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Eine junge Dänin fährt mit ihren Eltern zu einem Verwandtenbesuch in die USA. Sie kehrt nicht wieder zurück. Qualvolle zehn Jahre lang wird sie von den amerikanischen Geheimdiensten in einem Hochsicherheitstrakt festgehalten. Dort versucht man ihrem unglaublichen Geheimnis auf die Spur zu kommen.Mylady und ihr Butler greifen ein.Die Printausgabe umfasst 166 Buchseiten.
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Seitenzahl: 172
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DER BUTLERBand 3
In dieser Reihe bisher erschienen:
2401 J. J. Preyer Die Erbin
2402 J. J. Preyer Das Rungholt-Rätsel
2403 Curd Cornelius Das Mädchen
2404 Curd Cornelius Die Puppe
2405 Andreas Zwengel Die Insel
2406 Andreas Zwengel Die Bedrohung
2407 Andreas Zwengel Teneriffa-Voodoo
Curd Cornelius
DAS MÄDCHEN
Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2018 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckNach einer Idee von Jörg KaegelmannRedaktion: Andreas ZwengelLektorat: Dr. Richard WernerTitelbild: Rudolf Sieber-LonatiUmschlaggestaltung: Mark FreierIllustrationen: Jörg NeidhardtSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-511-1Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!
Sein Gesicht war so scharf geschnitten wie sein Anzug. Torben Suding, Mitinhaber einer florierenden Marketing-Agentur, hatte sich ein paar Tage frei genommen, um sein Anwesen auf Sylt zu inspizieren. Der Zeitpunkt war günstig, da sich seine Gattin gerade auf einer Kilimandscharo Tour befand. Der heiße Feger, der soeben mit ihm die Cessna bestieg, war seine Sekretärin und trug so viel Make-up im Gesicht mit sich herum, dass Air Berlin bei ihr ohne mit der Wimper zu zucken eine Strafgebühr für Übergepäck verlangt hätte.
„Das Wetter ist perfekt.“ Er half ihr beim Einsteigen. Das enge Kleid war entzückend, doch für hohe Schritte eher ungeeignet.
„Hoffentlich ist es nicht zu windig.“
„Wir fliegen zur Nordsee“, gab Torben zu bedenken.
„Der Wind am Strand ist ekelig.“ Sie setzte sich und schnallte sich umständlich an. „Und dann klebt der Sand überall.“
Als sie sich auch noch angewidert schüttelte, überlegte er, ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, diese extrem gut aussehende Zicke zu diesem Kurztrip zu überreden. Während der Arbeit war sie erträglich, doch in der Freizeit schien sie andere Maßstäbe zu setzen.
„Freust du dich denn gar nicht auf diese drei Tage Urlaub?“, fragte Torben und dachte: Bezahlten Urlaub, wohlgemerkt.
„Doch, natürlich!“ Sie rang sich ein Lächeln ab. „Aber ich schlafe im Gästezimmer.“
„Ja, ja“, sagte Torben. Noch ist nicht aller Tage Abend.
„Nicht, dass du denkst, wenn du mich erst mal ...“
Torben warf den Motor an und das Dröhnen verschluckte die restlichen Worte der gespachtelten Tippse. Die Cessna startete vom Lausitzer Flughafen Finsterwalde und nahm Kurs in Richtung Sylt.
Torben nutzte die Zeit, um die Stimmung aufzubessern. „Wir können in zwei Stunden schon im Meer sein.“
Es war ein herrlicher Tag, sonnendurchflutet und klar, doch sie hatte keinen Blick für die schöne Aussicht. Sie betrachtete ihre frisch lackierten Fingernägel und seufzte.
Ach ja, der Sand!, dachte Torben. „Entspann dich einfach.“
„Ich bin entspannt!“ Sie starrte immer noch auf ihre Fingernägel.
„Oder wir gehen erst mal ins Pony und schlürfen Champagner. Die Außenbar öffnet um siebzehn Uhr.“ Dann fiel ihm ein, dass sie noch nie auf Sylt war. Genau damit hatte er bei ihr gepunktet. Mit einem Haus auf Sylt konnte man in der Frauenwelt mehr bewegen, als mit einem Porsche. Und den hatte er ja auch noch.
Die Cessna säuselte, der Himmel blieb wolkenlos, das Leben war schön und Torbens Hand wanderte in Richtung enges Kleid.
„Lass das jetzt!“ Sie drückte seine Hand weg.
Nach anfänglicher Verärgerung wollte sich Torben dann doch nicht die gute Laune verderben lassen und wertete das lass das jetzt für sich erst mal als mach das später. Und er war besonnen genug, sich fürs Erste nur auf den Flug zu konzentrieren. Als sie nach zehn Minuten immer noch nicht nach draußen schaute sagte er: „Du musst als Kopilot auch mal einen Blick auf die Umgebung werfen. Sicher ist sicher.“
Jetzt sah sie Torben endlich ins Gesicht. „Was muss ich?“
„Wir haben kein Radar, falls du das glaubst. Das ist kein Jet. Wir fliegen nach Sicht.“
Nun starrte sie ihn fassungslos an. „Was … was bedeutet das denn?“
Ihre offensichtliche Angst belustigte ihn. „Na, wenn uns jemand entgegenkommt, dann bitte laut rufen. Man muss sich hier oben gegenseitig ausweichen.“
Sie war offenbar zu geschockt, um die Heiterkeit in seiner Stimme zu bemerken. „Ich … um Gottes willen! Ist das wirklich so?“
Torben nutzte die Situation und tätschelte ihr Knie. „Ja, das ist so, aber keine Angst, es passiert nichts.“ Er lachte, als sich ihr Gesicht vor Entsetzen verzog. „Nun ist gut, du bist so süß, wenn du ängstlich bist. Ich ...“ Er zuckte zusammen, als sie ihren Mund aufriss und durch die rot getünchten Lippen ein schauerlicher Schrei erscholl. „Mein Gott, beruhige dich bitte! Ich hab nur Spaß gemacht.“
Doch sie kreischte weiter, und Torben musste für einen Moment seltsamerweise an die geschockte Laura Dern in Blue Velvet denken. Sein Blick ging nach vorn, und er entdeckte die riesige schwarze Wolke, die sich aus dem Nichts vor ihnen aufgebaut haben musste. Als Nächstes sah er eine dämonische Fratze inmitten dieser Wolke. Eine Fratze mit Hörnern. Der Teufel!, durchzuckte es ihn. Bevor er es schaffte, den Kurs seiner Cessna zu ändern, steckten sie bereits in der Wolke. Und dass das schwarze Ding keine Wolke sein konnte, wusste Torben, als das Kleinflugzeug wie ein Stein in eine alptraumhafte, brodelnde Tiefe sackte, die nicht von dieser Welt war.
Tahca-Scaberry Hill …
Sie konnte den Namen des Kaffs, in dessen Nähe das Kinderferiencamp aufgebaut war, nicht einmal richtig aussprechen. Die Kleinstadt lag am Rande einer Schlucht, irgendwo in den niedrigen, wacholderbedeckten Hügeln zwischen Abilene und dem texanischen Colorado City, nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Stadt im Bundesstaat Colorado. Hier, auf dem westlichsten Longhorn-Trail, wo es nur Staub und Mesquite-Gestrüpp gab, zogen einst kilometerlange Büffelherden durch die karge Talenge. Tonkawa-Indianer und Komantschen bewohnten das Land, bevor sie von den Weißen bekämpft und vertrieben wurden.
Der Name der Stadt, Tahca-Scaberry Hill, setzte sich aus einem Begriff der Tonkawa-Sprache und Englisch zusammen. Was er allerdings bedeutete, wusste Claire Hendriksen nicht. Zwar sprach sie mit ihren zehn Jahren schon ein recht passables Englisch, aber mit solchen Zungenbrechern hatte sie Probleme. Doch letztendlich war es egal.
Die überwiegende Zeit verbrachte Claire ihre Ferien im Blackwater-Camp oder der näheren Umgebung. Gestern hatte sie mit den anderen Kindern, beaufsichtigt von den Camp-Rangern, einen Ausflug in den sogenannten Rattlesnake Belt, den Klapperschlangengürtel, gemacht. Mitten in der texanischen Prärie waren die Winternester der Klapperschlangen zu finden, die die Reptilien in Felsspalten vor der Witterung schützten. Alljährlich kamen aus dem ganzen Land Schlangenfänger zur Frühjahrsjagd zusammen. Mit Benzindämpfen lockten sie die noch trägen Reptilien unter den Steinen hervor, dann schnappten sie sich die Tiere mit Fanghaken, die am oberen Ende mit einer Zange ausgestattet waren, und steckten sie in sichere Behälter. Anschließend wurden die hochgiftigen Grubenottern an Universitäten und Labors verkauft.
Mit Schaudern dachte Claire an das unheimliche Rasseln, das die bis zu zwei Meter langen Texas-Klapperschlangen mit den Hornklappen an ihrem Schwanzende auslösten; an die braun-schwarz geschuppten Leiber, die trotz ihrer Trägheit blitzschnell nach vorne schossen; an die kalten, senkrecht geschlitzten Augen und an die langen Giftzähne, die im Oberkiefer des flachen Kopfes saßen. Direkt neben ihr war einer der Fänger gebissen worden. Umgehend hatten ihm Notärzte aus der bereitstehenden Ambulanz ein lebensrettendes Serum verabreicht. Nachher hatte der Fänger den Kindern erzählt, dass die Schmerzen sofort nach dem Biss, durch den ihm das Gift eingespritzt worden war, eingesetzt hatten.
Plötzlich spürte Claire etwas an ihrem linken Knöchel, der von ihrer Dreiviertelhose nicht bedeckt war. Vor ihrem geistigen Auge sah sie eine riesige Klapperschlange mit weit geöffnetem Rachen und nadelspitzen Giftzähnen und schrie laut auf, doch das Lachen der anderen Kinder um sie herum holte sie in die Wirklichkeit zurück. Sie hockten zusammen um ein Lagerfeuer im Schatten von Wacholderbäumen, unweit der Holzbaracken des Camps. Wie aus einem Fotokalender spannte sich ein azurblauer, wolkenloser Himmel über das weite, karge Texas.
„Habe ich dich erschreckt?“, fragte der Junge, der direkt neben ihr saß, grinsend.
Kevin Parker war ein für sein Alter ungewöhnlich großer Zwölfjähriger mit pechschwarzen Haaren, der Claire anschmachtete, seitdem sie im Camp waren. Die zierliche Claire mit dem fransigen Pony, durch den ihre Augen so blau wie das Meer in der Sommersonne schimmerten, war die einzige Ausländerin unter den Kindern, und Kevin fand das irgendwie herrlich exotisch. Vor allem, dass sie aus Dänemark, aus Good Old Europe, stammte, faszinierte ihn ungemein. Bislang hatte er über das kleine nordeuropäische Land nur aus Büchern gelesen. Die Hauptstadt Kopenhagen, in der Claire lebte, kam ihm vor wie ein verträumter Ort aus Harry Potters Welt.
Claire lächelte dem texanischen Jungen zu. In ihr entwickelte sich ein merkwürdig kribbelndes Gefühl. Heute war ihr letzter Tag im Camp. Die Frühjahrsferien gingen zu Ende, und wie die anderen Kinder würde sie zu ihren Eltern zurückkehren, mit denen sie den gemeinsamen Urlaub bei ihren Verwandten, Onkel Finn und Tante Kirsten, verbrachte.
Vor dem diesjährigen Besuch hatte Claire den Wunsch geäußert, einige Zeit in einem Ferienlager verbringen zu dürfen. Zuerst waren ihre Eltern von dieser Idee nicht sonderlich begeistert gewesen, aber als sie sahen, wie ernst es ihrer Tochter damit war, hatten sie schließlich doch zugestimmt. Claire war völlig aus dem Häuschen gewesen, konnte sie doch nun endlich ihren kleinen Traum vom Abenteuer in der Wildnis wahr machen. Und das inmitten dieser atemberaubenden Naturkulisse.
„Sehen wir uns wieder, Claire?“, fragte Kevin. „Vielleicht nächstes Jahr?“
Die Kohlen und Holzscheite glühten bereits ab, der Rauch hatte sich längst verzogen. Bevor Claire etwas erwidern konnte, trat Miss Taylor neben das Lagerfeuer. „Ihr müsst eure Zimmer aufräumen und das Gepäck rausstellen, damit Mister Flint es gleich im Bus verstauen kann.“
Die Kids folgten den Anweisungen der beleibten Leiterin des Blackwater Camps und rannten in die nahen Holzbaracken. Claire brauchte nicht lange, weil sie ihr Bett immer schon nach dem Aufwachen gemacht und ihre Kleidung stets sorgfältig im Schrank einsortiert hatte. Nach nicht einmal fünf Minuten lag alles ordentlich zusammengelegt in ihrem Bastkoffer, zusammen mit den Schuhen und ihrer kleinen Kosmetiktasche.
Mister Flint, ein Mann von mittlerer Größe, kräftig gebaut und mit einem gemütlichen Gesicht, war nicht nur der Busfahrer, sondern auch der Mann für alles Mögliche. Mit ihm hatten die Kinder Glühwürmchen gefangen, mit Tauwürmern Catfish geangelt, Tipis aufgestellt, Kaninchenfallen gebaut und Bienennester aufgestöbert. Er wartete bereits vor dem gelben Schulbus und wuchtete die Gepäckstücke der Kinder in den Stauraum.
Die Verabschiedung von Miss Taylor war kurz, aber herzlich. Danach setzten sich die Kids in den Bus, der sie bei ihren Familien in der Umgebung abliefern würde. Natürlich quetschte sich Kevin neben Claire auf den Doppelsitz, doch anders als erwartet schwieg der Junge die ganze Fahrt über und starrte mit trauriger Miene stumm vor sich hin. Nach und nach leerte sich der Bus. Zuletzt blieben nur noch Kevin und Claire übrig.
„Ich … ich finde dich … cool!“, sagte der Junge und schaute Claire leicht verschüchtert an. In diesem Moment sah er aus wie ein Welpe, der glaubte, etwas falsch gemacht zu haben, und auf die Schimpfe seines Herrchens wartete.
Claire wusste nicht recht, was sie sagen sollte, und drückte ihrem Sitznachbarn stattdessen nur kurz die Hand.
Als der Bus auf der Parker-Ranch anhielt, fasste sich Kevin ein Herz und hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dann stieg er schnell aus und verschwand im Haus, ohne sich noch einmal umzuschauen.
Erst nach einigen Sekunden wagte Claire, wieder zu atmen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Noch immer spürte sie Kevins Lippen auf ihrer Haut. Nachdem der Bus in Richtung Tahca-Scaberry Hill gefahren war, fiel ihr ein, dass sie weder eine Telefonnummer noch die Adresse des Jungen besaß.
„Gefällt es dir in Texas?“, unterbrach der Busfahrer die Gedanken von Claire, die inzwischen sein letzter Fahrgast war. Abwechselnd schaute er auf die Straße und in den Rückspiegel.
„Sehr, Mister Flint. Texas ist wunderbar und die Menschen sind es auch.“
Der Fahrer lächelte. Ihm war nicht entgangen, dass sich eine kindliche Romanze zwischen dem dänischen Mädchen und dem texanischen Jungen angebahnt hatte. „Und wie ist es so in Dänemark?“, fragte er weiter. „Kalt, regnerisch und dunkel?“
„Nicht immer … aber manchmal.“
Mehr war aus Claire nicht herauszubekommen. Je näher sie der Kleinstadt kamen, umso schwerer wurde ihr das Herz, obwohl sie nun wieder ihre Eltern sehen konnte. Sie musste zu sehr an Kevin denken, spürte den ersten Anflug von Schmetterlingen im Bauch. Im Stillen ärgerte sie sich darüber, dass sie noch nicht mal eine Telefonnummer von ihm hatte. Sie tastete an ihre Wange, dahin, wo der Junge sie geküsst hatte. Plötzlich standen Tränen in ihren meerblauen Augen. Wütend wischte sie mit dem Handrücken über ihr Gesicht.
Es dauerte ein paar Minuten, bis sie sich wieder gefangen hatte und ein schmerzhaftes Ziehen im Unterleib spürte, das ihre romantischen Gefühle überlagerte. Ich hätte doch noch im Camp auf die Toilette gehen sollen, dachte sie und rief: „Mister Flint, könnten Sie mal kurz anhalten, bitte!“
Der Fahrer blickte verständnislos in den Rückspiegel. Er lenkte den Bus gerade über eine staubbedeckte Straße mitten im texanischen Busch, links und rechts war nur dorniges Gestrüpp zu sehen. Etwas weiter vorne wichen die Pflanzen einem weiß gestrichenen Holzzaun, der das gepflegte Grundstück einer Pferderanch begrenzte.
„Ich muss mal für kleine Pinguine.“ Claire lachte. „Es ist wirklich dringend …“
„Ach so, na klar“, sagte Mister Flint verständnisvoll und fuhr langsamer.
Weit und breit war kein anderes Fahrzeug zu sehen. Mit quietschenden Bremsen blieb der Bus stehen. Noch bevor sich die mechanische Tür komplett geöffnet hatte, war Claire schon draußen und sah sich um. Es war eine trostlose Gegend. Um nicht vom Fahrer gesehen zu werden, hockte sie sich unweit des Busses ins Gebüsch, wobei sie vorsichtig die Berührung mit den Dornenzweigen vermied, und verrichtete ihr Geschäft. Dabei bemerkte sie eine Überwachungskamera am weißen Zaun gegenüber, doch zum Glück war die Linse nicht auf sie gerichtet, sondern auf das Heck des Fahrzeuges.
Und dann hörte sie ein Motorengeräusch. In einiger Entfernung entdeckte Claire eine Staubwolke, die rasch näher kam. Ein riesiger Truck schnaufte heran. Die Straße war jedoch ziemlich eng und der Bus stand mitten im Weg. Im nächsten Moment dröhnte das Signalhorn des Trucks. Claire zog ihre Hose hoch und rannte aus dem Gebüsch direkt auf den Bus zu, um schnell einzusteigen, damit sie wieder losfahren konnten.
*
Im Rückspiegel sah Flint das Mädchen im Gebüsch verschwinden. Als er seinen Blick wieder nach vorne richtete, tauchte vor ihm ein schwerer Mack Truck auf, der sich als mächtiger Schatten aus einer Staubwolke schälte. Rasend schnell hielt das Fahrzeug mit unvermindert hoher Geschwindigkeit geradewegs auf ihn zu. Das Dröhnen des Motors wurde immer lauter. Der Fahrer war nur ein Schemen hinter dem Steuer.
Flint wurde es heiß und kalt zugleich. Sein Bus stand fast quer auf dieser jämmerlichen Staubpiste. Wenn er ihn nicht sofort näher an den Rand fuhr, würde ihn der Mack wie ein durchgeknallter Büffel rammen. Aus den beiden seitlichen, über dem Auflieger gebogenen Auspuffrohren des Trucks drang dichter Qualm. Das Signalhorn stieß einen schrillen Ton aus.
In Flint machte sich Panik breit. Hastig legte er den Rückwärtsgang ein, um den Bus näher an das Gebüsch zu bringen und so einem Frontalzusammenstoß zu entgehen. Sein Fuß drückte das Gaspedal durch, das Fahrzeug machte einen Satz nach hinten und beschleunigte. In diesem Moment rannte Claire hinter ihm aus dem Gebüsch.
Gott im Himmel, das Mädchen! Flints Herz setzte für einen Moment aus. Er sah das Mädchen, die schreckgeweiteten Augen, dann drückte er das Bremspedal bis zum Bodenblech runter. Die Restgeschwindigkeit des Busses würde ausreichen, um die Kleine zu Brei zu zermalmen. Im selben Moment rauschte der Mack haarscharf an ihm vorbei. Das Hupen war ohrenbetäubend.
Flint brüllte vor Entsetzen. Doch kurz darauf erstarb sein Schrei. Flint konnte nicht glauben, was er gerade sah. Das Heck des Busses verfehlte das Mädchen, von einem Moment zum anderen war sie nicht mehr an der Stelle, an der sie eben noch wie erstarrt gestanden hatte. Sie war wie eine Feder in die Luft geschnellt!
*
Um Claire herum brach das Chaos aus. Der Truck raste mit Höchstgeschwindigkeit und ohrenbetäubendem Dröhnen nur wenige Zentimeter am Bus und an ihr vorbei. Staub hüllte sie ein, brannte in ihren Augen. Sie hustete. Gleichzeitig hielt der Bus weiter auf sie zu.
Der sieht mich nicht!
Claire war wie erstarrt. In der nächsten Sekunde würde sie das Heck des Fahrzeugs mit der Gewalt eines Dampfhammers treffen und sämtliche Knochen in ihrem kindlichen Körper zerschmettern. Die mächtigen Räder würden sie erfassen und zerquetschen wie eine dünne Blechdose.
Mama …
Papa …
Kevin …
Dann geschah etwas mit ihr, das kaum ein denkendes Wesen auf diesem Planeten für möglich gehalten hätte.
*
Flints Atem beschleunigte sich, sein Herz schlug fast schmerzhaft bis hoch in den Hals. Schweiß perlte auf seiner bleichen Stirn. Wo ist das Mädchen? Verdammt! Wo ist Claire? Gedankenfragmente peitschten durch sein Gehirn und trieben ihn aus dem Bus hinaus. Hab ich sie wirklich fliegen sehen? Der aufgewirbelte Staub legte sich und ließ allmählich eine bessere Sicht zu. Flint drehte sich wie betrunken im Kreis und starrte nach oben in den wolkenlosen Himmel. Er musste die Augen zusammenkneifen, um von der Sonne nicht geblendet zu werden.
Nichts!
Flint rannte um den Bus herum, sah im Gebüsch und sogar hinter dem Zaun mit der Überwachungskamera nach, doch nirgends war eine Spur des Mädchens zu finden. Claire Hendriksen war verschwunden.
*
Das Heck des Busses hatte die zierliche Gestalt des Mädchens nur um Haaresbreite verfehlt, denn von einem Moment zum anderen war Claire nicht mehr an dem Platz, an dem sie eben noch gestanden hatte. Sie hatte sich nach oben in die Luft erhoben und schwebte nun fünf Meter über der staubigen Piste. Unter sich sah sie das von Hagel zerbeulte Dach des alten Busses.
Ich … ich fliege!, schoss es ihr durch den Kopf. Lieber Gott, ich fliege!
Die Leichtigkeit ihres Körpers, die ungewöhnliche Vogelperspektive und die Erkenntnis, gerade einem tödlichen Unfall entgangen zu sein, setzten in ihr das erhabenste und aufregendste Gefühl frei, das sie je erlebt hatte.
Ich fliege!
Claire hatte nicht die geringste Mühe, sich in der Luft zu halten. Claire streckte sich nach oben und breitete die Arme aus, so wie sie es aus den Filmen mit Supermännern kannte. Und tatsächlich – in dieser Position war es leicht, sich über der Erde fortzubewegen. Wie ein Vogel, nur frei von lästigem Flügelschlag. Sie flog, ohne etwas Spezielles zu tun, und es funktionierte ganz einfach, indem sie sich lediglich auf die Richtung konzentrierte, in die sie wollte.
Mitten in ihrer Euphorie wurde ihr plötzlich klar, dass das, was sie gerade erlebte, nicht real sein konnte. Bin ich tot?, schoss es ihr durch den Kopf. Ist das nur meine Seele, die fliegt? Oder war es doch die Wirklichkeit, die sie gerade erlebte? Sie kniff sich in die Wange. Alles fühlte sich so an wie immer, nur mit einen Unterschied: Sie konnte fliegen!
Lieber Gott im Himmel, frei wie ein Vogel … fliegen …
Schnell wurde ihr die gesamte Tragweite dieser neuen Situation klar. Sie lebte noch, ganz sicher, und eigentlich war alles völlig normal – was sie von sich selbst allerdings nicht mehr behaupten konnte! Trotz ihrer jungen Jahre ahnte sie, dass ab jetzt sehr viel Neues mit noch mehr Problemen auf sie warten würde. Niemand durfte sie so sehen, sonst würde man sie als das fliegende Mädchen in einer Freak-Show im TV zur Schau stellen.
Claire war völlig verwirrt. Die Leichtigkeit und Freude in ihrem Innern zerbröckelte mit einem Schlag und wich einer tiefen Angst. Sie werden mich jagen. Eingesperrt und ausgestellt werde ich nie mehr ein Leben in Ruhe führen können. Nie mehr ins Feriencamp zurückkehren. Nie mehr Kevin sehen … All diese Gedanken wirbelten dem Kind durch den Kopf, während es noch immer über dem Dach des Busses schwebte. Claire fühlte sich total überfordert, alleine mit ihrer neuen Erkenntnis.
Ich muss weg von hier!
Mister Flint sprang durch die sich öffnende Tür aus dem Bus und drehte sich im Kreis. Kurz bevor er nach oben sehen konnte, war Claire über eine Baumkrone geflogen, deren Blätter ihren Körper in der Luft verdeckten. Als der Busfahrer zu dem weißen Zaun hastete und auch im Gebüsch nach ihr suchte, flog sie in mehreren Metern Höhe völlig geräuschlos über ihn hinweg in Richtung Tahca-Scaberry Hill.
*
Der Officer der Highway Police sah den kräftig gebauten Busfahrer unter der Krempe seines Hutes finster an und setzte dann die Sonnenbrille wieder auf. „Was sagen Sie da?“
Flint blickte zwischen den Polizisten hin und her. Die beiden hatten angehalten, um zu fragen, warum Flint seinen Bus mitten in der Pampa geparkt hatte. Flint hatte von dem Mädchen, das nur eben mal kurz austreten wollte, dann von dem Höllentruck und seinem Ausweichmanöver erzählt. Und davon, dass er Claire beinahe über den Haufen gefahren hätte, wäre sie nicht …