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Eine junge Frau wird von der U-Bahn erfasst, und Inspektor Salgado muss raus in die kalte Nacht von Barcelona: War es Selbstmord? Aber was bedeutet dann das einzige Foto auf ihrem Handy: die steifen Körper von drei erhängten Hunden? Salgado macht sich an die Arbeit, auf seine eigene kompromisslose Art, die ihn in der Vergangenheit schon mehr gekostet hat, als ihm lieb sein kann. Er spricht mit den Kollegen des Opfers bei einem Kosmetikhersteller, doch ihre Chefin begegnet ihm ausweichend, und die jungen Kollegen kriegen kein gerades Wort heraus. Niemandem in dieser Firma ist zu trauen, und dann erfährt Salgado von einer weiteren Tragödie: Ein anderer Mitarbeiter hat sich eine Kugel in den Kopf gejagt – nachdem er seine Frau und seine kleine Tochter regelrecht hingerichtet hatte …
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Seitenzahl: 459
Der Selbstmord einer jungen Frau führt Inspektor Héctor Salgado in die Zentrale eines Kosmetikherstellers. Ist sie wirklich aus freiem Willen auf die Gleise gesprungen? Fast alles deutet darauf hin, doch die Geschäftsführerin von Alemany Kosmetik begegnet ihm ausweichend, und die jungen Kollegen kriegen kein gerades Wort heraus. Niemandem in dieser Firma ist zu trauen, und dann erfährt Salgado von einer weiteren Tragödie: Ein anderer Mitarbeiter hat sich eine Kugel in den Kopf gejagt – nachdem er seine Frau und seine kleine Tochter regelrecht hingerichtet hatte …
Antonio Hill, geboren 1966 in Barcelona, hat Psychologie studiert und arbeitet als Übersetzer. Der einzige Ausweg ist sein zweiter Barcelona-Krimi und der nächste Fall für Inspektor Héctor Salgado.
Thomas Brovot lebt als Übersetzer (u. a. Mario Vargas Llosa, Juan Goytisolo, Federico García Lorca) in Berlin.
Antonio Hill
DER EINZIGE AUSWEG
EIN BARCELONA-KRIMI
Aus dem Spanischen vonThomas Brovot
Suhrkamp
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
Los buenos suicidas
bei Random House Mondadori, Barcelona.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4487
Deutsche Erstausgabe
© Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© Antonio Hill Gumbao, 2012
© Random House Mondadori S.A., 2012
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Umschlaggestaltung: cornelia niere, münchen
Umschlagfoto: Samuel Aranda/Corbis
eISBN 978-3-518-73484-1
www.suhrkamp.de
Für Jan, den Jüngsten der Familie
Eine ganz normale Familie
Lola Martínez Rueda/Die Stimme der Anderen
Donnerstag, 9. September 2010
»Sie waren ein richtig nettes Paar«, sagen die Nachbarn. »Ihn habe ich nicht so oft gesehen, aber er war immer sehr höflich und hat freundlich gegrüßt. Sie war etwas distanzierter … Nur ihre Tochter, die hat sie nie aus den Augen gelassen, nicht eine Minute.« »Ein reizendes kleines Mädchen«, bemerkt die Besitzerin eines Cafés ganz in der Nähe der Wohnung, im Viertel El Clot von Barcelona. Noch vor wenigen Tagen hat Gaspar Ródenas dort mit seiner Frau Susana und der vierzehn Monate alten Alba gefrühstückt. »Sie kamen oft am Wochenende«, fügt sie hinzu. Und ohne dass ich sie gefragt hätte, erzählt sie, was sie üblicherweise bestellten – er einen Espresso, sie einen Milchkaffee – und wie drollig das Mädchen gewesen sei. Kleinigkeiten am Rande, gewiss, belanglose Details, die uns heute, angesichts des Geschehenen, irritieren.
Denn am frühen Morgen des 5. September, während seine Frau noch schlief, erhob sich dieser »schüchterne, aber liebenswürdige« Vater aus dem Ehebett, trat ins Zimmer seiner Tochter, legte ihr ein Kissen auf das Gesicht und drückte mit aller Kraft zu. Wir wissen nicht, ob Susana aufwachte, geweckt vielleicht von jenem sechsten Sinn, der seit Urzeiten den Schlaf der Mütter begleitet. Jedenfalls wollte Gaspar Ródenas, dieser »so höfliche« Ehemann, auch sie nicht am Leben lassen. Sie starb kurz darauf, an einem Schuss ins Herz. Und wie es sich für einen machistischen Mörder gehört, erschoss Gaspar sich danach selbst.
Die Namen von Susana und ihrer Tochter verlängern die Liste der Frauen, die Männern zum Opfer fielen, Menschen, die sie eigentlich lieben, respektieren und, wenn wir an das kleine Mädchen denken, beschützen sollten. Vierundvierzig Frauen wurden im Laufe dieses Jahres bereits von ihren Partnern umgebracht. Jetzt sind es fünfundvierzig, auf makabre Weise gekrönt vom Tod eines Kleinkinds. Vielleicht passt der Fall nicht in das Muster, das uns mittlerweile so geläufig ist: Trennung oder Scheidung, häusliche Gewalt. Gaspar Ródenas war, Ironie des Schicksals, kein gewalttätiger Mann.
So können die Behörden endlich einmal glaubhaft versichern, nichts habe darauf hingedeutet, dass Susana und Alba in Gefahr waren. Aber das macht ihren Tod nur umso schrecklicher. Denn wir Frauen, viele von uns, wissen längst, dass es Mittel und Wege gibt, uns zu wehren gegen gewalttätige Machos, die denken, sie hätten das Recht, über unser Leben und unseren Tod zu bestimmen. Gegen Typen, die uns verachten, anbrüllen und schlagen. Nur gegen diesen heimlichen Groll, der sich im Stillen ansammelt, diesen stummen Hass, der eines Nachts explodiert und alles hinwegfegt, gegen den können wir uns nicht schützen.
Es gibt ein Foto von den dreien, aufgenommen wenige Wochen zuvor an einem Strand von Menorca. Darauf ist Alba zu sehen, wie sie mit einer roten Schaufel im Sand sitzt, auf dem Kopf ein weißes Mützchen zum Schutz vor der Augustsonne. Dahinter, auf Knien, Susana. Sie lächelt glücklich in die Kamera. Neben ihr, den Arm um sie gelegt, ihr Mann. Wenn man ihn so sieht, ganz entspannt, die Augen im Sonnenlicht leicht zusammengekniffen, scheint es unvorstellbar, dass Gaspar Ródenas kaum einen Monat später mit denselben Händen, die Susana sanft umfassen, die beiden töten sollte.
Warum hat dieser zweiunddreißigjährige Mann, fest angestellt bei einem bekannten Kosmetikunternehmen, ohne nennenswerte finanzielle Belastungen und ohne jede Vorgeschichte, warum hat er zwei Morde begangen, Taten, die sich dem Verstand entziehen? Wann kam es ihm in den Sinn, dem Leben seiner Frau und seiner Tochter ein Ende zu setzen? In welchem Moment überkam ihn der Wahn und verzerrte die tägliche Wirklichkeit, bis er davon überzeugt war, der Tod sei der einzige Ausweg?
Auch wenn sie selber nicht mehr glauben können, was sie hartnäckig behaupten, ist die Antwort der Angehörigen, Freunde und Kollegen immer die gleiche: Gaspar, Susana und Alba waren eine ganz normale Familie.
Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten schaut Inspektor Héctor Salgado sich plötzlich um, fest davon überzeugt, dass ihm jemand folgt. Aber er sieht nur namenlose und gleichgültige Gesichter, Menschen, die wie er durch das Gedränge an der Gran Vía gehen und ab und zu vor einem der traditionellen Stände mit Spielzeug und Süßigkeiten stehen bleiben. Es ist der Abend vor dem Dreikönigstag, auch wenn man es kaum glauben mag, so angenehm sind die Temperaturen. Einigen Passanten ist das offenbar egal, sie haben sich der Jahreszeit entsprechend warm eingepackt, manche sogar mit Handschuhen und Schal, gleichwohl froh darüber, einen Scheinwinter zu erleben, dem die Hauptzutat fehlt: die Kälte.
Der Umzug hat schon stattgefunden, und unter den Girlanden aus glitzernden Lichtern wälzt sich der Verkehr wieder über die Fahrbahn. Menschen, Autos, dampfende Churros und heißes Fett, alles überwölbt von den ach so fröhlichen Weihnachtsliedern, deren Texte fast surrealistisch anmuten. Wie es scheint, hat sich niemand die Mühe gemacht, neue Lieder zu schreiben, so dass im Gedröhne der Lautsprecher die lieben Fischlein ein weiteres Jahr aus demselben verdammten Fluss trinken. Genau das ist es, was an Weihnachten so nervt, denkt Héctor: dass alles immer gleich abläuft, während wir uns verändern und älter werden. Für ihn grenzt es schon an Grausamkeit, dass diese Weihnachtsstimmung das Einzige ist, was sich Jahr um Jahr ohne Ausnahme wiederholt und unseren Verfall nur umso deutlicher zu Tage treten lässt. Und zum x-ten Mal in den letzten beiden Wochen wünschte er sich, er wäre vor dem ganzen Rummel in ein buddhistisches oder radikal atheistisches Land geflohen. Nächstes Jahr, sagt er sich, nächstes Jahr, immer wieder, wie ein Mantra. Und was sein Sohn dazu sagt, kann ihm gestohlen bleiben.
Er ist so mit sich beschäftigt, dass er nicht merkt, wie der langsam fließende Fußgängerstrom innehält. Héctor steht vor einem Stand mit Tüten voller Plastikfigürchen: Cowboys und Indianer, Soldaten in Tarnanzügen, bereit, aus dem Schützengraben zu feuern. Seit Jahren hat er diese Figürchen nicht mehr gesehen, und er erinnert sich, wie er ein paar für Guillermo gekauft hat, als der noch ein kleiner Junge war. Der Verkäufer jedenfalls, ein alter Mann mit arthritischen Händen, hat es geschafft, bis ins Detail eine grandiose Kriegsszene nachzustellen, die einem Film aus den Fünfzigern alle Ehre gemacht hätte. Es sind nicht die einzigen Figürchen, die er verkauft. Weitere Soldaten, die klassischen aus Zinn, größer und mit glänzenden roten Uniformen, marschieren auf der einen Seite; auf der anderen, historisch etwas desorientiert, eine Gruppe römischer Gladiatoren.
Der Alte winkt ihn heran, ermuntert ihn, die Ware in die Hand zu nehmen, und Héctor folgt der Aufforderung, mehr aus Höflichkeit denn aus wirklichem Interesse. Der Soldat ist weicher, als er dachte, fast wie menschliches Fleisch, und die Berührung ekelt ihn. Plötzlich nimmt er wahr, dass die Musik verstummt ist. Alle Passanten sind stehen geblieben. Die Wagen haben die Scheinwerfer ausgemacht, und die Weihnachtslichter, die nur noch matt flimmern, sind die einzige Straßenbeleuchtung. Héctor schließt die Augen und öffnet sie wieder. Die Menge um ihn herum löst sich auf, die Körper verschwinden, einfach so, verflüchtigen sich, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Nur der Verkäufer steht noch vor ihm. Mit einem Lächeln in seinem runzligen Gesicht holt er unter dem Verkaufstisch eine Schneekugel hervor.
»Für Ihre Frau«, sagt er. Und Héctor will gerade antworten, nein, Ruth hasst diese Glaskugeln, schon als Kind haben die sie nervös gemacht, genau wie die Clowns. Da sinken die aufgewirbelten Flocken zu Boden, und er sieht sich selbst vor einem Stand mit Plastiksoldaten, gefangen unter dem Glas.
»Papa. Papa …«
Scheiße.
Der Bildschirm des Fernsehers ein grauer Nebel. Die Stimme seines Sohns. Der Schmerz im Nacken, weil er in der ungünstigsten Haltung eingeschlafen war. Der Traum an diesem Dreikönigsabend war so wirklich gewesen.
»Du hast geschrien.«
Scheiße. Wenn dein eigener Sohn dich aus einem Albtraum weckt, ist der Zeitpunkt gekommen, als Vater abzudanken, dachte Héctor, während er sich stöhnend und mit einer Hundelaune aufrichtete.
»Ich bin auf dem Sofa eingeschlafen. Und du, wieso bist du um diese Zeit noch wach?« Es war der absurde Versuch, seine väterliche Würde wiederherzustellen. Er rieb sich die linke Seite seines Halses.
Guillermo zuckte die Achseln und sagte nichts. Genau wie Ruth es gemacht hätte. Wie Ruth es so oft gemacht hatte. Unwillkürlich griff Héctor nach einer Zigarette und zündete sie an. Der Aschenbecher quoll über von Kippen.
»Keine Sorge, ich schlafe hier nicht noch mal ein. Geh ins Bett. Und denk dran, morgen müssen wir früh los.«
Sein Sohn nickte. Während er ihm nachsah, wie er barfuß in sein Zimmer ging, dachte er daran, wie schwer es war, ohne Ruth Vater zu sein. Guillermo war noch keine fünfzehn, aber manchmal hätte man meinen können, er sei viel älter. In seinem Gesicht lag eine verfrühte Ernsthaftigkeit, die Héctor mehr wehtat, als er sich eingestehen mochte. Er nahm einen tiefen Zug an der Zigarette, und ohne dass er wusste, warum, drückte er die Fernbedienung. Er konnte sich nicht mal erinnern, was er am Abend eingelegt hatte. Bei den ersten Bildern, diesem schwarz-weißen Standfoto von Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg, wusste er es wieder: Außer Atem. Ruths Lieblingsfilm. Ihm war nicht danach, ihn noch einmal zu sehen.
Zehn Stunden vorher, im Sprechzimmer des Psychologen, hatte Héctor die weißen Wände angestarrt, Wände eines Raums, den er gut kannte, und ihm war ein wenig unbehaglich gewesen. Wie üblich nahm der Typ sich Zeit, bevor er mit der Sitzung begann, und Héctor hatte immer noch nicht herausgefunden, ob diese schweigsamen Minuten dazu dienten, seinen Gemütszustand einzuschätzen, oder ob sein Gegenüber einfach nur schwer in die Gänge kam. An diesem Morgen jedenfalls, sechs Monate nach seinem ersten Besuch, war Inspektor Salgado nicht in Wartelaune. Er räusperte sich, schlug die Beine übereinander und nahm sie wieder herunter, bis er sich schließlich vorbeugte und sagte:
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir anfangen?«
»Natürlich nicht.« Und er sah von seinen Unterlagen auf, auch wenn er nichts weiter hinzufügte.
Er saß schweigend da, befragte den Inspektor mit dem Blick. Er machte einen zerstreuten Eindruck, und zusammen mit seinem jugendlichen Gesicht erinnerte er an eins dieser Wunderkinder, die mit sechs Jahren komplizierte Gleichungen lösen, aber keinen Ball treten können, ohne auf die Nase zu fallen. Ein falscher Eindruck, das wusste Héctor. Der Junge war ein müder Schütze, gewiss, aber wenn er mal schoss, traf er ins Schwarze. Die Therapie jedenfalls, die als dienstliche Auflage begonnen hatte, war für ihn zu einem Routinetermin geworden, zuerst wöchentlich, dann alle vierzehn Tage, danach hatte er sie aus freien Stücken fortgesetzt. So dass er an diesem Morgen, genau wie er es gelernt hatte, tief durchatmete, bevor er antwortete:
»Entschuldigen Sie. Der Tag hat nicht besonders gut angefangen.« Er lehnte sich zurück und sah in eine Ecke. »Und ich glaube nicht, dass er viel besser endet.«
»Schwierigkeiten zu Hause?«
»Sie haben keine halbwüchsigen Kinder, oder?« Es war eine absurde Frage. Um einen Sohn in Guillermos Alter zu haben, hätte sein Therapeut mit fünfzehn Jahren Vater werden müssen. Er schwieg, dachte nach, und in mattem Ton fuhr er fort: »Aber das ist es nicht. Guillermo ist ein guter Junge. Das Problem ist, glaube ich, dass er nie Probleme gemacht hat.«
Das stimmte. Und auch wenn viele Eltern über einen solchen äußerlichen Gehorsam froh gewesen wären, beunruhigte Héctor, was sich dahinter verbarg, denn was im Kopf seines Sohnes vorging, war ein Geheimnis. Nie beklagte er sich, seine Schulnoten waren leidlich, und seine Ernsthaftigkeit hätte Jungs, die verrückter oder verantwortungsloser waren als er, ein Beispiel sein können. Héctor merkte jedoch, besser gesagt, er ahnte, dass hinter dieser völligen Normalität etwas Trauriges steckte. Guillermo war immer ein ruhiges Kind gewesen, doch jetzt, voll in der Pubertät, war er zu einem introvertierten Jungen geworden, dessen Leben sich, wenn er nicht in der Schule war, hauptsächlich in den vier Wänden seines Zimmers abspielte. Er sprach wenig, hatte nicht allzu viele Freunde. Letzten Endes, dachte Héctor, ist er gar nicht so anders als ich.
»Und Sie, Inspektor, wie geht es Ihnen? Können Sie immer noch nicht schlafen?«
Héctor zögerte, bevor er es zugab. Bei diesem Thema waren sie sich nicht einig geworden. Nach mehreren Monaten der Schlaflosigkeit hatte der Psychologe ihm leichte Schlafmittel empfohlen, die zu nehmen er sich jedoch weigerte. Zum Teil, weil er sich nicht an sie gewöhnen wollte; zum Teil, weil sein Kopf gerade in den frühen Morgenstunden auf Hochtouren lief, und er wollte nicht auf seine produktivsten Stunden verzichten. Außerdem zog ihn der Schlaf in ungewisse Bereiche, und das waren nicht immer die angenehmsten.
Der junge Mann ahnte, was es mit seinem Schweigen auf sich hatte.
»Sie machen sich unnötigen Stress, Inspektor. Und ohne es zu wollen auch den Menschen in Ihrer Umgebung.«
Héctor hob den Kopf. Nur wenige Male wandte er sich ihm direkt zu. Der junge Mann hielt dem Blick gelassen stand.
»Sie wissen, dass ich recht habe. Am Anfang, als Sie in die Sprechstunde kamen, haben wir ein ganz anderes Thema behandelt. Ein Thema, das wir nach dem Vorfall mit Ihrer ehemaligen Frau beiseitegeschoben haben.« Er sprach mit festem Ton, ohne zu schwanken. »Ich verstehe, dass es eine schwierige Situation ist, aber sich zu quälen bringt Sie nicht weiter.«
»Sie glauben, ich quäle mich?«
»Etwa nicht?«
Héctor lächelte bitter.
»Und was raten Sie mir? Dass ich Ruth vergesse? Dass ich akzeptiere, die Wahrheit nie zu erfahren?«
»Sie müssen es nicht akzeptieren. Nur damit leben, ohne sich jeden Tag gegen die Welt aufzulehnen. Hören Sie zu, und jetzt frage ich Sie als den Polizisten, der Sie sind: Wie viele Fälle bleiben zunächst ungelöst? Wie viele werden erst Jahre später aufgeklärt?«
»Ich verstehe Sie nicht«, antwortete Héctor und zögerte, ehe er weitersprach. »Manchmal … gelingt es mir, alles zu vergessen, ein paar Stunden lang, während der Arbeit oder beim Laufen, aber dann ist es wieder da. Plötzlich. Wie ein Gespenst. Wartet ab. Nicht wirklich schlimm, denn es klagt nicht an, fragt auch nicht, und trotzdem ist es da. Und geht so leicht nicht wieder weg.«
»Was genau ist da?« Die Frage hatte er in demselben neutralen Tonfall gestellt, der jeden Beitrag des Therapeuten begleitete, auch wenn Héctor etwas Bestimmtes herauszuhören glaubte.
»Keine Sorge.« Er lächelte. »Nicht dass ich manchmal Tote sähe. Es ist nur das Gefühl, dass du …«, er machte eine Pause, suchte nach Worten, »dass du, wenn du lange mit einer Person zusammengelebt hast, manchmal einfach weißt, dass sie zu Hause ist. Du legst dich nachmittags hin, wachst auf und spürst, dass sie da ist, du musst sie gar nicht sehen. Verstehen Sie? So etwas war mir nicht mehr passiert. Ich meine, in der Zeit, als ich von Ruth getrennt war. Erst danach … nach ihrem Verschwinden.«
Für Sekunden wurde es still. Der Psychologe kritzelte etwas in sein Heft. Dann sprach er wieder, langsam, freundlich, fast vorsichtig.
»Ist Ihnen etwas aufgefallen, Inspektor? Zum ersten Mal räumen Sie ein, wenn auch nur nebenbei, dass Ruth tot sein könnte.«
»Wir Argentinier wissen sehr gut, was ›verschwunden‹ bedeutet«, sagte Héctor. »Vergessen Sie das nicht.« Er räusperte sich. »Trotzdem gibt es keine objektiven Anhaltspunkte dafür, dass Ruth tot ist. Nur …«
»Nur: Sie selbst glauben es, nicht wahr?«
Bevor Héctor antwortete, blickte er über die Schulter, als fürchtete er, jemand könnte ihn hören.
»Tatsache ist, wir haben keine Ahnung, was mit Ruth passiert ist. Und das macht einen am meisten fertig.« Er hatte die Stimme gesenkt, sprach mehr zu sich selbst. »Du kannst nicht mal um sie trauern, denn du fühlst dich wie ein Verräter, wie einer, der zu früh das Handtuch geworfen hat.« Er seufzte. »Entschuldigen Sie, aber die Weihnachtstage waren ein bisschen zu viel für mich. Ich dachte, mir bliebe Zeit, um in der Sache weiterzukommen, aber … Ich musste aufgeben. Es gibt nichts. Ich habe nichts gefunden. Es ist verflucht, als hätte sie jemand aus dem Bild gewischt, ohne jede Spur.«
»Ich dachte, Sie hätten den Fall ohnehin nicht mehr in der Hand.«
Héctor lächelte.
»Ich habe ihn im Kopf.«
»Tun Sie mir einen Gefallen.« Das war immer der Auftakt zum Ende. »Versuchen Sie bis zur nächsten Sitzung, sich jeden Tag, und sei es nur kurz, auf die Dinge zu konzentrieren, die ihr Leben ausmachen, im Guten wie im Schlechten. Nicht auf die, die Ihnen fehlen.«
Es war fast zwei Uhr nachts, und Héctor wusste, dass er nicht wieder einschlafen würde. Er nahm Zigaretten und Handy, verließ die Wohnung und ging zur Dachterrasse hinauf. Dort würde er zumindest Guillermo nicht wecken. In drei Punkten hatte der Therapeut recht. Erstens sollte er anfangen, diese blöden Schlaftabletten zu nehmen, auch wenn es ihn nervte. Zweitens hatte er den Fall tatsächlich nicht mehr in der Hand. Und drittens, ja, im Grunde war er längst davon überzeugt, dass Ruth tot war. Seinetwegen.
Es war eine schöne Nacht. Eine dieser Nächte, die einen mit der Welt versöhnen, wenn man es nur zulässt. Die Stadtküste erstreckte sich vor seinen Augen, und etwas in dem strahlenden Glanz der Gebäude, in diesem dunklen, aber ruhigen Meer vermochte es, die Dämonen zu vertreiben, die Héctor in sich trug. So dass er sich nun auf der Terrasse, umgeben von Blumentöpfen mit vertrockneten Pflanzen, in aller Aufrichtigkeit fragte, was er im Leben hatte.
Guillermo. Seinen Job bei den Mossos d’Esquadra, als Inspektor der katalanischen Polizei, intensiv und frustrierend zugleich. Einen Kopf, der anständig zu funktionieren schien, und Lungen, die vom Tabak schon fast schwarz sein mussten. Carmen – seine Vermieterin, seine Nachbarin; seine Mutter in Barcelona, wie sie sagte. Diese Dachterrasse, von der aus das Meer zu sehen war. Einen nervigen Therapeuten, der ihn dazu brachte, um drei Uhr nachts einen solchen Stuss zu denken. Wenige Freunde, aber gute. Eine riesige Filmsammlung. Einen Körper, der es schaffte, dreimal in der Woche sechs Kilometer zu laufen (trotz der malträtierten Lungen). Was noch? Albträume. Die Erinnerung an Ruth. Die Erinnerungen mit Ruth. Die Leere ohne Ruth. Nicht zu wissen, was mit ihr passiert war, war ein Verrat an allem, was ihm etwas bedeutete: an seinen Versprechungen von früher, an seinem Sohn, selbst an seiner Arbeit. An dieser Wohnung, wo er und Ruth gelebt, sich geliebt und gestritten hatten; der Wohnung, aus der sie abgehauen war, um ein neues Leben anzufangen, in dem er nur ein Nebendarsteller war. Und trotzdem liebte sie ihn, liebten sie sich immer noch, nur anders. Er hatte gerade gelernt, mit all dem zu leben, als Ruth verschwand, sich in Luft auflöste und ihm nur dieses Schuldgefühl ließ, gegen das er seither ankämpfte.
Schluss jetzt, sagte er sich. Das bringt doch nichts. Als wärst du der Hauptdarsteller in einem französischen Film: um die vierzig, larmoyant, Mittelmaß. So einer, der zehn Filmminuten lang von einer Klippe aufs Meer schaut, bedrängt von existentialistischen Fragen, um sich dann wie ein Volldepp in die Fesseln eines jungen Mädchens zu verlieben. Er musste an das letzte Gespräch denken, vielleicht sollte man es auch besser Streit nennen, das er just vor Weihnachten mit seiner Kollegin geführt hatte, der Unterinspektorin Martina Andreu. Der Grund für ihre Auseinandersetzung war nicht der Rede wert, aber keiner schien imstande, sie zu beenden. Bis Martina ihn mit ihrer entwaffnenden Offenheit anschaute und ihm geradeheraus ins Gesicht sagte: »Héctor, mal ehrlich, wie lange hast du schon nicht mehr gebumst?«
Bevor die klägliche Antwort in seinem Kopf widerhallte, klingelte das Handy.
Das Blaulicht der Streifenwagen erhellte die Plaza Urquinaona, sehr zur Verwunderung der vier betrunkenen Penner, die die Holzbänke als Matratze benutzten und in dieser Nacht um ihren Schlaf gebracht wurden.
Héctor wies sich aus und stieg, nicht frei von einem mulmigen Gefühl, die Treppe zur Metro hinunter. Die Selbstmörder, die dieses Mittel wählten, waren zahlreicher als in den Medien erwähnt und von den Statistiken erfasst, wenn auch nicht so zahlreich, wie die Legenden es erzählten. In einigen war gar von »schwarzen Stationen« die Rede, von U-Bahnhöfen, wo die Anzahl der Personen, die ihrem Leben ein Ende setzten, ungleich höher war als anderswo. Um zu verhindern, was man als Nachahmereffekt kannte, wurden diese Todesfälle der Öffentlichkeit verschwiegen. Héctor konnte es zwar nicht beweisen, aber sein Bauchgefühl sagte ihm, dass solche Selbstmorde mehr einem Augenblick der Verzweiflung entsprangen als einem bewussten Plan. Die Bahnsteigkante vor einem, die Möglichkeit, mit einem einzigen Schritt alle Probleme aus der Welt zu schaffen, diese Aussicht setzte sich durch gegen die natürliche Angst vor einem schmerzhaften Tod, vor dem Bild des eigenen zerstückelten Körpers.
Das Vorgehen der Polizei zeichnete sich jedenfalls aus durch Schnelligkeit im Handeln: den Leichnam so rasch wie möglich bergen und den Betrieb wieder aufnehmen, auch wenn diesmal, angesichts der Uhrzeit, zur Eile kein Grund war; den Vorfall kaschieren mit einer angeblichen technischen Störung oder einem sonstigen Vorkommnis, solange der Zugverkehr unterbrochen blieb. Weshalb es ihn wunderte, dass der Beamte Roger Fort sich die Mühe gemacht hatte, ihn um diese Zeit zu Hause anzurufen und zu informieren.
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