Der Deutsche - Jacques Rivière - E-Book

Der Deutsche E-Book

Jacques Rivière

4,9

Beschreibung

Jacques Rivière, eine fast mythische Figur der französischen Kultur, machte unter anderem Marcel Proust berühmt und die "Nouvelle Revue Française" zur bedeutendsten Zeitschrift Frankreichs. Sein Tagebuch aus der Kriegsgefangenschaft in Deutschland von 1914 bis 1917 wurde zur Grundlage seiner nun erstmals auf Deutsch vorliegenden Analyse "L'Allemand": deutsche Typen, deutsches Benehmen, deutsches Denken und deutsche Unheimlichkeiten, gesehen mit den Augen eines ebenso klugen wie emotionalen Beobachters. Seit dem Erscheinen 1918 prägte "L'Allemand" in Frankreich intensiv das Bild vom Menschen jenseits des Rheins. Aber die scharfe, kontrastierende antideutsche Studie zielte keineswegs auf irrationalen Hass, für Rivière gab es nur eine Konsequenz: den notwendigen deutsch-französischen Dialog.

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JACQUES RIVIÈRE

DER DEUTSCHE

ERINNERUNGEN UND BETRACHTUNGENEINES KRIEGSGEFANGENEN

Aus dem Französischen und mit einem Nachwortvon Daniele Raffaele Gambone

INHALT

Vorwort zur Neuauflage (1924)

Vorrede zur ersten Auflage (1918)

Erster Teil

Nach der Natur

1. Die Profillosigkeit

2. Die Moral des Möglichen

3. Die Wahrheit ist alles, was geglaubt werden kann

4. Wille und Willenswunder

Zweiter Teil

Nach seiner eigenen Anschauung

1. Ein Deutscher definiert den deutschen Geist

2. Das analytische Unvermögen

3. Der Geist allumfassender Synthese

4. Die Unfähigkeit zur Kontemplation

5. Pflicht statt Verstand

6. Kultur und Barbarei

7. Die Jugend des Deutschen

Jacques Rivière – Der Kritiker und seine Deutschen Ein Nachwort von Daniele Raffaele Gambone

VORWORT

zur Neuauflage

Sechs Jahre sind vergangen, seit dieses Buch das Licht der Welt erblickt hat. Damals hatte ich mir gesagt: „Wenn es ausverkauft sein sollte und eine Neuauflage gedruckt werden muß, werde ich es mir noch einmal von Grund auf vornehmen. Ich werde in mein Porträt des Deutschen all die Nuancen und all die Gefühlslagen einfügen, die mich die Leidenschaft vorher hat vernachlässigen lassen. Ich werde versuchen, zum feinen, gemäßigten Pulsschlag des Lebens zurückzukehren. Diesmal werde ich endgültig der Kriegsmentalität entkommen, gegen die ich mich beim Schreiben nur sehr unzureichend gewehrt habe.“

Nun ist der Augenblick gekommen; ich habe mein Buch – mit der Feder zur Hand – nochmals durchgelesen. Aber leider, ich habe nicht mehr als nur ein paar Worte daran ändern können.

Und was heißt das? Daß es mir stichhaltig, perfekt und unbestreitbar vorgekommen ist? – Weit gefehlt: Seine Lücken, seine Übertreibungen, die subjektiven Anliegen, die seiner These schaden, sind mir mit noch größerer Deutlichkeit ins Auge gesprungen, als ich erwartet hatte. Aber um eine vollständige Umarbeitung vornehmen zu können, hätte ich meinem Modell wiederbegegnen müssen. Ich sehe nur beim Kontakt mit dem Leben klar.

Durch einige Deutsche, die ich nach dem Krieg getroffen hatte, sind mir bereits neue Merkmale geliefert worden – einige davon nur schwer in den unerbittlichen Rahmen zu bringen, den ich ursprünglich umrissen hatte. Wie aber sollten sie sich in das Bildnis einer Kollektivseele, in ein ethnisches Porträt integrieren lassen? Ich nahm sie an einzelnen wahr: Hatte ich das Recht, sie zu verallgemeinern?

Ich hätte mit der neuen Durchlässigkeit, die ich an mir spürte, wieder in die Masse des deutschen Volkes selbst eintauchen und mich ein zweites Mal durchdringen lassen müssen – von der Gesamtheit seiner Kräfte, den guten ebenso wie den schlechten. Die Umstände haben es mir nicht gestattet.

Also sehe ich mich gezwungen, mein Buch ein zweites Mal ins Rennen zu schicken, ohne es ernsthaft verbessert zu haben. Wenigstens kann ich die Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen, die mir dabei bleibt, und seine peinlichsten Fehler aufzeigen.

Vor allem ist der Ton, auch wenn er bei einigen Gefallen fand, inakzeptabel. Dieser Zorn gegen ein ganzes Volk, diese Art, es bis in seine besten Absichten hinein zu parodieren, dieser ironische Sturmangriff auch gegen das, was es an echter Gutartigkeit haben mag („Hassenswert, weil wir nicht hassen“, hat Natorp mir geistreich in einem Artikel des „Kunstwarts“, wo mein Buch besprochen wurde, entgegnet1), das systematisch lächerliche oder gemeine Licht, in das ich seine kleinsten Eigenarten tauche – mit einem Wort: der satirische Charakter meines Gemäldes –, haben, abgesehen davon, daß sie nicht mehr in Mode sind, etwas Tendenziöses, das sich gegen mich wenden und mich als reinen Verleumder dastehen lassen kann.

Hier hat der Krieg seine Spuren hinterlassen: Wer seinem Einfluß nicht unterlag oder ihn abgeschüttelt hat, wird sich vielleicht dadurch gestört fühlen.

Dennoch haben die Intoleranz und sogar die Wut, die mein Buch atmet, keinen rein zufälligen Ursprung, und sie rühren nicht ausschließlich vom Krieg her. Ich glaube, daß man die Wurzeln hiervon in etwas Persönlicherem und Tieferem suchen muß: in meiner Herkunft, in meinem Französischsein. Wie man bereits angemerkt hat, ist mein Porträt des Deutschen auch ein Porträt des Franzosen; der Deutsche ist hier so gezeichnet, wie ihn der Franzose sehen kann (oder vielmehr so, wie er ihn nicht sehen, nicht ausstehen kann) – wobei des Franzosen sämtliche Fehler zum Vorschein kommen, die ganze Unruhe, die ganzen angeborenen, unbewußten Abneigungen.

Man muß es offen eingestehen: Viel eher als ein Gegenstand, viel eher als ein Profil ist es ein Verhältnis, das hier wiedergegeben ist: Man kann hieran sehen, wie zwei Rassen daran scheitern, einander zu verstehen, oder zumindest, wie die eine sich vor der anderen sträubt. Der französisch-deutsche Gegensatz, das ist das Thema meines Buches.

Noch ist er aber wohl nicht in seiner ausgeprägtesten Form, sondern höchst ungeschlacht und höchst grob erfaßt. Ich belege hauptsächlich den Mißklang zwischen zwei Nervenrhythmen.

Offensichtlich schließe ich dadurch alles aus, was sich mir auftun könnte, wenn es mir gelänge, mich ganz in den des Deutschen einzufinden. Es hat mir schon immer an Geduld gefehlt, oder vielmehr waren meine Verstandesleistungen schon immer stark von meinen Empfindungen abhängig: entweder begünstigt durch sie, oder behindert. Um gut zu lernen und zu verstehen, muß ich lieben, muß ich Lust verspüren.

Auch merkt man, daß meiner Untersuchung keine ausreichend gewachsene und ausreichend tiefe Kenntnis der deutschen Literatur und Gedankenwelt zugrunde liegt.

Ich bin mit zu wenig Muße eingestiegen. Ich habe Anstoß an ein paar Texten, die mir zufällig begegnet sind, genommen und sie mehr zu meiner Verärgerung als zu meiner Erbauung genutzt.

Was hätte ich gesehen, wenn ich weniger ich-bezogen und offener gewesen wäre? Davon habe ich nur eine vage Vorstellung. Die deutsche Musik (ich liebe Bach und Wagner leidenschaftlich) bringt mich dann und wann in Einklang mit dieser unbekannten Welt: eine Welt, in der die Seele langsamer atmet, mit physischeren Gefühlen und von mitunter gewaltiger Einfalt. Eine der Unredlichkeiten meines Buches besteht darin, daß ich gar nicht erwähnt habe, wie sehr mich beispielsweise die „Meistersinger“ mit all ihrer Pedanterie und all ihrer Rührseligkeit in ihren Bann zogen und begeisterten – bis hin zur reinsten Verzückung.

Im Grunde genommen ist dieses Buch ein Abenteuer, in das ich mich gestürzt habe; mit Ungerechtigkeit und Frechheit habe ich dabei mein Glück aufs äußerste herausgefordert. Für mich ging es darum – und mit dem Krieg das gleiche gewollt zu haben, werfe ich den Deutschen vor –, meiner Herr zu werden. Ich spürte in mir, in meinem tiefsten Innern, eine gewisse Gabe zur Betrachtung, eine gewisse Reinheit des Blicks, aus denen sich vielleicht, so dachte ich, meine Originalität entwickeln könnte. Um dies stärker wahrnehmen zu können, brauchte es einen Kontrastgegenstand: Und da war der Deutsche; ich zog ihn für eine entgegensetzt konfuse und verbogene Denkweise heran.

Was ich ihm durch Beobachtung an Nachteilen auf diesem Gebiet hatte abtrotzen können, habe ich ausgewalzt und dramatisiert; ich suchte meine Tugenden anhand seiner Fehler: Um die ersteren zu vergrößern, habe ich die letzteren vergröbert.

Ist es am Ende also eine Karikatur, die ich gezeichnet habe? Ich weiß nicht, ich glaube nicht. Ich habe den Eindruck, daß viele Züge Bestand haben und kaum erzwungen sind. Aber sie sind nicht zahlreich genug: Die wenigen Einfälle, auf die ich gekommen bin, haben sich wie Scheinwerfer verhalten, alle Details mit ihrem Licht erschlagend, alle Nuancen des Vorbilds verschlingend. Ich habe zu stark vereinfacht.

Wenn der Leser sich aber die Mühe macht, mein Buch richtig anzugehen, wird es ihm vielleicht gelingen, sich für den Streitfall zu interessieren, von dem es in einem wilden und ungestümen Geist erzählt, dürstend nach Klarheit und Zweckfreiheit, gegen die wenig bekannten Kräfte, die es bedrohen, und er wird darin vielleicht ein kleines Drama der Gegenwart erkennen: Stellt das praktische Denken in unseren Tagen nicht das spekulative Denken in einen ungeheuren und stetig wachsenden Schatten? In diesem Buch nimmt einer mit Leib und Seele den Kampf gegen diese drückende Wolke auf.

Ehrlich gesagt lade ich den Leser hier vor allem als Schiedsrichter ein. Ich habe nicht die Absicht, ihn mit Gewalt jedem meiner Gedankengänge zustimmen zu lassen; ich weiß, daß gewisse Schläge, die ich führe, nicht offen sind: Möge er sie erkennen und verwerfen.

Möge er sich aber ebenso aufmerksam dem zuwenden, was meine Wut an Gültigem und Stichhaltigem aufwerfen kann. Gerade in solch lebenshaltigen Auseinandersetzungen kann unter Umständen ein bißchen Wahrheit ans Licht kommen. Und da ich mich völlig in mein Buch eingebracht habe, erscheint es mir unmöglich, daß nicht etwas Allgemeineres und Wichtigeres daraus hervorgehen sollte als ich selbst.

September 1924

1Paul Natorp, Hassenswert, weil wir nicht hassen?, in: „Kunstwart und Kulturwart“, 1920, Bd. 34,1 (1920/21), S. 194 – 199 u. S. 265 – 272.

VORREDE

zur ersten Auflage

Die Seiten, die man hier lesen wird, hätten das Licht der Welt fast nicht erblickt. Und ich will damit keineswegs andeuten, daß dies ein nennenswertes Unglück gewesen wäre. Aber ich denke, es ist von Interesse, hier die Gründe anzuführen, die nahe daran waren, mich von ihrer Veröffentlichung abzuhalten. Sie sind sehr allgemeiner Art, und ich bin womöglich nicht der einzige, den sie irritiert haben. Ich würde mich nicht sehr wundern, wenn viele Leser in meinem Zögern ihre eigenen Zweifel wiedererkennen, die Bedrängnisse, mit denen sie selbst, zuweilen vielleicht beklommen, gerungen haben.

Nachdem ich bereits am dritten Tag der Mobilmachung einberufen worden war, hatte ich das Unglück, Teil einer Einheit zu sein, die dem deutschen Ansturm in einem Moment und an einem Punkt entgegengestellt wurde, wo dieser besonders unaufhaltsam war. In den letzten Tagen des Augusts 1914 wurde ich gefangengenommen.

Ich habe fast drei Jahre in Deutschland verbracht. Erst im Juni 1917 wurde ich in der Schweiz interniert. Während dieses langen erzwungenen Aufenthaltes beim Feind hatte ich Zeit, ihn zu beobachten und in meinem Geist die Hauptzüge seines Charakters zusammenzutragen. Um die Wahrheit zu sagen, ist mir der Großteil der Gedanken, die man im folgenden dargestellt finden wird, schon nach wenigen Monaten Kontakt mit ihm gekommen. Ich hatte sie sogar wenigstens in ihren Grundzügen schon von Beginn des zweiten Jahres meiner Gefangenschaft an festgehalten. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich die feste Absicht, sie an die Öffentlichkeit zu bringen, sobald für mich die Stunde der Befreiung geschlagen haben würde. Nichts schien mir natürlicher. Warum sollte ich das Bild, das ich mir von den Deutschen gemacht hatte, eingeschlossen in einer Schublade für mich behalten? Täglich hatte ich ihre Schikanen zu ertragen: Da erschien es mir im Gegenzug nur rechtens, damit vor den Augen der gesamten Welt herumzuwedeln.

Als ich aber in die Schweiz überführt worden war, begannen die Dinge mir in einem anderen Licht zu erscheinen. Ich war von nun an frei; frei, alles zu tun, was ich wollte. Ich hatte nichts mehr zu befürchten. Ich war dem Krieg entkommen. Der Krieg war für mich beendet – so bekundete es mir jedermann in Form eines Glückwunsches (Ach, hätten sie nur sehen können, welchen Sturzbach an Gewissensbissen dieser schlichte Satz in meinem Herzen entfesselte!). Ja, ich wußte es nur zu gut, ab jetzt war ich in Sicherheit.

Hatte ich von nun an noch das Recht, meinen Ansichten freien Lauf zu lassen? Konnte ich guten Gewissens Gedanken äußern, deren Konsequenzen ich nicht selbst zu tragen hätte? Ich konnte mir keine Illusionen darüber machen, was das, was ich über die Deutschen zu sagen hatte, an Anstachelung, an Ermutigung zum Haß enthielt. War es an mir, der nur noch als Beobachter am Krieg teilzunehmen hatte, dies auszusprechen? War es richtig von mir, ein Feuer zu schüren, an dem ich nicht mehr Gefahr lief, mich zu verbrennen? Konnte ich unter der Voraussetzung, daß ich nicht persönlich dafür einzustehen hätte, Nicht-Wiedergutzumachendes in die Welt setzen?

Allgemeiner: War es mir erlaubt, mit meinen Bemerkungen einen Beitrag zu diesem ungeheuren Kapital zu leisten, das ohnehin schon so schwer zu liquidieren ist?

Ich hatte viel Leid gesehen. Und das Leid, dessen Zeuge man geworden ist, erzeugt nicht unweigerlich in allen Gemütern das alleinige Bedürfnis, es zu rächen. Ich gehöre zu denjenigen, denen es vornehmlich den glühenden Wunsch einflößt, ihm nichts hinzuzufügen, in keiner Weise an seiner Ausbreitung zu arbeiten, im Gegenteil wenn möglich seine Entfaltung zu verhindern. Mir ist nur allzu klar, daß der Mensch von Natur aus böse ist, so daß ich mir meinerseits in allererster Linie vornehme, es so wenig wie möglich zu sein. Um sich eine Vorstellung der Skrupel zu machen, die mich ungefähr zum Zeitpunkt meiner Befreiung überkamen, hier ein Auszug aus den Vorsätzen, die ich damals zu Papier brachte: „Alle Konsequenzen dessen, was ich sage, berücksichtigen“, notierte ich. „Mir stets im voraus die Schwere der Mühen und Leiden jedes Satzes vergegenwärtigen, den auszusprechen ich Lust bekomme. Jeden meiner geistigen Impulse gedanklich in die Sprache der Realität übertragen.“

So befremdlich solche Sorgen mitten im Krieg auch erscheinen mögen, ich glaube, nicht zu irren, wenn ich behaupte, daß die große Mehrheit der Kriegskameraden sie teilt. Sie finden, daß das, wozu sie verpflichtet sind, völlig ausreicht. Sie hegen ganz und gar nicht den Wunsch, sich andere an ihrer Seite ins Getümmel werfen zu sehen, deren Eingreifen zu nichts nützen kann. Sie tragen große Sorge dafür, daß sich der Krieg nicht über die Handlungen hinaus, mit denen er geführt wird, ausweitet, daß man ihn nicht ins Reich der Worte aufsteigen läßt. Vor den anderen, vor all jenen, die ihn nur mit Worten führen können, geizen sie mit Heldentum. Entschieden bitten sie sie darum, sich nicht in die Sache einzumischen. Das liegt daran, daß sie nicht umhinkönnen, zu berechnen, was jedes Wort des Hasses sie an Grauen von der Sorte, deren Bilder sie nicht mehr loslassen, kosten kann. Wie jedem Lärm, der Granaten anziehen könnte, kehren sie aller Prahlerei, die ihnen zu Ohren kommt, unweigerlich den Rücken: „Dieser Idiot da wird uns noch verraten!“ Und deshalb sieht man sie im allgemeinen so zurückhaltend, so wenig zu Beleidigungen aufgelegt und so peinlich berührt von jenen, bei denen man sie zu Komplizen machen will.

„Es reicht, wie es ist!“ dachte ich. „Nein, ich werde ganz sicher nicht sagen, was ich über die Deutschen festgestellt zu haben glaube. Ich werde den natürlichen Haß, den wir gegen sie hegen und der uns dann blind zu machen drohen würde, wenn sich erste Möglichkeiten zur Lösung des Konflikts auftun, nicht von neuem entfachen.“ Wie vor dem Entsetzlichsten, was ein Mensch begehen kann, graut es mir nämlich vor dem Verbrechen, die erste Minute unbemerkt verstreichen zu lassen, in der der Krieg aufhören wird, unvermeidlich zu sein. Indem ich meine Betrachtungen veröffentlichte, indem ich ihnen gestattete, ihr Gift zu entfalten, trug ich unter Umständen dazu bei, diese erste Minute weniger sichtbar, weniger augenfällig zu machen. Allein der Gedanke an ein solches Risiko lähmte mich vollständig.

Aber eine andere Erwägung hielt mich ebenfalls zurück. Ich mochte zwar zutiefst von der Wahrheit meiner Bemerkungen über den deutschen Charakter überzeugt sein; es ist unmöglich, sagte ich mir gleichzeitig, heutzutage richtig zu denken. Ist denn nicht alles auf den Kopf gestellt? Sehe ich nicht die standhaftesten Gemüter, jene, in die ich mein größtes Vertrauen gesetzt hätte, vom Sturm in die eine oder die andere Richtung gebeugt? Ist es nicht ein mehr als wahnwitziger Ehrgeiz, sich an Deck eines Schiffes aufrecht halten zu wollen, auf dem alle Welt ins Wanken gerät?

Drei Jahre lang hatte ich die deutschen Zeitungen gelesen. Ich hatte mich mit Wachtposten unterhalten. Und ich hatte feststellen können, wie sehr auch ihr Standpunkt ein natürlicher war, so entfernt er auch von meinem, so exakt er meinem auch in allen Dingen entgegengesetzt war. Ich will damit sagen, wie sehr sie ihn natürlicherweise unweigerlich einnahmen, mit welcher Unfehlbarkeit sie bei jedem Ereignis, das unerwartet eintreten mochte, bei jeder Erfahrung, die sie machen mochten, auf ihn zurückkamen.

Mit anderen Worten, die deutsche Sicht war mir zwar selbstverständlich nicht ebenso richtig, aber ebenso notwendig wie die meine erschienen; ein ebenso steiler Abhang schien mir zu ihr zu führen.

Und so gelangte ich zu der Überzeugung, daß in Kriegszeiten alles Denken einer Art Gravitation unterliegt. Die Leidenschaften jedes Individuums und grundlegender noch seine Rasse, seine Herkunft bilden ein Zentrum, ein Gestirn, um das sein Denken, von unsichtbarer Kraft gehalten, nichts als kreisen kann.

In Wirklichkeit denkt man gar nicht mehr: Man bestätigt sich, man beglückwünscht und gratuliert sich selbst, man bewundert unablässig, wie sehr man doch recht hat. Im Vorübergehen schnappt man all das auf, was einen im eigenen System bestärken kann, und den Rest, den sieht man nicht, er schlüpft einem unter der Nase weg, ohne daß auch nur der geringste Verdacht über die Unordnung aufkommt, die er in die eigenen Vorstellungen bringen könnte. Man kann noch nicht einmal sagen, daß man blind wird; vielmehr verfeinert und steigert sich die Klarsicht manch eines Geistes, aber sie tritt in einen kreisförmigen und gleichsam verzauberten Lauf, sie findet den Ausgang aus der magischen Ringmauer nicht mehr, in die sie eine unsichtbare Macht eingeschlossen hat.

Selbst Widerstand ist zwecklos. Mir war nicht verborgen geblieben, daß sich in allen kriegsbeteiligten Ländern Menschen gefunden hatten, die sich der nationalen Sichtweise verweigerten. Sie hatten der Falle ihrer Herkunft und ihrer Rasse entkommen wollen. Ich sah sie sich stemmen, strecken, winden, voll eines erhabenen, aber vergeblichen Eifers. Denn wie konnten sie nicht merken, daß sich die Leine, an die sie sich klammerten, um gerade gehen zu können, in entgegengesetzter Richtung ebenfalls um die solideste Winde wickelte? Auch sie drehten sich im Kreis, auch sie unterlagen einer offensichtlichen Gravitation. All ihre Schritte schienen mir strikt vorgegeben durch ihren Mißmut, durch den Widerspruchstrieb, durch das Bedürfnis, aller Welt zu zeigen, daß sie nicht die Sklaven der Nationalität waren, die ihnen aufzuerlegen das Schicksal für gut befunden hatte. Dieses Anliegen bildete ein entgegengesetztes, aber zum ersten vollkommen symmetrisches Zentrum der Bemühungen. Es war nicht weniger besitzergreifend und erhob nicht weniger Anspruch auf ihre Gedanken, es führte sie nicht weniger weit weg von den Pfaden der Vernunft. Und kann man sich beispielsweise etwas weniger Schlüssiges, Gefühlsgeleiteteres, rein Pathetischeres vorstellen als die Erwägungen, durch die ein Romain Rolland geglaubt hat, sich aus dem Tumult herauszuhalten?2

Konnte ich inmitten so starker Wirbelströmungen, so unausweichlicher Strudel hoffen, daß mein Denken als einziges und wie durch ein Wunder einen festen Untergrund und die unentbehrliche Autonomie gefunden hatte, um die Wahrheit zu erkennen? Wie sollte ich der einzige sein, der keiner der verschiedenen Regungen unterlag, denen ich alle, die nachdachten, und sogar die, die am meisten darum bemüht waren, es sauber zu tun, nachgeben sah, ohne daß sie es merkten? Woher sollte mir das Privileg zugekommen sein, meinen verhaßtesten Feind mit wahrhaft nüchternem Blick wahrzunehmen? „Und wenn ich also dazu nicht in der Lage bin“, sagte ich mir, „ist dann das, was ich für ein genaues Bild seines Charakters halte, tatsächlich nicht mehr als eine Klageschrift? Habe ich das Recht, unter dem Deckmantel einer wissenschaftlichen Studie, ein Pamphlet, eine Karikatur zu veröffentlichen? Sollte ich dieser reißerischen und fragwürdigen Literatur, die ich selbst nicht ohne Abscheu lesen kann, ein weiteres Kapitel hinzufügen?“

So ungefähr sahen meine Bedenken aus, die mich gleich in dem Augenblick von meinem Vorhaben, über die Deutschen zu schreiben, abbrachten, als ich die Freiheit erlangte, es auszuführen. Sie plagten mich so sehr, daß ich meine Arbeit, nachdem ich die Seiten, die das zweite Kapitel des ersten Teils des vorliegenden Bandes bilden, verfaßt hatte, aufgab und zu anderen Beschäftigungen überging.

„Aber wieso“, wird man mich fragen, „sind Sie dann dazu zurückgekehrt, und welche Erwägungen haben Ihre ursprünglichen Abneigungen besiegen können?“

Es handelt sich um keinerlei theoretische Erwägung, und meine Abneigungen bestehen ungemindert fort. Mir ist ganz einfach folgendes widerfahren:

Ich habe versucht, anderes zu schreiben; tausend Ideen schwebten mir vor, mir schien, als müßte ich nur die Hand ausstrecken, um sie zu ergreifen. Aber sie entzogen sich, oder ich fand sie, wenn ich mich ihrer einmal bemächtigt hatte, so armselig, so blaß. Alles, was ich zu Papier brachte, war schwach, kläglich, verwickelt. Einem rachitischen Kind gleich wollte mein Denken nicht gedeihen und blieb verkrampft. Sosehr ich es auch mit meiner Feder anstachelte, es weigerte sich, sich zu entfalten. Nicht mehr auf meinem Gewissen, sondern auf meinem Geist spürte ich nun eine unerträgliche Last. Irgend etwas, dessen Gestalt und Natur ich anfangs schlecht erkannte, bedrückte und lähmte ihn.

Bald begriff ich aber, was es war. Es waren meine Deutschen, die „nicht runterzukriegen“ waren. Was ich auch tat, ich konnte sie nicht verdauen. Alles, was ich über sie wußte und herausgefunden hatte, hemmte mich und drohte damit, mich schon allein aus der Tatsache heraus, daß ich beschlossen hatte, es für mich zu behalten, zu ersticken.

Ich hatte mich stärker geglaubt, als ich war. Meine Bedenken waren sehr groß, aber ich hätte auch noch imstande sein müssen, ihnen zu folgen. Ich hatte mich fälschlicherweise für einen Menschenfreund gehalten, ich hatte mich über meine Fähigkeit, zu verzeihen, getäuscht. Ich besaß eine zu stark ausgeprägte, zu eindeutige Natur, als daß sie in wirklich aufrichtiger und unumstößlicher Ergebenheit vor ihrem Widerpart hätte kapitulieren können.

Im Grunde hatte ich die Tiefe des Widerspruchs zwischen mir und den Deutschen unterschätzt. Es bestand zwischen uns eine so grundlegende, so eindeutige Unvereinbarkeit des Wesens – es herrschte eine so vollkommene Anti-Übereinstimmung zwischen ihrem Charakter und meinem –, daß ich erkannte, wie utopisch es gewesen war, die Deutschen überwinden, vergessen und verschweigen zu wollen.

Die Frage war von nun an äußerst klar. Ich hatte zwischen ihnen und mir zu entscheiden. Indem ich ihnen hinsichtlich dessen, was ich über sie zu sagen hatte, Gnade gewährte, verurteilte ich mich selbst zum Tode. Zumindest würde ich den freien Gebrauch meines Verstandes einbüßen und auf alle intellektuelle Freude und Leichtigkeit verzichten müssen.

Ich sah mich gezwungen, anzuerkennen, daß ich zu einem solchen Opfer nicht bereit war und daß weder meine Großmut noch meine Nächstenliebe weit genug gingen, mir dies zu ermöglichen.

Ich bin also zu meinem einstmals verlassenen Manuskript zurückgekehrt und habe das Buch, das man gleich lesen wird, nur geschrieben, um die Deutschen wieder aus mir rauszubekommen.

Ich mache mir über die Motive, die mich zu seiner Veröffentlichung veranlassen, keine Illusionen und versuche auch nicht, über sie hinwegzutäuschen: Sie sind egoistischer Natur, das weiß ich. Ich gehöre nicht zu denen, die ihre Gefühle miteinander verwechseln und glauben, ein Werk christlicher Nächstenliebe zu vollbringen, wenn sie sich dem Haß hingeben. Ich erkenne sehr genau, daß die Nächstenliebe mir hier nichts als Schweigen geboten hätte. Ich werde sie in dem gewaltsamen Unternehmen, in das ich mich stürze, außen vor lassen, ich werde sie meinen Zorn nicht überdecken lassen. Dieses eine Mal nur verweigere ich mich, so Gott es zuläßt, unter dem Einfluß einer unwiderstehlichen Leidenschaft, widerwillig und bei vollem Bewußtsein ihrem Befehl.

Wissentlich gebe ich hier meinem wütenden und unverfälschten Geist nach. Ich lasse ihn sich ganz allein, mit diesem seinem einzigen Werk gegen den An- und Übergriff seines perfekten, seines idealen Feindes verteidigen. Aus eigenem Antrieb und mit der unmittelbaren und blinden Begeisterung, mit der sich Phagozyten der Mikroben bemächtigen, die sich in den Organismus einschleichen wollen, stürzt er geradewegs auf den deutschen Genius los.

Ich befreie mich, ich erleichtere mich. Dies ist keine Verurteilung, keine Anklage Deutschlands in der Art, wie sie unsere Journalisten und unsere Staatsmänner täglich erheben. Man wird in meinem Buch kein feierliches Gerichtszeremoniell finden. Ich verurteile darin nichts, ich verabscheue nur. Mein Buch enthält nichts weiter als die große Abscheu, die mein Geist Deutschland entgegenbringt.

Ich greife darin nicht seine Verbrechen an, sondern seine Art, zu denken und zu fühlen; ich lehne sie sehr dezidiert ab und sage: „Das ist alles, was ich nicht bin, alles, was ich nicht will.“ Ich reinige mich vom Deutschen, wie Frankreich selbst sich seit mehr als vier Jahren mit einer so dramatischen Geduld vom Deutschen zu reinigen versucht. Ich nehme keinen erhabenen Standpunkt ein; ich betreibe, wie man so sagt, Hygiene, ich denke an mich, an meine innere Reinheit, und ich beseitige, was sie gefährdet. Ich versuche schlicht, meinen freien Atem und die ungetrübte Funktion meines Gehirns wiederzuerlangen.

Und trotzdem möchte ich auch nicht durch zu großes Beharren auf diesem Punkt den Eindruck erwecken, als habe ich in meinem ganzen Buch ausschließlich meinem persönlichen Wohlbefinden Rechnung getragen. Wenn man mich so wiederholen hört, daß es meine einzige Absicht gewesen sei, mich damit der Deutschen zu entledigen, könnte man glauben, daß ich hinsichtlich der Mittel, sie zu erreichen, nicht allzu wählerisch gewesen bin; am Ende flöße ich meinen Lesern noch den Verdacht ein, daß ich ausschließlich meine Wut zu Rate gezogen habe und daß es sich bei meinem Essay demnach um nicht mehr als eine eitle Schmähschrift handelt.

Nein. Trotz der mächtigen Gefühle, die mich erfüllten, trotz der Dringlichkeit des Ziels, das ich vor Augen hatte, habe ich mich dazu gezwungen, so objektiv wie möglich zu sein. Das Mittel, das ich gewählt habe, um Abstand von den Deutschen zu gewinnen, war, sie zu definieren – sie mit all der Genauigkeit und all der Sorgfalt zu definieren, deren ich fähig war. Ich habe mich bemüht, nichts rein Beleidigendes in meine Analyse einfließen zu lassen, der einfachen Beschimpfung bin ich in jedem Fall aus dem Weg gegangen. Jeden Zug, den ich glaubte skizzieren zu können, habe ich stets durch Beispiele belegt, seien sie nun meinen eigenen Erinnerungen aus der Gefangenschaft oder unstrittigen Texten entliehen. Ich habe meine Empörung unterdrückt, so sehr ich konnte. Ich dachte mir, daß es immer besser sei, ihren Ausdruck durch irgendein authentisches Detail zu ersetzen oder durch irgendeinen Gedankengang, dessen Stichhaltigkeit man unmittelbar fühlen kann. Als es schließlich darum ging, das Wesen des deutschen Geistes fest zu umreißen, habe ich, um ganz sicher zu sein, nichts zu erfinden, mein gesamtes Ausgangsmaterial einem Deutschen entliehen, und die Wendungen, die mir dazu gedient haben, es zu charakterisieren, habe ich ausschließlich aus dem Text seiner Abhandlungen selbst entnehmen wollen.

Kurz gesagt habe ich ein wohlüberlegtes, sachliches, wahrheitsgetreues Werk schaffen wollen. Obwohl ich eng damit verknüpft bin und unmittelbar interessiert an seinem Ergebnis erscheine, habe ich weder die Hoffnung aufgegeben, ihm einen von der Leidenschaft, die mich dazu inspiriert hat, unabhängigen Wert zu verleihen, noch sogar die Gemüter, die am heftigsten aufzubringen es gemacht ist, zu zwingen, in ihm die Wahrheit zu erkennen. Ja, ich hätte gern, daß der Deutsche selbst ihm nicht widersprechen kann, ich möchte ihn zwingen, seine Ähnlichkeit mit dem Bild zuzugeben, das ich ihm entgegenhalte.

Das ist gewiß noch ein Wunschtraum, aber einer, der es wert ist, verfolgt zu werden. Denn indem ich ihn mir unablässig als Ideal vor Augen halte, werde ich vielleicht wenigstens den Anfang damit machen, Luft aus diesen Hirngespinsten, diesen Riesenkarikaturen zu lassen, die wie Ballons zwischen den beiden Lagern herumschweben und in denen jedes Volk seinen Gegner zu erkennen glaubt, und damit beginnen, die Anzahl dieser Ballons zu verringern.

Letzten Endes ist dies sogar das, was mich hinsichtlich der Verantwortung, die ich mir auflade, indem ich diese Seiten veröffentliche, bestärkt. Sie erscheinen mir letztlich eher nützlich als gefährlich. Ich frage mich, ob sie nicht vielleicht sogar den hervorragenden Effekt haben können, die umfassenden, absoluten und leeren Begriffe, die wir uns von den Deutschen gemacht haben, durch Ideen zu ersetzen, die immerhin nuancierter, ausgewogener sind und die Komplexität des Vorbilds besser widerspiegeln. Vielleicht können sie uns dabei helfen, aus der wilden und grandiosen Unwissenheit über unseren Feind, in der wir leben, herauszutreten. Vielleicht werden sie, ungeachtet dessen, was sie noch an allzu Flammendem und ein bißchen zu Grobem haben, dazu beitragen, uns in jenen Zustand reiner und unvoreingenommener Anschauung gegenüber dem, was wir nicht leiden können, zurückzuversetzen, in den wir wohl oder übel einverständlich zurückkehren werden müssen.

Und so kommt es, daß ich, nachdem ich schon befürchtet hatte, mich unter sie einzureihen, die Hoffnung hege, bei den Aufrührern aller Kaliber, die den Protestchor gegen den Feind anführen, durch ein Übermaß an Zurückhaltung Mißfallen zu erregen. Ich gestehe, daß es mir eine große Genugtuung wäre, wenn die Genauigkeit meines Gemäldes sie aus der Fassung brächte, und ich hielte weder die Verwünschungen, die sie an mich richten, noch die Verachtung, die sie mir einstimmig entgegenbringen könnten, für eine geringe Ehre.

Man sieht jedenfalls, wie weit ich davon entfernt bin, auf den möglichen Widerhall meines Buches konzentriert zu sein. Aber jetzt ist es auch genug mit meinen Gedanken darüber. Da ich ja ohnehin inzwischen entschlossen bin, es zu veröffentlichen, ist es vollkommen lächerlich, mich noch länger zu fragen, was wohl geschehen könnte, wenn ich es getan haben würde. Und das ist es um so mehr, da es das wahrscheinlichste ist, daß überhaupt nichts geschehen wird.

August 1918

2Der Schriftsteller und Pazifist Romain Rolland (1866 – 1944) erklärte sich für überparteilich, schrieb von der Schweiz aus gegen den Krieg an und engagierte sich für das Rote Kreuz. 1915 erhielt er den Literaturnobelpreis. [Anm. d. Ü.]

ERSTER TEIL

NACH DER NATUR

1. DIE PROFILLOSIGKEIT

Mir scheint, daß man auf dem Holzweg ist, wenn man an den Deutschen zuallererst Gefühle von abnormer Gewaltsamkeit und Grausamkeit, ein wütendes Temperament feststellen möchte. Ich leugne diese Gewaltsamkeit, diese Grausamkeit, diese Wut nicht, für die es so viele bestätigte Beispiele gibt. Aber ich glaube nicht, daß es bei ihnen etwas Angeborenes ist. Daß sie Barbaren sind, leugne ich nicht, aber es kommt mir auch nicht so vor, als seien sie es ganz nach Art der Hunnen.

Was mir auf den ersten Blick viel eher auffällt, ist ihr Mangel an Temperament und das, was Maurras einmal sehr treffend „die Mittelmäßigkeit des deutschen Grundstocks“ nannte.3 Diese Gesamtheit von Geschmackssinn, Trieben, Vorlieben und Abneigungen, die die Substanz einer jeden Seele bildet und dem Charakter Gestalt verleiht, ist bei ihnen von erstaunlicher Dürftigkeit. Man nehme ausschließlich ihr ursprüngliches Selbst, bevor ihr phänomenaler Wille Zeit gehabt hat, sich einzuschalten: Dann sind sie nichts; sie begehren, sie erwarten, sie verlangen nichts.

Wer wird jemals die ganze Tiefe ihrer Indifferenz schildern können? Und darunter hat man zu verstehen, daß sie zugleich außerordentlich indifferent und außerordentlich undifferenziert sind. Alle Kriegsgefangenen kennen, weil sie sich oft darüber lustig gemacht haben, die unausweichliche Antwort der Wachtposten auf jeglichen Vorschlag, der glücklicherweise gegen kein Verbot verstößt und der zufällig weder vorgesehen war noch von vornherein irgendeine Dienstvorschrift verletzt. Sie erwidern unfehlbar: „Das ist mir egal!“4 Und man muß den vollen und überzeugten Klang der letzten Silbe mal gehört haben: „Das ist mir egaal!“ Sie wird mit radikaler und völliger Aufrichtigkeit ausgesprochen; man spürt, daß es das Seeleninnerste ist, das sich darin ausdrückt und darin erschöpft. Was soll das nun aber anderes heißen, wenn nicht: „Was Sie mir da unterbreiten, nichts in mir neigt dazu und nichts in mir widersetzt sich dem. Ich fühle mich Ihrem Ansinnen gegenüber so leer wie nur möglich. Ich könnte lange suchen: Ich würde nichts finden, was dafür oder dagegen spräche. An welchem Punkt Sie mich auch packen, ich bin so dermaßen eintönig, so dermaßen einheitlich und so dermaßen gleichwertig! Andere Abweichungen als diejenigen, die man mir beigebracht hat, sind mir so dermaßen unbekannt!“

Wir sollten das nicht verwechseln. Das hier ist nicht der slawische oder orientalische Fatalismus; es handelt sich nicht um irgendeine Form der Resignation. Der Deutsche faltet seine Wünsche und Träume nicht angesichts eines für unbezwingbar gehaltenen Geschehens wieder zusammen. Die Wahrheit ist, daß er ursprünglich weder Wünsche noch Träume, weder Liebe noch Haß, weder Lust noch Ekel noch sonst irgendeine Art von Leidenschaft besitzt. Könnte man also sagen, daß er eine Schlafmütze ist, daß das Leben in ihm träge und geringfügig bleibt? Im Gegenteil: Mißt man nicht mehr als die Schwingung, scheint es in ihm außergewöhnlich rege und spannungsgeladen zu sein. Der Strom, der ihn durchfließt, übersteigt die durchschnittliche Intensität bei weitem. Aber er durchfließt nichts als Leere; er findet nichts, um sich zu orientieren; die Materie, die er durchmißt, ist völlig amorph. In dieser Seele sind selbst die Grundzüge der Empfindsamkeit abwesend, genau wie ihre elementaren Neigungen und ihre grundlegende Aufteilung.

„Ein Deutscher kann einem Franzosen nicht standhalten“, sagte mir eines Tages ein Kamerad in der Gefangenschaft, ein kleiner Kerl, dessen schmale glänzende Augen und dessen entschlossenen Blick ich immer noch vor mir sehe. Als er ganz allein zur Arbeit in einem Dorf abkommandiert war, hatte er auf seine Arbeitgeber einen außerordentlichen Einfluß ausgeübt und es geschafft, ihre Komplizenschaft für einen Fluchtversuch zu erlangen. Bloß die unvorhergesehene und vorzeitige Reue einer Frau, die sich, und damit ihn, ganz in Tränen aufgelöst bei den Behörden anzeigen gegangen war, hatte sein Vorhaben scheitern lassen.

Es war, als er sich die Leichtigkeit vergegenwärtigte, mit der er all diese Menschen überzeugt hatte, ihm gegen ihr Vaterland zu Hilfe zu kommen, daß er diesen Grundsatz formulierte, dessen Richtigkeit mich verblüffte. Ein Deutscher kann einem Franzosen nicht standhalten. Das heißt, daß, wenn man sie beide in ihrem Naturzustand nimmt, in dem Moment, wo sie noch keine anderen Signale empfangen als nur die ihrer jeweiligen Temperamente, der Deutsche dem Franzosen nicht die Stirn bieten kann; er steht ohne Waffen vor ihm; er hat nichts, was dessen aufrechten und vordrängenden Begierden entspricht, nichts von dieser leidenschaftlichen Lebhaftigkeit, dieser verlangenden Furchtlosigkeit des Herzens, mit denen sein Gegenüber ausgestattet ist. Was sollte er unseren tausend Voreingenommenheiten, unseren gefühlsmäßigen Entscheidungen, dieser Art, wie wir die Dinge auf Anhieb im entschiedensten Licht sehen, entgegenstellen? Sobald es vor unseren Augen erscheint, verfügt das Bild der Realität über all seine Nuancen. Ich behaupte nicht, daß diese Unmittelbarkeit in allen Fällen von Vorteil ist. Ich möchte sogar zeigen, daß sie vielleicht am Ursprung all unserer Fehler steht und all des Unheils, das sich daran anschließt. (Unser Verstand legt sich zu schnell fest.) Aber letztlich zeugt sie von einer generellen Spannkraft, von einem Elan und einem „Freiwuchs“ der Gefühle, gegen die der Deutsche mit seiner mageren Spontaneität nicht im Traum denken könnte zu bestehen und die ihn jedesmal, wenn er sich mit einem von uns allein unter vier Augen befindet, in einen Zustand offenkundiger Unterlegenheit versetzt.

„Der deutsche Jüngling, fromm und stark,

Beschirmt die heil’ge Landesmark.“5

Das stimmt nur zu genau. Ich sehe ihn nur zu genau vor mir, „den deutschen Jüngling, fromm und stark“, auf seine Waffe gestützt, zu jedem Kampf bereit, mit fester Brust, den Geist allein von verzweifelter Hingabe erfüllt.

Ich sehe ihn nur zu genau vor mir, um ihn leiden zu können. „Fromm und stark“: Das ist also alles, was er uns zu bieten hat, das also ist, in zwei Worten ausgedrückt, seine gesamte innere Vielfalt.

Man sage nicht, ein Lied sei kein psychologisches Abbild. Doch – so, wie es ist, ist das Porträt komplett, es fehlt daran kein Detail. Das ist er also, der deutsche Held, so wie er sich selbst erscheint, das also sind die ganze Vielschichtigkeit und alle Abstufungen, die er an sich entdeckt; das ist es also, worauf er sich in seinen eigenen Augen und in Wirklichkeit zurückführt.

Mehr als sein Verwüsten, Plündern, Brandschatzen und Morden verüble ich ihm, daß er sich so leicht zusammenfaßt, sich auf so weniges reduziert. Es ist sein inneres Nichts, das ich ihm nicht verzeihen kann. Um glauben zu machen, daß er etwas ist, muß er sich Tugenden suchen; er setzt erst mit der Moral ein. Um wahrzunehmen, daß er existiert, muß man ihm etwas zu tun geben; dann kann man bewundern, wie er es richtig macht. Er ist eines dieser Wesen, die man erst bemerkt, wenn man dazu verpflichtet ist, sie zu loben.

Die Alten vom Landsturm