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DIE FREIE TOCHTER DER NATUR - der erste Teil der Trilogie DER DICHTUNG ZAUBERISCHE HÜLLE - handelt von zwei Fremden, die sich an der Krummen Lanke begegnen. Nachdem sie sich für ein Kennenlernen zu einem Spaziergang um den See aufmachen, laufen ihnen nicht nur eigenwillige Gestalten über den Weg, sondern es spielen sich auch erstaunliche Naturphänomene ab.
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Seitenzahl: 212
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Mäander Visby
DER DICHTUNG ZAUBERISCHE HÜLLE
DIE FREIE TOCHTER DER NATUR
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
DER DICHTUNG ZAUBERISCHE HÜLLE
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
Impressum neobooks
DIE FREIE TOCHTER DER NATUR
EINE NOVELLE
VON MÄANDER VISBY
Was du auch seist,
Seel' oder Leib.
Erbarm dich!
Geh nicht von mir! Bleib!
Oder laß beid'
uns weiter fliehn,
als Winde wehn
und Wolken ziehn!
Es ist zu spät –
du warst, du bist –
der teure Wahnsinn,
der mein Herz zerfrißt.
Lord Byron
An einem Tag wie diesem,
Zu Zeiten tiefer Krisen,
In einer Welt von Sinnen,
Darf nur das Herz gewinnen!
Auf Straßen voll von Zeugen,
Bei Taten schwer an Folgen,
Im Eindruck rauer Sitten –
Das Herz bleibt unbestritten!
Im Land der großen Denker,
In dieser Stadt – zum Henker –,
An einem Ort im Freien –
Es muss das Herz gedeihen!
Bei allem Wohl und Wehe,
Was immer auch geschehe,
Das Herz, ach, sei gepriesen
An einem Tag wie diesem!
An einem Tag wie diesem, nach langwierigen und kräfteraubenden Arbeitsstunden, wollte ich, an einem für heutige Klimaverhältnisse nicht ungewöhnlich warmen Frühlingsnachmittag, eine Weile der hiesigen Welt entsagen und erstmals in dieser Saison mich dem kühlen Nass eines Sees hingeben, um, wie ich es schon seit Jahren eine willkommene Abwechslung zu meiner tristen Tätigkeit nenne, schwimmen zu gehen.
Die Krumme Lanke, ein beschauliches Fleckchen im Südwesten Berlins, dort, wo die meisten Menschen das sehenswerte Panorama betrachten würden, das, wie ich später erfahren sollte, von Gott geschaffen und wie ein Gemälde von ihm farbenfroh bemalt wurde, war mir für meine Zwecke stets ein treuer Diener geistiger und körperlicher Erfrischung.
Die scheinbar belastbarste Wurzel, eines in den See ragenden Baums, war mir unbedenklich und hoch genug, um mich fallen zu lassen, und so sprang ich, um nicht augenblicklich wieder zu sinken, in den sterbenden Sonnenhimmel hinauf, um den einen berauschenden Moment zu erhaschen, der wie eine Schwerelosigkeit wirken kann, und fiel sofort in die stille und menschenleere Tiefe, die für mich zugleich als eine Waschstraße fungierte, in der ich meine Sorgen und Ängste von der Haut abzuspülen wusste, sodass ich mich, aufgrund der reinigenden Wirkung des Wassers, nimmermüde und frohen Mutes auf die künftig anliegenden Aufgaben in ungezwungener Aufbruchstimmung einlassen konnte.
Es war für ein verhärmtes Herz ein pathetisches Gefühl in Umgebung wilder Natur eine Art privates Freibad zu besitzen, dessen Bezeichnung, wie ich mir vorstellte, nicht durch den freien Himmel herrührte, sondern ausschließlich das freiheitliche Sein eines jeden Lebewesens umschrieb, das, losgelöst von jeglicher Last, das uneingeschränkte Leben zu genießen verstand. Trotz der Freiheit, die ich empfand, durfte ich, wie gewiss in anderen Situationen auch, nicht unvernünftig sein, und nicht weitaus länger im Wasser verweilen, als mir gut tun würde, letztlich war die Wassertemperatur zu dieser Jahreszeit noch allzu unbeständig, sprich zu kalt für einen ausgedehnten Aufenthalt, und durch die Tatsache, dass weit und breit keine Menschenseele zu sehen war, sollte mir das Risiko zu gewagt erscheinen, falls ich Hilfe nötig hätte, aber sie augenscheinlich nicht bekommen könnte. Trotz aller Bedenken wollte ich dennoch die Gelegenheit nutzen, die kleine Insel in der Mitte des Sees zu begutachten, die geschätzt nicht größer als drei Meter Durchmesser umfasste und der Sage nach einem Kranichpaar als Behausung diente, da, von Menschenhand errichtet, auf ihr ein nahezu eineinhalb Meter hohes Holzhaus platziert wurde, das aber, nach Angaben vieler älterer Zeitzeugen, seit mindestens drei Jahrzehnten kein Kranich mehr bewohnt hatte und wahrscheinlich, durch die anhaltende Geräuschkulisse – gerade in den Sommermonaten von den zahlreichen Besuchern hervorgerufen – auch bis in alle Ewigkeit verwaist bleiben sollte.
Um mich derweil im gefühlt eiskalten Wasser etwas zu erwärmen, schwamm ich mit einem wetteifernden Hintergedanken der Insel entgegen, die aus zwei Richtungen vom Ufer lediglich einen illusorischen Steinwurf entfernt schien, was insofern wichtig zu erwähnen ist, da rabiate Halbstarke durchaus schon einmal beiläufig versucht haben vom Festland aus die Insel und das Holzhaus mit allerhand Wurfgeschoss als Zielscheibe in Beschlag zu nehmen, was jedoch bisher zu keinem Erfolg führte, denn als ich an dem winzigen Eiland ankam, war von einer vollzogenen Steinigung kein rückwirkender Schaden zu erkennen. Auch das Holzhaus war noch gut in Schuss. Kranichliebhaber oder Sympathisanten einer naturumwobenen Idylle reparierten hin und wieder das durch äußere Einflüsse in Mitleidenschaft gezogene Häuschen und schauten öfters vorbei, ob nicht irgendwelche Pachulken Schindluder getrieben hatten, wie zum Beispiel unerlaubt am Ufer ein Barbecue zu veranstalten und, nach dem barbarischen Festmahl, den verkohlten Grill mit einem Schlauchboot zur Insel zu befördern, um ihn dann – in einem Anfall weltfremder Komik – auf das Dach der Behausung abzustellen und – als Zeichen des zeitgenössischen Wahnsinns – wohlweislich der Nachwelt dort zu hinterlassen. Genau dieses Szenarium geschah nämlich letzten Sommer, was nicht nur mich sehr wütend und jähzornig gemacht hatte.
Nun war aber alles in Ordnung, sauber und ohne einen Makel der privilegierten Natur überlassen, sodass ein nie endender Hoffnungsschimmer aufkommen wollte, auf dass eines Tages die rechtmäßigen Mieter ihre heiligen vier Wände wieder beziehen würden.
Es hatte schon etwas königliches die Insel zu betreten und die Aussicht wahrzunehmen, die sich in alle Himmelsrichtungen weitreichend erstreckte, sodass das tadellos geschulte Auge suggerierte, auf dem Wasser gehen zu können, wie es ebenso Christus tat. Nach einem erbaulichen und zufriedenen Gefühl, das mein Herz erwärmte, nahm ich einen kräftigen Atemzug, sprang neuerlich ins Wasser und schwamm gen Ufer zurück, nicht ohne noch einmal auf den Grund des Sees zu sinken, wie ich es immer tat, um aus einer gefallenen Symbolik bestärkt emporzusteigen und als neugeborenes Individuum den Kampf gegen den tristen Alltag und die tonangebende, aber mit unlauteren Argumenten mir zu Ohren gekommene Menschheit, mit einer extra für mich angefertigten fest vertäuten Rüstung – zuweilen auch als geistige Gepäcklage – aufs Neue aufzunehmen.
Ich bin gefallen und sogar bis an die tiefste Stelle gesunken, doch ich tauchte immer wieder auf, so wie Edyta zum ersten Mal aufgetaucht war, als sie plötzlich am Ufer hockte und mir zusah, wie ich emsig durch das Wasser glitt und mit zielsicherem Periskop, in wohltätiger Betäubung, den vor mir liegenden Hafen ansteuerte, als wäre ich ein Partikulier mit Alleinstellungsmerkmal.
››Du bist aber mutig‹‹, rief ein schaurig verschwommenes Wesen mit dumpfer Stimme, während meine noch mit Wasser durchtränkten Augen glaubten ein Trugbild wahrzunehmen.
Ich verstand die sich für mich als weiblich abzeichnende und interessiert blickende Gestalt auch erst, als ich mich von dem störenden Druck auf meinen Ohren in schlagkräftiger Weise befreien konnte, und sie verständnisvoll, wissend um meine beeinträchtigte Hörfähigkeit, wiederholte:
››Du bist aber mutig.‹‹
Ich wusste ihr im ersten Moment nicht zu antworten, noch in irgendeiner menschlichen Gebärde ihr eine Bestätigung oder einen Dank dafür auszusprechen, falls ich ihre Worte als ein Kompliment aufzufassen hatte, deshalb ging mir einzig und allein ein unzureichendes und an Wasser hart verschlucktes ››Ja!‹‹ über meine bibbernden Lippen.
Im Anschluss daran beherrschte erst einmal ein bedrückendes Schweigen das ungeahnte Aufeinandertreffen, wobei nur die Wassertropfen, die von meinem nackten Oberkörper abfielen, hörbar in die Lautlosigkeit eines um uns gebildeten Raums plätscherten. Mir fehlte jeder Behelf diese unangenehme Stille in ihrer stabilen Architektur und ihrem Geschick an eigener Wirkung zu brechen, also ließ ich sie wehrlos, aber auch furchtlos über mich ergehen.
Die Tatsache, dass ich in einer Wassertemperatur stand, die fähig war, mich unmittelbar zu unterkühlen, meinem Körper aber schlichtweg immer wärmer wurde, beunruhigte mich offen gesagt, da die Wissenschaft wie auch der zusammengeschrumpfte, doch immerhin noch vorhandene Verstand in solchen Fällen zum sofortigen Verlassen der Kälte aufruft, mich allerdings dieses Alarmsignal längst nicht erreichen wollte, weil meine gespitzten Ohren bloß einen Laut aus meinem Mund erwarteten, der an das augenscheinlich hübsche Fräulein gerichtet werden sollte.
Ihre Sprachlosigkeit dagegen schien genau durchdacht und sie wirkte, als hätte sie von einem abgehärteten Freischwimmer weitaus mehr erwartet als jene eingeschüchterte Reaktion, die ich offen zeigte, wie ein verängstigtes Kind, das seine Eltern im Supermarkt aus den Augen verloren hatte, weil es sich zu lange an dem ungesunden Fraß aufhielt und sich nicht entscheiden konnte zwischen Paprika- oder Käsegeschmack. Die Stirn runzelnd gab sie mir nun zu erkennen, dass ihre Hoffnung auf einen funkensprühenden Dialog ein jähes Ende nehmen würde, wenn ich weiterhin die Gelegenheit nicht einzuschätzen, aber wichtiger noch, nicht zu schätzen wüsste.
››Der Stillstand lässt dich erstarren und erfrieren, und du solltest dich jetzt besser aufwärmen, sonst erkältest du dich‹‹, sagte sie und fügte ratsam hinzu: ››Komm lieber aus dem Wasser!‹‹
Darauf wusste ich zu kontern, denn der Umstand, dass ich nicht nur über, sondern ebenso unter dem magischen Wasserspiegel unbekleidet war, ließ mir einen Spielraum, ja, diente mir womöglich als ein Ass im Ärmel – wenngleich mir diese unverkennbar fehlten –, sie genauso zu verunsichern, wie sie mich seit ihrem Erscheinen.
››Ich würde gerne aus dem Wasser steigen,‹‹ leitete ich meinen Gegenstoß ein, ››aber das kann ich nicht so ohne Weiteres tun, denn ich bin nackt – vollkommen nackt.‹‹
Sie errötete schneller als ein mit roter Farbe vollgesaugter Pinsel das blanke Blatt Papier bemalen konnte, machte jedoch dabei keinerlei Anstalten eine diskrete Position einzunehmen, die es mir ermöglicht hätte, mich ungesehen aus der Affäre zu ziehen. Ich hatte ehrlich gesagt keine Befürchtung, dass sie nicht alsbald reagieren würde, vielmehr genoss ich ihre Perplexität, die sie ausstrahlte, und ließ uns einen Augenblick noch in dieser beklemmenden Peinlichkeit verweilen. Erst über den Zenit des Augenblicks hinaus bat ich sie darum, sich kurz einmal von mir abzuwenden, um mir die Gelegenheit zu geben mich zu trocknen und schließlich wieder zu bekleiden. Beinahe überfordert von dem, was ich da Außergewöhnliches von ihr verlangte, wirkte sie anfangs etwas unbeholfen und grotesk, drehte sich aber dann doch in einer hastigen Bewegung von mir weg und sagte leicht stotternd:
››Natürlich! Ich bitte um Verzeihung!‹‹
Ich stieg zügig aus dem Wasser und hatte das Gefühl, dass die mir Unbekannte der Situation endlich Herr geworden war, denn sie verstand es – in der ansonsten kurzweiligen Bekleidungsphase, aber durch meine fast zum Eisberg erstarrten Bewegungsarmut, die ein rasches vonstattengehen nicht zuließ – nicht etwa meinem Schicksal mich selbst zu überlassen, da sie prompt damit begann unentwegt auf mich einzureden, um die kaum wahrnehmbaren, aber nun ungeheuer präsenten Geräusche der Trockenreibung spezieller Körperregionen oder die Klaviatur des Schließens des Hosenstalls en passant zu übertönen.
››Ich heiße Edyta‹‹, sagte sie als wäre es eine Offenbarung, und ich dachte daran, dass ich einen derartig prononcierten Namen noch nie zuvor gehört hatte. ››Das ist ein polnischer Name. Ich bin nämlich zur Hälfte Polin‹‹, sagte sie in einem perfekten deutsch. Und wie schon in ihren ersten Mitteilungen, war nicht der Ansatz eines fremdartigen Akzents in ihrer Stimme zu erkennen, sodass ich davon ausgehen musste, dass ihre andere Hälfte auf deutschem Boden ihre Wurzeln geschlagen hatte. ››Ich war als Kind oft in Polen bei meinen Großeltern. Und ja, ich bin weitestgehend in beiden Ländern beheimatet und sicher in der deutschen als auch in der polnischen Sprache. Es sind zwei wunderschöne Nachbarstaaten. Beide haben viele Seen, und trotz der massiven und beeindruckenden Bauwerke, insbesondere hier in Berlin, erstrecken sich allerhand grüne Herzstücke auf der Landkarte, an denen man, bei Eintritt in die urromantische Atmosphäre, sich wohlig und geliebt fühlen kann‹‹, hielt sie eine Lobrede auf die deutsche und polnische Natur, während sie ihre Arme ausbreitete, als ob sie den vom Frühling gezeichneten Wald um den See herum in fieberhafter Achtbarkeit umarmen wollte.
Edyta, die mir unaufhörlich den Rücken zuwandte, wusste, dass ich ihre allumfassende Geste hätte bemerken können, doch sie störte sich nicht daran und sollte auch, wie ich ein ums andere Mal bemerkte, mit ihrer unvergleichlich parabolischen Gefühlslage nicht hinter dem Berg halten.
Ich verriet ihr nun meinen Namen und rief ihr außerdem zu: ››Du kannst dich wieder umdrehen!‹‹
Indes nahm ich meinen Rucksack auf und ging langsam, in schwebender Ungewissheit über die wirkliche Identität des Fräuleins, auf sie zu. Sie zögerte und drehte sich erst zu mir um, als ich hinter ihr angekommen war und sie meinen ungleichmäßigen Atem schon in ihrem Haar spüren musste, sodass sich unsere Blicke, wie untereinander verabredet, zur gleichen Zeit trafen.
Ihre Augen funkelten in einem erdigen Farbton – kein undurchdringbares braun, wie es in den südlichen Ländern oft der Fall ist, mehr ein frisch umgegrabenes braun, das, nach längerer Zeit im Verborgenen, wieder von der Sonneneinstrahlung zehren und, reich an Saat gespickt, gedeihen konnte. Ihr Haar stand ihren Augen in nichts nach: Es war auf der bunten Farbpalette merklich eine Nuance dunkler als ihre schimmernden Augen angesiedelt und bedeckte in lockiger Form ihren Kopf bis zu den Schultern, dass ein jeder schöngeistige Betrachter, wie auf ein Gemälde auf sie blickend, der Meinung sein musste, dieses Fräulein sei mit Liebenswürdigkeit gesegnet und eben vortrefflich gelungen.
››Nochmals Hallo!‹‹ sagte sie mit Blick auf meinen bekleideten Körper.
Und auch ich ließ mich zu einem ››Nochmals Hallo!‹‹ ermuntern, wobei ich ihre Augen nicht außer Acht zu lassen versuchte.
›Es würde mir nicht schwer fallen Edyta zu mögen‹, dachte ich – sie war eine Augenweide in ihrem gelben Sommerkleid, in dem sie sportlich, doch gleichfalls weiblich und zierlich wirkte. Hätte sich Edyta nicht bereits als gebürtige Polin vorgestellt, wäre sie glatt als Verkörperung der französischen Marianne durchgegangen. Und ja, hätte sie das Kommando gegeben, ich wäre schnurstracks mit ihr, furchtlos und treu ergeben, in die Schlacht gezogen, hätte an ihrer Seite gekämpft, mein Blut für sie vergossen und wäre, ohne zu zögern, auch für sie gestorben. Und ich wollte ihr folgen und musste ihr folgen – den Weg mit ihr gehen, Seite an Seite um den See, der mich durch Edytas magische Anziehungskraft einmal mehr verzaubern und in Erstaunen versetzen sollte.
››Wie lange braucht man denn eigentlich um den See herum?‹‹ fragte sie unbedarft, und ich wusste durch ihren verschmitzten Gesichtsausdruck und den bis unters Haar hochgezogenen Augenbrauen, dass ihre Frage auf etwas anderes abzielte als auf eine präzise Zeitangabe, die ich sowieso für sie nicht parat hatte, aber dennoch altklug damit reüssieren wollte:
››Wenn mir auffällige Jogger entgegenkommen und sie mich offensichtlich ein zweites Mal passieren, dann denke ich, dass die Schnellsten unter ihnen zwölf bis fünfzehn Minuten für eine Umrundung benötigen.‹‹
Edyta staunte, aber lachte gleichzeitig. Sie ahnte, dass ich kein Jogger war, sondern ein Schwimmer – ein Genussschwimmer –, und unterließ etwaige Spitzen in Richtung meiner Ausdauer und Körperlichkeit. Stattdessen näherte sie sich ihrem eigentlichen Anliegen nach und nach an, indem sie geheimnisvoll fragte:
››Und wie lange dauert eine Umrundung im Spaziergang?‹‹
Ihr holdseliges Lächeln verschwand hinter einem Ausdruck von ungeschminkter Hoffnung, dass ich ihre Andeutung diesmal richtig interpretieren würde.
››Ich weiß nicht‹‹, log ich, denn ich bin den Weg um die Krumme Lanke schon unzählige Male gegangen, in Gedanken versunken geschlendert oder in geistiger Verzweiflung gekrochen, eben solange mich meine Füße tragen konnten, dass ich nicht hunderte von Angaben hätte machen können, mit Zeitspannen, die sich um Stunden unterschieden. ››Beim Gehen kommt es naturgemäß nicht auf die Zeit an – vielmehr sind die Gedanken wichtig, die man sich dabei macht oder denen man instinktiv auf die Schliche kommt‹‹, wollte ich ihr zu verstehen geben, und sie schaute mich gewissenhaft an, als ob ihr das auch schlüssig geworden sei. ››Ich glaube nicht, dass irgendein Mensch, innerhalb einer sportlichen Aktivität, auf eine intellektuelle Weise denken kann‹‹, stellte ich fest, doch Edyta wusste dagegenzuhalten:
››Beim Boxen vielleicht‹‹, raunte sie und machte dabei eindeutige Kampfbewegungen, indem sie aus der Deckung drei linke Geraden in die Luft schlug, derweil aber abwertend ihre Augen verdrehte, um mir zu vermitteln, dass ihr Interesse womöglich in weniger aggressiven Sportarten läge. ››Treffen oder getroffen werden – gehen wir zusammen um den See?‹‹ rückte sie letztendlich mit ihrem hauptsächlichen Anliegen heraus, und ich war freudig erregt, dass sie fragte, denn ich wollte diese überraschende, aber gleichsam sich als gütlich entpuppende Begegnung nicht auf Teufel komm raus wieder enden lassen.
››Gerne!‹‹ befürwortete ich in unterdrückter Euphorie und deutete auf meine Armbanduhr, was Edyta durch ein kurzes Nicken bestätigte, und so drückte ich die jeweiligen Knöpfe meines Zeitmessers, die die Ziffern ins Rennen schickten, worauf ich dem vor Tatendrang strahlenden Fräulein glaubwürdig versichern konnte: ››Die Zeit läuft! Lass uns gehen!‹‹
Nicht ein einziges Mal auf dem Weg um die Krumme Lanke sollte ich nach der Zeitanzeige schauen, da ich die Armbanduhr pflichtbewusst und eines Gentlemans repräsentabel für die bevorstehende Zweisamkeit von meinem Handgelenk löste und tief in den Rucksack verstaute, dass Edyta nicht im entferntesten Sinne assoziieren müsste, ich schaue unterdessen ständig gelangweilt auf die Zeit und würde weder Disziplin noch beharrliche Aufmerksamkeit vorweisen können. Gleichbedeutend sollte es erst an derselben Stelle des Sees sein, nur eben eine Runde herum, dass ich, wie ein fairer Sportsmann, die Zeit wieder zum Stoppen brachte.
Es dauerte einige Schritte, um die spürbare Verlegenheit, die seltsamerweise mit dem gegenseitigen Einverständnis jene Tour zu unternehmen, eintrat, wieder abzulegen.
Flüchtig gesehen sind Fremde ja keinerlei kommunikativer Anstrengung verpflichtet – eine sicher geglaubte Grenze wird demnach nicht überschritten. Beschließt man jedoch einen Fremden altmodisch, aber wahrhaftig kennenzulernen, lässt man, wie in meinem Fall, auch gern zweimal die Hose herunter.
››Der Mensch macht zu oft aus der Stille Lärm, weil er die Ruhe nicht ertragen kann‹‹, versuchte Edyta die Situation zu rechtfertigen, um gleichfalls mir die Knechtschaft einer vorhersehbaren, aber thematisch belanglosen Konversation zu ersparen.
Einen Moment lang habe ich ans Weglaufen gedacht, weil die jeweilige Erwartungshaltung mich schwer nach Atem ringen ließ, und jener Punkt, an dem das Blut ins Stocken beziehungsweise unerträgliche Pumpen gerät, in mir längst erreicht war. Freilich ist diese lästige Erscheinung im Inneren des Körpers genauso unnötig, wie sich bewusst ununterbrochen in Lebensgefahr zu bringen, aber lebensmüde ist man gewiss nur im Wachzustand, in dem ich mich, allen Ressentiments zum Trotz, hoffte zu befinden.
››Rauchst du?‹‹ fragte mich Edyta trivial.
››Gelegentlich‹‹, log ich erneut, denn in einer ehrlichen Selbsteinschätzung hätte ich diese sich wiederholt ereignende Nikotinaufnahme als recht häufig, fast schon als andauernd bezeichnen müssen.
››Hast du eine Zigarette für mich?‹‹
›Der Sinn hinter einer Frage kann so simpel sein‹, dachte ich, doch wenn man ein Leben lang sich Tag für Tag für seine Süchte und Gelüste rechtfertigen muss, gleicht jede Antwort einer Art von Verteidigung gegen einen primitiven Affront von Ross und Reiter.
››Die sind aber stark, solltest du wissen‹‹, sagte ich mit einer Warnung behaftet, die sich auch in meinem Gesicht widerspiegelte, und reichte ihr eine Filterzigarette, nicht ohne dabei kurzzeitig Edytas Hand zu berühren, als sie das todbringende Geschenk von mir entgegennahm.
››Danke sehr!‹‹
Ihre Hand fühlte sich erschreckend kalt an, sah jedoch leicht gebräunt und perfekt gepflegt aus. Edytas Haut war äußerst weich, womöglich bedingt durch permanentes Eincremen – jedenfalls war ihr Griff sanft, aber auch entschlossen genug für den Fall, man wollte ihr den heranwachsenden Taktstock arglistig entreißen.
››Puh, die sind aber stark‹‹, hustete sie nach dem ersten Zug und flehte unterschwellig um den sinnlosesten Satz auf Erden ›Hab' ich dir ja gesagt!‹, dem ich die schulmeisterlichen Ambitionen entzog, indem ich lediglich darauf antwortete:
››Mein Reden!‹‹
››Wollen wir sie uns teilen?‹‹ fragte Edyta mit flehenden Augen, wie ein Kind, das nach dem mächtigsten Eisbecher schielte, aber ihn vor der Nase wissend, schon mit dem ersten Bissen vollends gesättigt war und, bei genossener Erziehung, auch einsichtig sein konnte.
Und so stimmte ich ausnahmsweise zu, weil eine halbe Zigarette nur in den seltensten Fällen den Drang in mir nach Nikotin stillen konnte.
Also gaben wir uns eine Zigarettenlänge das Wort und den Glimmstängel von Hand zu Hand – ich rauchte und sie fragte, sie nahm einen Zug und ich antwortete.
›So kann das weitergehen‹, mochte ich gedacht haben, denn gegen das Rauchen war nichts einzuwenden, schließlich nahm es mir zu jeder Zeit die augenblickliche Anspannung. Durch fixe, mir angeeignete Inhalierabläufe, die ich schon im Schlaf verinnerlicht hatte, konnte ich meine äußere Handhabung beruhigend beeinflussen und meine eigene Geringschätzung anhand solch gezielter Manöver torpedieren. Und es war angenehm sich an etwas Vertrautem festzuhalten, wenn das Ungewisse, in Form von Edyta, mit den Waffen einer Frau so gewaltsam eine Herausforderung darstellen möchte.
››Ist das nicht ein wunderbarer Nachmittag?‹‹ gab sie mir zu verstehen, wenngleich sie einen mahnenden Blick auf die von mir ausgetretene Zigarette am Rand des Weges warf.
››Ja, unbestritten ist dieser Nachmittag eine Wohltat‹‹, meinte ich beiläufig, mir vordergründig meiner Straftat bewusst, indes ich kurzerhand an den Tatort der Umweltverschmutzung zurückkehrte, den Stummel aufhob und ihn, ein wenig angewidert, in die Gesäßtasche meiner Jeans steckte.
››Eines Tages wird die Natur es dir danken. Und solltest du von nun an stets aufmerksam deine Kreise ziehen, wirst auch du reichlich belohnt werden‹‹, plädierte sie in ihrem Mandat als Umweltbeauftragte auf nicht schuldig oder vorerst auf eine resozialisierende Maßnahme unter ihrer exquisiten Obhut.
››Ich werde mich bessern!‹‹ versprach ich Edyta, so wie ich ihr alles in diesem Moment versprochen hätte, denn sie hatte nicht nur die richtige Einstellung zum Umweltbewusstsein, sondern konnte auch mit ihrer milden, verständnisvollen Art mich und wahrscheinlich viele andere Menschen zum Guten bekehren oder wenigstens – als tatkräftige Sympathieträgerin – manch abgestempelten Unnachgiebigen um den Finger wickeln.
Ich fühlte mich allerdings nicht von ihr unter Druck gesetzt, auch wenn dies den Anschein machte – ich hatte es einfach gerne getan, zur ihrer und meiner Freude, doch hauptsächlich für Edyta.
Der Erdboden war durch die letzten trockenen Tage hart und staubig geworden, weshalb ich recht schnell Schwierigkeiten mit dem Gehen bekam, da ich, für einen derart ausgedehnten Spaziergang nicht vorbereitet, meine ansonst so bequemen Stiefel trug. Erst durch meine auftretende Problematik darauf aufmerksam geworden, fiel mir ins Auge, dass Edyta überhaupt keine Schuhe trug, was mich, bei genauerer Betrachtung, fast zum Stolpern brachte.
››Alles in Ordnung?‹‹ fragte sie mich schmunzelnd, und ich gestand ihr, nach einem davon ablenkenden furchteinflößenden Blick zurück auf die unebene Stelle, die ich zuerst für meinen grobgesteuerten Schritt verantwortlich machen wollte, dass der Fakt, sie würde barfuß laufen, mich aus der Konzentration auf meinen eigenen Laufstil gebracht hatte.
››Das ist äußerst angenehm und wohltuend für die Füße‹‹, beruhigte sie mich, und ich vernahm eine gut gemeinte Empfehlung daraus.
Doch alles, was mir dazu einfiel, als ich immer wieder grimmig dem Stein nachschaute, der mich aus dem Gleichgewicht bringen wollte, war:
››Das glaub' ich dir aufs Wort.‹‹
Ihre Füße waren makellos und genauso einheitlich gebräunt wie ihre Hände. Auf sämtlichen Schnickschnack, den man heutzutage anheften, bekleben, überstülpen, also all das, was einen Fuß verunstalten konnte, hatte sie verzichtet. Alles schien an Edyta pur zu sein – sie wollte sich gar nicht erst mit Schmuckrat zieren oder durch glitzernde Accessoires auffallen, die, ehrlich gesagt, sie auch bloß unglaubwürdig hätten wirken lassen, denn ihre wahre Natur hatte einen höheren Stellenwert und lag zuallererst im Verborgenen, sodass es an jedem selbst lag, ihr Innerstes ans Tageslicht zu locken, wenn man schon nicht dazu fähig war, sich im Dunkeln vorbehaltlos voranzutasten. Ich dagegen, mit meinen unzähligen Tattoos ausgestattet, kam mir neben Edyta wie eine frisch beklebte Litfaßsäule vor.
››Ist das deine Freundin auf deinem linken Unterarm?‹‹ fragte sie mich prompt, und ich musste einen Moment innehalten, konfus über ihre Fähigkeit Gedanken zu lesen.
››Das ist Sharon Tate‹‹, stotterte ich heraus und wollte ihr erklären, dass dies gewiss nicht meine Freundin sei, dass ich überhaupt keine Freundin hätte, doch sie unterbrach mich rascher als jegliche Erläuterungen meine Lippen verlassen konnten.
››Warum hast du dir eine tote Schauspielerin tätowieren lassen?‹‹
Ich wurde zunehmend unsicherer und nahm mir die nächste Zigarette aus der Schachtel hervor. Zu oft hatte ich schon diese Frage über mich ergehen lassen müssen, doch jedes Mal ging ich davon aus, eine plausible Erklärung abgeliefert zu haben. Edyta allerdings etwas aufzutischen, von dem ich nicht selbst zu hundert Prozent überzeugt war, hielt ich ausschließlich für töricht.
Sie grinste mich an und machte große Augen, mit freudiger Erwartung der Geschichte, die ich mir sogleich aus der Nase ziehen sollte. Ich nahm einen langen und intensiven Zug von der Zigarette und bot sie Edyta an, die aber diesmal salopp gestikulierend ablehnte.
››Ich denke, die Tragik, die Sharon Tate widerfahren ist, hat mich dazu bewogen, mir dieses Tattoo stechen zu lassen. Das, was passiert ist, macht mich traurig und nachdenklich, und ich möchte sie damit ehren, indem ich sie stets mit mir trage, als Symbol des Preises, den ein bedeutendes und öffentliches Leben einfordern kann.‹‹
Edyta hielt sich nun minutenlang zurück. Ich konnte spüren, dass sie mit meiner Antwort unzufrieden war. Und mit anhaltender Stille wurde auch ich unzufriedener, weil ich selbst nicht mehr wusste, warum Sharon Tate so eine offensichtliche Körperstelle von mir zierte, auf der sie eben mein ganzes Leben eingraviert sein wird. ›Soll ich ihr etwa gestehen, dass ich Sharon Tate einfach nur wunderschön finde?‹ Als triftiger Grund würde dies gewiss nicht ausreichen, und gleichzeitig müsste mich Edyta für naiv halten, was mich faktisch noch bis vor unseren erfolgreichen Start zurück katapultieren könnte, gleichbedeutend mit dem unmittelbaren Ende unserer sozialen Vermählung.
››Du bist einsam, nicht wahr?‹‹ versuchte Edyta als entscheidenden Grund festzumachen, und ich leugnete das nicht, sagte aber auch nichts zu meiner Verteidigung, weil ich sie spürbar im Unrecht lassen wollte und um mir die Zeit zu geben, über ihre Worte nachdenken zu können.
Dann zeigte sie auf den Mülleimer, der wenige Meter vor uns lag, und ich entsorgte, ihrem Hinweis folgeleistend, die heruntergebrannte Zigarette in ihm, sowie den beinah vergessenen Stummel in meiner Hosentasche, hätte Edyta meine angewiderte Miene von vorhin nicht kopiert, während sie gebannt auf den Stein des Anstoßes starrte.