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Hochsommer in Barcelona, ein scheinbar harmloser Unfalltod führt zu einer blutigen Spurensuche quer durch die Stadt. Der umstrittene Inspektor Héctor Salgado ermittelt in einer angesehenen Familie, in der niemand sagt, was er weiß. Hectór Salgado steckt in der Klemme. Als Argentinier fühlt er sich fremd im Land, sein Privatleben ist eine einzige Katastrophe, gegen ihn laufen interne Ermittlungen, weil er einen afrikanischen Mädchenhändler krankenhausreif geprügelt hat. Umso erfreulicher, dass sein neuer Fall so einfach scheint. Er soll den mutmaßlichen Unfalltod eines Jugendlichen aus bestem Hause untersuchen. Doch je tiefer er in der Familiengeschichte des Verstorbenen gräbt, desto verstörender sind seine Entdeckungen, die bis weit in die Vergangenheit reichen. Als dann ein weiterer Unfall geschieht, gerät Salgado selbst unter Mordverdacht …
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Seitenzahl: 462
Hectór Salgado steckt in der Klemme. Als Argentinier fühlt er sich fremd in Barcelona, sein Privatleben ist eine einzige Katastrophe, gegen ihn laufen interne Ermittlungen, weil er einen afrikanischen Mädchenhändler krankenhausreif geprügelt hat. Umso erfreulicher, dass sein neuer Fall so einfach scheint. Er soll den mutmaßlichen Unfalltod eines Jugendlichen aus bestem Hause untersuchen. Doch je tiefer er in der Familiengeschichte des Verstorbenen gräbt, desto verstörender sind seine Entdeckungen, die bis weit in die Vergangenheit reichen. Als dann ein weiterer Unfall geschieht, gerät Salgado selbst unter Mordverdacht …
Antonio Hill, geboren 1966 in Barcelona, hat Psychologie studiert und arbeitet als Übersetzer. Der Sommer der toten Puppen ist sein erster Roman und der Auftakt einer Serie um den Inspektor Héctor Salgado.
Thomas Brovot lebt als Übersetzer (u. a. Mario Vargas Llosa, Juan Goytisolo, Federico García Lorca) in Berlin.
Antonio Hill
DER SOMMER DER TOTEN PUPPEN
ROMAN
Aus dem Spanischen vonThomas Brovot
Suhrkamp
Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel
El verano de los juguetes muertos
bei Debolsillo, Barcelona.
Umschlagabbildung: Guy Moberly / Getty Images
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© Toni Hill Gumbao, 2011
© Random House Mondadori S.A., 2011
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: cornelia niere, münchen
eISBN 978-3-518-77940-8
www.suhrkamp.de
Für meine Mutter – für alles
Schon seit langem denke ich nicht mehr an Iris, nicht an den Sommer, in dem sie starb. Ich muss versucht haben, das alles zu vergessen. So wie ich auch die Albträume hinter mir gelassen habe. Und jetzt, wo ich mich erinnern will, kommt mir nur der letzte Tag in den Sinn, als hätten diese Bilder alle vorherigen gelöscht. Ich schließe die Augen und versetze mich in das große alte Haus, den Schlafsaal mit den leeren Betten, die auf die Ankunft der nächsten Kindergruppe warten. Ich bin sechs Jahre alt und im Ferienlager, und ich kann nicht schlafen, weil ich Angst habe. Nein, falsch. An dem Morgen war ich richtig tapfer. Ich habe die Regeln missachtet und mich in die Dunkelheit getraut, nur um Iris zu sehen. Aber sie war ertrunken, trieb im Schwimmbecken, umringt von einem Kranz toter Puppen.
Beim ersten Klingeln schaltete er den Wecker aus. Acht Uhr morgens. Er lag schon seit Stunden wach, trotzdem wurden seine Glieder plötzlich schwer, und er musste sich einen Ruck geben, um aus dem Bett zu kommen und unter die Dusche zu gehen. Das kalte Wasser verscheuchte die Benommenheit und spülte auch einen Teil der Zeitverschiebung fort. Am Nachmittag zuvor war er gelandet, nach einem endlosen Flug Buenos Aires-Barcelona, der sich an der Gepäckermittlung im Flughafen noch hinzog. Die Schalterdame hatte seinen letzten Rest Geduld aufgezehrt.
Er trocknete sich ab und bemerkte verärgert, dass der Schweiß ihm schon wieder über die Stirn rann. So war der Sommer in Barcelona: feucht und klebrig wie ein zerlaufenes Eis. Mit dem Handtuch um die Hüften blickte er in den Spiegel. Er sollte sich rasieren. Scheiß drauf. Er ging zurück ins Zimmer und wühlte in dem halb leeren Schrank nach einer Unterhose. Zum Glück waren in dem abhandengekommenen Koffer nur Wintersachen, so dass er ohne Schwierigkeiten ein kurzärmliges Hemd und eine leichte Hose fand. Barfuß setzte er sich aufs Bett. Er atmete tief durch und war versucht, sich wieder hinzulegen, die Augen zu schließen und seinen Termin, den er um Punkt zehn hatte, zu vergessen, auch wenn er genau wusste, dass er dazu nicht in der Lage wäre. Héctor Salgado versäumte nie einen Termin. Und sei’s mit meinem Henker, sagte er sich und musste grinsen. Er tastete nach dem Handy auf dem Nachttisch. Der Akku war fast leer, und ihm fiel ein, dass das Aufladegerät in dem verflixten Koffer steckte. Er suchte im Telefonbuch nach der Nummer von Ruth und sah ein paar Sekunden aufs Display, ehe er die grüne Taste drückte. Er rief sie immer auf dem Handy an, wohl weil er sich nicht eingestehen wollte, dass sie auch eine Festnetznummer hatte. Eine andere Wohnung. Einen anderen Partner. Ihre Stimme, etwas heiser, noch bettschwer, brummte ihm ins Ohr:
»Héctor …«
»Habe ich dich geweckt?«
»Nein … Na ja, ein bisschen.« Im Hintergrund hörte er gedämpftes Lachen. »Aber ich musste sowieso aufstehen. Seit wann bist du zurück?«
»Tut mir leid. Seit gestern Nachmittag, aber die Idioten haben mein Gepäck verschusselt, und ich durfte einen halben Tag auf dem Flughafen zubringen. Mein Handy macht gleich schlapp. Ich wollte euch nur Bescheid sagen, dass ich gut angekommen bin.«
Es kam ihm auf einmal absurd vor. Er fühlte sich wie ein plapperndes Kind.
»Wie war der Flug?«
»Ruhig«, log er. »Und Guillermo schläft noch?«
Ruth lachte.
»Immer wenn du aus Buenos Aires kommst, hört man das«, sagte sie. »Guischermo ist nicht da, hatte ich es dir nicht gesagt? Er ist ein paar Tage an den Strand gefahren, zu einem Freund.«
»Aha.« Pause. In letzter Zeit kam er beim Sprechen immer ins Stocken. »Und wie geht es ihm so?«
»Ihm gut, aber ich schwöre dir, wenn die Pubertät noch lange andauert, schicke ich ihn dir zurück.« Ruth lachte leise. Er musste an ihre Art zu lachen denken, an diesen plötzlichen Glanz in ihren Augen. Ihr Ton schlug um: »Héctor? Sag mal, hat sich in deiner Sache etwas getan?«
»Um zehn muss ich zu Savall.«
»Na, erzähl’s mir später.«
Wieder Pause.
»Essen wir zusammen?« Héctors Stimme war nur ein Fädchen. Ruth brauchte etwas zu lange für die Antwort.
»Ich bin schon verabredet, tut mir leid.« Noch ehe er etwas sagen konnte, war das Handy ein Stück totes Plastik. Wie er dieses Ding hasste. Seine Augen wanderten zu seinen nackten Füßen. Und mit einem Satz, als hätte das kurze Gespräch ihm den nötigen Schwung gegeben, stand er auf und ging erneut zu dem halb leeren Schrank.
Héctor wohnte im oberen Stock eines Hauses mit drei Wohngeschossen in Poblenou. Nichts Besonderes, eins der vielen typischen Gebäude in diesem Viertel, nicht weit von der Metrostation und nur ein paar Straßen von jener anderen Rambla entfernt, die in keinem Touristenführer stand. Erwähnenswert an seiner Wohnung war allein die Miete, die nicht gestiegen war, als die Gegend sich etwas auf ihre bevorzugte Lage nahe dem Strand einzubilden begann, dazu eine Dachterrasse, die praktischerweise zu seiner Privatterrasse geworden war, weil der zweite Stock leer stand und im ersten die Vermieterin wohnte, eine fast siebzigjährige Frau, die keinerlei Interesse hatte, drei Treppen hochzusteigen. Er und Ruth hatten die alte Terrasse hergerichtet, einen Teil überdacht und ein paar Pflanzen aufgestellt, die jetzt vor sich hinwelkten, außerdem einen Tisch mit Stühlen, um im Sommer dort zu Abend zu essen. Er war kaum noch hinaufgegangen, seit Ruth ausgezogen war.
Die Tür im ersten Stock ging gerade auf, als er vorbeikam, und Carmen, die Hausbesitzerin, grüßte ihm lächelnd hinterher. Seit Héctor allein wohnte, schaute er manchmal morgens auf einen Kaffee bei ihr vorbei, aber heute hatte er weder Zeit noch Lust.
Aktenzeichen 1231-R
H. Salgado
Laufendes Verfahren
Drei kurze Zeilen, notiert mit schwarzem Filzstift auf einem gelben, an einer gleichfarbigen Mappe klebenden Post-it. Um sie nicht sehen zu müssen, schlug Kommissar Savall die Mappe auf und ging noch einmal die Akte durch. Als würde er sie nicht auswendig kennen. Aussagen. Vernehmungsprotokolle. Ärztliche Gutachten. Fotos der Wunden von diesem Dreckskerl. Fotos des armen nigerianischen Mädchens. Fotos der Wohnung im Raval, wo sie die jungen Frauen zusammengepfercht hatten. Sogar mehrere Zeitungsausschnitte, darunter ein paar – wenige, Gott sei Dank – ziemlich perfide, in denen man eine eigene Tatversion zum Besten gab und mit Begriffen wie Rassismus, Polizeibrutalität und Machtmissbrauch nicht sparte. Er schlug die Mappe wieder zu und sah nach der Uhr auf dem Schreibtisch. Zehn nach neun. Fünfzig Minuten. Er kippte gerade den Stuhl zurück, um die Beine auszustrecken, als jemand an die Tür klopfte und sie fast gleichzeitig öffnete.
»Ist er schon da?«, rief er.
Die Frau, die in sein Dienstzimmer trat, schüttelte den Kopf und stützte, ganz langsam, beide Hände auf die Lehne des Stuhls vor dem Tisch. Sie schaute ihm in die Augen und kam gleich zur Sache:
»Was willst du ihm sagen?« Die Frage klang wie ein Vorwurf, eine Salve aus fünf Wörtern.
Savall zuckte kaum merklich mit den Achseln.
»Wie die Dinge stehen. Was soll ich ihm schon sagen?«
»Genial.«
»Martina …« Er wollte harsch klingen, aber er schätzte sie zu sehr, als dass er ihr wirklich böse sein konnte. Und leiser: »Mir sind die Hände gebunden, verdammt noch mal.«
Sie gab nicht auf. Sie zog den Stuhl zurück, setzte sich und schob ihn wieder an den Tisch.
»Das könnte denen so passen. Der Kerl ist längst aus dem Krankenhaus, ist wieder zu Hause und macht ungerührt weiter mit seinen Geschäften, während …«
»Mach mich nicht fertig, Martina!« Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Noch am Morgen hatte er sich vorgenommen, ruhig zu bleiben. Er öffnete die gelbe Mappe, nahm die Fotos heraus und legte sie auf den Tisch wie vier Asse beim Poker. »Der Kiefer gebrochen. Zwei gebrochene Rippen. Prellungen an Schädel und Unterleib. Ein Gesicht wie aus dem Schlachthaus. Und alles nur, weil Héctor den Kopf verloren hat und bei diesem Arschloch auftauchen musste. Und er hat noch Glück gehabt, keine inneren Verletzungen. Er hat ihn nach allen Regeln der Kunst verdroschen.«
Das alles wusste sie. Sie wusste auch, dass sie genau dasselbe gesagt hätte, wenn sie auf dem Stuhl gegenüber säße. Aber wenn eins die Unterinspektorin Martina Andreu auszeichnete, dann die unbedingte Loyalität zu ihren Leuten: zu ihrer Familie, ihren Kollegen, ihren Freunden. Für sie teilte sich die Welt in zwei klar getrennte Seiten, ihre Leute und die anderen, und Héctor Salgado gehörte ohne Zweifel zur ersten Gruppe. Mit einer Stimme, die ihren Chef mehr verstörte als der Anblick der Fotos, konterte sie:
»Warum holst du nicht die anderen raus? Die von dem Mädchen. Warum sehen wir uns nicht an, was dieser schwarze Hexenmeister der Kleinen angetan hat?«
Savall seufzte.
»Vorsicht von wegen schwarz.«
Martina verdrehte die Augen, aber Savall ließ sich nicht beirren.
»Das fehlte uns gerade noch. Und das mit dem Mädchen rechtfertigt gar nichts. Du weißt es, ich weiß es, Héctor weiß es. Und was noch schlimmer ist, der Anwalt von diesem Arschloch auch. Vorgestern war er hier.«
Martina zog eine Augenbraue hoch.
»Ja, der Anwalt von … wie immer er heißt. Ich habe Klartext mit ihm gesprochen: Entweder er zieht die Anzeige gegen Salgado zurück, oder sein Mandant hat noch auf dem Weg zum Klo einen Polizisten an den Hacken.«
»Und?«
»Er hat gesagt, er müsse sich mit ihm beraten. Ich habe ihm eingeheizt, sosehr ich konnte. Off the record. Er wollte mich heute Morgen anrufen, vor zehn Uhr.«
»Und wenn er darauf eingeht? Was hast du ihm dafür versprochen?«
Savall blieb keine Zeit für eine Antwort. Das Telefon auf seinem Schreibtisch schrillte wie eine Alarmglocke. Er bedeutete der Unterinspektorin zu schweigen und nahm ab.
»Ja?« Erst machte er ein erwartungsvolles Gesicht, doch dann war seine Miene nur noch Ärger. »Nein. Nein! Ich bin im Gespräch. Ich rufe sie später zurück.« Statt aufzulegen, ließ er den Hörer einfach los, und mit einem Blick zu Martina fügte er hinzu: »Joana Vidal.«
Sie schnaubte genervt.
»Schon wieder?«
Der Kommissar zuckte die Achseln.
»In ihrer Sache gibt es nichts Neues, oder?«
»Nichts. Hast du den Bericht gesehen? Der Fall ist glasklar. Der Junge hat nicht aufgepasst und ist aus dem Fenster gefallen. Reines Pech.«
Savall nickte.
»Ein guter Bericht übrigens. Absolut vollständig. Er ist von der Neuen, nicht wahr?«
»Scheint ein kluges Mädchen zu sein.«
Wenn es von Andreu kam, durfte man ein Lob ernst nehmen.
»Ein tadelloser Lebenslauf«, sagte der Kommissar. »Jahrgangsbeste, vorzügliche Referenzen ihrer Vorgesetzten, Lehrgänge im Ausland … Selbst Roca hat einen lobenden Bericht geschrieben, und mit Neuen kennt der keine Gnade. Wenn ich mich recht erinnere, ist da die Rede von einem Naturtalent für die Ermittlungsarbeit.«
Martina wollte gerade eine ihrer bissigen feministischen Bemerkungen über das Talent und den mittleren Intelligenzquotienten von Männern und Frauen bei der Polizei anbringen, als erneut das Telefon klingelte.
Im selben Moment setzte die junge Ermittlerin Leire Castro in der Kaffeeküche des Kommissariats ihr Naturtalent ein, um einen der ausgeprägtesten Züge ihres Charakters zu befriedigen: die Neugier. Einem Kollegen, der sie seit Wochen so liebenswürdig wie diskret anlächelte, hatte sie vorgeschlagen, zusammen einen Kaffee zu trinken. Er schien ein anständiger Kerl zu sein, sagte sie sich, und ihm Hoffnungen zu machen, verursachte ihr ein kleines Schuldgefühl. Doch seit sie in der Hauptwache an der Plaza Espanya war, hatte das Rätsel um Héctor Salgado ihre Wissbegier angefacht.
Leire, den Espresso schon in der Hand, setzte nach ein paar höflichen Worten ihr schönstes Lächeln auf und kam zur Sache.
»Wie ist er? Ich meine Inspektor Salgado.«
»Du kennst ihn gar nicht? Ach ja, klar, du bist gekommen, als er in Urlaub ging.«
Sie nickte.
»Wie soll ich sagen«, fuhr er fort. »Ganz normal, sah zumindest so aus.« Er lächelte. »Bei Argentiniern weiß man nie. Ein paar Tage bevor alles passierte hätte ich dir gesagt, dass er ein ruhiger Mensch ist. Nie ein lautes Wort. Effizient. Stur, aber geduldig. Na ja, ein guter Polizist eben. Von der gewissenhaften Sorte, eine richtige Spürnase. Und plötzlich, zack, setzt sein Verstand aus und er dreht durch. Wir waren alle völlig baff. Wir haben schon genug schlechte Presse, und dann das.«
»Was ist eigentlich passiert? Ich habe etwas in der Zeitung gelesen, aber …«
»Er hat den Kopf verloren. Nicht mehr und nicht weniger. Keiner sagt es laut, weil er Inspektor ist und so weiter, und der Kommissar hat ihn immer sehr geschätzt, aber so ist es. Er hat den Kerl halb totgeprügelt. Es heißt, er hätte seine Entlassung beantragt, aber der Kommissar hätte das Schreiben zerrissen. Jedenfalls hat er ihn einen Monat in Urlaub geschickt, bis die Wogen sich glätten. Und die Presse hat sich auch nicht weiter auf das Thema gestürzt. Hätte schlimmer kommen können.«
Leire nippte an ihrem Kaffee. Er schmeckte seltsam. Was hätte sie für eine Zigarette gegeben, aber sie hatte beschlossen, mit der ersten bis nach dem Mittagessen zu warten, und das waren noch mindestens vier Stunden.
»Ich werde alles abstreiten, was ich dir gesagt habe«, sagte er lächelnd. »Du weißt ja, alle für einen und einer für alle, wie die Musketiere. Aber es gibt Dinge, die sind nicht gut. Ich muss jetzt gehen, die Pflicht ruft.«
»Klar«, sagte sie zerstreut. »Bis später.«
Sie blieb noch kurz in der Küche und dachte nach über das, was sie zu Inspektor Salgado gelesen hatte. Im März, vor knapp vier Monaten, hatte Héctor Salgado eine Operation gegen den Frauenhandel geleitet. Seine Leute waren schon mindestens ein Jahr hinter einer Mafia her, die junge afrikanische Frauen, hauptsächlich aus Nigeria, ins Land schleuste und mit ihnen mehrere Bordelle in Vallès und Garraf versorgte. Je jünger, desto besser, was sonst. Die aus Osteuropa und aus Südamerika waren aus der Mode gekommen, sie waren zu schlau und zu anspruchsvoll. Die Freier wollten blutjunge, verängstigte Schwarze, mit denen sie ihre niedersten Triebe befriedigen konnten, und die Händler hatten sie auch besser im Griff, diese analphabetischen, völlig verwirrten Mädchen, nachdem sie sie aus ihrer extremen Armut gelockt hatten mit dem vagen Versprechen auf eine Zukunft, die nicht schlimmer sein konnte als ihre Gegenwart. Aber sie war schlimmer. Manchmal fragte sich Leire, wie sie nur so blind sein konnten. Hatten sie jemals gesehen, dass eine ihrer Vorgängerinnen als reiche Frau zurückgekehrt war und ihre Familie aus dem Elend herausholte? Nein, es war eine Flucht nach vorn, eine Verzweiflungstat, zu der viele von ihren eigenen Eltern und Ehemännern gedrängt wurden und zu der sie keine Alternative hatten. Eine Reise, die in einem stinkenden Loch endete, wo die Mädchen begriffen, dass Hoffnung etwas war, was sie sich nicht leisten konnten. Es ging nicht mehr um ein besseres Leben, sondern ums Überleben. Und den Schweinen, die sie in der Hand hatten, war jedes Mittel recht, ihnen einzubläuen, warum sie da waren und was zu ihren neuen und widerlichen Verpflichtungen gehörte.
Sie spürte, wie es in ihrer Hosentasche vibrierte, und zog ihr Privathandy heraus. Als sie sah, von wem die SMS war, hellte sich ihr Gesicht auf. Javier. Einsachtzig, dunkle Augen, nicht zu viel und nicht zu wenig Haare auf dem gebräunten Oberkörper, ein schräg tätowierter Puma genau unter den Bauchmuskeln. Und obendrein sympathisch, sagte sich Leire, während sie den kleinen weißen Briefumschlag öffnete. »Hey, bin grad aufgewacht und du bist schon weg. Warum gehst du immer ohne was zu sagen? Sehn wir uns heute Abend wieder und du machst mir morgen das frühstück? Vermiss dich nähmlich. Küsse.«
Der Typ war reizend, keine Frage, wenn auch nicht gerade ein Rechtschreibexperte. Und kein Frühaufsteher, dachte sie mit einem Blick auf die Uhr. Außerdem hatte etwas an dieser Nachricht sie alarmiert, was mit Vertretern des männlichen Geschlechts zu tun hatte, die nach ein paar Nächten Erklärungen wollten und andeuteten, sie hätten es gern, dass man ihnen ihren Cola Cao ans Bett bringt. Zum Glück waren es nicht viele. Die meisten akzeptierten ihr Spiel ohne Probleme, Sex, umstandslos und ohne Fragen, was sie offen ansprach. Aber immer gab es einen wie Javier, der es nicht ganz kapierte. Sie tippte: »Heute Abend kann ich nicht. Ich rufe dich an. Übrigens, wer nämlich mit h schreibt, ist dämlich, denk dran. Bis bald!« Vorsichtshalber schaltete sie das Handy lautlos. Beim letzten Schluck Kaffee, er war schon fast kalt, begann sie zu zittern. Sie atmete tief ein, zum zweiten Mal jetzt, und dachte, dass sie es nicht weiter aufschieben konnte. Diese morgendliche Übelkeit musste eine Erklärung haben. Gleich heute gehst du in die Apotheke, verordnete sie sich, auch wenn sie im Grunde genau wusste, dass die Antwort auf ihre Fragen in einem wunderschönen Wochenende vor einem Monat lag.
Langsam erholte sie sich, und nach ein paar Minuten fühlte sie sich wieder so weit bei Kräften, dass sie an ihren Schreibtisch zurückkehrte. Sie setzte sich an den Rechner und machte sich an die Arbeit; im selben Moment ging die Tür zum Büro von Kommissar Savall zu.
Der dritte Mann im Raum mochte denken, er verdiene sein Geld als Anwalt, aber wenn es nach Redegewandtheit ging, sah die Zukunft, die ihn erwartete, recht düster aus.
Zum vierten Mal in zehn Minuten wischte sich Damián Fernández mit demselben zerknitterten Papiertaschentuch den Schweiß ab, bevor er auf eine Frage antwortete.
»Ich habe es Ihnen schon gesagt. Ich habe Dr. Omar vorgestern Abend gesehen, gegen neun Uhr.«
»Und haben Sie ihm meinen Vorschlag mitgeteilt?«
Héctor wusste nicht, von welchem Vorschlag Savall sprach, aber er konnte es sich denken. Er warf seinem Chef einen respektvollen Blick zu, auch wenn in seinen Augen noch die Wut blitzte. Jeder Kuhhandel mit diesem Arschloch, und wenn es ihm selber den Hals rettete, perforierte ihm den Magen.
Fernández bejahte. Er lockerte den Knoten seiner Krawatte, als würde er ersticken.
»Wort für Wort.« Er räusperte sich. »Ich habe ihm ge-sagt … habe gesagt, dass es keinen Grund gibt, ihn anzunehmen. Dass Sie sowieso nicht viel gegen ihn in der Hand haben.« Er musste den aufsteigenden Zorn im Gesicht des Kommissars bemerkt haben, denn er rechtfertigte sich sofort. »So ist es doch. Jetzt, wo das Mädchen tot ist, gibt es keinen Zusammenhang mehr zwischen ihm und der Sache mit dem Frauenhandel … Sie könnten ihn nicht mal wegen Fehlbehandlung anklagen, er ist ja auch kein Arzt. Wenn sie ihn dafür einsperren, müssten sie alle Kartenleger, Wunderheiler und Gurus von Barcelona einsperren … Aber ich habe ihm klargemacht«, beeilte er sich hinzuzufügen, »dass die Polizei hartnäckig sein kann, und da er sich schon wieder erholt hätte von dem Überfall«, und bei dem Wort warf er einen raschen, nervösen Blick zu Inspektor Salgado, der ungerührt dasaß, »wäre es vielleicht besser, die Sache zu vergessen …«
Der Kommissar stöhnte.
»Und, haben Sie ihn überzeugt?«
»Ich denke, schon … Obwohl«, korrigierte er sich, »gesagt hat er nur, dass er darüber nachdenkt. Dass er mich am nächsten Tag anruft.«
»Und das hat er nicht.«
»Nein. Ich habe gestern in seiner Praxis angerufen, mehrmals, aber niemand hat abgenommen. Es hat mich nicht gewundert, der Doktor nimmt keine Anrufe entgegen, wenn er arbeitet.«
»Und deshalb sind Sie heute Morgen gleich zu ihm gegangen?«
»Ja. Ich hatte den Termin mit Ihnen, und na ja …«, er zögerte, »ich habe auch nicht gerade viel zu tun in diesen Tagen.«
Und in den nächsten auch nicht, dachten Savall und Salgado gleichzeitig.
»Und Sie sind hingegangen. Gegen neun.«
Fernández nickte. Er schluckte. Bleich wäre ein beschönigendes Wort gewesen, um die Farbe seines Gesichts zu beschreiben.
»Haben Sie einen Schluck Wasser?«
Der Kommissar seufzte.
»Hier drinnen nicht. Aber wir sind bald fertig. Fahren Sie fort, Herr Fernández, bitte.«
»Es war noch keine neun Uhr. Der Bus ist gleich gekommen und …«
»Zur Sache, bitte!«
»Ja, klar. Ich wollte nur sagen, dass es noch ein bisschen früh war, aber ich bin trotzdem hochgegangen, und als ich an der Tür klingeln wollte, habe ich gesehen, dass sie offen war.« Er hielt inne. »Na ja, ich habe gedacht, ich könnte hineingehen, vielleicht war ihm ja was passiert.« Er musste erneut schlucken, und als er sich den Schweiß abwischte, löste sich das Papiertaschentuch unter seinen Händen auf. »Es roch … es roch seltsam. Verfault. Ich habe nach ihm gerufen und bin zu seinem Sprechzimmer gegangen, am Ende des Flurs … Die Tür stand auch ein Stück offen, und da … habe ich sie aufgestoßen. Mein Gott!«
Den Rest hatte er schon am Anfang erzählt, noch bevor Héctor kam, mit völlig verstörter Miene. Der Schweinekopf auf dem Tisch. Blut überall. Und keine Spur von dem Doktor.
»Das hat uns gerade noch gefehlt«, grummelte der Kommissar, als der nervöse Anwalt das Zimmer verlassen hatte. »Die Presse wird wieder auf uns herumhacken wie die Geier.«
Savall nahm den Hörer ab und tippte eine Durchwahl. Eine halbe Minute später kam die Unterinspektorin Andreu herein.
Martina wusste nicht, was passiert war, aber die Miene ihres Chefs verhieß nichts Gutes. Nachdem sie Héctor zum Gruß zugezwinkert hatte, beschränkte sie sich aufs Zuhören. Die Neuigkeit, die Savall ihr mitteilte, mochte sie ebenso überrascht haben wie die beiden anderen, aber sie ließ sich nichts anmerken. Sie hörte nur aufmerksam zu, stellte ein paar Fragen und ging wieder, um die Anweisungen auszuführen. Héctor schaute ihr hinterher. Er zuckte fast zusammen, als er seinen Namen hörte.
»Héctor. Hör mir gut zu, denn ich werde es nur einmal sagen. Ich habe für dich den Hals riskiert. Ich habe dich vor der Presse verteidigt und vor meinen Vorgesetzten. Ich habe alle möglichen Strippen gezogen, um die Sache zu begraben. Und ich hätte es fast geschafft, dass der Kerl die Anzeige zurückzieht. Aber wenn du noch einmal einen Fuß in diese Praxis setzt, wenn du dich irgendwie in die Ermittlungen einmischst, werde ich nichts mehr für dich tun können. Ist das klar?«
Héctor schlug die Beine übereinander. Er wirkte hoch konzentriert.
»Es ist mein Kopf, der unter der Guillotine liegt«, sagte er schließlich. »Meinst du nicht, ich habe das Recht zu entscheiden, wofür sie ihn mir abschneiden?«
»Du hast Scheiße gebaut, und du weißt es. Jetzt hast du die Folgen zu tragen.«
Das Gute war, dass Héctor es wusste, aber in dem Moment war es ihm egal. Die Schläge, die er dem Kerl verpasst hatte, schienen ihm gerechtfertigt. Es war, als wäre der ernsthafte Inspektor Salgado in der Zeit zurückgegangen in seine Jugend in einem Viertel von Buenos Aires, wo die Streitereien nach Schulschluss mit Gewalt geklärt wurden. Wo man mit aufgeplatzter Lippe nach Hause kam und versicherte, man habe einen Fußball ins Gesicht bekommen. Etwas Rebellisches saß ihm noch immer wie ein Stachel in der Brust; unreif für einen Polizisten, der gerade dreiundvierzig geworden war.
»Und an das Mädchen denkt keiner mehr?«, fragte Héctor bitter. Eine ärmliche Verteidigung, aber es war die einzige, die ihm blieb.
»Ich weiß nicht, ob es in deinen Kopf geht, Salgado.« Savall hob unwillkürlich die Stimme. »Wir hatten mit dem Ganzen nichts zu tun. Soweit wir wissen, gab es keinerlei Kontakt zwischen diesem Dr. Omar und dem Mädchen, nachdem die Wohnung mit den eingesperrten Frauen geräumt war. Ohne das Wort des Mädchens können wir nicht einmal beweisen, dass es vorher einen Kontakt gab. Sie war in der Jugendstrafanstalt. Irgendwie hat sie es angestellt, sich … das anzutun.«
Héctor nickte.
»Der Sachverhalt ist mir bekannt.«
Aber der Sachverhalt vermochte das Grauen nicht zu fassen. Das Gesicht eines Mädchens, aus dem noch im Tod die panische Angst sprach. Kira war noch keine fünfzehn gewesen, konnte kein Wort Spanisch und auch sonst keins aus einer mehr oder weniger bekannten Sprache, und dennoch hatte sie es geschafft, sich mitzuteilen. Sie war klein, sehr dünn, in ihrem glatten Puppengesicht leuchteten die Augen, Augen von einer Farbe zwischen Bernstein und Kastanie. Wie die anderen Mädchen hatte Kira, bevor sie auf der Suche nach einer besseren Zukunft ihr Land verließ, an einer Zeremonie teilgenommen. Es waren die sogenannten Juju-Riten, und nachdem sie das Wasser getrunken hatten, das man zum Waschen eines Toten benutzte, überreichten die jungen Mädchen Schamhaar oder Menstruationsblut, worauf man es vor einem Altar ausbreitete. Auf diese Weise verpflichteten sie sich, ihre Schlepper nicht anzuzeigen, die angeblichen Schulden für die Reisekosten abzubezahlen und überhaupt ohne Widerspruch zu gehorchen. Wer sich an das Versprechen nicht hielt, wurde mit einem schrecklichen Tod bestraft, dem eigenen oder dem der zurückgelassenen Verwandten. Kira hatte es am eigenen Leib erfahren; niemand hätte gedacht, dass ein so zarter Körper so viel Blut enthalten könnte.
Héctor versuchte das Bild aus seinem Kopf zu verscheuchen, ebenjenen Anblick, weshalb er sich damals auf den Weg zu Dr. Omar gemacht hatte, um ihm sämtliche Knochen zu brechen. Der Name des Mannes war bei den Ermittlungen zur Sprache gekommen, seine Aufgabe war es angeblich gewesen, sich um die Gesundheit der Mädchen zu kümmern. Doch die Angst, die sie durchblicken ließen, als sie seinen Namen hörten, deutete darauf hin, dass die Tätigkeit des Doktors über eine rein medizinische Betreuung hinausging. Keine von ihnen traute sich, über ihn zu sprechen. Der Kerl hatte vorgebeugt und die Mädchen einzeln oder zu zweit in seine Praxis bringen lassen. Was man ihm allenfalls vorwerfen konnte, war, dass er während der Behandlung keine Fragen gestellt hatte, eine recht dürftige Anschuldigung gegenüber einem Heilkünstler, der sich in seiner schmierigen Praxis um Einwanderer ohne Papiere kümmerte.
Doch Héctor hatte sich nicht damit zufriedengegeben, und er hatte die Jüngste gewählt, die am verschüchtertsten war, und sie mit Hilfe eines Dolmetschers unter Druck gesetzt. Allerdings ohne Erfolg. Am nächsten Tag nahm ihre Kinderhand eine Schere und verwandelte den eigenen Körper in einen blutspeienden Brunnen. In den achtzehn Jahren, die Héctor bei der Polizei war, hatte er dergleichen nicht gesehen, und er hatte Junkies vor sich gehabt, die kein einziges heiles Stück Haut mehr besaßen, wo sie sich spritzen konnten, Menschen, die Opfer jeder Art von Gewalt geworden waren. Aber das nicht. Von Kiras verstümmeltem Körper ging etwas Perverses und Makabres aus, etwas Unwirkliches, was sich mit Worten weder beschreiben noch erklären ließ, was ins Reich der Albträume gehörte.
»Noch etwas.« Savall fuhr fort, als herrschte über den vorhergehenden Punkt Einigkeit. »Bevor du wieder antrittst, wirst du ein paar Sitzungen bei einem unserer Psychologen absolvieren. Es ist unvermeidlich. Dein erster Termin ist morgen um elf. Also tu dein Mögliches, um vernünftig zu erscheinen. Angefangen beim Rasieren.«
»Kann ich gehen?«
»Einen Augenblick. Ich will keine Erklärungen gegenüber der Presse, kein Wort. Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen, und du hast nichts zu sagen. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«
Als er sah, dass Héctor nickte, stieß Savall einen Seufzer aus und lächelte. Salgado stand auf und wollte sich verabschieden.
»Wie war’s eigentlich in Buenos Aires?«
»Wie soll ich sagen … Es ist wie mit dem Perito Moreno, ab und zu sieht es so aus, als würde das Eis in Stücke krachen, aber der Gletscher hält sich.«
Das Telefon auf Savalls Tisch klingelte erneut, und Héctor wollte die Gelegenheit nutzen und endlich verschwinden.
»Warte, geh noch nicht. Ja …? Scheiße …! Sag ihr, ich rufe gleich zurück … Dann sag es ihr halt noch mal!« Savall legte wütend auf.
»Schwierigkeiten?«, fragte Héctor.
»Was wäre das Leben ohne.« Savall blieb ein paar Sekunden still, wie immer, wenn eine Idee ihn ansprang. »Hör zu«, sagte er langsam, »ich glaube, du könntest etwas für mich tun. Inoffiziell.«
»Soll ich jemanden verprügeln? Dafür habe ich ein Händchen.«
»Setz dich. Die Frau, die mich eben sprechen wollte, war Joana Vidal.«
»Keine Ahnung, wer das ist.«
»Klar, du warst schon weg, als es passiert ist. In der Johannisnacht.« Savall nahm ein paar Mappen vom Tisch, bis er die gesuchte fand. »Marc Castells Vidal, neunzehn Jahre alt. Er hatte zu Hause eine kleine Party gefeiert, nur ein paar Freunde und er. Irgendwann in der Nacht ist der Junge aus dem Fenster gefallen. Er war sofort tot.«
»Supermannkomplex auf Koks?«
»Im Blut waren keine Drogen. Alkohol ja, aber nicht übermäßig. Offenbar hatte er die Angewohnheit, sich ins Dachfenster zu setzen und eine Zigarette zu rauchen. Vielleicht hat er das Gleichgewicht verloren und ist gestürzt, vielleicht ist er gesprungen … Er war ein seltsamer Junge.«
»Mit neunzehn sind alle seltsam.«
»Aber nicht alle fallen aus dem Fenster«, widersprach Savall. »Die Sache ist, dass Marc Castells der Sohn von Enric Castells war. Der Name sagt dir was, ja?«
Héctor überlegte kurz, ehe er antwortete.
»Vage … Wirtschaft, Politik?«
»Beides. Er hatte ein Unternehmen mit mehr als hundert Angestellten. Dann hat er in Immobilien investiert und war einer der wenigen, die rechtzeitig ausgestiegen sind, bevor die Blase platzte. Und in letzter Zeit ist sein Name immer wieder als mögliche Nummer zwei bei irgendeiner Partei genannt worden. Es gibt ziemlich viel Bewegung auf den Listen für die nächsten Regionalwahlen, und es heißt, man brauche neue Gesichter. Bisher ist noch nichts bestätigt, aber es ist klar, dass ein paar rechte Parteien ihn gerne in ihren Reihen sähen. Wie auch immer, der Junge ist jedenfalls aus dem Fenster gestürzt oder gesprungen. So sieht’s aus. Mehr haben wir nicht.«
»Aber?«
»Aber seine Mutter akzeptiert es nicht. Sie ist die Exfrau von Castells … Eine etwas undurchsichtige Geschichte. Joana hat ihren Mann und den Jungen verlassen, als der ein oder zwei Jahre alt war. Sie hat ihn erst bei der Beerdigung wiedergesehen.«
»Schöne Scheiße.«
»Wohl wahr. Ich kannte sie. Joana, meine ich. Bevor sie gegangen ist. Wir waren Freunde.«
»Sieh an. Die alte Garde aus Barcelona. Polokameraden? Ich vergesse immer wieder, wie sehr man sich hier gegenseitig unterstützt.«
Savall machte eine abfällige Handbewegung.
»Wie überall. Aber wie ich schon sagte, offiziell haben wir nichts. Ich kann niemanden auf den Fall ansetzen, und die anderen Inspektoren haben schon genug zu tun. Aber …«
»Aber ich bin frei.«
»Genau. Wirf einfach mal einen Blick auf den Fall. Sprich mit den Eltern, mit den jungen Leuten, die auf der Party waren. Schließ die Sache für Joana endgültig ab.« Savall senkte die Augen. »Du hast doch auch einen Sohn. Sie möchte nur, dass sich jemand mit dem Tod ihres Jungen befasst. Bitte.«
Héctor wusste nicht, ob sein Chef ihn wirklich um einen Gefallen bat oder ihn lieber beschäftigen wollte, um Schlimmeres zu verhindern.
Savall gab ihm den Bericht mit einem zweifelhaften Lächeln.
»Morgen setzen wir uns mit Andreu zusammen. Sie hatte den Fall übernommen, zusammen mit der Neuen.«
»Wir haben eine neue Kollegin?«
»Ja, ich habe sie zu Andreu geschickt. Sie ist ein bisschen grün hinter den Ohren, aber in der Theorie ist sie fit. Die Beste bei allen Prüfungen, eine kometenhafte Laufbahn. Du weißt ja, wie die Jugend drängt.«
Héctor nahm die Mappe und stand auf.
»Freut mich sehr, dass du wieder bei uns bist.« Es kam der feierliche Moment. Savalls mimisches Repertoire war vielfältig. Ebenjetzt erinnerte ihn sein Gesicht an Robert Duvall. Väterlich, streng, zugewandt und ein wenig zu glatt. »Und halt mich auf dem Laufenden, wie es dir mit dem Seelenklempner ergeht.«
Sie verabschiedeten sich.
»Und denk dran«, Savall drückte seinem Untergebenen die Hand. »Das mit Castells ist inoffiziell.«
Héctor löste sich aus dem Griff, aber der Satz schwirrte noch als Echo durch seine Gedanken, wie diese Schmeißfliegen, die immer wieder mit dem Kopf gegen die Scheibe knallen.
Zum ersten Mal seit vielen Tagen verspürte Joana Vidal so etwas wie Ruhe. Jemand hatte sie zurückgerufen, hatte ihr gesagt, dass man weiter ermitteln werde, bis der Fall endgültig abgeschlossen sei. »Wir werden der Sache auf den Grund gehen, Joana, das verspreche ich dir«, hatte Savall versichert. Und das war das Einzige, was sie wollte, nur deshalb war sie in Barcelona geblieben, einer Stadt, aus der sie geflohen und in die sie nur zurückgekehrt war, um der Beerdigung eines Sohnes beizuwohnen, den sie so gut wie gar nicht kannte.
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