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Mithilfe der steinreichen Lady Marbely und ihrem treuen Butler, dem Topagenten Richard Wallburg, beginnt der Neuaufbau einer schlagkräftigen Agententruppe, um die negativen Mächte auf beiden Ebenen – im Diesseits und im Jenseits – weiter bekämpfen zu können.Im Team sind bereits tatkräftige Helfer. Mick Bondye und Cassy Benedikt, ein Voodoo-Vampir und eine Ebenenwechslerin, die zuvor für New Scotland Yard gearbeitet haben. Neu rekrutiert werden drei schwedische Agenten.
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Seitenzahl: 144
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SCHATTENCHRONIK – GEGEN TOD UND TEUFELBand 1
In dieser Reihe bisher erschienen:
2901 Curd Cornelius Die andere Ebene
Curd Cornelius
DIE ANDERE EBENE
© 2018 BLITZ-VerlagRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Rudolf Sieber-LonatiUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierInnenillustration: Ralph KretschmannSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenwww.BLITZ-Verlag.deISBN 978-3-95719-561-6
Amanda Marbely, eine steinreiche Lady aus London, beerbt ihren überraschend früh verstorbenen Cousin aus Königstein im Taunus. Um das gigantische, jedoch sehr bedeckt gehaltene Firmenimperium des geliebten Verwandten aus Deutschland in Augenschein zu nehmen, übersiedelt die schrullige Lady zunächst ins Siegerland.
Die internationalen Geheimdienste ziehen im Hintergrund bereits ihre Fäden. Das Innenministerium stellt der Lady, die unversehens zur reichsten Frau auf Erden wurde, ihren besten Agenten zur Verfügung. Richard Wallburg. Er wird zum vornehmen Butler mit vielen Talenten und Geheimnissen.
In seiner Eigenschaft als Butler von Lady Marbely tritt Wallburg mit einer amerikanischen Geheimorganisation in Verbindung. Dort hat man sich auf außergewöhnliche Vorfälle spezialisiert. Kämpfe mit monströsen Wesen, verteilt auf der gesamten Welt. Doch von einem Tag zum anderen verschwindet die komplette Organisation. Sie löst sich im wahrsten Sinne des Wortes in Nichts auf. Wenig später meldet sich ein Überlebender bei Richard Wallburg. Robert Linder, der führende Topspezialist der verschwundenen Organisation, hat Unglaubliches zu erzählen.
Mithilfe der steinreichen Lady beginnt der Neuaufbau, um die negativen Mächte auf beiden Ebenen (im Diesseits und im Jenseits) weiter bekämpfen zu können. Weitgehend unabhängig von den bekannten internationalen Geheimdiensten und der Bundesregierung.
Im Team sind bereits tatkräftige Helfer. Mick Bondye und Cassy Benedikt. Ein Voodoo-Vampir und eine Ebenenwechslerin die zuvor für New Scotland Yard gearbeitet haben. Neu rekrutiert werden drei schwedische Agenten ...
(Die genauen Hintergründe zur Schattenchronik-Serie finden sich in der Taschenbuch-Reihe DER BUTLER, die exklusiv in einer Sammler-Edition nur unter www.blitz-verlag.de zu beziehen ist.)
Martin hatte sich tief in der Bettdecke vergraben, und als seine Großmutter die Geschichte von der bösen Eisprinzessin beendet hatte und das Buch zuklappte, zuckte er zusammen.
Sie beugte sich zu ihm hinunter und strich über sein hellblondes Haar. „Du musst keine Angst haben, Martin“, sagte sie mit sanfter Stimme. Die kleinen hellen Augen in ihrem gutmütigen, von leichten Falten durchzogenen Gesicht sahen das Kind freundlich an. „Sie wird dir nichts tun.“
„Sie ist grausam, und sie lebt schon viele hundert Jahre auf dieser Welt“, flüsterte Martin und schielte Richtung Fenster. „Ich möchte diese Frau nicht sehen.“
Die Großmutter kniff ihm leicht in die Wange. „Das wirst du auch nicht, mein Junge.“ Sie lachte. „Außerdem ist es nur eine Geschichte.“
„Aber du hast gesagt, dass die Frau gelebt hat. Sie war eine schöne Königstochter, die trotzdem keinen Mann hatte.“
„Sie konnte sich wohl nicht entscheiden. So ist das manchmal im Leben.“
„Dann wurde sie traurig und später böse.“
Die Großmutter zupfte seine Bettdecke zurecht. „Ach, Martin. Das nächste Mal lese ich dir eine lustige Geschichte vor.“
„Und dann ist sie von dem Burgturm gesprungen, weil ihr Herz so kalt wie Eis geworden war. Seitdem kommt sie immer wieder und lässt Menschen und Tiere auch zu Eis werden.“
„Schlaf gut, Martin“, sagte seine Großmutter und löschte das Licht.
Doch Martin brauchte diesmal Zeit, um einzuschlafen. Wenn er seine Augen schloss, sah er die Eisfrau mit den schwarzen Haaren und der leichenblassen Haut. Sie schaute ihn mit bösen Augen an.
*
Als seine Eltern Jahre später einen Hund aus dem Tierheim zu sich holten, um ihm ein neues Heim zu geben, hatte der kleine Martin die böse Eisprinzessin längst wieder vergessen. Begeistert übernahm er die ihm übertragenen Aufgaben, und kümmerte sich mit Hingabe um Drago. So lautete der Name des Mischlings, halb Schäferhund, halb Terrier. Er ging morgens und nachmittags nach der Schule mit ihm spazieren. Abends übernahm das sein Vater, aber nur wenn er als Polizist keine Spätschicht hatte. Dann tat Martin auch diesen Gang, denn seine Mutter hatte mehrere Kurzarbeitsstellen, um die Familie zu unterstützen.
So marschierte Martin auch an diesem Abend mit Drago zum Waldrand. Hund und Mensch verstanden sich blind, eine Leine brauchten beide nicht. Martin erzählte Drago von seinem Tag in der Schule und der Hund spitzte die Ohren. An seinen Augen war zu erkennen, dass er Martin aufmerksam zuhörte.
Es war Mitte Oktober und bereits stockdunkel, als Martin mit Drago die kleine Waldlichtung betrat, die sie täglich aufsuchten. Drago erledigte dort regelmäßig sein Fitnessprogramm. Er spurtete, schlug Haken, bremste ab, raste wieder los. Sprang in alle Richtungen und dehnte sich ausgiebig.
Martin sah ihm dabei zu und wartete geduldig, bis Drago sein Toben beendet hatte. Zufrieden hechelnd kam der Mischling dann jedes Mal zu seinem Freund zurückgetrabt, um sich kraulen zu lassen. Doch diesmal blieb Drago wenige Meter abrupt vor Martin stehen. Der bemerkte die angespannte Haltung seines Tiers, sah die aufgerissenen Augen und das gesträubte Fell. Sofort wusste Martin, dass etwas nicht stimmte. Der Mond kam hinter einer Wolke hervor und leuchtete Drago, aus dessen Kehle ein langgezogenes, tiefes Knurren kam, wie mit einem Spotlight an.
„Was ist mit dir?“ Martin fuhr herum. Doch hinter ihm war nichts. Er drehte sich wieder zu Drago um, der weiter verharrte und knurrte. „Was hast du denn?“
In diesem Moment sprang Drago mit einem langen Satz zu ihm und stellte sich schützend vor Martin. Und nun sah auch der Junge, was sein Tier so aus der Fassung gebracht hatte. Zwischen Sträuchern und Bäumen stand eine Frau, die er zuvor noch nie gesehen hatte. Sie kam nicht aus seinem Heimatdorf. Die fremde Frau war grässlich bleich, ein beunruhigender Kontrast zu ihren pechschwarzen Haaren und dem dunklen Kleid.
„Wer sind Sie?“, fragte Martin mit fester Stimme, dabei hielt er Drago am Halsband fest. Der Körper des Hundes vibrierte. So hatte Martin das Tier noch nicht erlebt.
Die Frau antwortete nicht, sie starrte nur stumm vor sich hin, und Martin war es, als schwebe sie ihm entgegen. Ihre Gestalt floss durch die Sträucher. Der Mond war wieder hinter einer Wolke verschwunden, alles war in Dunkelheit getaucht, zu erkennen nur das weiße Gesicht der unheimlichen Frau. Martin bemerkte die lodernden Augen, da der Abstand sich immer weiter verringert hatte.
Und dann passierte es. Drago riss sich los und sprang mit einem wilden Wutgebell auf die Gestalt zu.
„Drago!“, schrie Martin, doch sein Hund schien ihn nicht zu hören. Das erste Mal.
Als der Schäferhundmischling die Gestalt fast erreicht hatte, war diese von einer Sekunde zur anderen verschwunden, um zeitgleich, einige Meter entfernt, auf der Waldlichtung wieder zu erscheinen. Drago bremste so abrupt ab, dass er sich fast überschlagen hätte.
Martin registrierte den Standortwechsel der fremden Frau mit Fassungslosigkeit und Entsetzen. Drago hatte mit diesem Phänomen keine Probleme. Augenblicklich änderte er die Richtung und spurtete kraftvoll auf die Lichtung zu.
„Nein! Nein!“ Martin brüllte, bis sein Hals schmerzte, doch vergeblich. Sein treuer Weggefährte rannte wie von Sinnen weiter, stoppte vor der Frau und bellte ununterbrochen, so laut wie es Martin zuvor noch nie von ihm gehört hatte.
Diesmal verschwand die Frau nicht. Aus ihrem Gewand kam ein hellhäutiger Arm hervor. Die langen Finger berührten Drago und augenblicklich erstarb sein Bellen. Kein Jaulen, kein Ton. Nichts. Martin spürte, dass seine Knie zu zittern begannen. Drago wirkte wie versteinert. Sein Fell schien zu erbleichen, im Mondlicht sah er aus wie eine Hundestatue aus Glas.
„Nein!“ Martin liefen Tränen über die Wagen, als er ebenfalls auf die Lichtung hastete.
Die Frau breitete die Arme aus und Drago kippte um. Martin knickte ein, als er sah, dass Drago auf dem Wiesenboden in zwei Teile brach.
„Drago!“ Martin wusste, dass sein Hund gestorben war. Die schwarze Frau hatte ihn getötet.
Und jetzt schwebte sie auf ihn zu.
Martin spürte, wie tiefe Angst seine Kehle zuschnürte. Stocksteif stand er da, unfähig sich zu rühren. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Obwohl es ihm unerklärlich war, dass die Frau sich so schnell bewegen konnte, wusste er, dass Flucht keinen Sinn machte. So blieb er stehen und wartete ebenfalls auf den Tod. Er war erst elf Jahre alt und trotzdem bereit, seinem Freund und Weggefährten zu folgen.
Doch dann passierte etwas, das ebenfalls unglaublich war. Mondlicht beschien die beiden Eisblöcke, die zuvor einmal Drago gewesen waren, und aus ihnen heraus floss eine zweite Gestalt. Wieder eine Frau, doch sie war das genaue Gegenteil der ersten. Sie trug ein weißes Kleid und hatte lange, goldgelbe Haare. Ihr Gesicht war auch nicht bleich und böse. Sie war wunderschön und schaute Martin liebevoll an. „Martin“, sagte die blonde Frau.
„Ja …“, antwortete Martin nur.
„Hab keine Angst.“
„Aber, aber …“, stotterte der Junge. „Drago …“ Er deutete auf die beiden Eisblöcke. „Die Frau hat meinen Hund getötet.“
„Er ist nicht tot, Martin“, antwortete die Frau, die ebenfalls zu schweben schien. „Drago, dein Freund, ist nun ein Teil von mir. Wir werden dich beschützen. Hab keine Angst.“
Martin zitterte, mit aller Kraft versuchte er sich zusammenzureißen.
„Mein Name ist Jalo“, sagte die blonde Frau.
Für einen Moment glaubte Martin die gütigen Augen seiner Großmutter zu erkennen. Sie war vor einiger Zeit verstorben, kurz bevor seine Eltern Drago ein neues Zuhause gaben.
„Die Frau … Die schwarze Frau, Jalo.“
„Sie ist nicht mehr da, Martin. Hab keine Angst mehr. Ich werde immer für dich da sein.“
Martin drehte sich im Kreis. Er war alleine am Waldrand. Schluchzend kniete er sich zu seinem treuen Freund nieder und umarmte dessen Kopf aus Eis. Dann begann er hemmungslos zu weinen.
Drago schmolz langsam unter Martins Tränen.
Sandra tastete verschlafen nach der Fernbedienung ihres CD-Players und grunzte missmutig, als sie immer wieder ins Leere griff. Das Ding musste unter die Couch oder in eine Sesselritze gerutscht sein. Sie hatte das Gerät nach einer feuchtfröhlichen Nacht auch schon mal im Kühlschrank gefunden. Und im Augenblick signalisierte ihre brüchige Erinnerung, dass sie sich irgendwann nach Mitternacht sturzbetrunken von einem Taxi hatte nach Hause bringen lassen, um dort noch etwas Musik zu hören und kurz darauf in einen komaähnlichen Schlaf zu fallen.
Von Technik hatte Sandra wenig Ahnung. Das Entfernen der Wiederholungsschleife war für sie seit jeher eine unüberwindbare Hürde gewesen, daher liefen die alten Ballermann-Hits immer noch. Es half nichts, sie musste sich von ihrer winzigen Couch erheben, um den Netzstecker zu ziehen. Die Ruhe tat gut, und so sackte sie erst einmal entkräftet wieder in sich zusammen. Wie lang hatte sie geschlafen? Zwei Stunden? Sie fühlte sich, als wären es nur zwei Minuten gewesen.
Zurück auf die Couch? Oder ins Bett? Schließlich schlurfte sie ins Klo. Im Sitzen fuhr sie sich durch das kurz geschnittene, dunkle Haar und begann ihre Stirn zu massieren. „Himmel, ist mir schlecht!“
Seit sie wieder solo war, nahm das frühere Lotterleben sie wieder in Beschlag. Jobben, schlafen, feiern. Alles in beliebiger Reihenfolge, wobei Feiern auf jeden Fall Vorrang hatte. Der Samstag in der Siegener Bauerndisco war gut gewesen, den Nachschlag gestern am Sonntag hätte sie sich vielleicht besser erspart.
Mit beiden Händen griff Sandra seitlich an ihr Waschbecken und zog sich mühsam von der Toilettenbrille in die Höhe. Ihr Gesicht tauchte im Spiegel auf, doch was sie darin sah, war so entsetzlich, dass sie sich wieder zurückfallen ließ. Durch die abrupte Bewegung verstärkten sich ihre Kopfschmerzen.
„Herrgott, ich sterbe!“, stöhnte sie wütend.
„Dann ruf doch den Notarzt!“, tönte eine männliche, müde Stimme dumpf aus der Dusche.
Sandra erstarrte, sie musste laut schlucken. „Wer … wer ist da?“, fragte sie zaghaft.
Keine Antwort.
„Wer ist da?“, fragte sie wieder, diesmal ein wenig energischer.
„Jan.“
Sandra ließ sich nach vorne kippen, landete schlaff auf ihren Knien. Der Schwung reichte aus, um den Duschvorhang zu greifen. Mit einem Ruck riss sie den speckigen Plastikfetzen zur Seite und schrie auf. In der Dusche saß ein halbnackter junger Mann, nur mit einer Unterhose bekleidet und notdürftig in Stoff eingehüllt. Sie erkannte die Decken, die eigentlich eingerollt im Wäscheschrank stecken sollten, als ihre eigenen.
„Wer zum Teufel bist du?“
„Jan.“
„Was für ’n Jan, verdammt noch mal?“
Der Typ starrte sie nur stumm aus glasigen Augen an. Sein Atem kroch ihr in Form einer Gaswolke aus schalem Bier und unverdauten Currywürsten entgegen. Der Alkoholpegel in seinem Blut war vermutlich deckungsgleich mit ihrem.
Mühsam brachte sich Sandra in eine Art Hockstellung. „Was machst du hier?“
„Du hast mich eingeladen.“
„Was? Ich?“
Er nickte. „Ja, du.“
„Das kann nicht sein.“
„Ist aber so.“
Sandra lehnte sich gegen die Kloschüssel. „Bin ich gestern nicht alleine nach Hause?“
„Nein, bist du nicht.“
„Sicher?“
Der junge Mann rieb sich umständlich die Augen. „Natürlich bin ich mir sicher. Wäre ich sonst hier?“
„Wie bist du reingekommen?“
Er stöhnte und sah sie genervt an. „Bist du blöd, oder was?“
„Wer bist du denn?“
„Du hast mich mit ins Taxi gezerrt. Sagtest, du wolltest mir unbedingt eine neue CD vorspielen.“ Jan lachte verächtlich.
Sandra schloss die Augen und versuchte krampfhaft nachzudenken. „Und dann?“
„Dann hast du sie nicht gefunden, und ich sollte wieder gehen.“
„Echt?“
„Ja, echt!“ Er versuchte sich in eine bequemere Liegeposition zu bringen. Vergeblich.
„Und warum bist du dann noch hier?“
„Wo sollte ich denn hin? Wir hatten fünf Uhr in der Früh … Montagmorgen.“
Montagmorgen? „Ach du Scheiße! Ich muss zur Arbeit!“
„Nein, musst du nicht. Du hast bei denen auf den AB gesprochen und gesagt, dass du krank bist und nicht kommen kannst.“
Sandra schlug sich beide Hände vors Gesicht. „Mein Gott, ich muss echt bescheuert sein! Hab ich das wirklich gemacht?“
„Die haben sicher nur die Hälfte verstanden, so wie du gelallt hast.“
Sie starrte trübsinnig auf den alten Kachelboden in ihrer kleinen Zwei-Zimmer-Mietwohnung.
„Betrunkene Frauen, die betont sachlich etwas sagen wollen, sind immer furchtbar unverständlich“, versuchte Jan sie zu trösten.
„Vielleicht hab ich Glück, und sie können den Anruf nicht zuordnen.“
„Dann hättest du deinen Namen nicht so laut brüllen sollen.“ Jan drehte sich wieder. Er fand offenbar keine bequeme Stellung in der engen Dusche. „Außer deinem Namen werden die nichts registriert haben.“
„Da brauch ich mich nicht mehr sehen zu lassen“, resignierte Sandra.
„Vermutlich.“
„Und ich hab dich mitgenommen, weil ich dir eine CD vorspielen wollte?“
„Genau. Und dann hast du eine uralte Ballermann-Scheibe aufgelegt und mich mit den muffigen Decken ins Klo geschoben.“
„Ich muss stinkbesoffen gewesen sein.“
„Allerdings, das warst du.“ Jan fuhr sich durch das strubblige Haar. „Ich aber auch, sonst wäre ich gar nicht erst mitgekommen.“
„Warum nicht?“, rutschte es ihr raus.
Jan winkte ab. „Vergiss es.“
„Wie viel Uhr haben wir eigentlich?“ Sandra schob sich langsam wieder in die Höhe. Mit Ende dreißig spürte man nach Alkoholexzessen jeden Knochen im Leib.
Jan starrte auf seine schwarze Plastikarmbanduhr, das einzige Kleidungsstück außer seiner Unterhose. „Halb acht.“
Sie musterte ihn nachdenklich. „Wie alt bist du eigentlich?“
„Das hast du mich gestern tausendmal gefragt.“
Sandra blickte beschämt zu Boden. Dann stakste sie steif wie ein Zombie in ihre Wohnküche zurück.
Jan in seiner lächerlichen Unterhose hinterher. „Meine Sachen liegen noch hier.“ Er schaute sich suchend um.
Sie ließ sich wieder auf die Couch fallen. „Warum hast du dich eigentlich ausgezogen?“
„Vergiss es!“ Er angelte nach seinen Strümpfen, die unter dem Couchtisch lagen, nicht weit davon Shirt und Hose. „Gleich hab ich alles.“
„Soll ich uns einen Kaffee machen?“
„Gute Idee.“ Jan starrte einige Sekunden lang nachdenklich auf die Aufschrift seines T-Shirts und zog das Kleidungsstück noch einmal über den Kopf, um es zu wenden. „Willst du heute doch arbeiten gehen?“
„Ganz bestimmt nicht. Ich leg mich wieder hin.“
„Ich muss was Kaltes trinken.“ Jan überprüfte seine Kleiderordnung erneut. „Ich hab ’n Geschmack im Mund, als hätte mir ’n Uhu in den Hals gepisst.“
Sandra zeigte Richtung Veranda. „Draußen steht ein Kasten Wasser.“
Die Wohnung war so klein, dass Jan bereits nach zwei Schritten an der Tür war. Langsam schob er den langen Griff nach unten. Die alte Holztür ploppte nach oben. Es knarrte fürchterlich, als er sie öffnete. „Ich seh’ keinen Kasten.“
„Steht aber da.“
„Da ist nix.“
„Ach, komm schon. So groß ist der Balkon wirklich nicht. Der Wasserkasten ist nicht zu übersehen.“
„Hier liegt nur ein alter, zusammengerollter Teppichboden oder so was.“
Teppichboden?, dachte Sandra und schielte zwischen den halb geschlossenen Augenlidern Richtung Balkontür. Sie fühlte sich viel zu schlapp, um noch einmal aufzustehen. Der Junge scheint übel angeschlagen zu sein. Wie bin ich nur darauf gekommen, so ein Würstchen mit nach Hause zu schleppen?, dachte sie.
Der kleine Balkon lag in diffusem Zwielicht. Sie beobachtete, wie sich Jan bückte, um ein schwarzes Ding hochzuheben. Er tastete und griff vorne in die Öffnung der angeblichen Teppichbodenrolle, wohl um besser zupacken zu können.
Von draußen drang kalte Luft unangenehm in die Wohnung.
„Nimm dir eine Flasche und mach die Tür …“
Im selben Augenblick fuhr Jans Körper wie bei einem Stromschlag zusammen. Der Rest ihrer Worte ging in seinem furchtbaren Gebrüll unter. Sandra fuhr hoch und stürzte mit einem Satz zum Balkon. Der junge Mann wackelte hin und her und brüllte wie am Spieß.
„Was zum Teufel machst du da?“, rief Sandra und steckte ihren Kopf ins Freie. Sie zuckte wieder zurück, als ihr etwas Nasses, Klebriges ins Gesicht klatschte.
Blut!
Überall Blut!
Wie in Trance wischte sie sich durchs Gesicht. Jan taumelte ihr entgegen und riss sie um. Zusammen stolperten sie halb in die Wohnung zurück. Noch im Fallen sah Sandra einen gigantischen Wurm, und sofort wurde ihr bewusst, was Jan im Zwielicht für eine Teppichbodenrolle gehalten hatte. Ein Tausendfüßler – um ein Vielfaches vergrößert, pechschwarz und mit kleinen, funkelnden Augen.