Der Club der Alten Schachteln - Celine B. Davis - E-Book

Der Club der Alten Schachteln E-Book

Celine B. Davis

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Beschreibung

"Seid ihr drei verrückt geworden? Ihr könnt doch nicht einfach auswandern - in eurem Alter!" Frankas Tochter Bea ist entsetzt, als sie erfährt, dass ihre Mutter zusammen mit deren Freundinnen Sigrid und Trude ein Haus ist der Toskana gekauft hat. Nachdem nun endlich auch die letzte der drei in Rente ist, wollen 'die alten Schachteln' dort gemeinsam einen ruhigen Lebensabend verbringen. Ein verrückter Plan, meint Bea. "Zusammenzuleben ist etwas ganz anderes als bloß zusammen in Urlaub zu fahren!" Dieser Punkt ist nicht zu bestreiten. Aber für die drei Freundinnen zählt er nicht: Sie sind seit ihrer Kindheit eng befreundet - da weiß man schließlich alles über sich und voneinander und ist vor jeder Überraschung sicher! Ein gewaltiger Irrtum, wie sich bald zeigt: Italien hält jede Menge überraschende Entdeckungen für sie bereit und auch neue Freunde und alte Bekannte sorgen für unerwartete Ereignisse. Doch Trude, Franka und Sigrid begegnen den Herausforderungen mit Herz, Hirn und viel Humor. Den sicheren Stand dafür bietet ihnen ihre Freundschaft, die wie ein Zauber das Leben der drei 'Alten Schachteln' umfängt und ihnen neue überraschende Wege weist. Die Richtung 'ruhiger Lebensabend' ist allerdings nicht dabei ...

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„Seid ihr drei verrückt geworden? Ihr könnt doch nicht einfach auswandern – in eurem Alter!“

Frankas Tochter ist entsetzt, als sie erfährt, dass ihre Mutter zusammen mit deren Freundinnen Sigrid und Trude ein Haus in der Toskana gekauft hat. Nachdem nun endlich auch die letzte der drei in Rente ist, wollen ‚die alten Schachteln‘ dort gemeinsam einen ruhigen Lebensabend verbringen.

Ein verrückter Plan, meint Bea. „Zusammenzuleben ist etwas ganz anderes als bloß zusammen in Urlaub zu fahren!“ Dieser Punkt ist nicht zu bestreiten. Aber für die drei Freundinnen zählt er nicht: Sie sind seit ihrer Kindheit eng befreundet – da weiß man schließlich alles über sich und voneinander und ist vor jeder Überraschung sicher!

Ein gewaltiger Irrtum, wie sich bald zeigt: Italien hält jede Menge überraschende Entdeckungen für sie bereit und neue Freunde und alte Bekannte sorgen für unerwartete Ereignisse. Doch Trude, Franka und Sigrid begegnen den Herausforderungen mit Herz, Hirn und viel Humor. Den sicheren Stand dafür bietet ihnen ihre Freundschaft, die wie ein Zauber das Leben der drei ‚Alten Schachteln‘ umfängt und ihnen neue, überraschende Wege weist.

Die Richtung ‚ruhiger Lebensabend‘ ist allerdings nicht dabei …

Celine B. Davis, Jahrgang 1955, ist auch nicht mehr so jung wie früher, lässt sich das aber nicht anmerken. Seit Jahren in Nordrhein-Westfalen am Schreibtisch tätig, glaubt sie fest daran, dass ‚heute‘ das neue ‚gestern‘ ist - und nutzt jede Möglichkeit, Gedanken mit dem Stift in Humor zu fassen.

„Vierzig Jahre im Betrieb und zugleich der Abschied vom Arbeitsleben, das ist wahrhaftig Anlass genug für einen kleinen Umtrunk.“ Dr. Klaus Feuermann, Seniorchef in dritter Generation, fältelte sein Gesicht zu einem Ausdruck mittig zwischen Grimm und Gram. „Wenn auch für unsere Firma kein erfreulicher.“

Letzteres unterstrich er mit einer angedeuteten Verbeugung. Der zwanzigsten heute, schätzte Dirk Biechler und lächelte pflichtschuldig wie der Rest der Anwesenden. Schaukelt wie ein Stehaufmännchen, der Alte, genauso steif wie sein Gerede.

Doch Irmtrud Monn, die alte Katze, grinste zufrieden.

Sie hatte auch allen Grund dazu: Blumen, belegte Brötchen, Sekt und Torte, dazu aus jeder Abteilung mindestens zwei Kollegen … Nie zuvor war der Konferenzraum der Stahlketten-Fertigungsfabrik in solchem Glanz erstrahlt, jedenfalls nicht in den drei Jahren, die Biechler nun bei ‚Feuermann & Söhne’ arbeitete. Der Alte hielt nicht viel von betrieblichen Feiern. Gewöhnlich bekamen Jubilare oder Neupensionäre einen Bonus und einen warmen Händedruck und damit gut.

Aber für die Monn reichte das nicht. Natürlich nicht – die war ja was Besonderes.

Was man auf den ersten Blick nicht vermuten würde. Sie sah noch ganz passabel aus für ihre Vierundsechzig: schlank wie Draht, der Kleiderstil sachlich, das eisengraue Haar schlicht frisiert. Dezentes Make-up, wenig Schmuck, unauffällige Brille. Auf den ersten Blick würde kein Mensch in dieser älteren Frau die allmächtige Bereichsleiterin für Marketing und Verkauf in einem florierenden mittelständischen Unternehmens vermuten.

Es ist der zweite Blick, der den Unterschied macht, wusste Biechler. Der, mit dem sie dich ansieht.

Jetzt hob sie das Glas und prostete Feuermann senior zu. Der Alte erwiderte die Geste.

„Wir werden unsere Frau Monn sehr vermissen!“

Du vielleicht, dachte Biechler in die allgemeine Zustimmung hinein. Das Dauerlächeln verkrampfte ihm langsam die Kiefermuskeln. Schlecht gelaunt zerdrückte er einen weiteren Schluck Sekt mit der Zunge am Gaumen. Wie lange das hier wohl noch ging? Ob man es bemerken würde, wenn er auf seine Armbanduhr sah? Er hatte was Besseres zu tun als hier herumzulächeln. Die Kunden schliefen nicht, bloß weil im Verkauf die Leitung wechselte.

Doch die Monn hatte es nicht eilig.

„Überweisen Sie mir einfach weiterhin jeden Monat mein Gehalt. Dann wird sich das Gefühl schnell verlieren!“, lachte sie, und wieder stimmten alle ein. Blitzend brach sich ein Lichtstrahl in ihrem Sektglas. Wenn die Monn zu scherzen geruhte, lachte selbst die frühlingsblasse Sonne mit.

Eine Runde Prost, eine Runde Toast.

„Das liefe dann wohl unter ‚Beraterhonorar’!“, witzelte Pfauch aus der Projektplanung. Neben ihm schlug Personalchef Güntner der Monn die Gründung einer „kleinen Consulting-Firma“ vor, in die sich Nina Radolf aus der Buchhaltung sofort einkaufen wollte, prompt überflügelt von ihrem Kollegen Hullich: „Wozu kleckern – gründen Sie doch gleich eine AG, Frau Monn. Dann können wir alle teilhaben!“

Die Katze beließ es beim Grinsen. Feuermann junior warf einen flüchtigen Blick auf die dünnen Lippen seines Vaters.

„Was werden Sie denn nun wirklich anfangen mit all der freien Zeit?“, fragte er rasch. Der glaubt es immer noch nicht, dachte Biechler. Sie glauben es alle nicht, dass die Monn Ernst machte. Ist ja auch kaum zu glauben: ein workaholic wie sie, der freiwillig frühzeitig in Rente geht?

Irmtrud Monn breitete die Arme zu einer großen Geste aus.

„Rosen züchten“, deklamierte sie, „auf einem uralten Landgut inmitten der grünen Hügel der Toskana.“

Biechler zwang sich, mitzulachen. Die Monn rustikal? Eher gründete die tatsächlich eine eigene Consultingfirma! Wem machten die hier was vor? Natürlich würde sie Feuermann & Söhne weiterhin die Treue halten und jederzeit zur Hand sein. Die Abteilung war ihr Baby. Ihr Leben.

Jetzt sah sie ihn an. Blinzelte ihm kaum merklich zu.

Und prompt stolperte sein Herz, und er wartete atemlos auf die nächste große Nummer, die sie aus dem Hut ziehen würde, blindlings überzeugt, dass es eine große Nummer werden würde.

Wie machte sie das? Wie zum Teufel schaffte sie es bloß, ihn immer noch am Bändel zu haben – nach über drei Jahren?

Er war so stolz gewesen, als der Seniorchef ihn angeworben hatte, direkt von der Fachmesse weg. Er sollte – nach einer gewissen Anlernzeit – den Bereich „unserer Frau Monn“ übernehmen. Mit knapp Dreißig so ein Angebot, das war schon was. Er hatte angenommen, war damals schon bereit gewesen für eine Führungsposition. Willens, sich seinen Platz zu erkämpfen. Unnötigerweise, wie sich zeigte: Vom ersten Tag an war ihm die Monn offen entgegengekommen, hatte ihn überall mit einbezogen, seine Ideen unterstützt, seine Arbeit anerkannt.

Und ihm bei jeder Gelegenheit gezeigt, wo der Hammer hängt.

Wie gut er auch war: Sie war besser.

Die Kunden fraßen ihr aus der Hand, und in der Firma gab es niemanden, der für sie nicht bereitwillig Wunder vollbrachte. Wenn sie etwas sagte, gab es Murren, aber nie Widerspruch – denn wenn sie etwas sagte, dann behielt sie Recht damit. Unweigerlich. Was das Irren betraf, hatte die Monn nichts Menschliches an sich.

Noch ein Schluck Sekt – ein großer.

An der Tür entstand Bewegung. Frau Lindner streckte den Kopf herein, flüsterte mit den Nächststehenden, entdeckte Biechler und winkte ihn heran.

„Telefon für Frau Monn: die Firma ‚Ponass‘, dringend. Aber ich weiß nicht…“

„Schon gut, ich erledige das.“

Fast erleichtert bedeutete er ihr, ihn vorbeizulassen¸ zog die Tür hinter sich zu, gerade als Irmtrud Monn sagte: „Ruhe und Frieden, das ist es, was ich von nun an ausgiebig genießen werde. Einen von diesen breitkrempigen Florentiner Hüten habe ich mir schon gekauft.“

Das muntere Lachen der Kollegen folgte Biechler den Flur entlang. Erst die Tür zum Treppenhaus schnitt es ab.

Sein Büro wirkte still, leer und ein bisschen schäbig. Wie Fremdkörper standen zwei große Umzugskartons neben dem Schreibtisch. Im Regal dahinter lag nur noch ein altes Handbuch. Selbst sein Bürostuhl fühlte sich nicht mehr so an wie gestern, und das Telefon lag kalt in seiner Hand.

Die von ‚Ponass‘ sträubten sich zuerst; aber Frau Monn war leider, leider nicht mehr da, also mussten sie sich mit ihm besprechen, und letztlich konnte Biechler mit einer akzeptablen Lösung des Problems punkten. Nach dem Telefonat ging er nicht mehr zurück zur Feier, sondern räumte seinen Schreibtisch aus, packte seine persönlichen Sachen ein, sicherte die letzten Dateien im Computer auf einen Stick. Ab morgen würde er einen neuen Computer haben: den von der Monn im Eckbüro nebenan. Durch die offene Verbindungstür sah er den Monitor auf dem Schreibtisch stehen. Einem riesigen Schreibtisch – fast doppelt so groß wie sein bisheriger.

Biechler stand auf, schlenderte zum Durchgang. Lehnte sich, die Hände in den Hosentaschen, in den Türrahmen.

Regale über die ganze Breitseite des Büros. Eine Sitzgruppe, akzentuiert von einer Schusterpalme. Kunstdrucke zwischen den Fenstern, einmal ein Seerosenteich, einmal Sonnenblumen in einer Vase – und ein komplizierter Konstruktionsplan für die Neuentwicklung eines Verbindungsstücks für Bergbauketten, gezeichnet von Lennart Renkel, dem besten Jungingenieur der Firma. ‚Lennarto da Dortmund’ hatte die Monn als Signatur daruntergeschrieben, bevor sie den Plan rahmen ließ.

Auf dem Schreibtischriesen der Computer, zwei Monate alt, mit extragroßem Flachbildmonitor und zwei Flügelbildschirmen. Sie hatte ihn bei der Bestellung zu Rate gezogen, das Modell nach seiner Empfehlung gewählt. Hatte es je zuvor in dieser Firma jemand geschafft, zwei Monate vor Rentenantritt dem Chef einen richtig teuren neuen Computer aus dem Kreuz zu leiern?

Unvermittelt öffnete sich ihm gegenüber die Bürotür zum Gang. Biechler zuckte ertappt zusammen – und wurde brennend rot, als er Irmtrud Monns aufmerksamem Blick begegnete. Sie stockte einen Herzschlag lang, ein halbes Lächeln in den teichgrünen Augen. Dann trat sie vollends ein, den ganzen Arm voller Blumen.

„Was für ein Abschied! Liegt hier irgendwo noch meine Zeitung von heute Früh? Die haben das Einwickelpapier von den Blumen entsorgt, aber ich kann sie ja schlecht einfach so in den Kofferraum schmeißen.“

Sofort machte Biechler sich auf die Suche, sah im Papierkorb nach und kramte, als er dort nichts fand, im eigenen Büro seine eigene Zeitung aus einem Karton. Gemeinsam breiteten sie das Papier auf dem Schreibtisch aus und wickelten die Blumen ein.

Die Kleiderbügel klapperten verloren, als die Monn ihre Jacke aus dem Schrank nahm. Biechler stolperte fast in seinem Eifer, ihr beim Anziehen behilflich zu sein.

„Danke. Tja, das war’s dann“, sagte sie heiter, zog die oberste Schreibtischschublade auf und nahm einige Papiere heraus. „Adieu, Feuermann & Söhne!“

In ihrem Blick lag Wärme, als sie wieder Biechler ansah.

„Wie froh ich bin, dass der Senior Sie gefunden hat! Die Firma bedeutet mir viel – vierzig Jahre sind eine lange Zeit. Als ich damals hierherkam, mit vierundzwanzig Jahren ...“ Sie fing den Satz ab. „Lange her. Jedenfalls machen Sie es mir leicht zu gehen: Einen besseren Nachfolger kann sich niemand wünschen. Sie haben Ideen, Sie haben den Drang, gute Arbeit zu leisten – und einen anständigen Computer haben Sie jetzt auch. Sie werden die Firma weiter voranbringen.“

Biechlers Gesichtsfarbe vertiefte sich jäh. Er stammelte irgendwas, begriff nicht gleich, als sie ihm den dünnen Stapel Papiere hinhielt.

„Der Chef weiß es nicht, aber ich ziehe in Kürze um. Meine bisherige Internetadresse erledigt sich dann auch.“ Sie zwinkerte lächelnd. „Sie brauchen also weder Rat noch Tat von mir zu befürchten. Haben Sie auch gar nicht nötig. Für den Fall, dass Sie mich aber doch einmal was fragen wollen, habe ich Ihnen meine neue E-Mail-Anschrift aufgeschrieben. Vertraulich – nur für Sie allein. Das Übrige werden Sie vielleicht auch nützlich finden. Falls nicht: Sie wissen ja, wo der Papierkorb steht. Alles Gute!“

Noch ein Lächeln. Ein kurzer Druck ihrer Hand auf seinem Arm. Ein letzter Blick rundum. Dann war sie aus der Tür. Und Biechler stand da und spürte seinen Puls bis in die Fingerspitzen.

Datensensible Informationen. Verbotenes Gut, höchst geheim. Aber ihm hatte sie sie anvertraut.

Auf dem untersten Zettel stand ihre neue E-Mail-Adresse. Sie endete mit ‚.it’.

Um Biechlers Brust spannte sich plötzlich ein harter Ring. Ein, zwei Ewigkeiten lang stand er da wie betäubt. Dann fuhr er herum, war mit zwei Schritten am Fenster. Gerade noch rechtzeitig, um Irmtrud Monn wie immer gefährlich knapp am Torpfosten des Firmenparkplatzes vorbeifahren zu sehen. Zum letzten Mal.

„Und? Wie weit seid ihr nun?“

„Ziemlich weit“, sagte Sigrid Tormann und bemühte sich, das letzte Stückchen Holländer Kirsch auf der Kuchenplatte nicht anzusehen. Vielleicht erbarmte sich ihre Schwiegertochter. Die war rank und schlank, die hatte noch einen Stoffwechsel, mit dem sie sich Sahnetorten leisten konnte. Aber Nina, die grübchenlosen Arme locker aufgestützt, balancierte ihre halbleere Teetasse elegant zwischen beiden Händen und schien sich nur für Sigrids Bericht zu interessieren. Genau wie Lukas.

„Die Spedition ist gebucht. Das Haus gehört endgültig uns; den Papierkram haben wir ja schon im Februar erledigt, als Trude und ich runtergeflogen sind. Franka hat den Vertrag vor einem Notar hier unterschrieben. Marietta – die Gehilfin unseres Notars, ein echtes Goldstück – hat in unserem Auftrag dafür gesorgt, dass sämtliche Zimmerwände ausgebessert und frisch gestrichen worden sind. Das hat Trude veranlasst. Der Vorbesitzer hat die ganze Elektrik erneuern lassen, was ein Glück für uns ist. Dafür haben wir neue Geräte gekauft; die müssten inzwischen auch schon installiert worden sein.“

„Herd, Kühlschrank, Spülmaschine – alles neu?“

Sigrid nickte und strich sich eine Strähne ihres kunstblonden, kinnlangen Haars hinters Ohr.

„Und Waschmaschine. Ist besser so, meint Trude.“ Wenn keiner mehr zugriff, sollte sie den Kuchen bald abgedeckt in den Kühlschrank stellen: Sahne trocknete schnell an. „Falls mal eine Reparatur nötig ist, kennen sich die Leute dort auch damit aus.“ Allerdings tat längeres Stehen so einer Holländer Kirschschnitte auch abgedeckt nicht gut. Der Blätterteig weichte durch und der Zuckerguss verlief. So sahnigcremig, so verführerisch rot und süß, so blättrig-zart schmeckte sie nur wenige Stunden lang. Sigrid schluckte, strich neben ihrer Tasse den glatten Tischläufer glatt. „Alles andere geht natürlich mit. In drei Wochen kommen die Möbelwagen.“

Es war Verschwendung. Konditorenkunst-Schändung. Und außerdem unsinnig. Wenn auch der Geschmack verwelkte, die Kalorien blieben die gleichen, heute wie morgen. Außerdem gingen sie heute noch essen, Trude, Franka und sie, da war sowieso alles zu spät. Entschlossen griff sie zum Kuchenheber, hievte sich das Sahneteilchen auf den Teller und begegnete dem Blick ihres Sohnes halb trotzig, halb herausfordernd: Sag was wegen meines Blutdrucks, Lukas, los, trau‘ dich!

Aber er sagte nichts, der Herr Doktor. Gut so. Er war selbst schuld: Was schleppte er ihr auch so ein mageres Ding als Schwiegertochter an, das kaum was aß, aber zum Kaffeetrinken Kuchen mitbrachte!

„Unser Gemeinschaftsauto ist auch schon da: ein schwarzer Fiat. Der wartet an der Tankstelle in Castellovecchio, bis wir ihn abholen kommen. Und dann kann unser italienische Abenteuer endlich beginnen!“

„Italienisches Abenteuer – ja, das wird es bestimmt!“, lachte Nina. Wie immer eine Spur zu grell, fand Sigrid. Und wie immer unterdrückte sie den aufsteigenden Hauch von Abneigung sofort. Sie hatte verflixt noch mal nichts zu kritteln an Nina. Lukas liebte sie, sie war tüchtig, daheim und in der Praxis – und sie hatte Sigrid Paul geschenkt, den wunderbarsten Enkel der Welt. Dass Paul ein Einzelkind geblieben war, dass er inzwischen in einem Elite-Internat in Bayern lebte, dass Sigrid ihn viel zu selten sah, weil er immer viel zu viel anderes zu tun hatte, dafür konnte sie Nina schwerlich Vorwürfe machen.

„Wir freuen uns schon sehr darauf“, betonte sie nun, griff nach ihrer Kuchengabel und stach sich einen köstlichen Bissen ab. Zu einem zweiten kam sie nicht: Das Telefon klingelte.

„Entschuldigung.“ Sie erhob sich, eilte zum Apparat auf dem Sekretär. „Tormann …“

Die Antwort ließ sie herumfahren, weg vom Tisch, von Lukas‘ und Ninas Blicken. Eine heiße Welle flutete in ihr auf, überrollte Hals, Wangen, Stirn.

„Hallo. Hör mal, im Moment … - Ja. Ja, aber … - Es passt gerade schlecht, ich habe Besuch und … - Nein!“ Es war schwierig, die Stimme gleichmäßig zu halten, ruhig, nebensächlich, auch wenn man sich dabei mit der rechten Hand Kühlung zufächelte. „Nein, auch nicht, dann bin ich zum Essen verabredet.- Stimmt. - Nein.- Nein!“ Jetzt wurde sie doch lauter. Fächelte schneller. Holte tief Luft. „Wir telefonieren morgen. Also bis dann!“

Damit legte sie auf. Sie unterdrückte den Impuls, ihre Hände auf die heißen Wangen zu pressen, die wahrscheinlich auch rotfleckig geworden waren, genau wie der Hals. Verfluchte Hitzewallungen! Sie machten einen nicht nur fertig, sie machten einen auch hässlich. Vielleicht sollte sie doch mal was dagegen einnehmen. Aber als Apothekerin wusste sie zu viel über mögliche Nebenwirkungen, deshalb hatte sie es bislang vermieden. Sie hatte Übergewicht und Bluthochdruck, da passte man mit weiteren Medikamenten besser ein bisschen auf.

Sigrid ließ sich Zeit, das Gerät sorgfältig zurück in die Ladestation zu stellen, ehe sie sich wieder zum Tisch wandte, den Blick fest auf die Teekanne geheftet. Lächelnd.

„Manche Leute kennen einfach kein Nein. Noch Tee, Nina? Lukas?“

„Nein, danke, Mama, für mich nicht mehr.“ Ihr Sohn verlagerte sein Gewicht, streckte sich ein wenig. Er hatte noch nie lange stillsitzen können.

Auch Nina schüttelte den Kopf. „Wir müssen ohnehin langsam los. Ist ja schon fast halb drei.“

Jetzt ging auch noch die Türklingel.

„Du lieber Himmel, das ist ja wie im Taubenschlag heute! Ich kann mir gar nicht denken …“ Sigrid flatterte zur Tür. „Trude!“

„Stimmt“, grinste Irmtrud Monn und warf sich in Revuepose. „Ta-daaa! Na, was sagst du?“

„Ich bin sprachlos“, stieß Sigrid hervor und drückte nun doch die Hände auf die Wangen. Mit runden Augen musterte sie den Kopf der Freundin, den statt der üblichen glatten Haartracht ein perfekter Igel zierte.

„Neues Leben, neuer Kopf“, strahlte Trude, trat ohne weitere Umstände ein und besah sich zufrieden im Garderobenspiegel. „Meine Friseurin wollte mir schon lange ‚mal was Pfiffigeres‘ aufschwatzen. Also bin ich gleich nach der Firmenfeier zu ihr und habe ‚Jetzt!‘ gesagt. Und das ist dabei herausgekommen.“

„Verrückt. Aber schick! Komm, gib mir deinen Mantel. Nina und Lukas sind da und …“

„Hoppla – störe ich etwa? Ich weiß, wir sind erst für halb sechs verabredet, aber ich war zu früh fertig, und da dachte ich, vielleicht hast du einen Kaffee für mich“, sagte Trude, zog ihren Mantel aus und eilte ins Wohnzimmer, ohne auch nur eine Antwort abzuwarten. „Hallo, ihr zwei!“

Auch hier erntete sie reichlich überraschte Bewunderung. Nina betastete die graumelierte Haarkugel bewundernd und Lukas verlangte ein neues Foto von seiner Patentante „zum Angeben. Du siehst damit keinen Tag älter aus als ich!“

„Aber du lügst besser.“ Geschmeichelt rempelte Trude ihn an und versprach, für das Foto zu sorgen.

„Dann gehen wir jetzt mal“, meinte Lukas und küsste seine Mutter auf die Wange.

„Doch nicht meinetwegen?“, fragte Trude besorgt.

„Aber nein“, beschwichtigte Sigrid, „die beiden waren sowieso gerade im Aufbruch. Du kriegst jetzt gleich deinen Kaffee. Leider ist der Kuchen alle – ich könnte höchstens schnell hinunter zum Bäcker…“

„Nur keine Umstände, Kaffee genügt.“ Trudes Blick fiel auf Sigrids Teller. „Oh, hast du das Stück nicht mehr geschafft? Dann esse ich das. Gib mir einfach eine frische Gabel!“

Die junge Frau, die bei Franka Henschel die Tür öffnete, war elegant gekleidet und geschickt zurechtgemacht. Ihr mürrischer Gesichtsausdruck verdarb allerdings viel vom Gesamtbild.

Trude blieb davon unbeeindruckt. „Hallo, Bea!“

„Du siehst gut aus“, sagte Sigrid freundlich. „Dieser Blazer ist echt schick! Was ist das – Blaugrün?“

Beate Zwencke verzog den Mund. In ihren Augen blitzte es, als sie Trudes neue Frisur sah. Doch ihr Ausdruck blieb düster.

„Spart euch die Schmeicheleien“, sagte sie anklagend. „Ich weiß alles!“

„Ach ja?“, machte Sigrid.

„Du übertreibst“, konterte Trude. „Wann war zum Beispiel die Seeschlacht auf der Isar?“

Beas Blick loderte auf. „Sehr witzig“, fauchte sie. „Ich meinte, ich kenne eure Pläne!“

„Na, endlich!“ Trude hob das Kinn. „Wurde auch langsam Zeit: In drei Wochen kommt die Spedition!“

„Die Spedition?“, wiederholte Bea aus dem Konzept gebracht.

Hinter ihr, am anderen Ende des halbdunklen Flurs tauchte eine weitere Frau auf – mittelgroß, stämmig-schlank, erstes Silber im aschblonden Haar. Ihre stumme Grimasse und das abwehrende Winken ließen Sigrid erschreckt die Luft anhalten. Doch Trude, die Augen auf Bea gerichtet, schüttelte nur befremdet den Kopf.

„Ja, natürlich, was dachtest du denn: dass deine Mutter ihre Möbel als Handgepäck nach Italien mitnimmt?“

„Ihre Möbel? Nach Italien? Wovon redest du?“

„Von unserem Haus in der Toskana“, sagte die Frau hinter ihr nun resigniert, begrüßte die Neuankömmlinge und musterte lächelnd Trudes Kopf. „Du lieber Himmel, ganz was Neues!“

„Der Igelschnitt steht ihr super, nicht?“, meinte Sigrid eifrig „Was sagst du dazu, Bea?“

Die ging nicht darauf ein. „Ich versteh’ nur ‚Haus’!“

„Ich wollte es euch an diesem Wochenende sagen“, wandte sich Franka an ihre Tochter.

„Am Wochenende? Ich denke, sie kennt unsere Pläne schon!“, sagte Trude verwundert zu Sigrid. „Das hat sie gerade gesagt!“ Ein Blick zu Bea: „Hast du doch, oder?“

„Eure Pläne für heute Abend hab’ ich gemeint!“, fuhr Bea sie an. „Bernd kann Karten für ein Krimidinner kriegen, aber wenn Mama nicht auf die Jungen aufpasst …“

„Nun kommt doch herein“, drängte Franka. „Muss ja nicht gleich jeder mitkriegen, was bei Henschels los ist.“

„Also, ich scheine überhaupt nichts mitzukriegen“, ereiferte sich Bea, ging aber hinter ihrer Mutter her. Sigrid folgte, und Trude schloss hastig die Tür hinter sich. Noch im Mantel, steuerte Sigrid im Wohnzimmer das Sofa an. Trude setzte sich zu ihr, aber Bea blieb gleich an der Tür stehen.

„Also, was ist los?“, verlangte sie zu wissen.

Franka streifte sie mit einem gehetzten Blick und wandte sich ihren Freundinnen zu. Ihre Hände betasteten und umfassten sich unruhig. „Wollt ihr was trinken oder so?“

„Nein, danke“, lehnte Sigrid ab.

Auch Trude schüttelte den Kopf. „Wir gehen sowieso gleich essen.“

Bea verschränkte die Arme. „Hier geht keiner irgendwohin. Erst will ich wissen, was das mit dem ‚Haus in der Toskana‘ bedeutet!“

Trude schnaubte hörbar und heftete ihren Blick entschlossen auf die von Grünpflanzen überwucherte Fensterbank. Neben ihr begann Sigrid mit dem Ring an ihrer Linken zu spielen und sah sich dabei angelegentlich zu.

Nervös holte Franka Luft.

„Ich … das heißt: wir drei, Sigrid, Trude und ich … na, du weißt doch, dass wir seit langem im Sommer gemeinsam Urlaub in Italien machen.“

„Jedes Jahr“, nickte Bea ungeduldig. „Und?“

„Und jetzt … also, eigentlich planen wir das schon länger, aber jetzt, wo Trude auch in Rente ist, wollten wir … wollen wir zu dritt nach Italien ziehen – genauer gesagt, nach Castellovecchio im Chianti, mitten ins Herz der Toskana. Als Wohngemeinschaft. In ein Haus, das …“

„Was?!“, kiekste Bea und riss die Augen auf.

„… wir im letzten Sommer entdeckt haben“, beendete ihre Mutter den Satz. „Und gekauft. Gemeinsam. Jeder von uns gehört ein Drittel davon. Es ist wunderschön, Bea, ein richtiges …“

„Du hast ein Haus gekauft? In Italien? Wovon denn?“

„Von der Beute aus ihrem letzten Banküberfall“, informierte Trude die Buntnessel am Fenster. Sigrid Ellbogen ruckte kurz nach rechts, und Trude stieß die Luft aus, klappte den Mund wieder zu und fixierte nun ein Alpenveilchen, das mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun hatte.

Frankas Tochter beachtete sie nicht, sondern starrte weiter ihre Mutter an.

„Ich habe die Wohnung hier verkauft. Und ein bisschen Erspartes hatte ich ja auch“, sagte die abweisend.

„Die Wohnung verkauft? Und dein Geld … alles weg? Bist du verrückt geworden, Mama?“

Trude räusperte sich. Sigrid verflocht die Finger, tippte die Daumen gegeneinander. Ihr Blick flackerte kurz zu Franka und deren Ältester hinüber.

Auf Frankas Wangen zeigte sich eine leichte Röte. „Nein. Und jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für diese Diskussion. Wir …“

„Das glaube ich aber doch“, beharrte Bea. „Du kannst doch nicht einfach dein ganzes Geld ausgeben! Wovon willst du denn leben?“

„Das soll nicht deine Sorge sein. Ich bekomme schließlich Rente, und die zahlt man mir auch in Italien aus.“

„Ja, aber … das ist doch blanker Wahnsinn!“ Jetzt sah Bea auch die beiden anderen an. „Ihr könnt doch nicht einfach auswandern – in eurem Alter!“

Sigrid warf einen ängstlichen Blick auf Trudes Profil. Doch deren Augen blieben starr auf das arme Veilchen gerichtet.

Die Röte auf Frankas Wangen vertiefte sich. „Bea!“

„Ist doch wahr! Was ist, wenn eine von euch krank wird?“

„Dann gehen wir zum Arzt. In Italien gibt’s auch Ärzte“, sagte ihre Mutter in abschließendem Ton. „Aber jetzt …“

„Und wenn ihr euch verkracht? Ihr stellt euch das so einfach vor, zusammenzuleben, aber das ist doch was ganz anderes als bloß ein paar Urlaube miteinander zu verbringen!“

Franka hob die Hände. „Genug jetzt. Wir sind wahrhaftig alt genug, um zu entscheiden, ob …“

„Aber was, wenn es nicht klappt? Kann doch sein – gibt’s doch dauernd! Im Ernst: Was macht ihr, wenn eine von euch wieder heim will?“

„Dann zahlen ihr die anderen ihren Anteil vom Haus aus. Aber das wird nicht passieren. Und jetzt Schluss – wir müssen los. Trude hat uns einen Tisch reserviert“, betonte Franka. Die beiden anderen erkannten ihr Stichwort und erhoben sich.

Doch Bea war nicht zu bremsen. „Und was ist mit uns hier? Wer soll sich denn um Felix und Timo kümmern? Ich meine, was erwartest du: dass ich wegen diesem Wahnsinn aus heiterem Himmel all meine Pläne aufgebe und mich …“

„Dass du jetzt aufhörst, mit mir zu diskutieren“, sagte Franka, nachdrücklich wie selten. „Wir reden noch darüber.“

„Wenn du auf diesem hirnrissigen Plan bestehst, gibt es nichts mehr zu reden!“

„Wir reden noch darüber“, wiederholte Franka sehr deutlich. Sie zitterte leicht, hielt aber Beas Zornesfunkeln kühl stand.

Schließlich stieß ihre Tochter scharf die Luft aus. „Darauf verzichte ich.“

Ohne ein Wort des Abschieds fegte sie aus dem Raum. Gleich darauf knallte draußen die Wohnungstür zu, Schritte klapperten scharf das Treppenhaus hinunter. Dann war es still. Draußen wie drinnen.

„Tja, dann …“ Franka zerrte entschlossen ihre Mundwinkel nach oben. „Wollen wir los?“

Trude nickte. „Nur zu gern. Bei der Verabschiedung bin ich kaum zum Essen gekommen, weil ich dauernd reden musste. Jetzt knurrt mir der Magen wie ein Wolf.“

„Undankbares Ding“, sagte Sigrid vorwurfsvoll. „Wo du ihn doch gerade erst mit mein… mit einem ganzen Stück Holländer Kirsch gefüttert hast!“

„Ach, das hat er nie gesehen; das hat so gerade für meinen hohlen Zahn gereicht!“

Flink fädelte Frankas stets praktisch orientiertes Gehirn einen Gedanken nach dem anderen auf: „Wir müssen vor der Reise unbedingt noch zum Zahnarzt, Kinder. Mit hohlen Zähnen nach Italien, das wär’ wirklich blöd!“

Sie gaben sich große Mühe, alle drei. Trude hatte beim besten Italiener Dortmunds reserviert: „Da haben wir Ausstand und Einstand in einem. Ich denke, wir bestellen erstmal die große Antipasti-Platte, damit wir beim Lesen der Speisekarte nicht verhungern, okay? Und was wollen wir trinken?“

‚Groß’ war gar kein Ausdruck für das Porzellanmonstrum, das der Kellner kurz darauf auf ihren Tisch wuchtete. Die drei stürzten sich begeistert auf die Köstlichkeiten. Während Sigrid vom Besuch ihres Sohnes und Trude von der Abschiedsfeier erzählten, aßen sie eingelegte Pilze, tunkten knuspriges Brot in das würzige Olivenöl mit den gegrillten Auberginen, spießten rosa Stückchen Oktopus auf, fischten Käferbohnen aus leckerer Marinade. Langsam wanderte der Fokus ihrer Unterhaltung weiter; sie hakten Erledigtes ab, besprachen, was noch zu tun blieb. Und ignorierten die ganze Zeit nach Kräften Beas Geist, der mit am Tisch hockte und sie übellaunig anstarrte.

Irgendwann gewann er dann doch.

„Die Spedition hat mir den Ablauf zugefaxt. Es wird genau so gemacht, wie wir es wollen: Erst holen sie meine Sachen, dann deine, und Sigrids Möbel zum Schluss“, sagte Trude. „Die letzte Nacht vor dem Abflug verbringen wir zu dritt bei Sigrid. Das mit den Notbetten geht klar? Bleibt es dabei, dass Jürgen die restlichen Möbel rausräumt, ehe der neue Besitzer die Wohnung übernimmt?“

„Wie geplant“, nickte Sigrid und wählte konzentriert die dickste Olive.

Franka senkte den Blick und griff nach ihrem Rotweinglas.

„Ja, so war es ausgemacht“, sagte sie beiläufig und nahm einen Schluck. „Und wenn nichts dazwischenkommt, sind wir …“

„Dazwischenkommt? Was meinst du damit?“, hakte Trude sofort nach.

„Nichts weiter – ich meine ja nur … Es könnte doch was dazwischenkommen.“

„Was denn? Was könnte dazwischenkommen?“

„Na, irgendwas!“ Unwillig stellte Franka ihr Glas wieder hin. „Eine von uns bricht sich das Bein, zum Beispiel, oder …“

„Das könnte tatsächlich passieren“, mischte sich Sigrid fast erleichtert ein.

„Dann fahren wir diejenige eben im Rollstuhl ins Flugzeug“, schnitt Trude ihr das Wort ab, ließ aber Franka nicht aus den Augen. „Ein gebrochenes Bein wäre … kein Beinbruch. Aber weißt du, Sigrid“, fuhr sie mit glockenheller Stimme fort, „ich glaube, Franka meint gar kein gebrochenes Bein. Die meint mehr das ‚oder‘ – richtig, Franka?“

„Ich meine gar nichts! Ich denke nur …“

„Und zwar ganz sicher mal wieder nicht an dich. Es ist Bea, stimmt‘s?“, fragte Trude mit der Stimme eines Menschen, der lange gelitten hat.

„Nein, ich bin es“, sagte Franka schuldbewusst. „Ich hätte es ihr früher sagen müssen.“

„Allerdings. Drei Wochen vor Paukenschlag ist wahrhaftig nicht die feine Art“, urteilte Trude, zuckte zur Seite und funkelte Sigrid an. „Und du hör mit der Rempelei auf! Oder bist du vielleicht anderer Ansicht?“

„Na ja, vielleicht ging es nicht“, sagte Sigrid beschwichtigend. „Vielleicht hatte Franka einfach noch keine Gelegenheit dazu!“

Ermunternd lächelte sie die Freundin an. Und Franka lächelte zurück, dankbar und erleichtert, zum Überlaufen voll mit inniger Freundschaft für alle beide, Sigrid und Trude.

Sie hatten sich in der Grundschule kennengelernt, gleich am ersten Tag. Sie waren die Außenseiter gewesen, die einzigen in der Klasse, die keinen der anderen aus dem Kindergarten kannten. Trude war damals gerade erst mit ihren Eltern nach Dortmund gezogen, Sigrid hatte einen Waldorf-Kindergarten besucht und Franka gar keinen: Bei zwei Brüdern und reichlich Kindern in der Nachbarschaft, fand ihre Mutter, konnte man sich das Geld für einen Kindergartenplatz sparen. Also war es unausweichlich gewesen, dass sie sich zusammenfanden – ein bisschen verlegen, ein bisschen verloren und ein großes Bisschen selig, weil da zwei andere waren, denen es offenbar genauso ging.

Aus der Notgemeinschaft war schnell echte Freundschaft gewachsen, die in den folgenden Jahren alle Anfeindungen und Verlockungen von außen überstand. Trude, Sigrid und Franka spielten zusammen, kabbelten sich, setzten den gemeinsamen Wechsel auf dasselbe Gymnasium durch. Was auch kam, offener Triumph oder privater Kummer, süße Jungs oder fiese Lehrer, sie trugen es zu dritt als verschworene Gemeinschaft.

Erst nach dem Abitur hatten sich ihre Wege getrennt. Trude ging nach Amerika, arbeitete dort in einem internationalen Konzern und studierte gleichzeitig International Business Management. Sigrid studierte auch: Pharmazie, in Bonn. Franka heiratete noch während ihrer Ausbildung zur Industriekauffrau. Klar, dass die Kontakte da seltener wurden. Aber ganz rissen sie nie ab. Und als Trude nach Deutschland zurückkam, geschieden nach einem halben Jahr Ehe und am Boden zerstört, da hielten die alten Bande, als seien sie nie auch nur gedehnt worden.

Sie hielten auch weiterhin, bildeten das Trampolin für ihre Luftsprünge und das Netz für ihre Abstürze – wie damals, als Frankas Mann Simon starb, einfach so, ohne große Vorwarnung, und sie plötzlich mit drei Kindern allein dastand. Oder als Sigrid ankam, das Gesicht verquollen vom Weinen, weil ihr Oliver eine Neue hatte und die Scheidung verlangte. Damals waren Trude und Franka für Sigrid da gewesen, die ersten Tage abwechselnd rund um die Uhr, alle beide nichts als Mitgefühl außer in den SMS aus der Küche oder dem Bad, in denen sie sich heimlich gratuliert hatten, weil Sigrid den betrügerischen Mistkerl endlich los war.

Franka atmete tief ein. Nein, oh nein, sie hatte nicht den Hauch eines Zweifels, dass sie drei den Rest ihres Lebens in bestem Einvernehmen als Wohngemeinschaft verbringen konnten. Und das war es auch, was sie wollte – wirklich, wirklich wollte.

Nur der Weg dorthin war … schwierig. Jetzt betrat sie dankbar Sigrids Brücke.

„Es gab irgendwie nie den richtigen Moment.“ Ihre Hand flog hoch, hielt Trude in Schach. „Ich weiß, ein Jahr ist eigentlich lang genug dafür, aber … Erst wollte ich die Pferde nicht scheu machen. Wir wussten doch eine ganze Weile nicht, ob das überhaupt klappt mit dem Haus und dem Geld!“

Beim ersten Termin hatte der Makler mehr als das Doppelte verlangt, denn eigentlich umfasste das Angebot auch einen verwilderten Weinberg, der fast zwei Drittel des gesamten Hügels einnahm, auf dem das Haus stand. Zu dem Preis wäre das Ganze nicht zu stemmen gewesen, schon gar nicht für Franka. Sie hatte von ihnen dreien am wenigsten Geld. Aber zum Glück war Trude ein Verhandlungsgenie. Die hatte den Mann mehrmals bearbeitet und schließlich dazu gebracht, das riesige Areal zu teilen, so dass sie nur den Teil mit dem Haus darauf kaufen konnten. Was hätten sie auch mit einem Weinberg anfangen sollen? Der Rest des Grundstücks, der beim Haus verblieb, war immer noch reichlich bemessen, besonders für drei Frauen ‚mit Rücken‘ und vermutlich bald auch ‚Knien‘ oder ‚Hüfte‘.

„Dann war das mit Petra, als sie so fertig war wegen der Sache mit diesem Benjamin“, fuhr Franka fort. „Da wollte ich natürlich auch nicht mit so was ankommen. Die Mutter glückstrahlend, während sich die Tochter die Augen ausweint …“

Sigrid nickte verständnisvoll. Trude nicht. Die hatte keine Kinder und deshalb auch nicht so ganz die gleiche Einstellung zu deren Problemen wie eine Mutter. Genau genommen sogar eine radikal andere. Ohne Appetit riss Franka ein Stückchen Kruste vom Brot ab und tat, als koste es ihre ganze Aufmerksamkeit, zu entscheiden, in welche Marinade sie es tunken wollte, während sie weitersprach.

„Und als Bea dann vor drei Monaten mit dem Job-Angebot von diesem Architekturbüro ankam – genau das, worauf sie die ganze Zeit gehofft hat, perfekt als Wiedereinstieg in ihren Beruf und …“

„Schön für sie. Aber ihr nichts von deinen Plänen zu sagen, ist verdammt kontraproduktiv“, stellte Trude ohne Umschweife fest. „Wenn sie den Job behalten will, hätte sie sich längst wegen der Kinderbetreuung umtun sollen!“

„Ja, natürlich.“ Verdrossen musterte Franka das tropfende Stückchen Brot und legte es auf ihrem Tellerrand ab. „Und das wird sie auch. Aber das Angebot kam völlig überraschend. Nach vier Jahren Aushilfsarbeiten!“

„… die sie auch nicht hätte machen können, wenn du nicht ständig für Timo und Felix dagewesen wärst“, warf Trude ein. „Schon damals hätte sie sich…“

„Hätte, hätte“, schnappte Franka. „Es ist doch nun wirklich nichts falsch daran, wenn sich die Oma mittags um die Enkel kümmert, weil deren Eltern arbeiten gehen.“

„Wenn es denn nötig ist“, schränkte Trude ein. „Und nur...“

„Nun, das war es“, sagte Franka unwirsch. Sie hatte keine Lust, mal wieder mit Trude wegen der Kinder zu diskutieren. („Kinder? Welche Kinder? Deine drei ‚Kinder’ sind sämtlich über dreißig, meine Liebe!“) Im Stillen dankte sie dem Himmel dafür, dass die nicht wusste, wie oft sie zurzeit auch das Abendessen für Beas Familie kochte, weil ihre Tochter ganztags arbeitete und spätnachmittags ziemlich geschafft heimkam. Und von der Bügelwäsche ahnte Trude ebenfalls nichts – obwohl die doch gut nebenbei zu erledigen war, während man auf Beas Zwillinge aufpasste.

Sie war auch schon damals bei Vanessa, ihrer ältesten Enkelin, eingesprungen, als Bea nach drei Jahren Elternzeit wieder anfing zu arbeiten. Zwar hatte sie damals selbst noch gearbeitet, aber nur vormittags; da war es kein Problem gewesen, ihrer Tochter zu helfen. Hatte sie doch gern getan, und jetzt, bei Timo und Felix, genauso – wenn sie auch zu spüren begann, dass ihr die lebhaften Elfjährigen manchmal doch ein bisschen viel wurden. Insgeheim war sie sehr erleichtert gewesen, als sie endlich ohne Abzüge in Rente hatte gehen können. Das machte die Dinge einfacher. Und trotzdem ertappte sie sich hin und wieder dabei, dem Echo zu lauschen, das Trudes entschiedene Forderung, die Kinder „ihr Leben endlich allein schleppen zu lassen“, irgendwo tief in ihr selbst erzeugte.

Mal richtig zur Ruhe zu kommen.

Ein Buch von vorn bis hinten durchzulesen, ohne wegen der tausend Unterbrechungen ständig nachschlagen zu müssen, wer gleich wieder wer war und mit wem warum wohin fuhr.

Zu Mittag einfach bloß eine Schnitte Brot zu essen.

Oder – noch besser – etwas Raffiniertes zu kochen, was Kinder nicht mögen.

Am Nachmittag dem Ticken der Uhr zuzuhören statt den Streitereien der Enkel. Einen Spaziergang zu machen, im eigenen Tempo. Den jungen Hund von nebenan selbst zu streicheln.

Berauschende Gedanken. So verführerisch, dass sie Trudes Toskana-Idee als Erste bejubelt hatte. Aber natürlich, wenn die Kinder sie brauchten …

„Wie auch immer“, sagte Trude nun, „jedenfalls hat Bea jetzt diesen Job, will ihn behalten – und du bist in Kürze nicht mehr greifbar. Stimmt soweit, oder?“

Diese unangenehme Art von Trude, den Finger immer genau auf die wunde Stelle zu legen!

Franka seufzte. „Es ist alles so unglücklich knapp! Natürlich muss sie eine andere Lösung finden, aber so Hals über Kopf …“

„Das kann doch nicht so schwierig sein! Ein Hortplatz reicht doch oder irgendeine andere Betreuung für nachmittags. Wo liegt das Problem?“

„Na ja, ganz so einfach ist es nicht, Knall auf Fall jemand Passenden zu finden, der …“

„Ach was! Da schaut man ins Internet oder ruft das Arbeitsamt an oder das Jugendamt! Muss sich Bea halt mal eine Stunde Zeit dafür nehmen.“ Trude warf die Hände hoch. „Geht doch sowieso nicht anders: Deine Wohnung ist verkauft; selbst, wenn du wolltest, könntest du …“ In plötzlichem Misstrauen kniff sie die Augen schmal. „Deine Wohnung ist doch verkauft?“

Franka nickte. Sigrid sah sie aufmerksam an. Sie mochten inzwischen Fältchen haben, Gleitsichtbrillen, Zahnbrücken und Kreuzschmerzen, aber die Antennen funktionierten noch wie eh und je. „Aber …?“

„Aber der Käufer will nicht sofort einziehen. Irgendwas mit seiner Scheidung. Ich könnte gut ein, zwei Monate länger in der Wohnung bleiben und ihm Miete zahlen.“ Es war genau wie befürchtet. „Guckt doch nicht so! Es bleibt alles wie vereinbart, nur … nur, dass ich eben erst in ein, zwei Monaten nachkäme. Dann hätte Bea Zeit, sich um die Kinderbetreuung zu kümmern. Und Petra und Stefan könnten sich auch in Ruhe darauf einrichten, dass ich nicht mehr so leicht greifbar bin.“ Noch immer kein Ton von den beiden, bloß dieser Blick. Franka schluckte. „Nun sagt doch was. Wäre das denn so schlimm?“

Trude zuckte die Achseln. „Kommt darauf an, was du unter ‚schlimm’ verstehst. Teuer wäre es, das ist mal sicher.“

„Teuer? Wieso?“

„Weil die Flugtickets verfallen würden. Du wolltest ja unbedingt den Billigtarif nehmen, da gibt es keine Möglichkeit zur Änderung! Außerdem müssten wir Marietta bitten, auch noch unsere Möbel anzunehmen, wenn sie unten ankommen, denn die Spedition ist fest gebucht. Und das Hotel hier für drei Leute … In deiner kleinen Wohnung halten wir es zu dritt nicht wochenlang aus, schon gar nicht ohne Möbel und mit Enkeln!“

„Wovon redest du? Wir …“

„Wir bleiben zusammen, wir drei“, sagte Trude und betonte jedes Wort. „Bis die Hölle zufriert oder eine von uns wieder heiratet – was immer davon zuerst passiert. Das haben wir uns versprochen, als wir das Haus gekauft haben, und dabei bleibt es.“

Sigrids Hand legte sich weich auf Frankas Handgelenk.

„Wir fliegen nirgendwo hin ohne dich. Nicht auf diese Weise“, bekräftigte sie. „Solange du hierbleibst, bleiben wir eben auch. Und ich fürchte, Trude hat Recht: Für einen Tag können wir es mit Lukas‘ Gästebetten in meiner Wohnung aushalten, aber wenn wir später fliegen, müssten wir ins Hotel.“ Dann lächelte sie. „Aber das wird bestimmt nicht nötig sein. Ich werde mal Nina fragen. Die haben so viele Patienten, da ist bestimmt auch eine nette Tagesmutter für Timo und Felix dabei, falls Bea nicht selbst jemanden findet. Und dann fliegen wir in drei Wochen gemeinsam, genau wie geplant.“

Ein paar Herzschläge lang sahen sie sich nur an, zweifelnd, hoffnungsvoll, entschlossen. Genau diesen Moment wählte der Kellner, an den Tisch zu kommen, die fast leere Vorspeisenplatte zu holen und nach der weiteren Bestellung zu fragen.

„Gehen Sie bloß weg“, winkte Trude ab, „ich bin jetzt schon so satt von dem leckeren Zeug; ich kann kaum aufstehen! Das mit den piatti werden wir wohl noch üben müssen!“ Mit starrem Zeigefinger zielte sie auf Franka. „Und zwar möglichst bald. Wir machen uns lächerlich dort unten, wenn wir nach den antipasti die Waffen strecken!“

Franka setzte sich sehr gerade hin. „Wen meinst du mit ‚wir’, Bleichgesicht?“, konterte sie und wandte sich an den Kellner. „Haben Sie Tiramisú?“

Er nickte.

„Oh Gott“, murmelte Sigrid dumpf.

„Sehr schön“, sagte Franka, „dann bringen Sie mir bitte drei Portionen davon – und für diese beiden schwächlichen Gestalten hier je einen Probierlöffel.“

Sie lachten viel lauter als nötig.

Aber danach war Beas Geist verschwunden, und sie konnten frei schwatzen und planen und durchatmen und sich freuen. Trude hatte eine neue Mail von Marietta Bartoldi bekommen. Die kümmerte sich netterweise bis zu ihrer Ankunft um alles Nötige und hatte gemeldet, dass alle neuen Elektrogeräte angeschlossen waren.

„Und ich habe schon Rosenstöcke bestellt! Ach, Kinder, ihr werdet staunen!“

Es war fast elf Uhr, als sie endlich aufbrachen. Trude brachte Franka nach Hause, empfahl ihr streng, „schon mal die zehn Bücher auszuwählen, die du zuerst lesen willst“ und fuhr dann Sigrid heim.

„Wir kümmern uns besser wirklich um jemanden für die Kinderbetreuung“, sagte sie, „sonst schafft Bea es doch noch, Franka umzuschubsen.“

„Denke ich auch.“ Sigrid stieg aus. „Schlaf gut. Und fahr vorsichtig!“

„Andersrum“, grinste Trude, „aber: werde ich!“

Damit fuhr sie davon.

Schon im Treppenhaus hörte Sigrid das ferne Läuten ihres Telefons. Das Lächeln auf ihrem Gesicht erstarb. Verzagt blieb sie stehen, hockte sich schließlich im Dunkeln auf die Treppe und wartete, bis das Klingeln endlich aufhörte. Erst danach sperrte sie ihre Wohnung auf.

„Über drei Kilo zu viel? Ausgeschlossen!“

Statt einer Antwort deutete die Bodenstewardess am Check-in gelangweilt auf die Digitalanzeige der Kofferwaage.

„Das kann nicht sein!“ ereiferte sich Franka. „Ich habe den Koffer heute Morgen selbst auf deiner alten Standwaage gewogen, Sigrid. Und da wog er eindeutig unter zwanzig Kilo!“

„Aha!“ Lukas Tormann grinste seine Mutter an. „Mal wieder ‚die Null besser eingestellt‘, Mama?“

„Nur wegen der Kleider“, ärgerte sich Sigrid mit geröteten Wangen. „Weil man sonst ja dauernd rechnen muss, wenn man sich untertags wiegt.“

„Genau. Es lebe die Analogwaage!“, mischte sich Frankas jüngere Tochter Petra – schlank wie eine Efeuranke – ein und rückte demonstrativ an die Seite ihrer fülligen Patentante. Alle, alle waren gekommen, um sich zu verabschieden. Nur Sigrids Enkel Paul saß im Internat fest und auch Bea war nicht erschienen. Die weigerte sich seit dem Streit noch immer, mehr als das Allernötigste mit ihrer Mutter zu reden. Dafür war ihr Mann Bernd hier, samt Tochter Vanessa und den Zwillingen. Er hatte es gar nicht erst mit lahmen Erklärungen versucht, sondern überging Beas Fehlen wortlos, wie alle anderen.

„Wollen Sie das Übergepäck nun bezahlen oder …?“

„Ja, natürlich“, nickte Trude.

„Kommt nicht in Frage.“ Mit einem Blick wie Wetterleuchten grabschte Franka nach ihren Papieren und zerrte den Koffer wieder von der Waage. „Einen Augenblick.“

„Lass doch, ich zahle das für dich!“ Ihr Bruder Christoph tat zwei schnelle Schritte auf sie zu. Doch Franka war schon zur Seite getreten und machte Anstalten, ihren Koffer zu öffnen. Geistesgegenwärtig sprang Trude vor die Warteschlange und hob abwehrend die Hände.

„Moment“, sagte sie mit jahrelang trainierter Autorität. „Eine Minute, bitte, wir sind sofort fertig.“

Franka, umringt vom ganzen Verabschiedungspulk, stocherte suchend in ihrem Koffer. „Wäre doch gelacht“, knurrte sie, „ich und Nachgepäck zahlen … Aha!“ Triumphierend zog sie eine Tasche heraus, ein Mittelding zwischen Einkaufsbeutel und Handtasche. „Gut, dass ich die doch noch gekauft habe! Erst wollte ich ja nicht, aber …“

Vanessa, smarte Siebzehn, hob die Brauen. „Du kaufst Handtaschen, – in Deutschland – wo du nach Italien ziehst?!“

„Allerdings“, bekräftigte Franka und packte energisch um. „Und wie du siehst, war das eine kluge Entscheidung.“ Sie schloss den Koffer, richtete sich ächzend auf und drückte Sigrid die prall gefüllte Tasche an die Brust.

„Die musst du nehmen. Ich habe schon Handgepäck. Und Trude auch. So“, wandte sie sich an die Stewardess, „es kann weitergehen.“

Minuten später stand die ganze Gruppe vor dem Zugang zum Sicherheitsbereich und bemühte sich, die letzte halbe Stunde durchzustehen. Alle redeten durcheinander, ignorierten Sigrids wackelnde Stimme und Frankas sehnsüchtige Blicke Richtung Eingang. Besuchsversprechungen und Forderungen nach Mails und Fotos flogen hin und her. Und auf einmal begriff auch Frankas jüngster Enkel, der fünfjährige Julian, was Sache war.

„Warum kommst du nicht wieder, Oma?“, fragte er mit alarmiertem Unterton. „Warum musst du jetzt in Italien bleiben?“

Trude kam Franka mit der Antwort zuvor.

„Weil sie jetzt ein Mitglied im Club der Alten Schachteln ist.“ Süß lächelte sie Julians Vater Stefan an. „Vorstandsmitglied sogar. Und das Clubhaus steht eben in Italien!“

Julian schwieg verwirrt und begann zu schluchzen, und bis auf Stefan schien auch sonst niemand Trudes Erklärung zu verstehen. Aber das ging im Trubel der letzten Runde Umarmungen unter.

Erst nach der Handgepäck-Kontrolle, nachdem die drei Freundinnen den Warteraum für ihren Flug gefunden und sich in einer Ecke drei Plätze gesichert hatten, wandte Franka sich an Trude. „Was war das vorhin mit ‚alten Schachteln’?“

„’Der Club der Alten Schachteln‘“, wiederholte Trude. „So hat mein lieber Patensohn uns genannt, als er bei deinem Umzug geholfen hat.“

Franka riss die Augen auf. „Stefan hat uns ‚alte Schachteln‘ genannt?“

Ungeduldig wedelte Trude mit der Hand. „Nicht so! Er hat gesagt, dass wir drei einen Club der Alten Schachteln aufmachen! Das war während der Pause nach der Schlepperei von deinem Garderobenschrank.“

„Na, danach brauchten die Möbelpacker auch eine Pause. Das Ding ist unglaublich!“, warf Sigrid ein. „Ich verstehe nicht, wieso du den unbedingt mitnehmen musstest! Er passt doch gar nicht in dein Zimmer!“

„Ich weiß. Aber ich konnte ihn doch nicht dalassen: Keiner wollte ihn haben, und dabei ist er aus Vollholz! Erstklassige Schreinerarbeit, noch von meiner Großmutter! So etwas kann man doch nicht einfach wegwerfen! Bestimmt können wir ihn irgendwo brauchen, im Lagerraum oder so!“

„Ja, sicher.“ Trude winkte das Thema ab. „Jedenfalls saßen alle im hinteren Schlafzimmer zusammen, die Möbelpacker und Bernd und Stefan, und ruhten sich einen Moment aus. Ich wollte ihnen Bier bringen, und auf dem Weg ins Zimmer höre ich die Möbelpacker wegen unseres Dreier-Umzugs fragen: wieso bloß wir und nicht die ganze Familie und so.“ Im Reden hob Trude ihren Handkoffer auf den Schoß und ratschte den Reißverschluss auf. „Darauf sagte Stefan, wir hätten es nicht mehr so mit Familie, wir würden uns abseilen und einen Club der Alten Schachteln aufmachen. Da haben sie alle gelacht, und dann haben sie mich in der Tür stehen sehen. Und dann haben sie nicht mehr gelacht“, sagte sie schlicht, „sondern sind gleich wieder an die Arbeit gegangen. Ohne Bier.“

„Also …“, stieß Franka hervor.

Sigrid kicherte. „Ganz schön frech!“

„Ich finde, es passt: Wir sind alte Schachteln – und stolz darauf!“, meinte Trude, die inzwischen ihren ‚durchsichtigen, wiederverschließbaren Plastikbeutel für Ihre Toilettenartikel’ herausgekramt hatte. Aus dem nahm sie drei kleine Fläschchen, drückte Sigrid und Franka je eines davon in die Hand und schraubte das dritte auf. „Also dachte ich, wir gründen den Club tatsächlich – jetzt sofort. Einverstanden?“

„Mit Haarwasser?“ Verwirrt betrachtete Sigrid das Etikett auf dem kleinen Fläschchen.

Trude rollte die Augen. „Das ist ein Bacardi Highball“, raunte sie, „ich hab’ bloß blauen statt weißen Curaçao genommen, damit es echter aussieht. Man kommt ja mit nix mehr durch die Kontrollen hier!“

Jetzt kicherte Franka. „Also ehrlich, Trude …“

Sigrid schnupperte an ihrem Fläschchen. „Das riecht aber irgendwie …“

„Ausgeschlossen“, versetzte Trude kategorisch, „ich hab‘ die Dinger gespült und gespült. Also: Auf den Club der Alten Schachteln!“

„Möge er blühen und gedeihen“, sagte Franka.

Drei kleine gläserne Flaschenböden klackten leise zusammen. Stumm tranken sich die Freundinnen zu.

Danach wurde die Stimmung merklich lockerer.

Köln verabschiedete sie mit graupelgrauem Himmel, und zu Trudes Enttäuschung begrüßte der über Pisa sie in der gleichen Färbung. Aber Sigrid behauptete, ganz deutlich einen Hauch von Rosa darin zu sehen, und außerdem falle diese Schattierung unter ‚Abenddämmerung im April’.

Auf dem Parkplatz hielt Trude den Schlüssel des bestellten Mietwagens für die letzten hundertfünfzig Kilometer hoch. „Wer möchte?“

„Fahr du“, sagte Franka und hievte ihr Gepäck in den Kofferraum. „Ich bin so müde, dass ich auf der Stelle umfallen könnte. Dabei ist es gerade mal sieben Uhr!“

„Ich auch“, sagte Sigrid mit unterdrücktem Gähnen. „Peinlich. Muss die Luft hier sein.“

„Wohl eher die ganze Aufregung“, meinte Trude und schwang sich auf den Fahrersitz. „Ihr Alten Schachteln könnt ja auf der Fahrt schon mal ein Stündchen vorausschlafen – mir geht‘s bestens.“

Es war schon fast Routine, die richtige Straße aus Pisa hinaus zu finden. Fast Routine, über die Fi-Pi-Li zu fahren, die Florenz, Pisa und Livorno miteinander verband. Und nicht mehr bloßes Glück, auf Anhieb die richtige Ausfahrt zu treffen. Auch, dass die Fahrt viel länger dauerte als den Kilometern angemessen, war keine Überraschung mehr.

Erst hinter Certaldo schaltete Trude das Navi ein, denn inzwischen war es dunkel geworden, die Straße schmaler und kurvenreicher, die Landschaft welliger. Mehr und mehr Landmarken tauchten am Straßenrand auf und verschwanden wieder. Endlich kamen die ersten Häuser von Castellovecchio in Sicht. Beim Anblick eines neu gebauten Wohnblocks tippte Sigrid mit dem Zeigefinger staunend auf die Scheibe.

„Seht mal, der ist ja fertig! Und es wohnen sogar schon Leute darin!“

Viel Zeit zum Schauen blieb nicht. Trude bog rechts in die Ausfallstraße. Eine scharfe Kurve; dann noch eine. Und dann ging es in einem weiten Bogen hügelaufwärts in die Nacht, bis im Scheinwerferlicht rechts Zypressen wie schwarze Flammen in den Himmel loderten.

„Unsere Auffahrt! Wir sind da!“

Die Zufahrt zu meistern, die zum Haus führte, war zumindest für Trude inzwischen auch kein Problem mehr. Während sich die Straße weiter um den Hügel wand, führte überraschend plötzlich eine grob geschotterte, relativ steile Fahrbahn rechts ab, gut fünfzig Meter den Hang hinauf bis zu einem Plateau. Ein größenwahnsinniger Vorbesitzer hatte den schmalen Fahrweg rechts und links mit Trauerzypressen gesäumt, deren schlanke Säulen der Auffahrt ein übertriebenes Gepränge verliehen.

Was Trude natürlich schon beim ersten Blick darauf besonders gut gefallen hatte.

Das obere Ende der Zufahrt markierte ein schmiedeeisernes Tor zwischen Natursteinpfosten. An die klammerte sich auch ein alter Maschendrahtzaun, der sich fast um das gesamte Grundstück zog und es von dem des einzigen Nachbarhauses trennte, das irgendwo im Dunkeln auf der anderen Hälfte des Hügels stand.

Ohne den Motor abzustellen, hielt Trude am Tor an und stieg aus. Vor einem mit Efeu überwachsenen Mauervorsprung am linken Pfosten zögerte sie. War irgendwo in dem Grünzeug eine Spinne noch wach ...? Im Auto ließen Franka und Sigrid die Fenster herunter, als könnten sie so das Haus besser sehen, das im ungewissen Schatten hinter den Lichtkegeln der Scheinwerfer auf sie wartete. Nicht, dass das nötig war: Sie alle drei trugen längst ein genaues Abbild des Hauses in sich.

Irgendwann einmal war es ein schlichtes Winzerhaus gewesen, gebaut aus Natursteinen und Ziegeln in den Schutz der flachen Hügelkuppe hinein, die sich hinter dem runden Plateau wellte. Spätere Besitzer trugen das Dach ab und nutzten Haus und Kuppe gleichermaßen als Unterbau für ein größeres Wohnhaus. Zu Garage und Lagerräumen umgebaut, – die ein schmaler Gang verband, der zu einer Treppe ins Erdgeschoss führte – trug das alte Haus nun die große Terrasse vor dem heutigen Wohnzimmer. Den Teil davon, der auch von der Küche aus erreichbar war, krönte ein ausladender Arkadenbalkon im ersten Stock zur überdachten Veranda. Auf der hinteren Seite – wo sich unbegreiflicherweise nun der Haupteingang befand – durchbrach im Obergeschoss eine Loggia die Front von der linken Hausecke bis über die Eingangstür. Rechts daneben schloss sich die Ruine eines Außenofens aus Ziegeln an. Und ganz oben, im Dunkeln gerade noch zu erahnen, saß ein quaderförmiger Aufbau, als hätte man ein Zimmer übriggehabt und nicht recht gewusst, wohin damit. Ein viergeteiltes Dach aus Terrakotta-Schindeln mit einem Knauf in der Mitte saß darauf wie der Deckel einer Keksdose.

Eigenwillig waren auch die Außentreppen. Den Haupteingang erreichte man durch einen flachen Treppenaufgang, der links am Haus entlang nach hinten führte. Davon zweigten ein paar Stufen zur Terrasse ab. Von dort wiederum führte eine halsbrecherisch steile Treppe am Arkadenbalkon vorbei hinauf zu dem obersten Zimmer. Sie endete vor dessen Tür auf einem überdachten Balkon – einem kümmerlichen Ding, gerade mal zwei Schritt lang und drei Fuß breit, aber mit einem schmiedeeisernen Gitter umrandet, genau wie der Arkadenbalkon.

Alles in allem bot das Haus einen verwinkelten, verbauten, verwirrenden Anblick mit seinen halben Dächern und Vorsprüngen und Treppen und Balkonen, anheimelnd wie eine bunte Flickendecke.

„Oh bitte, mach schnell!“, drängte Sigrid.

„Ja doch!“ Mit spitzen Fingern schob Trude ein paar Blätterranken zur Seite, öffnete ein hölzernes Türchen, hantierte mit ihrem Schlüsselbund. Gehorsam schwangen die Torflügel auf. Trude ließ sich wieder in den Fahrersitz fallen. Die Räder knirschten über Kies und das Scheinwerferlicht erfasste das Haus.

Ihr Haus.

Ihr eigener, Stein gewordener italienischer Traum.

Sie sprangen aus dem Auto, kaum dass es stillstand, warfen sich einander in die Arme und schrien und hüpften und jauchzten wie Teenager, denen es gelungen war, einen Rockstar einzukreisen. Bis ihnen bewusst wurde, dass in der Dunkelheit weit entfernt Hunde zu bellen begonnen hatten. Und rechts von ihnen, im nachtschwarzen Hintergrund flammte gar nicht so weit entfernt ein helles Rechteck auf.

Sigrid bemerkte es als erste.

„Schschsch!“, kicherte sie und legte den Finger auf die Lippen. „Seid leise – wir wecken die Nachbarn!“

Trude erwachte frühmorgens davon, dass sie nieste. Und dass Schulter und Hüfte wehtaten. Außerdem bohrte sich irgendwas schmerzhaft in eine Rippe.

Kalt war ihr auch.

Unwillig öffnete sie die Augen und entdeckte im diffusen Licht, dass sich ihre Nase nur Zentimeter vor einer dicken grauen Staubmaus befand, und zwar auf gleicher Höhe mit dieser. Ihr Einatmen zog das Ding an; hastig pustete sie es weg und hob den Kopf. Das wiederum verschärfte den Schmerz an der Rippe. Sie rollte sich herum, begriff, dass sie auf dem Fußboden lag, mit nichts als schlaffer Gummihaut zwischen sich und den Brettern des Holzfußbodens.

Gleichzeitig setzte die Erinnerung wieder ein.

Es war nicht mehr viel später geworden gestern. Nach dem Freudenausbruch hatte endgültig die Erschöpfung eingesetzt, auch bei ihr, und sie war zutiefst dankbar gewesen, dass Franka darauf bestanden hatte, ein elektrisches Aufpump-Gerät für die Luftmatratzen zu kaufen, die sie schon im Februar für die ersten Nächte hier deponiert hatten. So hatten sie nichts weiter zu tun brauchen, als das Ding von Zimmer zu Zimmer zu tragen und das Bad im ersten Stock mit Zahnpastaflecken einzuweihen. Danach waren sie nur noch in ihre Notbetten gefallen – Franka und Sigrid im ersten Stock und sie, Trude, ganz oben, im ‚Adlerhorst’. Wie ihr Kopf auf das Kissen gekommen war, wusste sie schon nicht mehr. Heftig genug, um den Stöpsel der Matratze rauszudrücken? Jetzt jedenfalls war er draußen und, Ventil hin oder her, die ganze Luft ebenfalls. Von nichts behindert, drang ihr die Kühle des Fußbodens in die Knochen.

Leise ächzend setzte Trude sich auf, strich mit der Hand über die schmerzende Stelle an der Rippe. Tastete erst über, dann unter der platten Matratze nach der Ursache. Fand … eine getrocknete Erbse! Wo kam die denn her? Nach einer Erklärung suchend, sah sie sich um.

Das Zimmer, das sie für sich zum neuen privaten Reich erkoren hatte, gehörte zu den größten im Haus. Drei Fenster sorgten für Licht, wenn die dunkelgrünen Fensterläden geöffnet waren. Eine Holztür führte zur Außentreppe; das kleine Milchglasfenster darin warf einen hellen Fleck auf den Boden. Daneben, hinter einer weiteren Tür, bot eine Wendeltreppe eine direkte Verbindung zum Flur im ersten Stock. Alle Wände prunkten in frischem Weiß. Was das Malern betraf, war Marietta Bartoldi verlässlich gewesen.

Der Zustand des Fußbodens hingegen verriet, dass von Fegen keiner was gesagt hatte.

Trude schloss die Faust um das kleine Prinzessinnen-Testinstrument, griff nach ihrer Brille und rappelte sich hoch. Sie konnte die Freude in sich aufgehen spüren, groß und flauschig wie eine Pfingstrosenknospe. Ohne auf ihr Frösteln zu achten, öffnete sie ein Fenster, stieß die Holzläden auf. Was eine Amsel erschreckte, die wohl direkt darüber gesessen hatte.

Laut zwitschernd stürzte sich der Vogel vom Dach, flog als kleiner schwarzer Pfeil durch den glasklaren Morgen über Postkarten-Toskana pur: schwellende Hügel in Grün und Braun und Ocker, gekrönt mit Bauernhäusern unter terrakottafarbenen Dächern oder Weingütern mit Balustraden und Bogengängen. Knorrige Olivenbäume, graugrün wie geraspelte Jade, neben knospenden Eichen und verblühten Mandelbäumchen. Reihen und Reihen von frühlingsgrünen Weinstöcken, eingezäuntes Weideland, gefleckt von altem und neuem Gras – und hier und dort und überall dunkle Zypressen, wie Ausrufezeichen in einem Gedicht. Weit im Hintergrund, mehr zu erahnen als zu sehen, der Ortsrand von Castellovecchio. Darüber ein hoher, frühlingsblauer Himmel und dieses typische silbrige Schimmern in der Luft.

Oh, und die Luft – diese unbeschreibliche Luft!

Trude sog sie ein, so tief sie nur konnte. Jetzt, Mitte April, roch es noch nicht sehr toskanisch. Aber sie meinte, das Versprechen darauf schon zu erahnen. Bald würde der Duft von Geißblatt, Krapp und Ginster die Luft parfümieren und sich – zufrieden lenkte Trude den Blick auf das eigene Grundstück zurück – mit dem Duft all der Rosen mischen, die sie hier pflanzen wollte. Selig breitete sie die Arme aus. Wer sagt, dass man nicht im Paradies leben kann?

Und sie durften das alles auch noch zu dritt genießen, gemeinsam!

Wann war sie das letzte Mal so unbeschreiblich glücklich gewesen?

War sie es überhaupt jemals gewesen?

Tat beinah weh, so über alle Maßen viel Jubel in der Brust.

Im Haus war noch alles still. Offenbar schliefen auch Sigrid und Franka gut im neuen Daheim. Innige Menschenliebe und der Drang, den beiden etwas Gutes zu tun, durchwallten Trude. Frühstück machen, zum Beispiel. Ja, Frühstück machen. Mit frischem Kaffee und frischem Brot und Butter und Käse und, und, und. Am besten auf der Terrasse. Oder war es dafür noch zu kalt? Ach was – immerhin schien die Sonne.

Mit leisem Klappern sprang die Trockenerbse über die Dachschindeln in die Freiheit. Trude drehte sich um und raffte ihre Kleider zusammen. Auf jeden Schritt achtend, schlich sie hinunter in den ersten Stock. Hier hatten Franka und Sigrid ihre Gemächer. Vor Frankas Zimmer lag der große Arkadenbalkon, hinten grenzten Bad und Toilette an. Von Sigrids Reich aus konnte man auf die Terrasse hinunterschauen. Ihr Zimmer war etwas kleiner als Frankas. Dafür schloss sich direkt ein weiteres an, das seinerseits zur Hälfte aus der Loggia bestand, einem hübschen, eingezogenen Balkon mit einem Bogenfenster in der linken Wand und drei gemauerten Bögen an der Frontseite. Die beiden Bereiche trennte eine Wand aus Holz und Glas. Diesen Raum hatten sie sofort zum Gästezimmer-Aspiranten erklärt, für irgendwann mal, wenn er eine Zugangstür durch die Flurwand bekommen hatte.

Auf Zehenspitzen huschte Trude zum Bad. Seine Größe verriet, dass es früher auch mal ein Zimmer gewesen war, in das vor dreißig, vierzig Jahren die modernen Zeiten mit Dusche und Waschbecken eingezogen waren; ein Stück davon war mittels einer Trennwand zu einer separaten Toilette umfunktioniert worden. Glücklicherweise hatten die Umbauer nicht viel Geld gehabt – oder einsetzen wollen – so dass Wand und Boden nicht so hässlich gefliest waren wie die damalige Mode gern gehabt hätte. Dunkelblaues Mosaik bedeckte den Boden und schlichte, sandfarbene Fliesen mit einer winzigen Kornblume hier und da die Wände. Auch hier war Mariettas segensreiche Hand spürbar: Wie bestellt, hatte sie Armaturen und Waschbecken erneuern, alle freien Flächen streichen und das gesamte Bad gründlich putzen lassen. Der umlaufende Absatz, auf dem ihre Kosmetiktaschen standen, war also blitzsauber, die Armaturen glänzten, fleckenlos klar warf der neue große Spiegel das Bild einer Frau Mitte Sechzig zurück, die allerdings momentan eher einem verfrorenen Punker als einem Igel ähnelte. Egal. Trude hatte ohnehin nie vorgehabt, sich täglich mit einer Fönfrisur abzumühen. Alles andere würde eine heiße Dusche schnell in Ordnung bringen. Bester Laune zog sie ihren Schlafanzug aus, griff nach dem Shampoo und drehte am Wasserhahn, während sie in die Duschtasse stieg.

Lautes Fauchen ließ sie erschrocken zurückspringen. Tief aus den Eingeweiden des Hauses stieg ein grollendes Gurgeln auf, ein fernes Rattern und Röhren, das hoch und höher kam und als langes Zischen aus dem Duschkopf entwich. Die Dusche rülpste laut, schien röchelnd Atem zu holen. Dann begann es erneut dröhnend zu gurgeln und zu fauchen – und an der Tür zu rappen.

„Hallo? Alles in Ordnung? Wer ist denn da drin?“ Frankas Stimme klang schrill, und dem Stakkato an der Tür nach zu urteilen, beflügelte der Schreck ihre Knöchel. „Hallo!“

Drinnen kurbelte Trude hastig am Wasserhahn und angelte nach einem Handtuch.

„Ja doch, ja! Mach nicht solchen Krach, ich…“

„Ist etwas passiert?“, mischte sich Sigrid aufgeregt ein. „Hat Trude sich verletzt? Was ist denn los?“

„Ich weiß es nicht! Trude? Trude, geht es dir gut?“

Trude begann hilflos zu kichern. „Ja – alles in Ordnung!“ Sie wickelte sich notdürftig in ihr Handtuch und öffnete die Tür. „Nun regt euch doch nicht so auf. Ich wollte bloß duschen, aber mit dem Wasser stimmt was nicht.“