihrem Vetter oder mit Ihrer alten Tante! Warum schweigen Sie überhaupt immer, Annette! Sie schweigen und schweigen. Während des Essens tranken Sie auch wieder Wasser, ohne sich vorher mit der Serviette den Mund abgewischt zu haben. Ich beobachtete es genau.«
Miss Hauk setzte sich an ihren kleinen Tisch und schlug die Wirtschaftsbücher auf. Einkaufszettel lagen umher, wurden durchgesehen und vernichtet. Die Dienstmädchen waren schon in ihre Kammer gegangen.
Annette öffnete leise die Tür und lief wieder durch den dunklen Gang hinüber ins Vorderzimmer, getrieben von Sehnsucht nach Weite. Ein Mensch bewegte sich mühsam durch den Schnee, den Kragen hochgestellt.
›Er geht so schwer, so schwer ... Wie durch zähes Unglück‹, hatte sie plötzlich gedacht. ›Hat jeder Mensch Schweres zu tragen? Jeder?‹
Sie saß im Dunkeln und sah zu, wie die Flocken fielen. Die Nacht war weiß. Durch den Fensterausschnitt drang das Schneelicht herein. Die Umrisse der Möbel wurden allmählich sichtbar und die Familienbilder an den Wänden. Die tote Mutter blickt. Aus der Ferne tönte schwach das ferne Klingeln der Straßenbahn. Vergangenheit und Zukunft hielten einander die Waage. Annette breitete weit die Arme aus.
Es rasselte lange, ehe die Uhr schlug. Zehn Schläge. Miss Hauk legte sofort den Bleistift weg.
Annette ordnete noch ihre Hefte für den nächsten Tag, englische Aufsätze, stellte den Stickrahmen zurecht. Das Klavierstück ist nicht geübt. Krach am nächsten Morgen.
Das Licht wurde ausgelöscht, die Kerze angezündet im Schlafzimmer. Miss Hauk entkleidete sich umständlich. Sie saß in ihrem gestreiften, kurzen Flanellunterrock und dem Wolleibchen lange vor dem Spiegel und fettete sorgfältig das Haar ein.
Annette sah vom Bett aus zu. Sie hatte Miss Hauk nie im Hemd gesehen. Ohne zu wissen weshalb, hatte sie immer die Augen geschlossen in der letzten Sekunde.
»Sie haben Ihre Zähne wieder zu flüchtig gereinigt. Was soll mit Ihnen werden, Annette? Sie werden immer ein unselbständiger Mensch bleiben, wie Ihr Vater sagt.«
Im Bett richtete Miss Hauk sich noch einmal auf. Ihre verrunzelten Finger rissen einen roten Zettel vom Kalender. Annette sah noch die schwarze Zahl, die den neuen Tag ankündete. Dann wurde es finster.
Sie dachte an den nächsten Morgen. Der Vater spricht beim Frühstück kein Wort, blickt gleichgültig und vielleicht wieder verächtlich an ihr vorbei, raucht, nimmt Natron und geht ins Geschäft. Sprachunterricht, Klavierstunde. Am Nachmittag die Handarbeitslehrerin. Ein neues Häkelmuster. Zwischendurch Staub wischen, den Tisch decken. Auch das muß ein Mädchen lernen, sagt Miss Hauk. Eine Stunde Spaziergang. Alles ganz pünktlich. Abendbrot. Der Vater schweigt. Geht aus. Die Lichter werden verlöscht. Miss Hauk entkleidet sich langsam und fettet vor dem Spiegel ihr Haar ein.
Viele Tage noch. Viele Sonntage. Annette dachte, daß sie vermutlich viel länger leben werde als Miss Hauk. Sie werde vielleicht sogar einmal vergessen haben, daß Miss Hauk gelebt hat. Aber diese Tage würden nie wiederkommen. Diese Tage gehörten Miss Hauk.
Plötzlich haßte sie Miss Hauk, die tief atmend schlief.
Die strenge Regelmäßigkeit im Haushalt lockerte sich. Die Mahlzeiten wurden manchmal um Minuten verspätet eingenommen. Der Vater achtete nicht mehr darauf, ob in irgendeiner Ritze der geschnitzten Möbel Staub zu entdecken war.
An der Börse hatten die Kurse zu sinken begonnen, und er war in Hausse engagiert.
Annette beachtete diese Veränderung vorerst nicht. Die krampfartige Anspannung, daß alles auf die Sekunde geregelt sein mußte, ließ nicht nach in ihr. Es gab öfter solche Krisen. Die Kurse würden wieder steigen.
Die Kurse sanken.
Die Augen des Vaters bekamen einen schimmernden Glanz, den Annette noch nie an ihnen bemerkt hatte. Er sprach einige Male mit ihr. Das verursachte ihr noch mehr Herzklopfen als sein verächtliches Schweigen.
Einmal strich er Annette über die Wangen. Sie empfand sofort einen stechenden Schmerz im Herzen und Schwindel im Kopfe und konnte sich ganz plötzlich an gar nichts mehr erinnern. Sie taumelte in den Sessel. Der schwere geschnitzte Eichenschrank neigte sich auf sie zu. Der Vater war schon zur Tür hinaus.
Das Haus wurde luftlos. Der Vater kam oft nicht zu Tisch. Wenn er zu Hause war, rechnete er angestrengt oder saß reglos und sah auf die Straße, als ob er sie noch nie im Leben gesehen hätte.
Annette beobachtete ihn erstaunt. Vielleicht würden die Kurse so lange sinken, bis der Vater gar kein Geld mehr hatte, bis sie ganz arm waren. Hoffnung und Vorfreude stiegen in ihr auf: Miss Hauk wird entlassen werden, und sie wird nicht mehr diese stumpfsinnigen Häkelarbeiten machen und nicht mehr unausgesetzt Klavier üben müssen. Der Vater wird sagen: ›Bitte, Annette, setze dich zu mir. Wir müssen beraten. Also, Annette, was tun wir jetzt?‹
›Schick alle Dienstboten fort, Papa. Ich führe den Haushalt ganz allein. Ich mache alles selbst. Du wirst sehen, es geht.‹
Sie schlief nicht. Sie führte die ganze Nacht den Haushalt. Und der Vater sagt: ›Jetzt weiß ich erst, was für ein gutes, tapferes, selbständiges Kind ich habe.‹
Annette betete: »Lieber Gott, lieber Jesus Christus, laß die Kurse sinken.«
In der folgenden Nacht hörte sie, wie der Vater im Zimmer auf und ab ging, die ganze Nacht. Sie saß aufrecht im Bett. Das Herz klopfte. »Laß die Kurse lieber doch nicht sinken, lieber Gott, laß sie nicht sinken.«
Er schrieb jetzt die Nächte durch. Tagsüber kamen Kassenboten, Bankbeamte. Das Telefon läutete wieder und wieder. Annette vernahm zweimal das Wort »Konkurs«. Die Handarbeitslehrerin wurde entlassen, die Klavierlehrerin. Annette wartete gespannt. Aber Miss Hauk blieb.
Der Vater schrieb an den Onkel und bat um die Summe, die er nötig hatte, die Krise zu überwinden. Jetzt wartete er auf Antwort. Es waren heiße Sommertage. Die Ferien hatten begonnen.
Annette und ihre Freundin Beate gingen im Stadtpark spazieren, immer um dieselben Tulpen- und Levkojenbeete herum, damit sie von den zwei Erzieherinnen, die schwarz auf der Bank saßen, gesehen werden konnten.
Beate sagte: »Armut ist häßlich und schmutzig. Wir wissen gar nicht, wie gut es uns geht.«
Annette entgegnete: »Ich habe heute die ganze Nacht Klavier gehäkelt.«
»Schlenkern Sie doch um Himmels willen nicht so mit den Armen, Annette!« Miss Hauk hatte ungeduldig gewartet, bis die zwei Mädchen in Hörnähe gekommen waren.
Alte Damen, Augen halb geschlossen, saßen in der Sonne. Gymnasiasten, Studenten, junge Kaufleute, halbwüchsige Mädchen spazierten auf den breiten Kieswegen.
»Die Schwierigkeiten und Gefahren bei der Erziehung eines jungen Mädchens sind riesig groß, Madame Klara. Wir haben eine schwere Verantwortung zu tragen.«
»Jetzt wollen wir zählen, wieviel Herren mich ansehen und wieviel dich. Aber du darfst nicht herausfordern, Annette, sonst gilt es nicht.«
»Ich habe schon drei Mädchen erzogen, Miss Hauk. Gewiß ist alles voll drohender Gefahren. Es kommt eben darauf an, die Mädchen so weit zu bringen, daß sie von selbst und ganz automatisch jeder Gefahr ausweichen. Dann werden sie Damen.«
»Was denkst du dir eigentlich, wenn ein Mann dich ansieht? Fühlst du etwas dabei. Sag, Beate, fühlst du etwas dabei?«
»Annette! Annette!« Miss Hauk keuchte atemlos herbei. »Kommen Sie, Ihr Vater ist da und eine Dame. Sie werden mit ins Theater gehen.«
Annette erblaßte. Wie weich das Leben plötzlich war. Schmiegt sich an. Miss Hauk steht vertrocknet da im schwarzen Kleid.
»Annette, das Leben ist voller Gefahren. Sie müssen trachten, den Gefahren des Lebens von selbst auszuweichen, auch wenn Sie in Zukunft öfter ohne mich ausgehen sollten.«
Da schlug Annette die Arme um den Hals ihrer Erzieherin. »Liebe Miss Hauk, Sie haben immer nur an mich gedacht, viele Jahre. Liebe, gute Miss Hauk!«
»Sie sind verrückt, Anette.«
Das Überraschendste im Theater war der Eindruck, den sie von der menschlichen Stimme bekam. Der Vorhang ging hoch. Es wurde still, und dann klangen, losgelöst, in die dunkle Stille Worte hinein. Das Alltägliche war weg. Eine Masse saß da, die das Persönliche vergessen hatte. Ein Mensch sprach.
Es mußte wunderbar sein, in diese lauschende Stille Worte zu sprechen. Es mußte dies ein Augenblick sein, wo man durch die angehäuften, angelebten, schmutzigen, kleinlichen Gedanken und Gefühle der Menschen bis zum hellen Kern des Lebens durchdringen konnte.
Von dieser Zeit an durfte Annette oft mit dem Vater und Frau Berta ausgehen. Sie fühlte bald, daß sie nicht um ihrer selbst willen mitgenommen wurde, und konnte doch auch keine Erklärung dafür finden. Sie litt besonders unter Frau Bertas unwahrer Freundlichkeit und wünschte sogar die Sonntage zurück, da sie allein mit Miss Hauk zu Hause gewesen war.
Beate erzählte, Frau Berta habe einen schlechten Ruf und werde von der guten Gesellschaft gemieden. Daß die Menschen anders grüßten, wenn Frau Berta dabei war, hatte Annette schon im Theater bemerkt.
Frau Berta teilte die Menschen in anständige und unanständige. Junge Mädchen, die heiraten würden, und junge Frauen waren anständig; geschiedene Frauen oder Frauen, die ein Verhältnis hatten, waren unanständig. Sie liebte heimlich die unanständigen Frauen, mochte die anderen nicht und hatte nur noch das eine Ziel, wieder eine anständige Frau zu werden.
In den Zimmern roch es nach Naphthalin und Moschus. Die Vorhänge waren heruntergenommen, Teppiche aufgerollt, die Möbel mit Schutzüberzügen versehen. Die Familie fuhr, diesmal etwas verspätet, in die Sommerfrische.
Der Kurort lag am See im Gebirge. Eine Woche später kam auch Frau Berta. Sie bewohnte drei Zimmer im Grandhotel.
Der Onkel und die Geschäftsfreunde hatten nicht geholfen. Aber jemand mußte dem Vater doch geholfen haben. Seine Weichheit war wieder verschwunden. Er fand seine Hauptgedanken wieder: ›Die Kinder sind für die Eltern da. Manche Menschen geraten unter die Räder durch eigene Schuld. Andere arbeiten sich in die Höhe durch Tüchtigkeit, Fleiß und Sparsamkeit.‹ Zu diesen gehörte er.
Er wußte dafür einige Beispiele aus der Naturgeschichte. Am vergangenen Tag hatte er Frau Berta zwei Sperlinge gezeigt, die um Brotstückchen kämpften. Der Schwächere mußte flüchten. »So ist es auch mit den Menschen. Das ist ein Naturgesetz.«
Nach diesen Grundsätzen lebte er sein Leben. Er war für seine Bekannten das Musterbeispiel eines ehrenhaften, verläßlichen, tüchtigen, anständigen Menschen und wurde als solcher von Frau Berta bewundert. An den Abenden sprach er mit ihr von den Sternen. Er deutete mit der Zigarre hinauf.
Sie badeten täglich im See. Der Vater war dick und ein guter Schwimmer. Annette sprang immer wieder kopfüber vom Zehnmeterbrett hinab ins widergespiegelte Gebirg, und Miss Hauk griff sich jedesmal angstvoll ans Herz.
An dem Tage, da Frau Berta, die vor kurzem noch eine berühmt schöne Frau gewesen war, das erstemal mitbadete, sagte der Vater plötzlich zu Annette: »Wie kann ein Mädchen nur einen so unmöglichen Körper haben!«
Annette, die soeben die Arme gehoben hatte zum Sprung, starrte fassungslos den Vater an, fassungslos an sich hinunter und ließ die gelähmten Arme sinken. Es erschien ihr plötzlich ganz unmöglich, noch einmal den Sprung in die Tiefe zu tun.
Sie war stolz gewesen auf ihren Körper, auf ihre gezogenen Beine, die etwas zu lang waren, hatte ihn zärtlich behütet und die im Umkreise großen, aber nicht hohen, sanft gewölbten Brüste jeden Morgen scheu bestaunt. Annette war vor zwei Monaten siebzehn Jahre geworden.
Sie hörte gar nicht mehr, wie Frau Berta sagte: »Wird schon noch voller werden. Ist doch gar nicht übel.«
Der Vater liebte kleine, runde Frauen mit ebenmäßigen Gesichtern und winzigen Mündchen. Nur durften sie nicht zu dick sein.
Annette kleidete sich in fiebriger Eile an und lief verstört ins Hotel zurück, gepeinigt von Scham und ganz erfüllt von einem unbegreiflich tiefen Verlorensein. Nie mehr im Leben werde jemand sie entkleidet sehen.
Sie wußte nicht und konnte auch in späteren Jahren niemals ergründen, weshalb sie gerade an diesem Abend zum Vater ins Zimmer getreten war und, lehnend am Türpfosten, gefragt hatte: »Ist Mutter verunglückt oder hat sie sich das Leben genommen?« Diese Frage stimmte so genau überein mit ihrem Gefühl, als ob sie gefragt hätte: Ist mein Körper unmöglich oder nicht?