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Als Zoe Collins mit 19 Jahren überstürzt in die große weite Welt des Musikzirkus Richtung Nashville aufbrach, dachte sie nicht, dass sie je wieder einen Fuß in ihr verschlafenes Heimatstädtchen Copper Creek setzen würde. Doch dann stirbt ihre geliebte Großmutter und hinterlässt ihr die Obstplantage, auf der Zoe ihr halbes Leben verbracht hat. Wie soll es von nun an weitergehen – welches Leben passt zu ihr: das als Backgroundsängerin, im Scheinwerferlicht zwar, aber doch immer im Schatten ihres Freundes und Bandleaders Kyle? Oder das auf den Pfirsichwiesen zwischen einer Kleinstadt und den Blue Ridge Mountains, umgeben von Menschen, die sie einst kannten? Zoe ist nicht mehr dieselbe – ihr Leben ist so ganz anders verlaufen als geplant … Schließlich lässt sie sich auf das Wagnis ein, die Plantage zu übernehmen. Aber ihr jähzorniger Freund Kyle ist alles andere als begeistert, steht doch ihre Band kurz vor dem ganz großen Deal. Außerdem fürchtet Kyle die Konkurrenz seines alten Rivalen, Zoes Jugendliebe Cruz. Wie weit würde Kyle gehen, um Zoe wieder zurückzuholen?
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Seitenzahl: 428
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DENISE HUNTER
Der Duftvon Pfirsichen
Roman
Aus dem Amerikanischen von Anja Lerz
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-96140-083-6
© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers First published under the title “Blue Ridge Sunrise”
© 2017 by Denise Hunter
Published by arrangement with Thomas Nelson, a division of HarperCollins Christian Publishing Inc.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Anja Lerz
Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers
Titelfoto: fotolia selenit
Satz: Brendow Web & Print, Moers
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
www.brendow-verlag.de
COVER
TITEL
IMPRESSUM
TEIL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
TEIL 2
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
TEIL 3
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
KAPITEL 41
KAPITEL 42
KAPITEL 43
KAPITEL 43
EPILOG
GRANNYS PERFEKTER PFIRSICHSTREUSEL
Niemals hätte Zoe Collins erwartet, dass sie je wieder einen Fuß auf die Straßen von Copper Creek setzen würde. Doch nun war das Einzige, was sie dazu hätte bewegen können, passiert.
Ein wenig wackelig auf ihren hohen Absätzen stieg sie aus dem dunklen Sedan. Brady, ihr Bruder, hakte sich wortlos bei ihr unter, während sie ihrem Vater über den gepflegten Friedhof folgten, der Grannys neue irdische Ruhestätte werden würde.
Sie atmete die Frühlingsluft tief ein und betrachtete die Berge und Tannenwälder, die sie umgaben. Copper Creek schmiegte sich in die hügeligen Ausläufer der Berge von Georgia. Manche mochten sagen, ein Besuch in dem Städtchen sei ein wie ein Ausflug in alte, einfachere Zeiten, aber für Zoe waren die Erinnerungen an zu Hause eine widersprüchliche Mischung aus Glückseligkeit und Jammer und Elend. Vor allem Jammer und Elend.
Ihr Freund, Kyle, war mit ihrer Tochter Gracie im Hotel geblieben. Zoes lange begraben geglaubte Trauer und ihre Schuldgefühle rangen mit dem überwältigenden Gefühl der Erleichterung darüber, endlich allein zu sein. Sie beschloss, sich auf Letzteres zu konzentrieren, und füllte ihre Lungen mit dem vertrauten süßen Duft der Heimat: Es roch nach Hyazinthen, Sonnenschein und Freiheit.
Als sie sich dem Zelt näherten, kam Zoes beste Freundin auf sie zu. Hope Daniels hatte sich kein bisschen verändert – mit ihrem dunklen, gewellten Haar und den funkelnden grünen Augen war sie immer noch eine Naturschönheit. Wenn sie lächelte, sah sie Rachel McAdams täuschend ähnlich. Aber heute war keine Spur ihres breiten Lächelns zu sehen.
Zoe löste sich von Brady, um sie zu begrüßen, und fand sich in einer Riesenumarmung wieder, wie nur Hope sie zustande brachte. Ein Teil Liebe, zwei Teile Boa Constrictor.
„Zoe.“
„Hey, Hope“, quetschte Zoe heraus.
„Es tut mir so leid, dass ich es nicht zur Trauerfeier geschafft habe.“
„Mach dir keine Gedanken. Es tut gut, dich zu sehen.“
Obwohl Hope das Rusty Nail eigentlich nur am Wochenende managte, hatte sie einspringen müssen, weil eine Grippewelle einen Teil der Angestellten aus dem Verkehr gezogen hatte. Ihre große Liebe galt dem Radio. Auf einem Lokalsender moderierte sie eine tägliche Talkshow namens „Living with Hope“, bei der Hörerinnen und Hörer anrufen und über ihre Probleme reden konnten. Dabei konnte sie ihren Abschluss in Psychologie gut gebrauchen, für den sie so hart gearbeitet hatte.
„Wie geht es dir?“
„Ganz okay, glaube ich.“
Hope ließ sie los. Zoe schaffte es, einmal tief durchzuatmen.
„Oh, ich habe dich so vermisst“, sagte ihre Freundin. „Fünf Jahre sind viel zu lang – und kaum ein Anruf“, schimpfte sie. „Aber macht nichts. Ich spare mir die Gardinenpredigt für einen besseren Zeitpunkt auf.“
„Das mit deinem Feingefühl wird immer besser. Gut gemacht.“
„Nicht wirklich. Wart‘s nur ab.“ Hopes Blick huschte zum Zelt hinüber. „Also, wo ist denn jetzt dieser süße kleine Engel, den ich endlich mal zu fassen bekommen will? Es ist wirklich ein einziges Elend, wenn man sich mit Facebook und Instagram begnügen muss.“
„Ich habe gedacht, eine Beerdigung sei vielleicht ein bisschen verwirrend für eine Vierjährige. Außerdem wollte ich auch nicht, dass sie Dad ausgerechnet hier kennenlernt, also habe ich sie bei Kyle gelassen.“ „Ich kann nicht glauben, dass du immer noch mit dem zusammen bist.“
Zoe legte den Kopf schief. „Und du wunderst dich, warum ich nie anrufe. Kyle war für uns da, Hope.“
„Lass uns später darüber reden. Angemessener Zeitpunkt und so.“
„Ich kann es kaum erwarten.“ Zoes Augen wanderten zum Zelt. „Ich finde es grässlich, dass ich nicht bei den Vorbereitungen helfen konnte. Wir konnten einfach nicht früher aus Nashville weg.“
Hope presste die Lippen zusammen. Offenbar unterdrückte sie den Impuls, einen weiteren Gedanken zu äußern. „Nun ja … du weißt ja, wie deine Großmutter war. Sie hatte schon alles soweit geregelt, Gott sei ihrer Seele gnädig. Viel war gar nicht zu tun. Wie geht es denn Brady heute? An dem Tag, als sie gestorben ist, war er völlig fertig.“
Zoe betrachtete ihren Bruder, der jetzt unter dem Zelteingang stand. Der schwarze Anzug passte gut zu seiner großen, stattlichen Erscheinung und den kurzen, dunklen Haaren. Er plauderte mit ihrem Vater, und sie versuchte, die beiden nicht um ihr entspanntes Verhältnis zueinander zu beneiden. Seit sie weggegangen war, hatte Zoe nur noch sporadischen Kontakt mit Brady gehabt – und mit allen anderen eigentlich auch.
Granny. Jetzt war es zu spät. Die Schuld drückte sie schwer. Aber sie schüttelte das Gefühl ab.
„Wie macht sich Brady seit der Scheidung?“, fragte Zoe.
Hope zuckte die Schultern. „Wie es zu erwarten war, glaube ich. Ich weiß nicht, wie er je mit dieser Frau zurechtkommen konnte, aber den kleinen Sam liebt er auf jeden Fall sehr. Alle zwei Wochen darf er ihn am Wochenende haben, weißt du.“
Während Zoes Abwesenheit hatte Audrey Brady verlassen und ihm zweifellos das Herz gebrochen. Noch eine Person, die sie im Stich gelassen hatte.
„Er wollte das Sorgerecht, aber Audrey ist dagegen vorgegangen und hat gewonnen. Ich könnte schwören, dass sie das nur aus Trotz gemacht hat.“
Nach allem, was Zoe über Audrey wusste, stimmte das womöglich. Aber sie wollte nicht mehr über ihren Bruder nachdenken. Das Thema kam einem Bereich zu nahe, den sie unbedingt vermeiden wollte.
„Wie geht es dem Hof, jetzt, wo Granny nicht mehr da ist?“, fragte sie.
„In den letzten paar Jahren hat sie kaum noch selbst die Aufsicht darüber geführt. Sie hat sich um die Einzelhändler gekümmert, aber davon abgesehen ist der Laden quasi wie von selbst gelaufen. Kein Wunder, bei all der Hilfe, die sie hatte.“ Hope öffnete den Mund, als wollte sie noch etwas hinzufügen, biss sich aber auf die Lippe.
Zoe schloss die Augen und konnte die Pfirsiche beinahe riechen, so kurz vor der Ernte. Konnte die samtweiche Haut spüren und das saftige, süße Fruchtfleisch schmecken. In ihrer Kindheit hatte sie jede freie Stunde auf der Plantage verbracht. Dort war es schöner gewesen als zu Hause, besonders, nachdem ihre Mama gestorben war. Sie hätte vor ihrer Abreise gerne noch ein paar stille Stunden dort verbracht. Schade, dass Kyle es so eilig hatte, nach Nashville zurückzukehren.
„Ich hätte nie gedacht, dass es ausgerechnet ihr Herz sein würde“, sagte Zoe.
„Ja, das stimmt. Sie wirkte fit wie ein Turnschuh. Gerade letzte Woche noch kam ich in die Scheune, und da stand sie hoch oben auf einer Fünf-Meter-Leiter. Ich habe sie gefragt: ‚Was machst du denn da oben, Granny Nel?‘, und sie antwortete: ‚Ich wechsele eine Glühbirne.‘ ‚Komm bloß da runter‘, habe ich gesagt, ‚du bist ja vier Meter hoch über dem Boden!‘ Und sie antwortete: ‚Was die perfekte Höhe ist, um diese Glühbirne auszuwechseln.‘“
Zoe grinste wehmütig. „Klingt ganz nach ihr.“
Reue wütete in ihr wie eine Sturmflut im Frühling. Zoe war von zu Hause weggegangen, weil sie geglaubt hatte, sie hätte Granny und alle anderen enttäuscht. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass ihr Weggang selbst die größte Enttäuschung überhaupt sein würde. Die Reue drohte, sie in die Tiefe zu ziehen, aber sie kämpfte darum, an der Oberfläche zu bleiben. Das tat sie häufig in letzter Zeit. Eines Tages würde sie den Kampf verlieren.
Hope drückte Zoes Unterarm. „Hey. Jetzt reicht es aber mit den traurigen Augen. Granny Nel hätte nicht gewollt, dass du ihretwegen heulst.“
Zoe blinzelte die Tränen weg und schaute von Hope zu den Autos, die immer noch eintrafen. Sie ließ den Blick über die Menschenmenge schweifen, während Hoffnung und Grauen in ihr um die Oberhand rangen. Schnell wandte sie sich wieder ihrer Freundin zu.
„Du hast recht. Erzähl mal, was hier so los ist. Wie geht es dir? Was habe ich verpasst?“
„Ach, du kennst doch Copper Creek. Hier ändert sich nicht viel. Ich mache immer noch meine Radiosendung und arbeite am Wochenende im Rusty Nail.“
„Du bist viel zu bescheiden. Ich habe im Internet einen Artikel gesehen, in dem stand, dass ,Living with Hope‘ immer beliebter wird. Du hast einen Preis gewonnen, oder?“
Hope antwortete mit einem Schulterzucken. „Ich liebe, was ich tue. Aber das ist nur ein Lokalprogramm.“
„Nicht mehr lange. Du bist auf einem guten Weg, meine Liebe.“
„Das werden wir sehen. Aber wie steht’s bei dir?“ Hope stupste sie mit dem Ellbogen in die Seite. „Vorprogramm für richtig coole Bands und so.“
Kyles Band, Brevity, war die Vorgruppe für einige berühmte Künstler gewesen. Das war schon etwas Besonderes gewesen, vor so einem großen Publikum aufzutreten.
„Na ja, ich bin ja nur Backgroundsängerin.“
„Also bitte! Dein Gesang ist umwerfend. Weißt du was, Last Chance spielt morgen Abend im Rusty Nail. Mit denen solltest du ein paar Lieder singen.“
„Oh, so lange bleiben wir aber gar nicht. Nach der Beerdigung fahren wir wieder.“
Hope schaute überrascht. „Machst du Witze? Du bist doch gestern Abend erst angekommen. Ich habe fast fünf Jahre darauf gewartet, dass du mal wieder vorbeischaust.“
„Tut mir leid. Wir haben einen Auftritt, für den wir zurückmüssen.“ Und so schön es auch war, wieder mit Hope zu reden und sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen − es gab auch andere Leute, die sie weit weniger gerne sehen wollte.
Die Nachzügler trudelten im Zelt ein, eine kleine Gruppe von Menschen in gedeckten Farben. Es war beinahe an der Zeit, anzufangen.
Sie drückte Hopes Hand. „Ich muss los. Wir reden später.“
Sie wandte sich um, strebte über den unebenen Weg zum Zelt und wäre beinahe gestolpert, als ihr Blick auf die Person fiel, nach der sie Ausschau gehalten hatte.
Cruz Huntley hatte noch nie besser ausgesehen. Sein frisches weißes Hemd bildete einen schönen Kontrast zu seiner puerto-ricanischen Hautfarbe, und die Anzugsjacke betonte seine breiten Schultern. Genau in dem Moment sah er auf. Der Blick aus seinen dunklen Augen durchbohrte sie förmlich.
Ihr Herz schlug wie eine Basstrommel in ihrer Brust, während sie seinem Blick einen langen, schmerzhaften Moment lang standhielt. Erinnerte er sich an die letzte Beerdigung, die sie zusammen besucht hatten? Und an alles, was sonst an jenem Tag geschehen war?
Seine Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln.
Sie riss sich los. Fixierte den weißen Sarg, der im Zelt aufgebaut war. Konzentrierte sich auf die Farbexplosion des Blumenschmucks, der auf dem Sarg arrangiert war. Schüttelte sich Cruz aus den Gedanken. Daran würde sie heute nicht denken. Mal davon abgesehen, dass sie ihn seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Mal davon abgesehen, dass er ihr einmal das Herz gestohlen hatte – nur, um es anschließend gründlich zu brechen.
Du bist ein dummes Gör, Zoe.
Im Zelt setzte sie sich auf einen Stuhl zwischen ihren Bruder und Dad. Sie versuchte, die Kälte, die ihr Vater ausstrahlte, zu ignorieren. Im Beerdigungsinstitut hatte sie versucht, ihn zur Begrüßung zu umarmen, aber er war in ihren Armen nur steif geworden. Sie war zurückgewichen. Seine Zurückweisung traf sie wie ein Stachel, der sich immer weiter in sie bohrte.
Dad war noch nie Grannys größter Fan gewesen. Seine Schwiegermutter war für seinen Geschmack viel zu munter gewesen und hatte Zoes Streben nach Unabhängigkeit nur bestärkt. Das war immer schon ein Streitpunkt zwischen den dreien, was nach dem Tod von Zoes Mutter nur schlimmer geworden war.
Aber sie würde jetzt nicht über der Beziehung zu ihrem Dad brüten. Heute ging es um Granny. Darum, sie zu ihrer letzten Ruhe zu betten.
Zoe leerte ihre Lungen und ließ den Gedanken sacken. Ließ zu, dass der Schmerz in ihrer Brust anschwoll, bis er sich nach außen Bahn brach. Als spürte er die Welle des Schmerzes, die sie überkam, drückte Brady ihre Hand. Sie drückte zurück.
Granny ist nicht mehr da.
Der Gedanke traf sie wie ein Vorschlaghammer, als Pastor Jack nach vorne ging, um ein paar letzte Worte zu sagen. Ihre Großmutter war nicht mehr da. Und mit ihr war auch die Liebe weg, die Zoe selbst aus der Ferne noch begleitet und gestärkt hatte.
Irgendwie fühlte sich das unwirklich an. Irgendwie hatte sie gedacht, Granny würde sie alle überdauern. Aber nichts hielt für immer. Nicht einmal die Liebe.
Weniger als fünf Jahre waren vergangen, seit Zoe ihn verlassen hatte, aber Cruz war sich nicht sicher, ob er sie auf der Straße erkannt hätte. In sich zusammengesackt, saß sie zwischen ihrem Bruder und ihrem Vater auf der Seite zum Grab hin unter dem Zeltdach. Ihr Haar, einst rotbraun, war jetzt blond, und ihre Naturlocken waren zu geschmeidigen Wellen gezähmt worden, die im Märzwind flatterten.
Cruz ging um die Grabsteine herum und gesellte sich zu der immer größer werdenden Gruppe der Besucher. Nachdem die Arbeit ihn länger aufgehalten hatte als geplant, war er verspätet zur Trauerfeier gekommen und hatte in der Kirche ganz hinten gesessen. Er hatte der Familie noch nicht sein Beileid ausgesprochen.
Einen Augenblick später begann Pastor Jack mit dem Bestattungsgottesdienst. Er sprach laut, damit seine Stimme auch diejenigen ganz hinten in der Menschenmenge erreichte. Nellie Russel war ein Liebling der ganzen Stadt gewesen. Eine resolute Frau mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Immerhin hatte sie ihm eine Chance gegeben, nicht wahr? Wo andere dachten, er sei nur einer von den vielen Verlierern aus dem falschen Stadtteil. Er hatte sie geliebt wie seine eigene Großmutter.
Der Gottesdienst war kurz, aber herzlich, und als er vorbei war, wartete Cruz, bis er an der Reihe war, der Familie zu kondolieren. Sein bester Freund, Brady, schien sich ganz gut zu halten; er akzeptierte die Beileidsbekundungen mit stoischem Lächeln und festem Handschlag. Das war ein harter Schlag für ihn, so kurz nach der Scheidung von Audrey.
Trotzdem war es Zoe, die immer wieder seinen Blick auf sich zog. Das Kinn gesenkt, die Augen niedergeschlagen. Zahm war das Wort, das einem in den Sinn kam. Nein, er hätte sie auf der Straße nicht erkannt. Was war mit seiner Löwin passiert? Seiner Leona? Er hatte das dumme Gefühl, dass er es eigentlich wusste.
Mit den Fingerknöcheln wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Sein Beschützerinstinkt erwachte. Wo war Kyle jetzt? Er sollte hier sein und ihre Hand halten. Das Trio war gestern in einem roten Mustang angekommen. Diese Neuigkeit hatte die Buschtrommeln zum Dröhnen gebracht: Die Rückkehr von Lokalheld und Lokalheldin war Tratschmaterial vom Feinsten.
Während die Leute nach und nach beiseitegingen, rückte er langsam, mit wild schlagendem Herzen, zur Spitze der Schlange auf. Fast fünf Jahre war es her, dass sie ihn gegen einen Traum eingetauscht hatte. Dass sie weggegangen und sein armseliges Schuljungenherz gebrochen hatte.
Sie war immer noch eine Schönheit mit ihrer makellosen Haut und der schlanken Figur. Sie hatte immer noch diese langen Beine, in die sie aber inzwischen hineingewachsen war. Sie war nicht mehr das schlaksige Fohlen von damals.
Genau in dem Moment schwangen ihre Wimpern nach oben, und der Blick aus ihren grünen Augen landete direkt auf ihm. Ein Volltreffer. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde ihr Gesichtsausdruck weich, teilten sich ihre Lippen.
Sein Herz zog sich zusammen, während ihm ein Dutzend Bilder durch den Kopf schossen. Zoe, die aus dem Fenster seiner Beifahrertür hing, das rote Haar wie eine stolze Flagge im Wind. Wie sie vom hohen Ufer von Sutter’s Bend sprang und ihr Freudenschrei die schwüle Sommerluft durchdrang. Wie sie ihm auf den Rücken sprang und sie über die Obstwiesen rannten, wo ihr Lachen wie das schönste Lied der Welt klang.
Er blinzelte die Erinnerungen weg und mit ihnen das Gefühl der Orientierungslosigkeit, das ihn kurz überwältigte, als Zoe wieder in sein Blickfeld kam.
In ihren Augen schienen jetzt die Rollos unten zu sein, und ihre Wimpern streiften ihre Wangenknochen, während sich auf ihren Lippen ein verkniffenes Lächeln bildete. Sie nahm die Beileidsbekundungen entgegen und machte Smalltalk.
Und dann war er an der Reihe.
Sie wandte sich ihm zu. Ihre Augen sprühten Funken, und ihr Kinn reckte sich. „Hallo, Cruz.“
Ah, da war sie, seine Leona. Warum sie allerdings sauer auf ihn zu sein schien, war ihm schleierhaft. Er ließ die Vergangenheit links liegen, während er ihre Hand umschloss. „Mein allerherzlichstes Beileid, Zoe. Sie war wirklich eine ganz besondere Frau.“
„Ja, das war sie.“ Ihre Stimme war wie Samt, weich und sanft, ihr Südstaatenakzent kaum noch hörbar. Ihre Augen wanderten überallhin, nur auf ihn fielen sie nicht.
Sie zog ihre Hand aus seiner.
„Granny Nel hat dich sehr geliebt, weißt du. Sie hat die ganze Zeit von dir gesprochen. Sie war sehr stolz auf dich.“ Er erwähnte nicht, wie sehr es ihn geschmerzt hatte, so häufig Zoes Namen hören zu müssen. Und das meist auch noch in einem Atemzug mit dem von Kyle.
Zoe blinzelte schnell und verschränkte die Arme vor dem Bauch. „Danke, dass du das sagst.“
„Brady hat mir gar nicht erzählt, dass du kommst.“
„Er wusste es noch nicht sicher.“
Cruz spürte, wie die Schuld an ihm nagte. Sie und ihr Bruder waren einst so eng miteinander gewesen. Es war Cruz‘ Schuld, dass nun ein Keil zwischen ihnen war. Seine Schuld, dass auch zwischen ihm und Brady ein Keil gewesen war. Es hatte Monate gedauert, ihre Freundschaft zu kitten, nachdem Zoe weggegangen war.
Seit der Sekunde, in der sie ihn verlassen hatte, hatte Zoe sich davor gefürchtet, Cruz wiederzusehen. Was nicht erklärte, warum sich ihr Herz bei seinem Anblick zusammenzog oder wie es kam, dass seine Berührung ihr einen Schauder über den Arm jagte.
„Wie ist es dir ergangen, Zoe?“
Sie hatte den rauen Klang seiner Stimme vergessen, vergessen, wie er ihr Innerstes zum Schwingen brachte.
„Gut. Ganz gut soweit.“ Sie wollte die bernsteinfarbenen Sprenkel in seinen braunen Augen wiedersehen, aber sie war gut darin geworden, den Blickkontakt mit Männern zu meiden. „Und du? Wie geht es dir?“
„Nicht schlecht. Nicht schlecht.“
„Das freut mich.“
Wenn es einen Preis für die langweiligste Unterhaltung des Jahres gab, waren sie die absoluten Favoriten.
„Gratuliere zu deinem ganzen Erfolg“, sagte er.
Sie fühlte sich nicht erfolgreich. Alles, was sie erreicht hatte, hatte sie einen hohen Preis gekostet. Und inzwischen war sie sich nicht mehr sicher, ob es das wert gewesen war. „Danke.“
Sie fragte sich, ob er sie je gegoogelt oder auf den Seiten der Band in den sozialen Medien über sie gelesen hatte. Gott wusste, dass sie sich dazu zwingen musste, nicht nach ihm zu suchen. Das hätte Kyle herausgefunden, und dann hätte es tierischen Ärger gegeben.
„Was hast du denn so gemacht?“, fragte sie.
„Entschuldigung, Zoe“, sagte Joe Connelly, der näher trat.
Angesichts der willkommenen Unterbrechung atmete sie die Luft aus, die sie unbewusst angehalten hatte.
„Es tut mir sehr leid, dass ich Sie unterbreche, aber ich habe einen Termin um 14 Uhr.“ Mit seinem penibel gebügelten Anzug und dem haarscharfen Scheitel sah Joe von Kopf bis Fuß aus wie der Anwalt, der er war. „Wir müssen noch einen Termin vereinbaren, um das Testament durchzusprechen.“
„Oh“, sagte Zoe. „Ich fürchte, wir fahren bereits heute ab. Ich muss zu einer Veranstaltung zurück. Ich dachte, Brady könnte sich vielleicht einfach um alles kümmern?“
Joe zog eine Grimasse und warf einen Blick auf die Uhr. „Sie sollten wirklich dabei sein. Hören Sie, ich habe um 16 Uhr noch eine Lücke im Kalender. Würde Sie das zu sehr unter Druck setzen? Ich weiß ja, dass Sie Zeit mit Ihrer Familie verbringen wollen.“
Sie hatte vorgehabt, Gracie ihrem Dad vorzustellen – nicht, dass der sie darum gebeten hätte. „Das passt mir gut. Ich sage Brady Bescheid. Danke, Joe.“
Er nahm ihre Hand. „Ihre Großmutter hat Sie sehr geliebt, Zoe. Daraus hat sie nie einen Hehl gemacht.“
Dumm nur, dass Zoe ihr diese Liebe nie wirklich gedankt hatte. Hinter ihren Augen begann es zu brennen, und ihre Kehle schnürte sich zu. „Danke.“
Mit einem letzten Nicken verabschiedete er sich.
Und erst da fiel ihr auf, dass auch Cruz gegangen war. Er war so schnell und leise verschwunden wie seine Liebe zu ihr.
Connelly Law Offices war so heimelig, wie solch ein Ort es eben sein konnte. Der Eingangsbereich und die Flure waren in einem warmen Braungrau gestrichen, an den Wänden hingen Landschaftsbilder von Georgia, und es roch nach frisch gedruckten Dokumenten und neuem Teppichboden.
Joe führte Zoe und Gracie mit Kyle auf den Fersen in einen Raum und sagte: „Ich bin gleich bei Ihnen.“
Ein rechteckiger Konferenztisch aus Mahagoni, dessen Tischplatte einige Kampfspuren aufwies, beherrschte das Zimmer.
Zoe zog Gracie hinter sich her, um sich zu ihrem Bruder an den Tisch zu gesellen. Dabei war sie sich Kyles dominierender Gegenwart und der Anspannung, die er mit in den Raum gebracht hatte, sehr bewusst.
Bradys Blick fiel auf Kyle, registrierte vermutlich sein langes, zerzaustes Haar und den nur scheinbar achtlosen Kleidungsstil, der viel mehr Zeit in Anspruch nahm, als man meinen mochte.
Die Wangen ihres Bruders wurden steinhart. „Was macht der hier?“
Kyle legte ihr eine Hand auf den Rücken. „Jemand muss dafür sorgen, dass Zoes Interessen gewahrt werden.“
„Und ich soll jetzt glauben, dass du das bist?“ Bradys Augen huschten zu Gracie, und sein Gesicht entspannte sich.
Zoe näherte sich ihrem Bruder, der aufstand, um seine Nichte zu begrüßen. „Das ist dein Onkel Brady, Gracie.“
„Hallo, Stöpsel.“
Gracie verbarg ihr Engelsgesichtchen in Zoes Hosenbein.
„Sie ist ein bisschen schüchtern“, sagte Zoe.
„Das ist schon in Ordnung. Wir werden uns später kennenlernen.“
Brady sah Zoe an. „Sie sieht genauso aus wie du damals. Diese roten Locken und die helle Haut.“
„Erinnerst du dich, dass ich dir von Onkel Brady erzählt habe, mein Schatz? Wie wir damals Würmer ausgebuddelt haben und am Bach angeln gegangen sind?“
Gracie linste blinzelnd zu Brady hinauf.
Sein Blick wurde weich. „Hey, Stöpsel. Du bist ja echt schon ziemlich groß.“
Ehe Zoe antworten konnte, fühlte sie den Druck von Kyles Hand auf ihrer Schulter. Sie ließ sich von ihm zu der gegenüberliegenden Tischseite führen, wo sie Platz nahmen.
Die Klimaanlage sprang an, und Gracie zitterte. Zoe schlang die Arme um ihre Tochter. Sie hätte dem Mädchen eine Strickjacke mitnehmen sollen. Warum nur konnte sie nie etwas richtig machen?
Stille breitete sich aus, und während Brady und Kyle sich musterten, umfing die Anspannung sie wie Nebel in einem Flusstal im Frühling.
„Nett, dass du dich dazu entschlossen hast, zu dem Teil des Tages, bei dem es um die Erbschaft geht, dazuzustoßen, Kyle“, sagte Brady. „Wo warst du vor zwei Stunden, als Zoe am Grab geweint hat?“
Zoe zuckte zusammen. „Brady.“
Fast unmerklich versteifte sich Kyle. „Ich habe auf Gracie aufgepasst, damit Zoe in Ruhe trauern konnte. Verurteile mich nicht. Du weißt nichts über uns oder unser Leben.“
„Und wessen Schuld ist das?“
„Deine, nehme ich mal an.“
„Zoe hat meine Anrufe immer beantwortet, bevor du sie verschleppt hast.“
Kyle lächelte selbstgefällig. „Ich habe sie nicht entführt. Sie ist aus freien Stücken mit mir gekommen. Vielleicht will sie einfach nichts von dir hören. Mal darüber nachgedacht?“
„Jetzt ist es aber mal gut“, sagte Zoe. „Das ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt.“
„In Ordnung.“ Joe brauste ins Zimmer wie ein willkommener Luftzug und setzte sich neben Zoe an den Kopf des Tisches.
Sie atmete erleichtert auf, als sich alle Köpfe ihm zuwandten. Das Blut war ihr ins Gesicht gestiegen, ihr war richtig warm geworden. Jetzt kam ihr die Luft abgestanden und stickig vor.
„Also, los geht’s“, sagte Joe. „Danke, dass Sie so spontan kommen konnten, noch dazu an einem so traurigen Tag. Ihre Großmutter war eine besondere Frau, und es war mir eine Ehre, ihre Angelegenheiten mit ihr zu ordnen. Sie hat Sie beide so sehr geliebt.“
Er schob seine Papiere zusammen und legte sie vor sich auf den Tisch. „Ihr Testament beginnt mit den üblichen Vorreden, in denen sie Sie beide als Erben benennt. Ich werde Sie nicht mit den Einzelheiten langweilen, aber meine Sekretärin macht Ihnen Kopien des Textes.“
Er schob sich die Brille höher auf die Nase und begann zu lesen.
Zoe hatte bereits Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, weil Kyle sich an ihrer Seite empört aufplusterte und Brady ihn wutentbrannt anstarrte. Der Juristenjargon klang nach einem großen Durcheinander und schluckte alles, was wichtig sein könnte – soweit sie das mitbekam.
Sie war erleichtert, als Brady sich zu Wort meldete. „Joe, würde es Ihnen etwas ausmachen, die Sache ein wenig abzukürzen? Ich meine es wirklich nicht böse, aber ihr Anwälte habt es wirklich drauf, die einfachsten Tatsachen kompliziert zu machen.“
Joes Lippen zuckten. „Gar kein Problem. Ist das für Sie denn in Ordnung, Zoe?“
„Natürlich.“
Joe faltete seine Hände auf dem Dokument. „Der Kern des Ganzen besteht darin, dass Ihre Großmutter wollte, dass Sie beide zu gleichen Teilen an ihren weltlichen Hinterlassenschaften Anteil haben. Aber sie war sich auch Ihrer unterschiedlichen Bedürfnisse und Interessen sehr bewusst.“
Er sah Brady an. „Brady, Ihnen hat sie ihre diversen Aktien und Rentenpapiere und Investmentfonds hinterlassen.“
„Granny hat auf dem Aktienmarkt gespielt?“, fragte Brady.
Joe gluckste. „Wie ein Profi. Sie hat früh angefangen zu investieren und ein ordentliches Portfolio zusammengestellt. Das hat es wirklich in sich.“
„Bravo, Granny“, sagte Brady.
„Ich kann die Details später mit Ihnen durchsprechen, aber sie wusste, wie gerne Sie mit Sportwagen arbeiten, und sie war sich bewusst, wie Ihre Scheidung Sie finanziell dastehen ließ. Sie wollte, dass Sie Ihre Arbeit fortführen, sich aber auch um Ihren Sohn kümmern können. Nun ist ausreichend Vermögen für all das vorhanden, und sollte Ihr Sohn eines Tages aufs College gehen wollen, wird auch dafür gesorgt sein.“
Brady nickte, seine Kiefermuskeln verspannten sich, und er senkte den Blick auf die Tischplatte.
„Wie gesagt, sie hat Sie sehr geliebt.“
„Ich hätte im Traum nie geglaubt, dass sie so viel Geld hatte“, sagte Zoe. „Sie hat so einfach gelebt.“
„Granny ging es eben nie um Dinge und Sachen“, erwiderte Brady.
Er hatte so recht. Granny hatte immer Zeit für sie gehabt. Immer ein offenes Ohr, immer eine Schulter zum Ausweinen.
Zoe tupfte sich die Augenwinkel. „Ihr ging es um Liebe.“
„Und darum, unabhängig zu sein“, sagte Brady. „Sie hat uns gelehrt, auf eigenen Füßen zu stehen. Erst letzte Woche noch habe ich sie dabei erwischt, wie sie den Hügel an der Straße mit dem alten Rasenmäher gemäht hat.“
Zoe schnaubte. „Ja, das klingt nach ihr.“
Joe sah Zoe an. „Ihre Großmutter ist im letzten Frühling beim Fünf-Kilometer-Lauf gestartet. Dem zugunsten der Krebspatienten. Und ist nicht einmal als Letzte durchs Ziel gerannt.“
„Tatsächlich ist sie irgendwo im Mittelfeld gelandet.“ Brady lächelte wehmütig. „Sie ist geradewegs an Bürgermeister Walters vorbeigezogen. Hat ihn bis auf die Knochen blamiert.“
Sehnsucht stieg in Zoe auf. Wie gerne würde sie Granny noch einmal sehen, nur ein einziges Mal. Mit ihr über die Obstwiesen gehen. Bohnen pulen auf der Veranda. Wie war es nur möglich, dass sie nicht mehr da war?
Sie lehnte eine Wange an den Kopf ihrer Tochter, während Bedauern sie durchströmte. Gracie hatte Grannys Liebe nur aus der Ferne kennengelernt. Zoe hatte ihre Tochter um so vieles betrogen.
Neben ihr rutschte Kyle auf seinem Stuhl herum und sah auf die Uhr. Langeweile dünstete in großen Wellen von ihm aus. Zoe wusste, dass er begierig darauf war, wieder unterwegs zu sein. Wieder ins Studio zurückzukehren, wo er das Sagen hatte und wichtig war.
„Damit wären wir bei Ihnen, Zoe.“ Joe schaute sie freundlich an. „Ihre Großmutter hatte so warme, herzliche Erinnerungen daran, wie sie mit Ihnen durch die Obstwiesen gestreift ist. Sie spürte Ihnen eine besondere Verbundenheit mit dem Land ab und obendrein eine unersättliche Neugier auf die Abläufe, die sie an ihren Ehemann erinnerte.“
Eine schreckliche Vorahnung überfiel Zoe, noch während die Worte Joes Mund verließen.
„Sie hat Ihnen die Plantage hinterlassen, Zoe. Die Obstgärten und das Bauernhaus, abzüglich ein paar persönlicher Dinge, von denen Sie später lesen werden. Sie hoffte, Sie würden nach Hause zurückkehren und das Unternehmen führen.“
„Was?“ Ihr Ausruf war mehr ein Schnappen nach Luft als ein Wort.
Kyle plusterte sich neben ihr auf. „Das ist lächerlich.“
„Trotzdem“, sagte Joe. „Nellie hat unerbittlich darauf bestanden, dass die Obstplantage an Zoe geht.“
„Dann wird sie verkaufen müssen“, sagte Kyle. „Sie hat schon eine Karriere und ein Leben, und zwar anderswo.“
Brady nagelte ihn mit einem Blick fest. „Das geht dich überhaupt nichts an. Du solltest nicht einmal hier sein.“
„Das geht mich wohl etwas an, verdammt noch mal.“
„Wir wollen uns alle ein wenig beruhigen“, sagte Joe. „Heute müssen keine Entscheidungen mehr getroffen werden. Lassen Sie uns die Zeit nehmen, das Ganze erst einmal etwas sacken zu lassen.“
Kyle stand auf. „Da gibt es nichts, was sacken müsste. Sie verkauft. Komm mit, Zoe.“
„War da … gibt es sonst noch etwas, Joe?“
„Nichts Wesentliches. Sheila wird Ihre Ausfertigung des Testaments für Sie an der Rezeption bereithalten.“
Kyle, der ein finsteres Gesicht machte, war bereits an der Tür. Der finstere Gesichtsausdruck war direkt an sie gerichtet.
Zoe stand auf und nahm Gracies Hand.
Brady sah aus, als würde er gleich von seinem Stuhl aufspringen. Joe hatte seine Hand auf Bradys Arm gelegt, als wollte er ihn festhalten.
Zoe sah Brady entschuldigend an. „Ich rufe dich später an.“
„Ich kann morgen nicht abfahren, Kyle. Ich habe hier Pflichten.“ Noch mit der Handtasche über der Schulter stand Zoe zwischen den beiden Hotelbetten. Er hatte nur einer weiteren Nacht zugestimmt, aber morgen war Samstag. Sie brauchte mindestens ein paar Tage mehr.
Zu Hause zu sein – in der Nähe von Brady und Hope und den Leuten, die sie liebten – hatte ihr irgendwie Mut geschenkt.
Oder vielleicht war es auch einfach nur Dummheit.
Gracie war im Auto eingeschlafen, und Kyle hatte kaum ein Wort gesagt, seitdem sie das Anwaltsbüro verlassen hatten. Im Hotel hatten sie eine weitere Nacht dazubuchen können und ihre Koffer wieder hineingeschleppt. Kyle hatte sich aufs Bett fallen lassen und zappte jetzt mit versteinertem Gesicht durch die Fernsehkanäle. Das halblange braune Haar, in das seine weiblichen Fans so verschossen waren, hing ihm über dem einen Auge.
Er bedachte sie mit schweigsamer Gleichgültigkeit. Das war seine effektivste Bestrafungsform. Zoe konnte es nicht leiden, ausgeschlossen zu werden, deshalb führte es immer wieder dazu, dass sie sich bei Kyle einschmeichelte und nachgab. Alles war besser als seine kalte Schulter.
Das Testament ihrer Großmutter hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht, aber Brady war auch nicht gerade hilfreich gewesen. Immerhin war Kyle heute nicht persönlich an Cruz geraten. Gott sei Dank war Kyle nicht mit zur Beerdigung gekommen. Er hätte sie nie gehen lassen, wenn er gewusst hätte, dass Cruz dort sein würde.
Diese Seite an ihm hasste sie. Die sture, wütende Seite, die ihr das Gefühl gab, einsam und hilflos zu sein.
Aber er hat auch eine gute Seite, dachte sie und erinnerte sich daran, wie er Gracie sanft auf das Doppelbett gelegt und sie dort sorgfältig zugedeckt hatte, als wäre sie seine eigene Tochter. Und er war großzügig. Er hatte die Gewinne ihres letzten Konzerts dem Sohn eines Bandkollegen gespendet, der gegen Leukämie kämpfte.
Sein Mitgefühl und seine Großzügigkeit waren es, die sie anfangs angezogen hatten. Er hatte sie unter seine Fittiche genommen und ihr Stabilität und Halt geboten, als sie selbst nichts anzubieten hatte. Als die Grundfesten ihres Lebens weggebrochen waren. Als sie sich festgefahren hatte und voller Angst gewesen war.
Er behandelte Gracie wie sein Eigen, und seine Zärtlichkeit ihrer Tochter gegenüber hatte ihn Zoe lieb gemacht. Aber als sich ihre Beziehung veränderte, mehr wurde, wurden auch seine Besitzgier und seine Manipulationen offensichtlicher. Am Anfang war sie seinen Fehlern gegenüber blind gewesen. Aber nun war sie nicht mehr blind.
Sie betrachtete ihn. Sah die angespannten Augenwinkel. Wenn sie ihn drängte, würde sie die Sache nur schlimmer machen. Aber sie mussten einige Entscheidungen treffen.
„Kyle, wir müssen darüber reden.“
In aller Ruhe drückte er den Kanalknopf auf der Fernbedienung.
„Es wird nur ein paar Tage dauern, das hier alles zu ordnen.“
Obwohl sie ehrlich gesagt nicht wusste, wie genau sie hier „alles“ ordnen sollte. Sie befand sich nun im Besitz einer Obstplantage, um Himmels willen. Was sollte sie nur damit anfangen? Der Gedanke daran, sie zu verkaufen, brach ihr das Herz.
Ihre Großmutter und ihr Großvater hatten diesen Betrieb mit ihren eigenen Händen aufgebaut. Großvater war gestorben, als Zoe noch klein gewesen war, und Granny hatte den Rest ihres Lebens damit verbracht, ihn zu einem erfolgreichen Unternehmen auszubauen.
Zoe konnte den Hof nicht verkaufen. So viel war sie ihrer Großmutter schuldig.
Aber sie konnte ihn auch nicht führen. Sie hatte ein Leben. Eins, zu dem viele Reisen gehörten und ein Freund, der niemals länger in Copper Creek bleiben würde. Schon gar nicht für einen Haufen Pfirsichbäume.
Würde Brady die Plantage haben wollen? Er hatte nie großartig Interesse am Familienbetrieb gezeigt. Seine Leidenschaft galt den Autos. In seinem Leben gab es weder den Raum noch den Wunsch nach Landwirtschaft.
Oder in ihrem.
Aber das stimmte nicht so ganz. Der Landbau lag ihr im Blut. Sie hatte die Obstwiesen immer geliebt. Da hatte ihre Großmutter schon recht gehabt. Selbst heute noch wachte sie manchmal mitten in der Nacht auf und vermisste den lehmigen Geruch der Erde, den Dunst des Morgentaus auf dem Gras, den Duft eines reifen, noch sonnenwarmen Pfirsichs.
Es war beinahe April. Die Erntezeit begann Mitte Mai. Selbst wenn die Plantage sich „praktisch selbst führte“, wie Hope gesagt hatte, würde doch jemand dort sein, Entscheidungen treffen und die Abläufe beaufsichtigen müssen.
Einen Moment lang gestattete sie sich, sich vorzustellen, sie wäre diese Person. Sie schloss die Augen, während ihr Atem ihren Körper in einem langen, entlastenden Atemzug verließ.
„Kyle … Ich werde mehr als nur einen Tag brauchen, um das hier zu klären. Wenn du abreisen musst, fahr schon vor. Ich komme dann in ein paar Tagen nach.“
Dem würde er nie zustimmen. Aber vielleicht würde der Gedanke daran, dass sie ohne ihn hierbleiben könnte, ihn ein bisschen flexibler machen. Mit Kyle zu sprechen war manchmal, wie Schach zu spielen.
Er schaltete zum nächsten Kanal um. Und zum nächsten.
Er brauchte ihr nicht zu sagen, was er von ihr erwartete. Wenn es nach ihm ginge, würde sie einen Makler anrufen und das Anwesen listen lassen. Die Angelegenheiten aus der Ferne lenken. Sich von Copper Creek und allen, die dort wohnten, distanzieren. Allein, ihn dazu zu bringen, die Reise zur Beerdigung mitzumachen, hatte sich angefühlt, als hätte sie einen Berg versetzen wollen.
Aber auf einmal wusste sie, dass sie nicht tun würde, was er wollte. Sie konnte all das nicht ungeordnet hinterlassen. Sie hatte Granny bereits einmal im Stich gelassen. Diesmal würde sie ihr gerecht werden – was auch immer das bedeuten würde.
Zoe sank neben ihm aufs Bett. Wenn er sie wenigstens anschauen würde. „Die Immobilienmakler haben jetzt sowieso geschlossen, und das bleibt auch am Wochenende so. Wir werden wenigstens bis Montag bleiben müssen.“
Sein Blick huschte zu ihr, dann wieder zurück zum Fernseher. Ein Schatten flog ihm übers Gesicht, als seine Wangenmuskeln zuckten.
„Wir könnten am Dienstag fahren und wären immer noch rechtzeitig zurück, um uns auf das Sommerfest vorzubereiten. Du hättest mehr Zeit mit deinen Freunden hier.“ Sie hatte immer noch keine Ahnung, was sie tun würde, aber sie musste sich mehr Zeit verschaffen. „Ich habe auch nicht darum gebeten, Kyle, aber ich muss jetzt irgendwie damit fertigwerden.“ Sie legte eine Hand auf seine und streichelte mit dem Daumen seinen Handrücken. Das besänftigte ihn immer. „Hab Geduld mit mir, ja?“
Seine Augen wandten sich ihr zu und blieben diesmal. Diese Augen, die wie blaues Feuer oder kalt wie ein Gletscher werden konnten. Jetzt gerade waren sie irgendwo dazwischen, und sie wusste, dass ihre Bemühungen Wirkung zeigten.
Er seufzte. „Schön. Aber Dienstagmorgen reisen wir ab.“
Das war ein riesiges Zugeständnis. Sie drückte seine Hand. „Danke, Kyle.“
Dennoch lag sie später noch stundenlang wach, während die Nacht langsam verrann. Sie erinnerte sich an den Klang von Grannys Stimme, die auf der Obstwiese vor sich hin summte. Erinnerte sich daran, wie sie mit Brady und ihr auf dem Boden gesessen und Spiele gespielt hatte, wie sie nie zu beschäftigt für sie gewesen war. Wie sie Zoe ermutigt hatte, als sie wegen Algebra hatte weinen müssen.
Und dann, wie immer, wenn sie sich an diese alten Zeiten erinnerte, kehrten ihre Gedanken zu Cruz zurück. Zu der Stärke, die sie in seiner festen Umarmung gefunden hatte. Der Liebe, die sie in seinen tiefbraunen Augen gesehen hatte. Dann erinnerte sie sich daran, wie sich sein Blick heute auf ihr angefühlt hatte, so warm und wehmütig, und ihre Tränen versickerten leise in ihrem Kopfkissen.
Zoe wusste nicht, wie sie sich von Kyle dazu hatte überreden lassen können, heute mitzukommen. Das Rusty Nail war brechend voll mit Leuten aus dem Städtchen, alle Plätze waren belegt, und an der Bar sammelte sich eine Menschenmenge. Der Duft gegrillter Burger hing schwer in der Luft und drehte ihr den Magen um. Rawley Watkins, der Sänger von Last Chance, schmetterte einen Countrysong über eine Verflossene.
Zoe schob ihren Teller zurück und half Gracie, an ihren Saftbecher zu kommen. Kyle saß am Tisch nebenan, wo er sich mit Axel Brown und Garret Morgan unterhielt. Mit stolzgeschwellter Brust beantwortete er ihre Fragen über sein Leben als Rockstar.
Sie blendete die Unterhaltung aus und sah zum hundertsten Mal zum Eingang. Ein paar Nachzügler kamen herein, niemand, den sie erkannt hätte.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Band auf der Bühne zu, wo gerade einer der Musiker ein mitreißendes Violinsolo zum Besten gab. Die Menge applaudierte, als das Solo endete und der Refrain wieder angestimmt wurde.
„Mama!“ Gracie streckte die Arme aus. „Heb mich hoch!“
Zoe hob ihre Tochter aus ihrem Kindersitz. „Bist du ganz satt, mein Schatz?“
„Ja.“ Gracie rieb sich die Augen mit ihren kleinen drallen Fingern, die Zoe zum Glück gerade saubergemacht hatte.
Die Band würde bald eine Pause einlegen, und Zoe hoffte, dass Kyle dann bereit zum Aufbruch war. Sie hatten dann zwar erst ein Set gespielt, aber Gracie musste ins Bett. Doch dem Fanclub nach, der sich langsam um Kyle scharte, würde es schwer werden, ihn hier herauszubekommen.
Brady kam mit ihren Getränken zurück zum Tisch, als die Band ihre erste Pause ankündigte. Hope schlängelte sich um die anderen Tische, wo sie sich immer wieder bei den Gästen nach ihrer Zufriedenheit erkundigte.
„Soll ich sie mal nehmen?“, fragte Brady mit einem Nicken in Gracies Richtung, die sich an ihre Schulter gekuschelt hatte.
„Mir geht’s gut.“
„Pause.“ Hope ließ sich auf einen Platz an ihrem Tisch fallen und hob eine Augenbraue, während sie Brady in Augenschein nahm. „Schickes Hemd, Collins.“
Brady schaute an sich hinab, während er eine Serviette anfeuchtete. „Auf das möglicherweise einer ein Bäuerchen gemacht hat. Vielleicht, vielleicht auch nicht.“
„Ach, lustige Farben stehen dir doch. Die heben deine Sonnenbräune hervor.“
„Genau das war mein Ziel.“
„Wo ist denn der kleine Sammy?“, fragte Hope. „Ich will kuscheln.“
„Mein Wochenende mit ihm ist kürzer ausgefallen als geplant. Lange Geschichte.“
„Das war ein tolles Set“, sagte Zoe. „Die Band ist noch besser, als ich sie in Erinnerung hatte.“
„Wir müssen dich da raufkriegen, Süße. Beim nächsten Set. Komm schon, bitte, bitte!“
„Du solltest das machen“, sagte ihr Bruder.
„Oh nein. Ich habe diese Woche frei.“ Beim Gedanken, vor all diesen vertrauten Gesichtern zu singen, wurde ihr Mund ganz trocken. Außerdem würde Kyle das nicht gefallen, und die Stimmung zwischen ihnen war so geladen, dass der Stromschlag einer Entladung einen ausgewachsenen Elefanten umgehauen hätte.
„Aber ihr solltet Kyle bitten zu singen“, sagte Zoe. „Der würde das wahrscheinlich machen.“
„Ernsthaft? Die Band würde eher ihren Auftritt beenden, als ihn auf die Bühne zu lassen.“ Hope stützte ihre Arme auf dem Tisch auf und beugte sich näher zu ihr. „Zoe, wann wirst du diesen Loser endlich verlassen? Der tut dir nicht gut.“
Brady hob seine Cola. „Weiter so, Hope. Recht hast du.“
Es war nichts, was Zoe sich nicht selbst schon Hunderte Male gesagt hatte. Sie und Kyle hatten mit „nur Freunde“ angefangen, aber jetzt war ihr Leben, ihr Lebensunterhalt, mit seinem verwoben. Und sie hatte nicht den Schneid, das aufzudröseln.
Hope legte ihre Hand auf Zoes Arm. „Komm nach Hause. Übernimm die Plantage. Du wirst eine Unterkunft haben – ein stabiles Zuhause für Gracie, in der Nähe deiner Familie.“
„Du hättest ein gutes Auskommen“, sagte Brady. „Und wir wären immer für dich da.“
Zoe weigerte sich zuzugeben, dass ihr genau das den ganzen Tag durch den Kopf gegangen war. „Hört auf, euch auf mich einzuschießen.“
„Du bist uns wichtig, Zoe“, sagte Hope. „Und uns gefällt nicht, wie er dich behandelt.“
Zoe schaute reflexartig zum Tisch nebenan, nur, um festzustellen, dass Kyle seinen Blick auf sie gerichtet hatte. Sie wusste, dass er ihre Unterhaltung nicht hören konnte, aber aufgrund der Art, wie er sie mit schmalen Augen fixierte, fragte sie sich, ob er nicht doch telepathische Fähigkeiten besaß.
Ein Schauder jagte ihr über den Rücken. Sie unterbrach den Blickkontakt und begann, mit ihrer freien Hand in ihrer Handtasche herumzuwühlen. Wonach sie suchte, wusste sie selbst nicht.
„Du bist anders“, sagte Brady. „Er hat dich von deiner Familie isoliert. Merkst du das denn nicht?“
„Was wird das hier, habt ihr euch gegen mich verschworen?“ Sie lief rot an, während sie weiter in ihrer Tasche kramte und schließlich einen Lippenpflegestift fand. Mit zitternder Hand rieb sie Gracies Lippen damit ein.
„Du brauchst ihn nicht“, sagte Hope. „Wenn du wegen der Band bei ihm bleibst, na, Last Chance würden dich sofort nehmen. Ich weiß, die sind nicht so groß wie Brevity, aber der Stil passt viel besser zu dir. Bitte denk darüber nach.“
„Du weißt, warum Granny dir die Plantage hinterlassen hat. Weil du hierhin gehörst. Weil du da schon immer hingehört hast. Du kannst sie nicht verkaufen. Willst du denn wirklich zusehen, wie das alles nicht mehr der Familie gehört?“
Auf einmal hatte Zoe es satt, gesagt zu bekommen, was sie tun sollte. Was sie denken sollte. Was sie fühlen sollte. „Hört auf, mich unter Druck zu setzen!“
Brady und Hope wechselten einen Blick.
„Wir wollen dich nicht unter Druck setzen, Süße“, sagte Hope und drückte ihre Hand. „Wir wollen nur dein Bestes.“
Zoe fühlte mehr, als dass sie es sah, wie die Eingangstür sich öffnete. Ihr Herz tat einen ordentlichen Schlag, als Cruz über die Schwelle trat und die Menschenmenge in Augenschein nahm. In seinem Karohemd und den abgetragenen blauen Jeans sah er aus wie der Traum eines jeden Landmädchens.
Zoe riss ihren Blick los und schob sich vom Tisch weg. „Ich gehe mit Gracie aufs Klo.“ Mit dem überraschten kleinen Mädchen an der Hand wich Zoe den Tischen aus, eilte den kurzen Flur hinunter und duckte sich in die Damentoilette, während ihr Herzschlag dem Rhythmus des lebhaften Lieds folgte, das aus den Lautsprechern dröhnte.
Cruz sah sich in dem gutbesuchten Restaurant um. Es war packend voll heute, wie immer, wenn Last Chance spielten. Seine Freunde hatten ihm versprochen, ihm einen Platz freizuhalten, aber weil er wusste, dass die Kellnerinnen heute kaum nachkamen, ging er erst einmal an die Bar, an der sich die Menschen aneinanderdrängten.
Sein Blick blieb an einer Frau hängen, die in die entgegengesetzte Richtung hastete. Es dauerte einen Moment, bis er Zoes schlanke Gestalt erkannte. Beim Anblick des Kindes an ihrer Hand ballte sich in seiner Magengrube eine Faust zusammen. Er schaute weg.
Diese letzten Wochen, bevor sie verschwunden war, fingen an, sich in lebhaften bunten Farben vor seinem inneren Auge zu wiederholen. Das altbekannte Ziehen in seiner Brust kehrte zurück, machte ihm das Atmen schwer. Er musste aufhören, an sie zu denken. Bald würde sie wieder verschwunden sein, genau wie beim letzten Mal, und er hatte keine Lust mehr, diese wunde Stelle seiner Seele pflegen zu müssen.
Als er an der Reihe war, bestellte er einen Drink und nahm Geld aus seinem Portemonnaie. Er war gerade dabei, den Geldbeutel wieder in seine Hosentasche zu stopfen, als sich die Härchen auf seinen Armen aufrichteten.
Überraschung, Überraschung. Eine Armlänge entfernt stand Kyle, der ihn mit einem schadenfrohen Funkeln in seinen kalten blauen Augen anstarrte.
Das Lied endete, und einige lange Herzschläge lang überwog das lebhafte Rauschen der Menschenmenge.
Kyle zog einen Mundwinkel hoch. „Huntley. Wie ich sehe, hängst du immer noch in dem Nest hier fest.“
Das sollte ein Gruß sein, aber der spöttische Tonfall und der selbstgefällige Gesichtsausdruck weckten in Cruz den Wunsch, ihm einen Kinnhaken zu verpassen.
„Jimmerson.“ Er täuschte Gleichgültigkeit vor, aber er konnte nicht anders, er musste gegenhalten. „Wie geht’s meinem Mädchen?“
Kyles Lippen wurden zu einem geraden Strich. Seine Nasenlöcher blähten sich. Muskeln, die wahrscheinlich in irgendeinem tollen Fitnessraum in irgendeinem schicken Hotel gestählt worden waren, traten vor, als er seinen Rücken durchstreckte.
Cruz war froh um die paar Extrazentimeter, um die er Kyle überragte, und hoffte wie verrückt, dass dieser Idiot den ersten Schlag tun würde. Lange genug hatte es ja gedauert.
Aber Kyle hatte wohl Angst davor, sich sein hübsches Gesicht kaputtzumachen. Als das nächste Lied losging, entspannte er sich langsam, und der angeberische Ausdruck kehrte zurück.
„Sie ist schon lange nicht mehr dein Mädchen, Huntley.“ In seinen Augen blitzte etwas Bösartiges und Gemeines auf. „Jetzt schläft sie in meinem Bett.“
Der Pfeil traf ins Schwarze. Die Worte bescherten Kyle eine eiskalte Gänsehaut und brachten gleichzeitig sein Blut zum Kochen. Seine Fäuste ballten sich.
Nur ein einziger Schlag, Gott. Um mehr bitte ich dich gar nicht.
Bevor Cruz über eine Antwort nachdenken konnte, griff Kyle nach seinem Bier und zwinkerte der attraktiven Barfrau zu. Grüßend hob er seine Flasche, bevor er davonstolzierte, und Cruz blieb zähneknirschend zurück.
Das war der längste Abend aller Zeiten, dachte Zoe, die Gracie auf ihrem Schoß noch einmal zurechtsetzte. Ihre Tochter war vor fast einer Stunde eingeschlafen, und Zoes Arm wurde langsam taub. Auch ihre Augen wurden schwer, aber Kyle hatte offenbar gar nicht vor, irgendwohin zu gehen.
Gleich nachdem sie von der Toilette wiedergekommen war, hatte er sich an ihre Seite gepflanzt und war nicht mehr von ihr gewichen. Sein Arm schlang sich enger um sie, und er drückte ihr noch einen alkoholgetränkten Kuss auf die Stirn. Ganz bestimmt war es nicht die Hinterwäldler-Mucke, die ihn hier hielt. Er wollte Cruz ihre Beziehung so lange unter die Nase reiben wie möglich.
Ihr wurde heiß, und ihr linkes Auge begann zu zucken. Cruz war zweifellos schon lange über sie hinweg, aber sie hasste es, das Bauernopfer in Kyles kleinen Psychospielchen zu sein. Mit jedem Tag, mit jeder Stunde, die sie länger in Copper Creek verbrachte, fragte sie sich, wieso sie eigentlich mit ihm zusammen war.
Sie atmete tief ein. Ihr eng gewordener Brustkorb dehnte sich spürbar. Der vertraute Duft von Kyles Rasierwasser war so unangenehm, dass es ihr den Magen umdrehte.
Ihr Blick wanderte ein paar Tische weiter, wo ihr Bruder mit seinen Freunden Jack und Noah zusammensaß und mit Noahs Frau, Josephine. Und Cruz. Der gehörte auch zu der Gruppe.
Als ihr auffiel, dass sie ihn anstarrte, schaute sie weg und konzentrierte sich auf den Sänger.
Sie erinnerte sich, wie damals die Samstagabende im Rusty Nails das Highlight der Woche gewesen waren. Als es einfach um eine Gruppe Freunde gegangen war, die redeten und lachten und echt waren. Jetzt kam ihr gar nichts mehr echt vor. Und sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann sie zuletzt gelacht hatte.
Was für ein Vorbild bist du Gracie damit eigentlich? Sie lehnte ihre Wange an die daunenweichen Locken ihrer Tochter.
Der Song endete mit einem schwungvollen Schluss, und das Publikum applaudierte und pfiff laut.
Hope trat ans Mikro, und der Lärm ebbte ab. „Vielen, vielen Dank! Ihr seid alle so großartig, und die Band freut sich sehr über eure Unterstützung. Also, heute Abend haben wir noch einen ganz besonderen Hochgenuss für euch. Bitte spendiert einen kräftigen Applaus für meine umwerfende … und talentierte … liebe Freundin …“
Oh nein.
„Zoe Collins!“
Zoe richtete sich auf. Sie errötete, als sich alle Köpfe nach ihr umdrehten. Neben ihr wurde Kyle steif. Irgendwie saß sie wie festgefroren auf ihrem Platz. Das Gewicht ihrer Tochter hielt sie an Ort und Stelle.
Aber dann hob Brady ihr Gracie aus den Armen. „Mach schon, Schwesterchen. Deine Fans warten.“
„Komm rauf hier, Süße. Zeig ihnen, was du draufhast. Helft mal mit, ihr alle! Sie braucht ein bisschen Ermutigung.“
Die Menschenmenge applaudierte nun lauter, Pfiffe durchbrachen den Applaus.
Zoes Herz wummerte in ihrer Brust, und ihr Lächeln fühlte sich so gespannt an wie eine Violinensaite. Sie musste da hoch. Was sollte sie sonst tun?
Sie mied Kyles Blick und stand auf. Das Publikum zeigte seine Zustimmung, indem es noch lauter wurde, während sie zur Bühne ging.
„Es ist ein paar Jährchen her“, sagte Hope ins Mikrofon, „aber ich glaube, an das hier wirst du dich im Handumdrehen wieder erinnern.“
Die Band stimmte das mitreißende Intro zu „Country Girl“ an. Zoe nahm das Mikrofon von Hope entgegen, die rasch die Bühne verließ.
Zoe und der Sänger lächelten sich an. Ihre Hände zitterten, aber sie klopfte mit dem Fuß den Takt, einen einfachen Four-on-the-floor-Rhythmus. Sie wechselte einen Blick mit dem Schlagzeuger, einem alten Klassenkameraden, der ihr ermutigend zunickte.
Rawley begann mit der ersten Strophe, und Zoe merkte, wie sich ihr Körper im Rhythmus der eingängigen Melodie bewegte. Die Bühnenscheinwerfer waren nicht so hell wie bei den Gigs, die sie sonst spielte. Sie konnte vertraute Gesichter erkennen, Freunde, die sie jahrelang nicht gesehen hatte. Sie lächelten und klatschten mit. Die Tanzfläche füllte sich, bis man sich kaum noch bewegen konnte.
Als der Refrain begann, hob Zoe das Mikro und fing an, die zweite Stimme zu singen. Sie wechselte Blicke mit Rawley und spielte mit der Situation. Das Lied machte Spaß, der Text war schnell, der Beat schmissig, und Zoe wurde einfach mit hineingezogen.
Als der Refrain zu Ende war, machte Rawley eine Handbewegung, und sie hob das Mikro und begann mit der zweiten Strophe. Ihr Herz wummerte, ihr war heiß. Aber die Worte fanden zu ihr zurück, als hätte sie sie nie vergessen, und eine Heiterkeit, wie sie sie seit Jahren nicht mehr verspürt hatte, füllte sie bis zum Bersten.
Das Publikum liebte einfach alles, es liebte sie, und obwohl ihr die Puste ausging, war die gute Laune ansteckend.
Als es wieder Zeit für den Refrain war, fiel sie erneut in die zweite Stimme. Ihre Stimme harmonierte mit Rawleys, als hätten sie das hundertmal geübt. Sie wackelte mit den Hüften und nickte mit dem Kopf und überließ sich ganz dem spielerischen Text.
Der Gitarrist begann sein Solo, und Rawley drehte sie, bis ihr schwindelig wurde. Der Bogen des Fiedlers flog nur so über die Saiten, und der Schlagzeuger trommelte einen gut abgestimmten Hintergrundrhythmus. Der Lead-Gitarrist lehnte sich zurück, während seine Finger den Hals der Gitarre bearbeiteten, und der Bassist wandte sich ihr zu, während er im Takt mit dem Kopf nickte.
Sie war es gewohnt, in einer Band zu singen, aber sie hatte sich noch nie so sehr wie ein Teil davon gefühlt. Ein letztes Mal schmetterten sie den Refrain, und Zoe merkte, dass sie sich wünschte, das Lied würde den ganzen Abend dauern.