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London 1529: Nach dem Tod seines Vaters erbt der vierzehnjährige Nick of Waringham eine heruntergewirtschaftete Baronie - und den unversöhnlichen Groll des Königs Henry VIII. Dieser will sich von der katholischen Kirche lossagen, um sich von der Königin scheiden zu lassen. Bald sind die "Papisten", unter ihnen auch Henrys Tochter Mary, ihres Lebens nicht mehr sicher. Doch in den Wirren der Reformation setzen die Engländer ihre Hoffnungen auf Mary, und Nick schmiedet einen waghalsigen Plan, um die Prinzessin vor ihrem größten Feind zu beschützen: ihrem eigenen Vater ...
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Zeit:34 Std. 44 min
London 1529: Nach dem Tod seines Vaters erbt der vierzehnjährige Nick of Waringham eine heruntergewirtschaftete Baronie – und den unversöhnlichen Groll des Königs Henry VIII. Dieser will sich von der katholischen Kirche lossagen, um sich von der Königin scheiden zu lassen. Bald sind die »Papisten«, unter ihnen auch Henrys Tochter Mary, ihres Lebens nicht mehr sicher. Doch in den Wirren der Reformation setzen die Engländer ihre Hoffnungen auf Mary, und Nick schmiedet einen waghalsigen Plan, um die Prinzessin vor ihrem größten Feind zu beschützen: ihrem eigenen Vater …
Rebecca Gablé studierte Literaturwissenschaft, Sprachgeschichte und Mediävistik in Düsseldorf, wo sie anschließend als Dozentin für mittelalterliche englische Literatur tätig war. Heute arbeitet sie als freie Autorin und lebt mit ihrem Mann am Niederrhein und auf Mallorca. Ihre historischen Romane und ihr Buch zur Geschichte des englischen Mittelalters wurden allesamt Bestseller und in viele Sprachen übersetzt.
Besonders ihre Romane um das Schicksal der Familie Waringham genießen bei Historienfans mittlerweile Kultstatus.
www.gable.de
REBECCA GABLÉ
DER DUNKLE THRON
Historischer Roman
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen.
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München
Copyright © 2011 by Rebecca Gablé Copyright der deutschen Erst- und Originalausgabe 2011 © by Bastei Lübbe AG, Köln Lektorat: Karin Schmidt Innenillustration: Jürgen Speh Karte: Helmut Pesch
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel, punchdesign, München Umschlagmotiv: © Illustration Johannes Wiebel, punchdesign eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-8387-1027-3
bastei-entertainment.de
lesejury.de
Dieser Roman ist
Ihnen
gewidmet.
Genauer gesagt, all jenen Leserinnen und Lesern, die mir mit Zuschriften, Appellen, Drohbriefen und auf vielfältige andere Weise zu verstehen gegeben haben, dass sie wissen wollen, wie es mit dem Geschlecht derer von Waringham weitergeht. Ich selber wollte es auch wissen – sonst hätte ich diesen Roman nicht schreiben können. Aber ohne Sie hätte ich mich vermutlich trotzdem nie dazu entschlossen, denn wie Sie vielleicht noch aus dem Nachwort vom Spiel der Könige wissen, hatte ich einige Bedenken. Meine Leserinnen und Leser waren es, die mich umgestimmt haben, und darum ist die Existenz dieses Buches nicht zuletzt Ihr Verdienst.
Danke schön.
Es folgt eine Aufstellung der wichtigsten Figuren, wobei die historischen Personen mit einem * gekennzeichnet sind.
Nicholas of Waringham
Laura of Waringham, seine Schwester
Jasper of Waringham, ihr Vater
Yolanda »Sumpfhexe« Howard, ihre Stiefmutter
Louise »Brechnuss« Howard, ihre Stiefschwester
Raymond of Waringham, ihr Halbbruder
Philipp Durham, Lauras Gemahl
Vater Ranulf, ein miserabler Seelsorger
Polly Saddler, die Magd
John Harrison, Nicks Cousin aus dem Norden
Madog und Owen Pembroke, Nicks walisische Cousins
Henry VIII.*, König von England
Mary Tudor*, seine Schwester
Katherine »Catalina« von Aragon*, Henrys Königin Nr. 1
Mary I.*, Königin von England, ihre Tochter
Anne Boleyn*, Henrys Königin Nr. 2
Elizabeth I.*, Königin von England, ihre Tochter
Jane Seymour*, Henrys Königin Nr. 3
Edward VI.*, König von England, ihr Sohn
Anna von Kleve*, Henrys Königin Nr. 4
Katherine Howard*, seine Königin Nr. 5
Katherine Parr*, Henrys Königin Nr. 6
Jane Grey*, Königin von England, Mary Tudors Enkelin
Thomas More*, Humanist, Jurist, Schriftsteller, Lord Chancellor und brillanter Kopf
Thomas Cromwell*, Reformer, Generalvikar der englischen Kirche, Privatsekretär des Königs und graue Eminenz
Charles Brandon*, Duke of Suffolk, Nicks Pate und Ehemann von Mary Tudor
William Kingston*, der Constable des Tower, der fast immer ein volles Haus zu versorgen hatte
Edmund Howard*, ein Scheusal, Vater von Königin Nr. 5
Thomas Howard*, Duke of Norfolk, sein Bruder
Jerome Dudley*, Nicks Freund
John Dudley*, Earl of Warwick und Duke of Northumberland, sein Bruder
Robin* und Guildford* Dudley, Johns Söhne
Eustache Chapuys*, Gesandter und Spion des Kaisers am englischen Hof
George Boleyn*, Viscount Rochford, Bruder von Königin Nr. 2
Jane Parker*, Lady Rochford, seine Frau
Lord & Lady Shelton*, Chamberlain und Erste Gouvernante in Prinzessin Elizabeths Haushalt
Edward Seymour*, Earl of Hertford und Duke of Somerset, der staatstragende Bruder von Königin Nr. 3
Thomas Seymour*, der leichtsinnige Bruder von Königin Nr. 3 und Ehemann der (verwitweten) Königin Nr. 6
Francis Dereham* und Thomas Culpeper*, zwei Galane der Königin Nr. 5 von zweifelhaftem Ruf
Richard Rich*, ein widerwärtiger Mensch, der König Henry gelegentlich mit einem Meineid aus der Klemme half
Margaret »Meg« Roper*, Thomas Mores Tochter und Vertraute
Margaret Pole*, Countess of Salisbury, Prinzessin Marys Patin
Janis Finley, Lehrerin aus Leidenschaft
Susanna Horenbout*, Malerin
Simon Fish*, ein Reformer mit Sendungsbewusstsein
Thomas Wolsey*, Kardinal, Lord Chancellor und Erzbischof von York
Richard Mekins*, ein sehr junger Reformer
Edmund Bonner*, Bischof von London
Thomas Cranmer*, Erzbischof von Canterbury
Stephen Gardiner*, Bischof von Winchester
Anthony Pargeter, Gemeindepfarrer in Southwark und Engel der Barmherzigkeit
Simon Neville, Prior von St. Thomas, Priester, Lehrer und Poet
»Waringham, du bist einfach hoffnungslos.«
Nick senkte den Blick. »Ich fürchte, Ihr könntet recht haben, Master Wilford.«
Das freimütige Bekenntnis besänftigte den Lehrer nicht. Er stemmte die Hände in die Seiten und betrachtete seinen Schüler mit einem missfälligen Kopfschütteln. »Du gibst dir nicht genug Mühe!«, warf er ihm vor.
Doch, dachte Nick, ich gebe mir Mühe. Wirklich. Aber es reicht einfach nicht.
»Steh nicht da wie ein Rindvieh!«, schalt Master Wilford. »Gib gefälligst Antwort. Oder hast du vielleicht nur Sägespäne im Kopf?«
Der junge Mann sah auf. »Ich habe getan, was ich konnte, Magister. Aber ich kriege diese griechischen Buchstaben nicht in meinen Schädel. Ich kann einen halben Tag lang vor dem Buch sitzen und versuchen, sie zu lernen – eine Stunde später sehen sie wieder aus wie Hühnertritte im Schlamm. Ich …«
»Du lässt es wieder einmal an Respekt mangeln.« Der erste drohende Unterton schlich sich in die Stimme.
Kein gutes Zeichen, wusste Nick. Trotzdem entgegnete er: »Wieso? Und wovor? Vor Euch? Ich mag ein Dummkopf sein, aber es steht nicht so schlimm um mich, dass ich nicht wüsste, welch ein kluger, gelehrter Mann Ihr seid. Ich habe Respekt vor Euch, Magister. Oder vor dem noblen Gegenstand Eurer Lektionen? Doch, ich habe auch davor Respekt. Aber es hilft nichts. Ich kann diese Buchstaben nicht lernen. Es ist genau, wie Ihr sagt: Ich bin ein hoffnungsloser Fall.«
Master Wilford war selbst dann eine etwas beunruhigende Erscheinung, wenn er glänzender Laune war, denn er hatte das ausgemergelte Gesicht eines Asketen und das flammend rote Haar seiner irischen Vorfahren. Wenn seine Miene sich verfinsterte, so wie jetzt, sah er aus wie ein sommersprossiger Totenschädel. »Das ist inakzeptabel! Du wirst mit deinen Studien nicht weiterkommen, wenn du des Griechischen nicht mächtig bist, also musst du es lernen. Wie willst du Aristoteles je lesen, wenn du diese lächerlichen vierundzwanzig Buchstaben nicht meisterst?«
Und was, wenn ich Aristoteles überhaupt nicht lesen will?, lag Nick auf der Zunge, aber er hielt sie ausnahmsweise im Zaum.
Sie führten ihren Disput auf Lateinisch. Als Nick vor zwei Jahren in dieses Haus gekommen war, hätte er nie für möglich gehalten, dass er die fremde Sprache je gut genug meistern würde, um sie so mühelos anzuwenden, denn er hatte schon damals gewusst, dass er für solcherlei Dinge nicht so begabt war, wie sein Vater es sich wünschte. Dennoch hatte er es geschafft. Und er war stolz darauf, gerade weil es so schwer für ihn gewesen war.
Hubert und Andrew, seine beiden Banknachbarn, beäugten ihn aus den Augenwinkeln, so als hofften sie, dass er irgendetwas Schlagfertiges, aber Unverschämtes von sich geben würde, das ihn in Schwierigkeiten und sie zum Lachen brachte. Das tat er gelegentlich, denn die meisten seiner Mitschüler waren ihm bei ihren Studien überlegen, und so war es der einzige Weg für Nick, sich zu behaupten. Er gab den Narren und nahm die Folgen klaglos hin, damit die anderen seine Verwegenheit bewunderten. Doch heute fehlte ihm die Lust zu diesem Spiel, und zum ersten Mal kam ihm der Verdacht, dass die Mitschüler ihn eher mitleidig belächelten, als ihn zu bewundern.
Er unterdrückte ein Seufzen. »Ich werde mir mehr Mühe geben, Magister«, stellte er in Aussicht, doch er hörte selbst, dass es ihm an Elan mangelte.
»Das kann ich dir nur raten«, brummte Master Wilford, und als er sich an Hubert wandte, hellte seine Miene sich auf. »Dann lies du uns die ersten beiden Zeilen vor und übersetze, Rudstone.«
Während Nick zurück auf seinen Hocker sank, schnellte der Sohn des Londoner Lord Mayor in die Höhe, als stünde der seine in Flammen. »Ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον, ὂς μάλα πολλὰ / πλάγχθη, ἐπεὶ Τροίης ἱερὸν πτολίεθρον ἔπερσε«, trug er vor, anscheinend ohne die geringste Mühe. »Den Mann nenne mir, Muse, den vielgewandten, der so weit herumgetrieben wurde, nachdem er Troja, die heilige Stadt, zerstört hatte.«
»Hervorragend«, lobte Master Wilford zufrieden.
Nick wandte den Blick zum Fenster und sah auf den Fluss hinab. Das ist einfach widerwärtig, dachte er. Musst du mir ständig unter die Nase reiben, wie leicht es dir fällt? Warte, bis wir allein sind, Rudstone …
Ein Boot glitt ans Ufer, und als Nick seinen Gastgeber und Förderer aussteigen sah, schämte er sich seiner missgünstigen Gedanken.
Sobald Master Wilford sie aus dem Schulraum entließ, lief Nick die Treppe hinab und ins Freie. Er beeilte sich, um Hubert und Andrew abzuhängen, denn er war nicht in der Stimmung, sich ihre Spötteleien anzuhören.
Es hatte aufgehört zu regnen. Nick umrundete das Gebäude und ging in den weitläufigen Garten hinter dem Haupthaus, der sich bis zur Flussmauer zog. Die Sonne brach zwischen den immer noch unheilvollen Wolken hervor und ließ die Tropfen auf den Blättern der Obst- und Maulbeerbäume funkeln. An der Ostseite des Obstgartens fand Nick eine Bank, wischte nachlässig mit dem Ärmel über die nasse Sitzfläche und ließ sich nieder. Einen Moment beäugte er das schwere Buch auf seinen Knien, als rechne er damit, dass es sich in ein gefräßiges Ungeheuer verwandeln könne. Dann schlug er es auf und blätterte ohne große Lust zu der Seite, die das griechische Alphabet einführte.
Er war bis Zeta gekommen, als eine Stimme ihn aus seinen Studien riss. »Vergebt mir, Sir …«
Er sah auf. »Ja?«
Ein altes Weib in Lumpen stand auf dem Kiesweg vor ihm, und sie stützte einen ebenso alten Mann, der sich offenbar kaum auf den Beinen halten konnte. »Es heißt, hier gibt es eine Armenspeisung?«, fragte die Alte.
Nick wies nach links. »Geht um das Haus mit dem Efeu herum, dann kommt ihr in den vorderen Hof. Die Suppenküche ist in dem strohgedeckten Gebäude auf der anderen Seite. Fragt nach Lady Meg Roper, sie gibt euch zu essen.«
Sie legte den Arm um ihren Gefährten und wollte sich abwenden.
»Wartet.« Nick stand von der Bank auf, klappte das Buch zu und wusste nicht, wohin damit. Wenn er es auf der feuchten Bank ablegte, war er ein toter Mann … »Denkst du nicht, der alte Knabe hier gehört in ein Hospital?«, fragte er die Gevatterin unsicher.
Sie schnaubte. »Da bringen sie ihn ganz sicher um. Nein, er braucht etwas zu essen. Dann wird er wieder.«
»Also gut. Ich bring euch hin. Komm, lass dir helfen.« Er zögerte noch einen Moment mit dem Buch in der Hand, als eine tiefe Stimme hinter ihm sagte: »Leih es mir, wenn du so gut sein willst, Nicholas. Geleite unsere Gäste zu meiner Tochter, und anschließend komm wieder her.«
Nick wandte sich um und verneigte sich. »Sir Thomas.« Was hatte dieser Mann nur an sich, dass man immer geneigt war zu denken: ›Dich schickt der Himmel‹? Mit einem erleichterten Lächeln legte Nick das kostbare Buch in die ausgestreckten großen Hände. »Ich glaube nicht, dass Ihr noch viel Neues daraus lernen könnt«, bemerkte er.
»Bei jedem Blick in ein jedes Buch kann man etwas Neues lernen, will mir scheinen, weil man nie derselbe Mann ist wie der, welcher letzte Woche darin gelesen hat. Oder?«
»Ich bin nicht sicher«, bekannte Nick.
»Dann denk nach, und wir reden darüber, wenn du zurückkommst.«
Nick legte den Arm um den entkräfteten alten Mann und brachte das Bettlerpaar in den vorderen Hof, wo reger Betrieb herrschte: Lieferanten, Bittsteller, Gelehrte, Juristen und Angehörige des großen Haushaltes bildeten ein buntes Menschengewirr.
»War er das?«, fragte die alte Frau, und vor Ehrfurcht senkte sie unwillkürlich die Stimme. »Der Gentleman im Garten?«
Der junge Waringham nickte. »Ja. Das war er.«
Sir Thomas More hatte einen Fuß auf die Bank gestellt, balancierte den dicken Folianten auf dem Knie, hatte die Arme darauf verschränkt und sah mit konzentriert gerunzelter Stirn zu einer Reihe mannshoher Königskerzen hinüber. Nick blieb zwei Schritte von ihm entfernt stehen und wartete. Er kannte diesen Gesichtsausdruck und wusste, es waren nicht die Blumen, die Sir Thomas so in ihren Bann geschlagen hatten, sondern irgendein Gedanke, den er verfolgte. Und da es sich bei Sir Thomas’ Gedanken in der Regel um Perlen frommer Weisheit oder aber um Ideen von staatstragender Bedeutung handelte, verhielt Nick sich möglichst still, um den Fluss nicht zu unterbrechen.
Scheinbar unvermittelt kehrte der Gelehrte in die Gegenwart zurück, richtete sich auf und klemmte das Buch unter den Arm. »Hast du Meg gefunden?«
»Ja, Sir. Sie war nicht übermäßig entzückt von den verspäteten Gästen, denn die Küche war aufgeräumt und die Töpfe geschrubbt, aber sie hat Brot und Blutwurst und Bier aufgetischt. Und sie hat gesagt, wenn der alte Mann die Pest oder das Schweißfieber hat, werden wir alle zugrunde gehen an Eurer Mildtätigkeit.«
Sir Thomas entblößte zwei Reihen großer, bemerkenswert gesunder Zähne in einem Lächeln, das man kaum anders als spitzbübisch nennen konnte. »Sie ist eine gute Seele, meine Meg. Sie fürchtet lediglich, dass ich es mit der Mildtätigkeit zu weit treibe und uns an den Bettelstab bringe. Sie denkt, es mangele mir an Vernunft.«
»Ich weiß, Sir.« Aber Nick war überzeugt, Lady Meg sorgte sich unnötig. Sir Thomas war in der Tat großzügig mit Almosen, aber er war auch reich. Und kein Mann, der den Blick für das rechte Maß je verlor.
»Komm, mein Junge«, lud er ihn nun ein, »lass uns ein Stück am Fluss entlanggehen.«
Eine Mauer trennte den Garten des Anwesens von den flachen Uferwiesen, und damit die häufigen Themse-Hochwasser nicht ungehindert hereinströmen konnten, führte eine kleine Treppe zu einem erhöhten Tor in der Mauer, eine zweite auf der anderen Seite wieder hinab.
Sir Thomas wandte sich nach rechts, wo der Uferpfad nach hundert Schritten in ein lichtes Wäldchen eintauchte. »Hier, nimm du das Buch wieder.« Er drückte es Nick in die Hände. »Vielleicht wird sein Gewicht dich überzeugen, dass es letztlich doch leichter ist, den Inhalt im Kopf mit sich herumzutragen.«
Nick nahm es bereitwillig, aber er antwortete nicht.
Sir Thomas warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, und unter den buschigen Brauen funkelte es belustigt. »Du weißt, dass Schweigen dem Gesetz nach als Zustimmung zu deuten ist, nicht wahr?«
»Ist das nicht ein törichtes oder gar gefährliches Gesetz?«
»Inwiefern?«
Nick überlegte einen Moment. »Nun, es gibt so viele Gründe, die einen zum Schweigen zwingen können: Loyalität. Das Gewissen. Das Bestreben, einen anderen zu beschützen. In solchen Fällen muss man schweigen, obwohl man gerne Widerspruch und Einwände erheben würde. Wenn das Gesetz aber sagt, Schweigen bedeutet Zustimmung, dann wird der Schweigende per Gesetz missverstanden.«
»In dem Fall muss er sein Schweigen vielleicht brechen. Loyalität, das Gewissen oder der Wunsch, einen anderen zu schützen, sind redliche und gottgefällige Motive, kein Zweifel, aber vor Gericht geht es in erster Linie darum, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Sagt also Jack vor dem Richter: ›John hat gesehen, wie Jim mein Schaf gestohlen hat‹, und John schweigt, wertet der Richter dies als Bestätigung, dass er den Diebstahl tatsächlich gesehen hat.«
»Was aber, wenn John von Jack bestochen wurde, in Wahrheit gar nichts gesehen hat und nur schweigt, um vor Gericht nicht die Unwahrheit zu sagen?«
»Dann ist auch sein Schweigen eine Lüge«, räumte Sir Thomas ein.
»Für die er nie zur Verantwortung gezogen wird, weil der Richter sein Schweigen als Zustimmung wertet, ohne der Sache auf den Grund zu gehen.«
»Hm«, machte der Gelehrte und nickte versonnen. »Du vergisst eine Kleinigkeit.«
Nick wusste, was er meinte. »Ja, sicher, Gott sieht die Lüge und wird den Zeugen zur Rechenschaft ziehen. Aber geht es bei einem Gerichtsverfahren nicht um irdische Gerechtigkeit?«
Sir Thomas hob eine knochige Hand und winkte seufzend ab. »Glaub einem Mann, der jahrelange Erfahrung mit irdischer Gerichtsbarkeit hat: Sie ist so unvollkommen, dass wir auf göttliche Gerechtigkeit niemals verzichten können. Denn unsere Gerichte, unsere Richter und Urteile sind so fehlbar wie die menschliche Natur, Nicholas.«
Er blieb stehen, um zwei Schmetterlinge zu beobachten, die in einem Klecks aus Sonnenlicht umeinandertaumelten, so als seien sie trunken vor Glück über die Rückkehr des Sommers nach den langen Wochen des Regens. Nick blickte zum Himmel auf und sah, dass die Freude der Schmetterlinge nicht lange währen würde. Der Sommer gab nur ein kurzes Gastspiel. Neue dunkle Wolken zogen von Westen heran, und nach wenigen Augenblicken verschluckten sie die Sonne wieder, verwandelten den leise murmelnden Fluss, der zu ihrer Linken durch die schmalen Birkenstämme schimmerte, in eine bleigraue Masse und den Schatten unter den Bäumen in bräunliches Zwielicht. Nick fröstelte.
»Du schweigst ja schon wieder, Nicholas«, zog Sir Thomas ihn auf. »Mir scheint, du bist niedergeschlagen.«
Der junge Waringham ging neben ihm einher und passte seinen von Natur aus raschen Schritt dem gemächlichen Gang seines Mentors an. »Nein, Sir Thomas. Nicht niedergeschlagen. Aber ich beginne zu ahnen, dass dieser gemeinsame Spaziergang kein Zufall ist und nichts Erfreuliches zu bedeuten hat. Das macht mich vielleicht ein wenig nervös.«
Sir Thomas blieb wieder stehen. »Wie kommst du darauf?«, fragte er neugierig.
»Ihr seid Richter, Gelehrter, Mitglied des Kronrats und Ratgeber sowohl des Königs als auch seines Lord Chancellor. Ihr habt so viele wichtige Dinge zu tun, dass der Tag niemals genug Stunden für Euch hat. Darum kann ich mir kaum vorstellen, dass Ihr zum Zeitvertreib meine Gesellschaft sucht.«
»Ich fände es bedauerlich, wenn der Eindruck entstanden wäre, dass ich eine Unterhaltung mit den studiosi meiner kleinen Schule für Zeitverschwendung hielte.« Es klang eine Spur pikiert. Und schuldbewusst.
Nick ließ Sir Thomas nicht aus den Augen, und er war beinah amüsiert über dessen Unbehagen, wenngleich sein Herz mit jedem Schlag schwerer wurde. Die dunklen Augen erwiderten seinen Blick unverwandt. Thomas More war ein großgewachsener Mann, aber Nicholas musste kaum mehr zu ihm aufschauen. »Von den zwölf studiosi Eurer ›kleinen Schule‹, wie Ihr sie zu nennen beliebt, wären elf klügere Gesprächspartner als ich, wie Ihr sehr wohl wisst, Sir.« Er senkte den Blick, denn er konnte das Lodern in Thomas Mores Augen nicht länger aushalten. Er räusperte sich und zwang sich fortzufahren: »Ihr wollt mich nach Hause schicken, nicht wahr?«
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. »Ja. Es ist so«, räumte Sir Thomas ein.
Nick biss die Zähne zusammen, weil ihm von dem gütigen Tonfall ganz elend wurde.
»Lass mich dir die Gründe erklären, mein Junge …«
»Oh, ich kenne die Gründe«, erwiderte Nick bedrückt. »Master Wilford hat völlig recht. Ich werde mit meinen Studien nicht weiterkommen, als ich jetzt bin. Ich habe einfach nicht das Zeug zum Gelehrten. Und es gibt zu viele Jungen in England, die einen Platz in Eurer Schule viel mehr verdient haben als ich.«
»Du hast mich unterbrochen und unterstellst, meine Gedanken zu kennen. Das ist ebenso ungehörig wie gefährlich.« Es war eine eigentümliche Mischung aus Strenge und Milde, die in der Stimme schwang.
Nick biss sich auf die Unterlippe. »Tut mir leid, Sir. Die lose Zunge ist ein Familienübel …«
Der Pfad schlängelte sich aus dem Schatten der Bäume und näher ans Ufer. Ein halb verfallenes Ruderboot lag mit dem Kiel nach oben im hohen Gras. Sir Thomas’ wadenlanger dunkler Mantel wurde feucht, als er Nick dorthin führte, auf dem Rumpf Platz nahm und den Jungen mit einer Geste aufforderte, es ihm gleichzutun.
Dann wandte er sich ihm zu. »Es mangelt dir nicht an Verstand. Aber ich stimme dir zu, wenn du sagst, dass du nicht zum Gelehrten geboren bist. Nicht alle Menschen können das sein, Nicholas, denn dann würden wir verhungern«, schloss er mit einem Lächeln.
Nick befingerte einen Splitter im spröden, gräulichen Holz des Rumpfes. »Ihr habt recht, Sir. Und obwohl ich diesen Ort und die Menschen hier vermissen werde, verspürt ein Teil von mir Erleichterung. Aber es wird eine bittere Enttäuschung für meinen Vater sein.«
Sir Thomas wiegte den Kopf hin und her. »Das glaube ich nicht. Ich denke eher, er wird dir hoch anrechnen, dass du zwei Jahre lang so hart gearbeitet hast. Er mag zerstreut und weltfremd sein, aber dennoch kennt er seine Söhne. Im Übrigen ist er der Grund, warum ich dich bitten will, nach Hause zurückzukehren.«
»Mein Vater?«, fragte Nick verwundert, und sogleich beschlich ihn ein grässlicher Gedanke. »Ist er krank?«
»Nein. Es ist schlimmer. Ich fürchte, dein Vater ist ein Ketzer.«
Nick antwortete nicht.
»Ich merke, das ist dir nicht neu.«
Der junge Waringham schaute verblüfft auf. Er glaubte, einen Tonfall strenger Missbilligung gehört zu haben, und als er Sir Thomas ins Gesicht sah, erkannte er, dass er sich nicht getäuscht hatte: Die Miene war untypisch sturmumwölkt.
»Er … er ist kein Ketzer, Sir«, widersprach Nick verlegen. »Nur weil er manchmal mit Lutheranern auf dem Kontinent korrespondiert, heißt das doch nicht …«
»Es ist besser, du sprichst nicht weiter«, unterbrach Thomas More, aber er klang wieder gütig, so wie Nick ihn kannte. »Was ich nicht gehört habe, kann ich vor keinem Gericht wiederholen, nicht wahr?«
Nick spürte einen eisigen Schauer seinen Rücken hinabrieseln, und das lag nicht daran, dass der Regen mit vereinzelten dicken Tropfen wieder einsetzte. »Mein Vater ist kein Ketzer«, wiederholte er mit mehr Nachdruck.
Sir Thomas nickte. »Wie alt bist du, Nicholas?«
»Vierzehn, Sir. Nächsten Monat. Am zweiundzwanzigsten.«
»Ah. An St. Andrew.« Sir Thomas lächelte flüchtig. Offenbar hatte er eine Schwäche für den Nationalheiligen der Schotten.
»Und der Jahrestag der Schlacht von Bosworth«, fügte Nick hinzu. Genau dreißig Jahre nach jener schicksalhaften Schlacht war er zur Welt gekommen.
»Ach, richtig«, murmelte Sir Thomas, der für Schlachten nicht viel übrig hatte. Darum fiel Nick aus allen Wolken, als der Gelehrte fortfuhr: »War es nicht dein Urgroßvater, der die gefallene Krone unter einem Dornbusch gefunden und sie dem siegreichen Henry Tudor aufs Haupt gesetzt hat?«
»So berichtet es unsere Familienlegende«, räumte Nick ein. »Ich bin nie sicher, ob ich es glauben soll. Wenn es stimmt, haben die Waringham jedenfalls nicht lange gebraucht, um vom Gipfel des Ruhms zu stürzen und in Bedeutungslosigkeit zu versinken.«
»Das verbittert dich?«
Nick dachte einen Moment darüber nach. »Nein«, antwortete er dann. »Verbitterung wäre ein zu großes Wort dafür. Es wundert mich. Vielleicht ist es mir ein wenig peinlich. Aber ich glaube, das ist alles.«
»Gut so«, lobte Sir Thomas. »Es beweist, dass du dich nicht um weltliche Eitelkeit scherst. Und ich werde einfach glauben, dass du diese Weisheit in meinem Haus und meiner Schule erlernt hast, und mich an dem Gedanken erfreuen.«
Du machst mich wieder einmal viel besser, als ich bin, dachte Nick unbehaglich, aber Sir Thomas hatte wie so oft eins seiner rhetorischen Zauberkunststücke aus dem Ärmel geschüttelt, sodass es praktisch unmöglich war, ihm zu widersprechen, ohne unhöflich zu sein.
»Vierzehn also«, nahm More den Faden wieder auf. »Ich hätte gedacht, mindestens sechzehn. Aber daran können wir nichts ändern. Du musst nach Hause gehen und ihn zur Vernunft bringen. Denn auf mich wird er nicht hören, fürchte ich.«
Nick schüttelte mutlos den Kopf. »Auf mich erst recht nicht. Die meiste Zeit vergisst er, dass es meine Geschwister und mich überhaupt gibt. Er … er lebt in einer völlig eigenen Welt.«
»Dann musst du ihn wachrütteln. Eh es zu spät ist.«
»Aber Sir …«, begann Nick abzuwehren, doch er verstummte, als Sir Thomas’ Hand wieder auf seine Schulter fiel.
»Du weißt, was er riskiert«, sagte Thomas More eindringlich und ließ den Jungen nicht aus den Augen. »Er muss Vernunft annehmen.«
Die Hand fühlte sich schwer an und so warm, dass sie Nick durch das Tuch seines Wamses hindurch zu verbrennen schien. »Aber … könnt Ihr ihn nicht beschützen, Sir Thomas? Ihr wisst doch, dass er harmlos ist. Und er ist Euer Freund.«
Thomas Mores Blick war voller Mitgefühl, aber ebenso unerbittlich. »Er ist mir teuer«, räumte er ein. »Aber kein Ketzer ist harmlos, Nicholas. Und kein Ketzer kann jemals mein Freund sein.«
Er war fußwund, müde und hungrig, als er kurz vor Einbruch der Dämmerung nach Hause kam. In aller Herrgottsfrühe hatte er ein Boot bestiegen, das ihn von Chelsea bis nach Tickham die Themse hinuntergebracht hatte, und von dort aus war er zu Fuß gegangen. Vielleicht zwanzig Meilen, schätzte er. Der Tag war verhangen und schwül gewesen, aber zur Abwechslung einmal trocken, und Nick hatte seine Wanderung durch Kent genossen. In den letzten zwei Jahren hatte er nie genug Bewegung gehabt, denn Gottesdienst und Schulunterricht hatten seine Tage bestimmt, und manchmal hatten seine Glieder sich so sehr danach gesehnt, sich zu strecken, zu rennen, zu fechten, zu arbeiten – irgendetwas zu tun, das ihm bewies, dass er nicht nur aus Geist, sondern auch aus Materie bestand. An manchen Tagen war ihm das Stillsitzen zur Qual geworden. Also war er gelaufen und hatte sich mit Wonne verausgabt, während seine Augen sich nach Herzenslust an den Wäldern und Wiesen, den Hügeln und Tälern und kleinen Flüsschen sattgesehen hatten.
Aber jetzt war er dankbar, dass er angekommen war. Er überquerte die alte Zugbrücke, trat durch das unbewachte Torhaus in den Innenhof von Waringham Castle und blieb wie angewurzelt stehen. »Oh, mein Gott …«
Ungläubig starrte er nach rechts zum alten Bergfried hinüber. Der viergeschossige steinerne Turm – einst das Herzstück der Burg, das ihren Bewohnern Wohnstatt gleichermaßen wie Sicherheit geboten hatte – stand schon lange leer. Nicks Großvater hatte noch eine Ritterschaft und eine Burgwache unterhalten, die das alte Gemäuer bewohnt hatten, und damals waren auch Küche und Vorratsräume, die Waffenkammer und gelegentlich sogar die Verliese in Betrieb gewesen. Das war lange her. Doch zumindest von außen hatte der alte Kasten immer noch so ausgesehen, als könnten die ruhmreichen Ritter von einst morgen wieder einziehen. Selbst diese Illusion war jetzt indes Vergangenheit: Der vordere rechte Eckturm war eingestürzt und hatte ein gutes Stück des Gemäuers mit in die Tiefe gerissen. Die Butzenfenster der Halle wiesen mehr rautenförmige Löcher als Scheiben auf, manche waren auch gähnende leere Öffnungen.
Der Bergfried von Waringham Castle war eine Ruine.
»Das Dach des Turms hat einfach nachgegeben unter dem Schnee letzten Winter«, sagte eine vertraute Stimme hinter Nicks rechter Schulter. »Die Balken müssen morsch gewesen sein.«
Er wandte sich um. »Laura …« Reglos sah er seine Schwester an, als sei sie eine Fremde, noch zu beschäftigt mit dem Schock, den der Anblick des Burgturms ihm versetzt hatte. Dann nahm er sich zusammen, machte einen Schritt auf sie zu und schloss sie in die Arme. »Was tust du noch hier? Ich dachte, du bist verheiratet?«
Für einen Moment schnürten ihre Arme ihm beinah die Luft ab. Dann ließ sie ihn los. »Bin ich auch. Aber wir leben hier. Jedenfalls fürs Erste. Die Sumpfhexe behauptet, Vater hätte das Geld für die Mitgift erst nach der nächsten guten Ernte. Und ohne die Mitgift kann Philipp sich nicht die Zulassung zur Gilde kaufen, die er braucht, um in London Handel treiben zu dürfen.«
Nick zog skeptisch die linke Braue in die Höhe, aber er gab keinen Kommentar. Lieber betrachtete er seine Schwester mit Muße. Die großen Augen, die seinen Blick voller Wärme erwiderten, waren so kornblumenblau wie seine, das Haar, das unter der vornehmen Giebelhaube hervorlugte, genauso flachsblond. Eine schmale Nase, flankiert von ein paar blassen Sommersprossen, eine hohe Stirn, ausgeprägte Wangenknochen, ein eher großzügig geratener Mund und ein energisches Kinn – Nick wusste, sie sahen sich ähnlich. Aber während diese Zutaten sich bei ihm zu einem unauffälligen Allerweltsgesicht zusammenfügten, war seine Schwester mit ihren siebzehn Jahren eine echte Schönheit geworden, stellte er fest, und die Erkenntnis machte ihn froh.
Er nahm ihren Arm und schärfte sich ein, nicht noch einmal zur Ruine hinüberzusehen. Erschütternde Anblicke konnte er im Moment nicht gebrauchen. »Komm, lass uns hineingehen. Ich sterbe vor Hunger. Wie steht es in Waringham? Alle gesund?«
Laura ließ sich willig zu dem großen Wohnhaus auf der Ostseite des Hofs führen. »Alle gesund und hoffnungslos klamm, wie üblich«, berichtete sie mit einem kleinen Achselzucken. »Brechnuss ist vom Pferd gefallen und hatte sich den Knöchel gebrochen, die Ärmste, aber inzwischen läuft sie wieder herum. So gut wie neu.«
»Schade«, knurrte Nick.
Er öffnete die Haustür, und aus der Küche zur Linken drang der Duft von geschmortem Fleisch. Nicks Magen knurrte vernehmlich. Seine Schwester betrachtete ihn mit einem missbilligenden Kopfschütteln, dann lachten sie beide und stürmten Hand in Hand die Treppe zur Halle hinauf.
»Was ist denn das für ein Gepolter?«, hörten sie das altvertraute Zetern aus der Halle. »Laura, was meinst du eigentlich …« Die Stimme brach abrupt ab, als Bruder und Schwester eintraten. »Nicholas! Was für eine wundervolle Überraschung.« Lady Yolanda Howard, die Countess of Waringham, offerierte ein strahlendes Lächeln. »Willkommen zu Hause!«
Nick trat zu ihr an den Tisch, legte sein kleines Bündel auf einen freien Stuhl und verneigte sich formvollendet, die Hand auf der Brust. »Madam.« Er lächelte nicht.
»Wie reizend, dass es dir nach zwei Jahren schon einfällt, uns zu besuchen«, bemerkte sie. Der Tonfall war trügerisch scherzhaft.
Es war verdammt lange her, dass Nick zuletzt darauf hereingefallen war. Er spürte den bitteren Zorn aufsteigen, der ihn beinah durch seine ganze Kindheit begleitet hatte, aber wenigstens hatte er gelernt, ihn nicht mehr zu zeigen. »Das hier ist kein Besuch«, stellte er klar. »Ist Vater da?«
»Natürlich. Aber ich denke, es ist besser, du störst ihn jetzt nicht. Er schreibt an einer neuen Abhandlung.«
»Worüber?«, fragte er, griff ungebeten in die Schale mit Nüssen und getrockneten Früchten, die auf dem Tisch stand, und stopfte sich eine Handvoll in den Mund. Um den ärgsten Hunger zu stillen, redete er sich ein. In Wahrheit jedoch, um seine Stiefmutter zu ärgern.
Sie ignorierte die Provokation und hob die Hände zu einer Geste der Hilflosigkeit. »Ich habe keine Ahnung, um ehrlich zu sein. Er schreibt so viele Abhandlungen über so viele Themen … Ich kann das unmöglich nachhalten.«
Nick wischte sich die etwas klebrige Hand am Hosenbein ab und wandte sich zur Tür. »Er hatte zwei Jahre Zeit, um zu arbeiten, ohne dass ich ihn hätte stören können. Ich nehme an, er wird es verkraften, wenn ich es jetzt tue. Wenn Ihr mich also entschuldigen wollt, Madam …«
Er verließ die Halle, ehe sie Gelegenheit hatte zu protestieren. Neben der geschlossenen Tür lehnte er sich für einen Moment an die Wand, legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Er hatte doch tatsächlich vergessen, wie es war, stellte er verwundert fest. Oder zumindest, wie es sich anfühlte. Diese tiefe Antipathie. Die verdeckten Sticheleien und Gemeinheiten. Der Groll. Und das schlechte Gewissen …
Als Laura acht und Nick fünf Jahre alt gewesen war, war ihre Mutter im Kindbett gestorben. Nach einer Woche war der Säugling – ein kleines Mädchen – ihr gefolgt. Nick hatte so gut wie keine Erinnerungen an seine Mutter. Er wusste, wie sie ausgesehen hatte, denn er besaß ein Porträt von ihr. Doch er argwöhnte, dass die Erinnerung an die sanftmütige blonde Frau und ihre streichelnden Hände, die sich einstellte, wenn er an sie dachte, eher dem Wunschtraum entsprach, den ein kleiner Junge sich von seiner toten Mutter erschuf, als der Wirklichkeit. Ganz genau entsann er sich hingegen der zweiten Hochzeit seines Vaters ein knappes Jahr später. Er hatte die Ankunft seiner neuen Mutter herbeigesehnt, denn er war erst sechs und brauchte dringend eine. Laura hatte ihn gewarnt. Lass uns erst einmal abwarten, hatte sie gesagt. Lass uns sehen, wie sie ist. Aber ihre Skepsis hatte seine Zuversicht nicht dämpfen können. Lady Yolanda hatte das indes im Handumdrehen vollbracht. Sie war honigsüß zu ihren beiden Stiefkindern, bis der Vater zum ersten Mal den Rücken gekehrt hatte. Da hatte sie sich offenbart. Es hatte keine Woche gedauert, bis Laura den wenig schmeichelhaften Spitznamen ersonnen hatte: Lady Yolanda stammte aus Yorkshire, wo es nach der Vorstellung der Südengländer nichts als schroffe Felsen, Heide und Sümpfe gab. Darum »Sumpfhexe«. Und als zwei Wochen später Yolandas leibliche Tochter nach Waringham gekommen war und alles erst richtig schlimm wurde, tauften Nick und Laura ihre Stiefschwester »Brechnuss«, weil das die giftigste Pflanze war, die sie kannten, und weil es außerdem so schön hässlich klang. Und dann hatten sie alles darangesetzt, »Brechnuss« das Leben so bitter zu machen wie deren Mutter das ihre …
Nick ging zu der Tür, die der Halle schräg gegenüberlag, und klopfte. Er wartete einen Moment, dann klopfte er noch einmal. Immer noch nichts. Kopfschüttelnd trat er ein.
Sein Vater saß mit dem Rücken zu ihm an einem Tisch gleich unter dem Fenster, vornübergebeugt, denn er war ein großer Mann und der Tisch eigentlich zu niedrig. In der Linken hielt er eine Feder einsatzbereit über einem halb beschriebenen Papierbogen, aber sein Blick war anscheinend auf das Buch gerichtet, das aufgeschlagen neben seinem rechten Arm lag. Der Luftzug von der Tür erfasste sein begonnenes Traktat und wollte es fortwehen, aber Lord Waringham erwischte es mit dem Handballen und hielt es fest. Er kam nicht auf die Idee, sich umzuwenden und zu schauen, was den plötzlichen Sturm in seiner Bibliothek verursachte.
Nick musste lächeln. »Entschuldige, Vater.«
Jasper of Waringham wandte den Kopf, und als er seinen Sohn erkannte, strahlte er, warf die Feder achtlos auf den Tisch und stand auf. »Nick!«
Er schloss ihn in die Arme, und Nick fühlte, wie dürr sein Vater geworden war. Das dicht gefältelte Wams mit den bauschigen Ärmeln verbarg diesen Umstand weitgehend, aber auch das Gesicht war hagerer geworden und tiefer gefurcht als früher. »Ich hoffe, du bist wohl?«, fragte der Junge besorgt.
»Natürlich.« Sein Vater schien verwundert. »Es ging mir nie besser.«
»Du wirst immer dünner.« Sie achtet nicht darauf, dass er vernünftig isst, argwöhnte Nick. Und er vergisst es einfach.
»Wirklich?«, entgegnete sein Vater desinteressiert. »Nun, wenn es so ist, bekommt es mir offenbar gut. Es ist so eine Freude, dich zu sehen, mein Junge. Was machen deine Studien? Wie geht es Sir Thomas? Hast du ihn etwa mitgebracht?«
Nick schüttelte den Kopf, nahm seinen Vater beim Arm und führte ihn zum Schreibtisch zurück. »Komm. Wir wollen uns setzen, ja?«
Lord Waringham schien halb erstaunt, halb amüsiert darüber, wie ernst und erwachsen sein Sohn mit einem Mal wirkte, aber er erhob keine Einwände. Auch nicht, als Nick sich einen Moment Zeit nahm, ihm einen Becher Ale einzuschenken und in die Hand zu drücken, ehe er ihm gegenüber auf dem Schemel Platz nahm, den sein Vater benutzte, um an die Bücher in den oberen Regalreihen zu gelangen. Drei Wände des Studierzimmers waren vom Boden bis zur Decke damit gefüllt: ein paar alte Manuskripte, die schon lange im Familienbesitz waren, die große Mehrzahl jedoch gedruckte Ausgaben aktueller Werke der Philosophie, Literatur und vor allem der Theologie, die in den letzten Jahren so viele Gemüter erhitzte, darunter auch Lord Waringhams.
Der unterbrach die Gedanken seines Sohnes mit der Frage: »Hat er dich rausgeworfen?«
Der unbekümmerte Tonfall überraschte Nick weit mehr als die Frage an sich. Er nickte und hob gleichzeitig die Schultern. »In gewisser Weise.«
»Was hast du angestellt?«
»Zur Abwechslung mal gar nichts. Aber ich bin nicht klug genug für seine Schule, Vater. Ich weiß das schon seit Langem. Eigentlich wusste ich das nach einer Woche. Ich habe getan, was ich konnte, aber beim griechischen Alphabet war alles vorbei.«
Sein Vater nahm es bei Weitem nicht so schwer, wie Nick befürchtet hatte. »Unser Alphabet zu lernen ist dir genauso schwergefallen«, gab Lord Waringham zurück. »Damals habe ich mir Sorgen gemacht. Ich fürchtete, mein Sohn sei ein Dummkopf.« Er lächelte zerknirscht. »Aber als du es schließlich gemeistert hattest, warst du gar nicht mehr von den Büchern fortzubekommen. Vor allem von den Artusgeschichten. Weißt du noch?«
»Ja. Aber das ist nicht …«
»Es ist die Fertigkeit des Lesens, die zu erlernen dir schwerfällt. Das ist alles. Ich werde Sir Thomas einen Brief schreiben und …«
Nick hob abwehrend die Linke. »Nein, Vater, warte. Meine mangelhaften Fortschritte sind nicht der einzige Grund, warum er mich nach Hause geschickt hat.« Er steckte zwei Finger in die kleine Innentasche der ärmellosen Schaube und zog den versiegelten Bogen hervor. »Hier.«
Jasper of Waringham streckte die Hand aus und warf seinem Sohn einen fragenden Blick zu, ehe er den Brief entgegennahm und das Siegel erbrach. Sein Gesicht gab nichts preis, während er las, doch er war merklich blasser geworden, als er den Brief in den Schoß sinken ließ, und seine Kiefermuskeln wirkten wie versteinert. »Weißt du, was darin steht?«
»Nein. Was schreibt er?«
»Er … er droht mir.« Er gab ein kurzes Schnauben von sich, das fast wie ein ungläubiges Lachen klang. »Mein alter Freund, Sir Thomas More, warnt mich mit großem Nachdruck vor den lutherischen Irrwegen, die ich angeblich eingeschlagen habe.« Er senkte den Blick wieder auf das Schreiben und las murmelnd: »›Ich schicke Nicholas heim, um Dich daran zu erinnern, dass Du für mehr als nur Dein eigenes Wohl verantwortlich bist, und weil ich, eingedenk meiner Position, den Sohn eines Mannes von zweifelhafter Gesinnung nicht in meiner Schule dulden darf.‹« Er schlug mit dem Handrücken auf das Schreiben, dass es knallte. »Was fällt ihm ein? Wann genau ist es passiert, dass aus dem größten Geist Englands ein frömmelnder, selbstgerechter Wichtigtuer geworden ist, der mit Scheuklappen durchs Leben geht?«
»Sprich nicht so von ihm!«, fuhr Nick auf.
Sein Vater starrte ihn verdutzt an. »Wie war das?«
Nick hob beide Hände zu einer versöhnlichen Geste. »Das ist er nicht. Er ist unerbittlich in Fragen des Glaubens und der Moral, das stimmt. Und er stellt zu hohe Ansprüche an die Menschen, weil er einfach nicht begreift, dass nicht alle so … standhaft und frei von Sünde sein können wie er. Ich glaube, seine Frau und seine Tochter finden ihn manchmal schwer zu ertragen, und das kann ich verstehen. Aber er ist ohne Zweifel der gütigste Mensch, dem ich je begegnet bin. Er ist in aufrichtiger Freundschaft um dich besorgt. Du seiest ihm teuer, hat er zu mir gesagt, und wenn er es sagt, ist es wahr. Also hör lieber auf ihn.«
Jasper of Waringham sah seinen Sohn mit leicht geöffneten Lippen an. »Du meine Güte«, sagte er dann. »Ich habe dich nicht zu ihm geschickt, damit du vernünftiger zurückkehrst, als ich es je war. Das schadet meiner Position.«
Nick musste grinsen. »Oh, keine Bange. Ich bin alles andere als vernünftig.«
Sein Vater erwiderte das Grinsen. »Das erleichtert mich. Was denkst du, gehen wir essen?« Er stand auf und legte den Brief auf dem Tisch ab.
Nick erhob sich ebenfalls, und eher unbeabsichtigt fiel sein Blick auf die letzten Zeilen des Schreibens. Vergiss John Oldcastle nicht, stand dort.
»Wer ist John Oldcastle?«, fragte er, während er seinem Vater zur Tür folgte.
»Hm?«, machte Lord Waringham zerstreut. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« Er trat auf den Korridor hinaus.
Sein Sohn seufzte. »Vater …«
»Nein, ehrlich, Nick, ich weiß nicht …«
»Dann werde ich es wohl nachlesen müssen«, brummte Nick vor sich hin. »Wenn ich in Sir Thomas’ Schule eins gelernt habe, dann das: Wie man was in welchem Buch findet.«
Sein Vater kapitulierte. »Oldcastle war der einzige Edelmann, der in England je wegen Ketzerei verbrannt wurde. Jedenfalls ist es das, was Sir Thomas mir sagen wollte, indem er den Namen erwähnte. Es soll heißen: Fühle dich nicht sicher, nur weil du der Earl of Waringham bist. Aber der Vergleich hinkt. Erstens bin ich kein Ketzer, und zweitens wurde Oldcastle ebenso wegen Verrats verurteilt. Er war ein … Sonderfall.«
»Sir Thomas sagt, Ketzerei ist Verrat«, bemerkte Nick.
»Ach wirklich? Und auf welche Argumentation stützt er diese abstruse juristische Theorie?«
»Ketzerei sei Verrat an Gott und ein schwereres Vergehen als alle gewöhnlichen Verbrechen, weil sie eine Korruption der Seele bedeute und darum bis in alle Ewigkeit wirke.«
»Ah.« Sein Vater lächelte stolz. »Gut aufgepasst, mein Sohn.«
»Hör auf ihn, Vater«, bat Nick noch einmal beschwörend. »Er hat recht, weißt du. Wir brauchen dich hier noch ein Weilchen.«
Lord Waringham nickte. »Wie ich bereits sagte: Ich bin kein Ketzer. Und jetzt komm. Lass uns essen.«
»Komisch. Ich hab gar keinen Hunger mehr.«
»Nick, Nick, du bist wieder da!« Raymond stand auf, rannte auf ihn zu und sprang ungestüm zu ihm hoch.
Lachend fing Nick seinen kleinen Bruder auf. »Ray! Du meine Güte. Du bist ein richtiger Kerl geworden.« Er stellte ihn wieder auf die Füße.
Raymond war sechs – das einzige gemeinsame Kind, das Lady Yolanda und Lord Waringham vergönnt gewesen war. Obwohl der Sohn seiner Mutter, vergötterten Nick und Laura den Kleinen, so wie jeder in Waringham es tat, aber ein Bindeglied zwischen seinen Halbgeschwistern hatte Raymond nicht werden können.
Lord Waringham nahm an der Seite seiner Gemahlin Platz, drückte kurz ihre Hand und trank einen kleinen Schluck Wein aus dem kostbaren Glas, das bereits für ihn gefüllt worden war.
Nick setzte sich ebenfalls und nickte seiner Stiefschwester knapp zu, die ihm gegenüber am Tisch saß. »Louise.«
»Nicholas.«
Mehr hatten sie einander nicht zu sagen.
Louise war ein paar Monate älter als Nick – ein hübsches junges Mädchen mit den großen dunklen Augen und dem schmalen Mund, die so typisch für die Howard waren. Das glatte braune Haar fiel ihr bis auf die Hüften, und von dem knochigen Backfisch, der sie bei ihrer letzten Begegnung gewesen war, war nicht mehr viel übrig. Teufel noch mal, dachte Nick, Brechnuss hat ein Paar richtige Titten bekommen. Fast könnte man meinen, sie sei ein echtes menschliches Wesen …
Lauras Gemahl Philipp betrat die Halle mit eiligen Schritten. »Zu spät wie immer«, kam er den Vorwürfen seiner jungen Frau zuvor und verneigte sich reumütig vor ihr. Dann wandte er sich lächelnd an Nick. »Bessy hat mir erzählt, dass du nach Hause gekommen bist.«
Nick stand auf und schloss seinen Schwager kurz in die Arme. »Woher in aller Welt weiß Bessy davon?«, fragte er. »Ich bin höchstens seit einer Stunde hier und hab sie nicht gesehen.«
Philipp hob die Schultern. »Du weißt doch, wie es ist.« Dann trat er einen Schritt zurück und betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. »Du siehst gut aus, Mann. All die Bücher haben dir nicht geschadet, scheint mir.«
Ehe Nick antworten konnte, bemerkte Lady Yolanda: »Denkst du, jetzt, da du dich entschlossen hast, zu uns zu stoßen, könnten wir bald anfangen zu essen, Philipp?«
Er tauschte einen vielsagenden Blick mit Nick und setzte sich an seinen Platz. »Ich hoffe, Ihr könnt mir noch einmal vergeben, Madam.«
Die Magd Bessy trug das Nachtmahl auf: eine große, flache Schüssel mit einem Gericht aus Reis, Sommerkräutern und Stockfisch. Mit ein paar leisen Worten hieß sie Nick willkommen, füllte die Teller und ging wieder hinaus.
Nick beugte sich über seine Portion und sog den aromatischen Dampf ein. »Hm. Ich habe seit Ewigkeiten keinen Reis mehr gegessen.«
Alle falteten die Hände, sein Vater sprach das Tischgebet, und dann langten sie zu.
»Der asketische Sir Thomas More lässt die Zöglinge seiner Schule doch hoffentlich nicht hungern?«, fragte Philipp.
»Ja, ich finde auch, du bist zu dünn«, fügte Laura hinzu und betrachtete ihren Bruder kritisch. »Aber auch zwei Köpfe größer als früher.«
Nick steckte sich einen Löffel Reis in den Mund, schloss einen Moment genießerisch die Augen und schluckte dann. »Nein, niemand muss in seinem Haus darben. Die Kost ist einfach – er gibt nichts auf italienische oder französische Küche –, aber gut und reichlich.«
»Und stimmt es wirklich, dass er ein härenes Gewand trägt?«, fragte Laura neugierig. »Und sich geißelt?«
»Was ist das? Ein härenes Gewand?«, wollte Ray wissen.
»Ein Hemd aus Ziegenhaar«, antwortete Nick.
»Aus einem Tuch, das aus Ziegenhaargarn gewoben wird«, verbesserte Philipp.
Nick wies mit dem Löffel auf ihn und riet seinem kleinen Bruder: »Hör auf ihn. Er ist ein Durham und weiß darum alles, was es über Tuche und Stoffe zu wissen gibt.«
»Und?«, fragte Louise. »Stimmt es nun, ja oder nein?«
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Nick, ohne sie anzusehen. »Ich hab ja nicht in seiner Manteltasche gewohnt. Wir Schüler bekamen ihn oft wochenlang nicht zu Gesicht. Ich weiß nichts über seine Lebensführung.«
Aber das war gelogen. Sir Thomas’ Tochter, Meg Roper, oblag die Aufgabe, das härene Gewand ihres Vaters zu waschen, und obwohl sie das in aller Diskretion tat, hatte Nick sie einmal bei dieser Arbeit erwischt, denn er hatte ein Schwäche für Lady Meg und sie manchmal aufgesucht, wenn er eine freie Stunde hatte, um mit ihr zu plaudern und ihr bei der vielen Arbeit zur Hand zu gehen. Und jeder, der auf dem Anwesen in Chelsea lebte, wusste, was Sir Thomas tat, wenn er zu später Stunde, meist im Schutz der Dunkelheit, in seine Kapelle ging. Man hörte die pfeifenden Schläge bis nach draußen. Doch es wurde niemals darüber gesprochen.
»Warum trägt man so was?«, fragte Ray wissbegierig weiter. »Ein … wie heißt das? Härenes Gewand?«
»Es kratzt und juckt. Fürchterlich«, antwortete sein Vater. »Wenn man es lange genug trägt, reizt es die Haut so schlimm, dass sie ganz wund wird und aufplatzt. Es soll die Seele reinigen, dem Körper Ungemach zuzufügen. Es ist eine Buße, verstehst du?«
»Nein«, bekannte sein Jüngster.
Lord Waringham streckte den langen Arm aus und zerzauste ihm lachend den Schopf. »Dann sind wir schon zwei …«
»Jasper, bitte«, zischte Yolanda.
»Man fragt sich jedenfalls, warum ausgerechnet der Mann, der niemals sündigt, sich solche Bußen auferlegt«, warf Philipp ein und lenkte das Gespräch damit geschickt zurück in ungefährliche Gewässer. »Mein Onkel Nathaniel sagt jedenfalls, Thomas More sei der einzige Richter in Westminster, der sich durch nichts und von niemandem bestechen lässt.«
»Ja«, stimmte Nick zu. »Das kann ich ohne Mühe glauben. Schon allein, weil ihm an irdischen Gütern nichts liegt. Wenn seine Frau und seine Tochter nicht auf ihn achtgäben, würde er vermutlich sein Hab und Gut verschenken und in Lumpen gehen.«
»Aber er hält prächtige Feste, hört man«, widersprach Lady Yolanda.
Nick hob die Schultern. »Ich schätze, er kann seine Stellung nicht gänzlich ignorieren. Von einem Mann in seiner Position wird dergleichen nun mal erwartet. Und ich glaube, er genießt es, mit Freunden zusammen zu essen und zu reden.«
»Stimmt es, dass auch der König hin und wieder zu seinen Festen kommt?«, fragte seine Stiefmutter.
Nick schob sich den letzten Löffel in den Mund und nickte. Er warf seinem Vater unter gesenkten Lidern hervor einen raschen Blick zu, aber dessen Gedanken waren wieder einmal abgeschweift. Lord Waringham saß an seinem Platz, die Augen auf einen Punkt rechts der Tür gerichtet, ein verhaltenes, höfliches Lächeln auf den Lippen und im Geiste weit, weit fort.
»Und hast du ihn einmal gesehen? König Henry?«, bohrte Yolanda weiter.
»Nur aus der Ferne.«
»Wie sah er aus?«, fragte Ray aufgeregt. »Hatte er seine Krone auf?«
Nick musste lächeln, hob seinen kleinen Bruder von dessen Stuhl und setzte ihn auf sein Knie. »Nein, Ray. Er sah irgendwie nicht so aus, wie du und ich uns einen König vorstellen. Er war ziemlich dick und er humpelte.«
Sein Vater war nicht so weit entrückt gewesen, wie Nick angenommen hatte, denn er sah ihn plötzlich wieder an und wiederholte: »Humpelte?«
»Er hat irgendein Geschwür am Bein, erzählt man in London«, hatte Philipp gehört.
Laura schnalzte mit der Zunge. »Haben die Londoner nichts Interessanteres, worüber sie sich die Mäuler zerreißen können?«
»Doch, Teuerste.« Ihr Gemahl neigte sich ihr verschwörerisch zu. »Aber das Wenigste davon kann man in Gegenwart von Damen wiederholen.«
Sie lachten, und wieder dachte Nick, welch ein Geschick sein Schwager besaß, Heiterkeit und Leichtigkeit zu verbreiten. Die Durham waren ein reiches, hoch angesehenes Ritter- und Kaufmannsgeschlecht mit gewaltigem Landbesitz im nahen Sevenelms, einem eigenen Themsehafen in Tickham und einer Londoner Niederlassung. Aber Philipp war der jüngere Sohn eines jüngeren Sohnes und musste deshalb selbst zusehen, wie er eine Lebensgrundlage für sich und seine Familie schuf. Seit vielen Generationen verband die Durham und die Waringham eine enge Freundschaft, und nachdem Laura und Philipp im Kindesalter verlobt worden waren, war er jedes Jahr für einige Monate nach Waringham gekommen, um ritterlichen Schliff zu erhalten. Nick war immer selig gewesen, wenn Philipp kam, und zu Tode betrübt, wenn er wieder fortging. Schon als Junge hatte Philipp Durham es verstanden, die Schatten fernzuhalten, die in Waringham in jedem Winkel zu lauern schienen.
Sobald die Teller abgetragen wurden, zog Lord Waringham sich für gewöhnlich in seine Bibliothek zurück, aber zur Feier von Nicks Heimkehr blieb er heute in der Halle sitzen und bat Bessy, ihnen noch einen Krug Wein zu bringen. Nachdem Ray unter erbitterten Protesten an der Hand der Magd zu Bett gegangen war, sprachen sie noch eine Weile über Nicks Zeit auf Sir Thomas’ Schule, doch der Junge merkte bald, dass das Thema alle bis auf seinen Vater langweilte, und darum bat er seine Schwester, ihm ihr neues Virginal vorzuführen.
Willig holte Laura das kleine Tasteninstrument herbei und stellte es auf den Tisch vor sich. Dann nahm sie wieder Platz, öffnete den kunstvoll mit Blumenranken und Vögeln bemalten Holzdeckel und begann zu spielen. Die Hämmer, welche durch die Tasten betätigt wurden, fielen auf unterschiedlich gestimmte Stahlsaiten und entlockten ihnen einen reinen Klang, der blechern und dem Ohr dennoch gefällig war. Laura hatte eine hübsche, glockenhelle Stimme und sang einige Frottole, die gerade so in Mode waren, wobei sie auf dem Virginal sowohl die Begleitung als auch die zweite Stimme spielte.
Nick lauschte ihr, ließ sich von der Musik verzaubern und sah sich dabei verstohlen in der behaglichen Halle um. Es war ein seltsames Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Alles kam ihm vertraut und gleichzeitig fremd vor. Von diesen Menschen hier war sein Vater der einzige, den er im Lauf der letzten zwei Jahre gesehen hatte, denn hin und wieder hatte Lord Waringham seinen alten Freund Thomas More besucht, bei der Gelegenheit nach seinem Sohn gesehen und ihn eingeladen, über Weihnachten oder Ostern heimzukommen. Nick hatte immer Gründe gefunden, um abzulehnen, denn sein Widerwille, seiner Stiefmutter und -schwester zu begegnen, war größer gewesen als sein Heimweh.
Er wandte langsam den Kopf und blickte zu Louise hinüber. Er war nicht überrascht zu sehen, dass sie ihn unverwandt anstierte; er hatte es schon seit geraumer Zeit gespürt. Mit einer spöttisch gehobenen Braue ergriff er sein Weinglas, hob es ihr entgegen und trank. Dann applaudierte er Laura, die ihr Virginal zuklappte und liebevoll über den Deckel strich.
»Seit wann hast du das?«, fragte er. »Du spielst großartig.«
»Es war ein Hochzeitsgeschenk von Philipps Onkel«, antwortete sie, und der verliebte Blick, den sie ihrem Instrument schenkte, brachte Nick zum Lachen.
Lord Waringham leerte sein Glas. »Das war wundervoll, Laura. Und wie steht es mit dir, Louise? Können wir dich überreden, uns ein paar Verse vorzutragen?« Er gab sich immer Mühe, seine Stieftochter genauso zu behandeln wie seine leiblichen Kinder, und schenkte ihr die gleiche Art von sporadischer, aber herzlicher Aufmerksamkeit. Nick hatte schon oft gerätselt, wie sein Vater in Wahrheit zu Louise stand, doch er hatte nie eine befriedigende Antwort gefunden.
Brechnuss lehnte glücklicherweise ab. »Heute Abend nicht, Vater, wenn du es nicht übelnimmst. Bloße Verse würden einfach zu spröde klingen nach den herrlichen Klängen dieses Virginals.«
Ihr Hohn perlte von Jasper ab, weil der ihn einfach nicht bemerkte. »Tja, es ist ein Glück für uns alle, dass wenigstens Philipps Onkel Geld für solch wunderbaren Firlefanz übrig hat.«
»Ah«, machte Nick. »Das heißt wohl, dass wir den Bergfried vorläufig nicht wieder aufbauen können, richtig?«
Seine Stiefmutter schnaubte. »Der Bergfried ist die kleinste unserer Sorgen.«
Nick ignorierte sie. »Wie schlimm hat es ihn erwischt?«
Lord Waringham schüttelte den Kopf. »Schlimmer, als man von außen sehen kann. Er ist eine Ruine, fürchte ich. Wer weiß, ob er nicht eines Tages einfach in sich zusammenfällt.« Sein Bedauern war unüberhörbar, aber, argwöhnte Nick, nicht so tief wie sein eigener Kummer über diesen Verlust eines so zentralen Teils ihrer Familientradition.
»Dein Vater hat mit den herabgestürzten Steinen des Eckturms das Fundament für eine neue Brücke im Dorf legen lassen, die alte war nämlich lebensgefährlich«, berichtete Sumpfhexe. »Wenn es nach mir ginge, dürften die Bauern den grässlichen alten Kasten als Steinbruch benutzen und ganz abtragen. Dann könnten wir den Garten vergrößern.«
Nick biss sich zu spät auf die Zunge. »Aber zum Glück geht es ja nicht nach Euch«, war heraus, ehe er sich hindern konnte.
Lady Yolandas ohnehin schon schmale Lippen wurden ein dünner Strich. »Kaum zu Hause, schon wieder ganz der Alte …«
Ja, du hast mir auch gefehlt, Sumpfhexe, dachte Nick wütend. Er stand auf. »Entschuldigt mich. Ich bin völlig erledigt. Gute Nacht.«
Sein Vater erhob sich ebenfalls und reckte sich verstohlen. »Zu Fuß von Tickham bis nach Waringham, so etwas Verrücktes habe ich noch nie gehört.« Zu dem kleinen Schlagabtausch zwischen seiner Gemahlin und seinem Sohn äußerte er sich nicht, so wie meistens. »Warum hast du dir dort keinen Gaul geliehen?«
»Ich war ganz dankbar für den Fußmarsch.«
»Oh, gewiss doch«, murmelte Louise vor sich hin. »Es hatte bestimmt nichts damit zu tun, dass er Angst vor Pferden hat.«
Nick erwachte vor Tagesanbruch, denn sein Körper war noch an den Rhythmus seines Schulalltags gewöhnt, der stets mit einer Messe vor dem Frühstück begonnen hatte. Er drehte sich auf den Rücken, sah in den grünen Baldachin seines Bettes hinauf und genoss das Gefühl, nicht sofort aufstehen, die Trägheit seiner Glieder überwinden und seinen Geist schärfen zu müssen. Er war gern zur Schule gegangen. Er hatte viel Spaß mit seinen Mitschülern gehabt, und er hatte sogar die meisten der Lehrer gemocht. Alle waren sie anspruchsvoll gewesen, manche furchtbar streng, und sie hatten mit der Rute nicht gerade gegeizt, zumal Sir Thomas ja bekanntermaßen die Auffassung vertrat, dass es dem Seelenheil zuträglich sei, das schwache Fleisch zu züchtigen. Aber nicht einer unter ihnen war ein grausamer Schinder gewesen, wie es sie so zahlreich in so vielen Schulen gab. Sir Thomas hatte sie mit Sorgfalt und Klugheit ausgewählt, und allesamt waren sie großartige Gelehrte. Nick hatte das Privileg immer zu schätzen gewusst, das ihm zuteil wurde. Aber zwei Jahre, fand er, waren lange genug. Hubert Rudstone und ein paar der anderen würden vermutlich vier oder fünf Jahre in Sir Thomas’ Haushalt bleiben, um dann nach Oxford oder Cambridge zu gehen, aber da Nick von Anfang an gewusst hatte, dass das nicht sein Weg war, hatte ihn in den letzten Monaten immer häufiger das Gefühl gequält, dass er seine Zeit vergeudete. Denn wo sein Weg lag, wusste er nicht, und er fand, es sei höchste Zeit, es herauszufinden.
Er rollte sich aus dem Bett, wusch sich Gesicht und Hände in der Schüssel auf der Kommode unter dem Fenster, fuhr sich ohne erkennbaren Erfolg mit dem Hornkamm durch den kinnlangen blonden Lockenschopf, und während er sich anzog, hielt er Zwiesprache mit seiner Mutter.
»Vermutlich ist es dumm, dass ich mir darüber den Kopf zerbreche, oder?«, fragte er das Bildnis, das neben seinem Bett an der holzgetäfelten Wand hing, und schnürte das Hemd zu. »Ich werde der nächste Earl of Waringham sein, und wenn man das ein bisschen ernster nimmt als mein zerstreuter Vater, ist es vermutlich Lebensaufgabe genug.«
Die schöne, hellhäutige Frau mit dem weißen Kleid und dem rötlich blonden Haar unter der Haube zeigte ihr ewig gleiches, verhaltenes Lächeln. Ihre blaugrauen Augen schienen den Blick des Betrachters direkt zu erwidern und folgten ihm, ganz gleich in welchen Winkel des Raumes er ging. Wäre es nicht seine Mutter, dachte er manchmal, hätte dieser durchdringende Blick ihn vermutlich beunruhigt. Aber so erwiderte er ihn ohne Unbehagen.
Über das Leinenhemd streifte Nick das blaue Wams mit den gefältelten Ärmeln, das ihm bis auf die Oberschenkel reichte. Dann stieg er in die Hose, deren Beine eine Handbreit oberhalb des Knies weit und bauschig wurden, was sie wunderbar bequem machte. Mit Schnüren an der Seite wurde die Hose innen ans Wams genestelt, damit sie hielt.
»Wenn ich mir richtig viel Mühe gebe, könnte ich vielleicht sogar das Eis brechen und in den Dienst des Königs treten. Wie fändest du das?« Er schnallte den schmalen Ledergürtel um. Die ärmellose Schaube, die die Oberbekleidung vervollständigte, war vorne offen, aus dunkelblauem Samt und hatte einen breiten Kragen. »Ich meine, wie lange sind wir jetzt in Ungnade? Zehn Jahre? Das ist allmählich genug, oder? Und was immer der Grund war, der König kann nicht allein schuld gewesen sein. Ganz gleich, was Vater über ihn denken mag … Nicht, dass ich wüsste, was er über ihn denkt, aber du verstehst schon, was ich meine. Sir Thomas jedenfalls ist voller Verehrung für den König. Und ich schätze, sein Urteil ist über jeden Zweifel erhaben, oder?«
Er schlüpfte in seine Halbschuhe, setzte das flache Barett auf und verließ das Gemach.
Seine Mutter lächelte.
Nick lief die zwei Treppen hinab und betrat die Küche, wo Bessy und Ellen, die Köchin, das Frühstück vorbereiteten.
»Lord Nick!«, rief Bessy, als sie ihn sah – weitaus temperamentvoller als am Abend zuvor in der Halle. »Es ist so schön, dass Ihr zurück seid.«
Ohne jeden bewussten Entschluss setzte er sich auf den Schemel neben dem Herd, auf dem er, so kam es ihm manchmal vor, seine halbe Kindheit verbracht hatte.
Als seine Mutter gestorben war, hatte sein Vater für die beiden Kinder keine Gouvernante eingestellt. Vermutlich hatte er es vergessen. Also waren Laura und Nick unter Bessys und Ellens Aufsicht groß geworden, und wenn eines der Kinder krank gewesen war, hatten Magd oder Köchin es abends mit nach Hause genommen. An diesen Arrangements hatte auch Lady Yolandas Ankunft nichts geändert.
»Und?«, fragte er, lehnte die Schultern gegen die Wand und schlug die Beine übereinander. »Was köchelt?«
»Das Porridge«, gab Ellen schlagfertig zurück. Sie kam mit einer Schale ans Feuer, füllte sie großzügig mit Hafergrütze aus dem gusseisernen Kessel, reichte sie Nick und strich ihm mit der rauen Hand über den Schopf.
Er bog ungeduldig den Kopf weg. »Danke.« Gierig begann er zu löffeln.
Bessy schlug ein Dutzend Eier in eine Schüssel. »Hier ist alles wie immer, Lord Nick. Das ist das Wunderbare an Waringham. Nichts ändert sich je.«
Er wiegte den Kopf. »Das würde ich so nicht sagen. Eure Familie wohlauf?« Bessy und Ellen waren Schwestern.
Beide nickten. »Mein William hatte ein schlimmes Fieber im Frühjahr, aber er hat’s überstanden«, berichtete die Köchin. »Nur arbeiten konnte er nicht und hat so gut wie nichts gesät. Jetzt sagen die anderen Bauern, sie hätten es lieber auch so machen und sich im Frühling auf die faule Haut legen sollen, denn dieses Jahr werde keiner etwas ernten.«