Schattenchronik - Gegen Tod und Teufel 05: Killerkäfer im Westerwald - Curd Cornelius - E-Book

Schattenchronik - Gegen Tod und Teufel 05: Killerkäfer im Westerwald E-Book

Curd Cornelius

0,0

Beschreibung

Drei Topagenten der Schattenchronik im Einsatz.Ryan Reese kämpft in den Sümpfen von Louisiana gegen Dämonen und Hexenwesen um sein Leben. Zur gleichen Zeit stellen sich Martin Anderson und Leila Dahlström im Westerwald den Urgewalten der anderen Ebene. Die Lage scheint aussichtslos.* Die am Ende des Jahres erscheinende Paperback Ausgabe wird 160 Seiten umfassen! *

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 127

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



SCHATTENCHRONIK – GEGEN TOD UND TEUFELBand 5

In dieser Reihe bisher erschienen:

2901 Curd Cornelius Die andere Ebene

2902 Curd Cornelius Die Riesenwespe vom Edersee

2903 Curd Cornelius & D. J. Franzen Die Ruine im Wald

2904 Curd Cornelius & Astrid Pfister Das Geistermädchen

2905 Curd Cornelius & G. G. Grandt Killerkäfer im Westerwald

2906 Andreas Zwengel Die Stadt am Meer

Curd Cornelius & G. G. Grandt

KILLERKÄFERIMWESTERWALD

© 2019 BLITZ-VerlagRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Rudolf Sieber-LonatiUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierInnenillustration: Ralph KretschmannSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenwww.BLITZ-Verlag.deISBN 978-3-95719-565-4

Coney Island, New York

Lautes Gekläffe weckte Lauren Garson. Sofort war sie hellwach. Der Wecker zeigte Punkt Mitternacht. Geisterstunde. Die achtzigjährige Frau erhob sich mühsam von ihrem Bett, schlüpfte in ihre Pantoffeln und schlurfte aus dem Schlafzimmer. Um diese Zeit lagen Tick, Trick und Track normalerweise friedlich neben ihren Fressnäpfen in der Küche. Weshalb die drei Windhunde so ein Spektakel veranstalteten, wusste sie nicht.

Von einer Sekunde auf die andere ging das Kläffen in ein jämmerliches Winseln über. Laurens Herzschlag beschleunigte sich. So hatte sie ihre Lieblinge noch nie erlebt. Sie beeilte sich, die breite, gewundene Treppe vom Schlafgemach hinunter ins Erdgeschoss zu nehmen. Auf ihren Diener und ihre Hausgehilfin konnte sie nicht hoffen. Edgar und Carmen bewohnten zwar gemeinsam mit ihr den Zwölf-Zimmer-Bungalow im vornehmsten Viertel der Halbinsel Coney Island, aber sie hatte den beiden gestern Abend freigegeben.

„Was ist los mit euch, Jungs? Was habt ihr nur?“ In der geräumigen Eingangshalle, von der aus verschiedene Räume abzweigten, klang die Stimme der alten Dame seltsam verloren.

Lauren tappte an den bis zum Boden reichenden Fenstern vorbei, die einen Blick auf den nächtlichen Garten freigaben, der das Haus umschloss. Der Bewegungsmelder hatte die Außenbeleuchtung eingeschaltet. Der Garten war hervorragend gepflegt. Alles an diesem Anwesen war bestens in Schuss. Lauren Garson gab dafür jeden Monat ein kleines Vermögen aus. Leisten konnte sie sich das, finanziell war sie gut versorgt. Jahrzehntelang hatte sie als Wahrsagerin und Chiromantin gearbeitet und ihren wohlbetuchten Kunden das Schicksal aus Karten, Kristallkugeln und den Händen vorausgesagt. Ihre Klientel bestand nicht nur aus hochrangigen Politikern und prominenten Schauspielern, auch Fürstenfamilien und finanzkräftige Neureiche aus dem In- und Ausland gehörten dazu. Zudem hatte sie für zahlreiche Magazine und Zeitungen Kolumnen mit Prognosen über die politische und soziale Zukunft der Welt geschrieben.

Die Gedanken des Mediums kehrten zurück in die Gegenwart. Aus ihrer Küche war kein Laut mehr zu hören. Das herzzerreißende Winseln war verstummt und nun herrschte eine fast gespenstische Stille. Auch von ihren siamesischen Katzen hörte und sah sie nichts. Tagsüber strichen die Stubentiger bei jedem Schritt, den sie tat, um ihre Füße und schliefen stets neben ihr in dem geräumigen King-Size-Bett. Selbst beim Toilettengang wurde sie oft von ihnen begleitet. Nur heute blieben sie unsichtbar.

Lauren Garson wollte ihren Blick schon vom Garten abwenden, als ihr etwas auffiel. Dank einer teuren Augenoperation vor drei Jahren war ihre Sehschärfe nicht nur wiederhergestellt, sie hatte sich auch um ein Vielfaches gesteigert. Was bedeuteten diese schwarzen Schatten an der Innenseite des Außentors, die dort herabhingen?

Das Medium drückte auf den Schalter für die zusätzliche Außenbeleuchtung. Das Zufahrtstor wurde in einen grellen Lichtschein getaucht und zerrte eine grausige Szene aus dem Dunkel der Nacht. Nebeneinander hatte jemand ihre fünf Siamkatzen mit den Pfoten an das Holz genagelt. In dunklen Bahnen lief das Blut an dem weiß gestrichenen Tor hinunter.

Lauren Garson schrie auf. Voller Abscheu betrachtete sie die Kadaver ihrer geliebten Haustiere. Ihr Magen rebellierte. Nur mit Mühe konnte sie einen aufsteigenden Brechreiz unterdrücken. Instinktiv betätigte sie den Lichtschalter. Die Lampen erloschen und die Szenerie verschwand, doch vor ihrem geistigen Auge sah die Achtzigjährige noch immer ihre toten Katzen am Tor hängen.

Angenagelt wie Jesus Christus!

Geschockt wandte sich Lauren der Küche zu. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte Angst vor dem, was sie sehen würde, wenn sie in den gekachelten Raum trat. Dunkelheit umfing sie, nur die digitale Temperaturanzeige des Kühlschranks stach daraus hervor. Mit zitternden Fingern legte sie den Lichtschalter um. Dann schrie sie laut auf. Ihre treuen Windhunde lagen zerstückelt in einer großen Blutlache, die den Küchenboden bedeckte. Die Köpfe mit den weit aufgerissenen Augen und den heraushängenden Zungen hatte man auf Fleischspieße gesteckt.

Wie konnte das sein? Sie hatte nichts gehört.

„Mein Gott!“, heulte Lauren Garson von purem Entsetzen geschüttelt. Für einen Moment glaubte sie, den Verstand zu verlieren. „Mein Gott, mein Gott!“ Die alte Frau ging auf die Knie und rief immer wieder die Namen ihrer Lieblinge. „Meine Jungs! Tick! Trick! Track! Meine Jungs!“ Während ihr die Tränen über die Wangen liefen, wusste sie aufgrund ihrer Begabung bereits, wer hinter diesen schrecklichen Tiermorden stand. Das Medium erinnerte sich noch sehr genau, wie sie einstmals der New Yorker Mordkommission geholfen hatte. Damals, vor über zehn Jahren, suchte sie ein Mann auf. Er gehörte nicht zur Polizei, war auf der Suche nach einer dreihundert Jahre alten Hexe, die mehrere Menschen getötet haben sollte. Lauren Garson konnte den Aufenthaltsort dieser Frau in den Mississippi-Sümpfen über ihre Kontakte zur anderen Ebene ermitteln. Den Cops gelang es daraufhin, die Hexe aufzuspüren. Bei dem Zugriff wurde sie getötet.

Salamanka, die Sumpfhexe!

War diese Verfluchte aus dem Jenseits zurückgekehrt, um sich an ihr zu rächen? Noch bevor die Achtzigjährige weiter darüber nachdenken konnte, ging alles Schlag auf Schlag. Es schien ihr so, als blicke sie durch eine Kristallkugel, nur dass sich dieses Mal ihr eigenes Schicksal vor ihrem geistigen Auge offenbarte. Sie sah, wie sie von Tick, Trick und Track regelrecht zerfleischt wurde. Die aufgespießten Köpfe der Hunde bewegten sich, sie lebten und flogen direkt auf sie zu. Die länglichen Schnauzen verzerrten sich zu geifernden, zähnefletschenden Fratzen, die wie entfesselt nach ihrer Herrin schnappten. Ein bestialischer Gestank drang aus den zuckenden Rachen dieser Teufelshunde. Die abgetrennten Köpfe auf den Fleischspießen schwirrten plump um sie herum, zerrten an ihrem Morgenrock, rissen an ihren dünnen Armen und Beinen. Blut spritzte auf die Wände und Kacheln, als sich die Mäuler bis auf die Knochen in der alten Frau verbissen, die um sich schlug und strampelte. Allmählich erlosch Lauren Garsons Gegenwehr. Nicht nur der Schmerz schwächte sie immer mehr, sondern auch die Erkenntnis, bei lebendigem Leib von ihren eigenen Lieblingen zerfleischt zu werden. Doch irgendwann legte sich der Schleier des Todes über ihr Bewusstsein und erlöste sie von ihren Qualen.

*

Frankfurt, Deutschland

Martin Anderson, frischgebackener Agent der neuen Geheimorganisation Schattenchronik versuchte sich die Ereignisse mit dem Pestmädchen in Schottland zu erklären.1

Wie sollte er das seit Jahrhunderten tote Kind zuordnen? Gehörte es eher zu den positiven Kräften der anderen Ebene? Der Ägypter Mido Zaki, den ihm Richard Wallburg zur Seite gestellt hatte, konnte ihm nicht weiterhelfen. Der Mitarbeiter der Schattenchronik besaß zwar die Fähigkeit, auch über weite Entfernungen hinweg Gedanken zu lesen. Zudem konnte er Stimmungen und Gefühle sowohl von Lebenden als auch von den Toten aus der anderen Ebene erspüren. Genau diese außergewöhnlichen Begabungen wurden im Augenblick gebraucht. Doch das Jenseits verstehen, das konnte auch er nicht. Als Martin zusammen mit Leila Dahlström Schottland in Richtung Frankfurt verließ, brauchte Mido Zaki auf Anweisung der Zentrale die beiden Agenten nicht zu begleiten. Er blieb allerdings in Alarmbereitschaft.

Nach einer erneut viel zu kurzen Nacht saß Martin mit Leila bereits wieder in der Schattenchronik-Station unter dem Frankfurter Flughafen. Gemeinsam studierten sie die erweiterten und aktualisierten Berichte der Schattenchronik.

Robert Linder hatte eine Arbeitsgruppe unter dem Betreff Kontakt zur anderen Ebene gegründet. Seitdem waren zahlreiche Schattenchronik-Mitarbeiter dabei, Verbindung zu Menschen aufzunehmen, die einen Zugang zur anderen Ebene ermöglichen konnten. Ein Haupttreffer wie das Medium aus dem Westerwald schien bis jetzt allerdings noch nicht dabei zu sein. Leila hatte diese außergewöhnliche Frau im Westerwald gefunden, doch der Erfolg war durch die negativen Kräfte der anderen Ebene bereits wieder zunichte gemacht worden. Die Dämonen aus dem Jenseits hatten die Frau förmlich in der Luft zerrissen, und Leila fühlte sich erneut schuldig, kaum dass sie zurück in Deutschland waren, wie sie Martin um Mitternacht, kurz vor dem Einschlafen, gebeichtet hatte. Doch die Schwedin war stark und konnte mit dem enormen Druck umgehen.

Dagegen befand sich Melissa Stone in Schottland auf dem Weg der Besserung. Die Ärzte hatten die junge Frau also doch noch in letzter Sekunde retten können. Es tat gut, auch mal eine positive Nachricht in den Updates auf ihren Pads zu lesen.

Nach dem Studium weiterer Arbeitsdateien nahm Martin Kontakt zur Schattenchronik-Zentrale im Rothaargebirge auf und besprach sich mit Robert Linder. In diese Konferenz schaltete sich kurz darauf Ryan Reese dazu, der eine Stunde später ebenfalls zur Suche nach einem Medium in einem Sumpfgebiet aufbrechen sollte. Und dann gab es in dieser angespannten Lage tatsächlich noch etwas Abwechslung. Heute war Ryans Geburtstag.

Nachdem Martin mit Leila nach Schottland abgereist war, hatte Ryan kurz vor seinem Abflug nach New York für seine beiden Freunde eine kleine Überraschung in Frankfurt vorbereitet. Vor Leila lag etwas Braunes, das aussah wie …

„Den Kuchen habe ich nach einem alten Rezept meiner Großmutter zubereitet“, flötete der Afroschwede gut gelaunt über die Com-Leitung aus den vereinigten Staaten.

Die beiden Agenten waren gerade mit ihrem Happy-Birthday-Liedchen fertig und betrachteten Ryans breites Grinsen auf ihrem Bildschirm.

„Das ist ein Kuchen?“, fragte Martin, gute Laune vortäuschend, und stützte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch, an dem Leila saß.

„Natürlich ist das ein Kuchen! Fruchtig und sehr würzig.“

„Das wäre doch nicht nötig gewesen“, meinte Leila mit vollem Mund. Sie war so leichtsinnig gewesen und hatte bereits ein Stück abgebissen.

Martin beobachtete, wie die Schwedin in Zeitlupe kaute und dabei nach unten schaute. Offenbar wollte sie nicht, dass Ryan die Tränen in ihren Augen sah.

„Wie schmeckt er denn?“, erkundigte sich Ryan.

Leila kaute tapfer weiter und sagte nichts. Auch Martin schwieg. Noch konnte er über Ryans Gebäck keine Auskunft geben, denn auf eine Kostprobe verspürte er, während er seine Kollegin argwöhnisch betrachtete, wenig Lust.

„Na?“

„Gib ihr noch einen Moment“, antwortete Martin.

Leila schielte Hilfe suchend durch ihr blondes Haarpony zu ihm hoch.

„Selber schuld“, flüsterte Martin in ihre Richtung. „Was musst du da auch reinbeißen, wenn er online ist.“

„Sprich lauter, Martin!“ Ryans Gesicht wurde größer, seine Augen verengten sich. Er hatte sich näher zu seinem Monitor gebeugt. „Willst du nicht auch probieren?“

„Die Damen haben bei mir stets den Vortritt.“

„Wie ist er denn nun?“, hakte Ryan ungeduldig nach. „Ich hab ihn gestern selbst gekostet und darf ohne Übertreibung sagen, dass mir der Teig hervorragend gelungen ist.“

Martin rieb nachdenklich an seiner Nase und versuchte, Leilas augenblickliches Verhalten zu deuten. „Hm, deinen Teig kannst du gleich selbst befragen, Ryan. Vermutlich kommt das Zeug jeden Moment retour.“

Leila sprang auf, flüchtete aus Ryans Sichtfeld, hielt sich beide Hände vors Gesicht und würgte eine braune Masse aus sich heraus, deren Aussehen sich in nichts von dem unterschied, was eben noch auf dem Pappteller lag.

Martin nahm eine Rolle Papiertücher, riss eine doppelte Lage ab und reichte sie Leila.

„Danke!“ Die Schwedin rülpste wie ein Bauarbeiter und klatschte dann die braune Masse in das Papier. Mit einer auf dem Kuchenteller liegenden Serviette wischte sie sich den Mund ab und ließ sich seufzend zurück in ihren Schreibtischsessel fallen.

„Was ist denn?“ Ryans Gesicht wirkte betroffen.

„Alles gut“, antwortete Leila. „War wunderbar. Etwas scharf vielleicht.“

„Kuchen darf auch mal scharf sein.“

„Natürlich. Aber irgendwie kam es mir so vor, als hättest du dich geschmacklich an deinem Tabak orientiert. Kann das sein?“

Ryans Lachen dröhnte über die Lautsprecher. „Ein bisschen vielleicht.“

*

New Orleans, Louisiana

Wolf Winter wusste nicht mehr, wie lange er bereits unterwegs war. Zwei, drei Stunden? Oder länger? Das Zeitgefühl war dem groß gewachsenen, schlanken Fünfzigjährigen abhandengekommen, seit er seinen Land Rover kurz vor Slidell abgestellt hatte und von der befestigten Straße aus in das Sumpfgebiet am südlichen Mississippi spaziert war. Durch das Blattwerk der dicht belaubten Bäume sah er pechschwarze Wolkenberge aufziehen. Einmal glaubte er sogar, aus der Ferne Donnergrollen zu vernehmen.

Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, ausgerechnet heute Daryl Lamarr aufzusuchen. Jedes Kind in der Gegend wusste, dass Unwetter und Hochwasser die Sümpfe noch gefährlicher machten, als sie ohnehin waren. Es ärgerte ihn, dass er sich dennoch dafür entschieden hatte. Andererseits war der Weg direkt durch die Sumpfwälder, die sich um seine Heimatstadt New Orleans erstreckten, der schnellste, der zu Daryl führte. Von der Straße aus war es nicht sehr weit, allerdings musste man sich auskennen, um die wenigen sicheren Pfade zu finden.

Wolf Winter schwitzte und wehrte halbherzig die Mücken ab, die, angelockt von Feuchtigkeit und Wärme, in dichten Schwärmen herumschwirrten. Mühsam schritt er über einen verwachsenen Pfad, der linker Hand am Flusslauf des Mississippi vorbeiführte. Mit einem dünnen Tuch wischte er sich in Abständen den Schweiß von seiner Glatze.

In den Tümpeln, die gegenüber dem sumpfigen Dschungel dutzendweise zu finden waren, stank es nach Fäulnis. Frösche quakten, überall blubberte und gluckste es. Das Moor lebte. Der nasse Boden schmatzte unter jedem seiner Schritte. Ein Fehltritt konnte lebensgefährlich sein. Niemand würde ihn hier draußen so schnell finden. Schon gar nicht, wenn ihn der Sumpf mit Haut und Haaren für alle Ewigkeit verschlang.

Hoffentlich ist Daryl nichts zugestoßen, schoss es ihm durch den Kopf. Die Frau wohnte seit Jahren in ihrer kargen Hütte mitten in den Sumpfwäldern und widmete ihr Leben den Nachkommen ehemaliger Sklaven, die sich fernab von der Hektik der Großstadt New Orleans niedergelassen hatten. Daryl war ein Medium, das den Sumpfbewohnern half, über die Grenze zu blicken, vom Diesseits ins Jenseits. Anwohner der umliegenden Städte besuchten sie, um von ihr Rat zu bekommen, oder baten sie, einen Wink des Schicksals zu interpretieren.

Wolf Winter drehte sich um, als in seiner unmittelbaren Nähe ein knorriger Ast von einer der verkrüppelten Kiefern abbrach und in den Schlamm klatschte. Auch er war ein Medium, ein Mittler zwischen den Ebenen. Dies war der Grund, warum er zu Daryl wollte. Sie waren nicht nur Freunde, sie waren auch Kollegen. Mindestens zweimal im Monat ging Winter zu der Blockhütte in den Sümpfen, nicht nur zum Gedankenaustausch, sondern um Daryl bei ihren Sitzungen als Medium mit den Sumpfbewohnern zu unterstützen.

Vor drei Tagen wollte sie bei ihm zu Hause in New Orleans vorbeischauen, wie sie es immer tat, wenn sie zum Einkaufen in die Stadt kam, doch sie war nicht aufgetaucht. Sie besaß kein Mobiltelefon. Also war Winter schließlich aufgebrochen, um nach dem Rechten zu sehen. Daryl war schließlich nicht mehr die Jüngste. Ihr konnte alles Mögliche passiert sein.

Eine halbe Stunde später sah Winter auf einem Hügel mitten im Morast endlich die Behausung von Daryl Lamarr. Vorsichtig näherte er sich der Blockhütte mit dem vorspringenden Dach und spähte durch die stark verschmutzten Fenster. Im Innern konnte er kaum etwas erkennen. „Daryl!“, rief er laut. Normalerweise hätte die Frau schon längst auf den Besucher aufmerksam geworden sein müssen. „Daryl?“

Da keinerlei Antwort kam, stieß er die angelehnte morsche Holztür auf. Dumpfe, modrige Luft schlug ihm entgegen. Das schwache Tageslicht erhellte das Innere. Bis auf die Küchenmöbel, einen klobigen Holztisch, um den sich drei klapprige Stühle gruppierten, und ein abgenutztes Bettsofa war der Raum leer. Von Daryl keine Spur.