Der eiserne Gustav - Hans Fallada - E-Book

Der eiserne Gustav E-Book

Hans Fallada

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Beschreibung

Ungekürzte und kommentierte Ausgabe Berlin, zwischen Weltkrieg und Weimar. Der sturköpfige Gustav Hackendahl, ein Berliner Original wie aus dem Bilderbuch und von allen nur ob seiner Strenge gegen sich und andere "eiserner Gustav" genannt, betreibt ein kleines Fuhrunternehmen. In den Wirren der Kriegszeit und ihrer Folgen kämpft er als Kutscher ums Überleben. Doch das Schicksal meint es nicht leicht mit ihm: Seine Familie ist zerstritten, mit den Kindern liegt er überkreuz, sein Unternehmen ist vom sich abzeichnenden Erfolg des Automobils bedroht. Wie um es sich und der Welt noch einmal zu zeigen, macht er sich auf eine letzte Reise mit seiner Kutsche: Berlin-Paris-Berlin soll die Route sein. Ein versöhnlicherer Roman von Fallada, der in der Figur des Gustav Hackendahl wenigstens ein "bissken" trotzigen Optimismus verbreiten kann. Der Stoff wurde bereits zweimal vortrefflich verfilmt: mit Heinz Rühmann und mit dem unvergessen Gustav Knuth in den Hauptrollen. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 1106

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Hans Fallada

Der eiserne Gustav

Ungekürzte und kommentierte Ausgabe

Hans Fallada

Der eiserne Gustav

Ungekürzte und kommentierte Ausgabe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Rowohlt Verlag, Berlin, 1938 (737 S.) 1. Auflage, ISBN 978-3-962813-32-1

null-papier.de/572

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Vor­wort des Au­tors

Ers­tes Ka­pi­tel – Die gute schö­ne Frie­dens­zeit

1 – Ha­cken­dahl er­wacht

2 – Ge­spräch zwi­schen Ehe­leu­ten

3 – Im Schlaf­zim­mer der Töch­ter

4 – Im Schlaf­zim­mer der Söh­ne

5 – Der Schlüs­sel

6 – Der Streit mit Erich

7 – Zank der Schwes­tern

8 – Otto und Ra­bau­se auf der Fut­ter­kis­te

9 – Straf­ge­richt über Erich

10 – Mor­gen auf dem Drosch­ken­hof

11 – Ha­cken­dahl und sein Kas­sen­buch

12 – Wer soll Erich be­frei­en

13 – Wett­ren­nen zwi­schen Pferd und Auto

14 – Erich wird wie­der frei

15 – Der Ju­we­len­dieb­stahl

16 – Zwei Ha­cken­dahls im Gym­na­si­um

17 – Die heim­li­che Ehe

18 – Krach im Stall

19 – Va­ter sagt Bubi gute Nacht

Zwei­tes Ka­pi­tel – Ein Krieg bricht aus

20 – Der Schutz­mann vor dem Schloss

21 – Ha­cken­dahls Un­ter den Lin­den

22 – Eva trifft einen Be­kann­ten

23 – Der Ab­ge­ord­ne­te und Erich

24 – Abendes­sen bei Ha­cken­dahls

25 – Wenn ich wie­der­kom­me …!

26 – Pfer­de­mus­te­rung

27 – Spio­nen­fang

28 – Otto fährt ab

29 – Schwes­ter So­phie will auch fort

30 – Eva lernt ihre Schwä­ge­rin ken­nen

31 – Ha­cken­dahl lang­weilt sich

32 – Ge­spräch im Dun­keln zu zwei­en

33 – Ein Zweif­ler und ein Gläu­bi­ger

34 – In der Klas­se – Re­bel­li­on und Ab­bit­te

35 – Vor dem Gold­ver­kauf

36 – Mut­ter und Toch­ter

37 – Ha­cken­dahl freut sich

Drit­tes Ka­pi­tel – Die lan­ge schwe­re Zeit

38 – Nacht ei­ner Krie­ger­frau

39 – Vor ei­nem Flei­scher­la­den

40 – Ha­cken­dahl wird wie­der klein

41 – Va­ter und Toch­ter

42 – Eva ist wil­lens

43 – Im Gra­nat­trich­ter

44 – Etap­pe

45 – Es wäre schön

46 – In der Mu­ni­ti­ons­fa­brik

47 – Dreck zum Dreck

48 – Otto kehrt heim

49 – Ot­tos Auss­pra­che mit Va­ter

50 – Bubi gra­tu­liert zur Hoch­zeit

51 – Hams­ter­fahr­ten

52 – Im War­te­zim­mer des Arz­tes

53 – Beim Kas­sen­arzt

54 – Abrei­se in den Schüt­zen­gra­ben

55 – Tod Otto Ha­cken­dahls

Vier­tes Ka­pi­tel – Ein Frie­de bricht aus

56 – Ha­cken­dahl und sei­ne Kriegs­an­lei­hen

57 – Die trost­lo­se Wit­we Quaas

58 – Sie schie­ßen in der Stadt

59 – Ab­ge­ris­se­ne Ach­sel­klap­pen

60 – Die ge­stör­te Volks­ver­samm­lung

61 – Ers­te Küs­se

62 – Zwei Träu­me

63 – Der Krieg ist nicht ver­lo­ren

64 – Recht oder Un­recht, Wis­sen oder Ge­fühl

65 – Der Weg durch den Reichs­tag

66 – Wa­rum wollt ihr die Macht?

67 – Ge­spräch un­ter ei­nem Tisch

68 – Eine Hand als Aschen­be­cher

69 – Zwei Be­su­che in zwei Vil­len

70 – Der ei­ser­ne Gu­stav fasst einen Ent­schluss

Fünf­tes Ka­pi­tel – Wel­che Hand müss­te nicht ver­dor­ren …?

71 – Ha­cken­dahl kün­digt dem Heinz

72 – Waf­fen­sam­meln

73 – Nicht mehr Ka­me­rad un­ter Ka­me­ra­den

74 – Miss­glück­te Ein­klei­dung

75 – Kampf um An­zü­ge

76 – Heim­kehr von Schwes­ter So­phie

77 – Im­mer grö­ße­re Schmach

78 – Begleit­herr ei­ner Dame

79 – Aus­he­bung ei­ner Bar

80 – Be­such bei Frau Quaas

81 – Ver­füh­rung zur Wol­lust

82 – Mah­nun­gen ei­nes Leh­rers

83 – Heim­kehr zu den Ka­me­ra­den

84 – Eva wird für Heinz eine Auf­ga­be

85 – Die Auf­ga­be wird nicht ge­löst

86 – Der Frie­de bricht aus

87 – Ein­zug bei Tut­ti

Sechs­tes Ka­pi­tel – Rausch der Ar­mut

88 – Va­ter Ha­cken­dahl in der In­fla­ti­on

89 – Der Spaß­ma­cher beim gro­ben Gu­stav

90 – Der Va­ter nimmt Ab­schied von Erich

91 – Ein Ver­kehrs­hin­der­nis

92 – Ein aus­ge­ho­be­nes Lo­kal

93 – Nackt­heit und Ge­schäft

94 – Streit zwi­schen zwei al­ten Freun­den

95 – Be­such im Ge­fäng­nis

96 – Eu­gen Basts Ver­haf­tung

97 – Streit um eine Peit­sche

98 – Ein Peit­sch­chen knallt

99 – Erb­schaft und Ent­täu­schung

100 – Zwei Schmol­ler

101 – Erich Ha­cken­dahl als Bör­sen­spe­ku­lant

102 – Ab­schied auf Hid­den­see

103 – Heinz ver­lobt sich

Sieb­tes Ka­pi­tel – Wer Ar­beit kennt und da nicht rennt

104 – Kün­di­gung auf der Bank

105 – Nacht­fahr­ten des ei­ser­nen Gu­stav

106 – Ha­cken­dahl wird So­phies Kli­nik­fah­rer

107 – Fe­ri­en und kei­ne Angst

108 – En­ga­ge­ment bei Hop­pe & Cie.

109 – Hop­pes Plan für den klei­nen Mann

110 – Die Kun­den der Bank

111 – Der rät­sel­haf­te Dr. Hop­pe

112 – Ent­las­sung bei Hop­pe & Cie.

113 – Kampf um Bru­der Erich

114 – Stem­peln ge­hen

115 – Flag­gen­streit des Leh­rers De­ge­ner

116 – Be­wer­bun­gen

117 – Die drei Mel­de­schei­ne

Ach­tes Ka­pi­tel – Die Fahrt nach Pa­ris

118 – Die Rei­te­rin am Wann­see­bahn­hof

119 – Tren­nung von So­phie

120 – Erich wird vom Va­ter aus­ge­trie­ben

121 – Hilflo­ses Pla­nen des ei­ser­nen Gu­stav

122 – Der jun­ge Grund­eis wit­tert Chan­cen

123 – Heinz ist nicht ein­ver­stan­den, aber Va­ter siegt

124 – Ha­cken­dahl wird krank

125 – Ab­fahrt vom Zei­tungs­haus

126 – Ab­fahrt vom Rat­haus und aus der Stadt

127 – Die an ihn den­ken

128 – Fahrt durch Deutsch­land – Re­gen und Tri­umph

129 – Grenz­über­tritt und Krie­ger­grä­ber

130 – Ein­zug in Pa­ris – Drosch­ken­ren­nen

131 – Trü­be Herbst­stim­mung, von Grund­eis ver­trie­ben

132 – Ber­lin emp­fängt den Ei­ser­nen

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Vorwort des Autors

Al­le Ge­stal­ten die­ses Bu­ches, ein­schließ­lich des ei­ser­nen Gu­stav, sind Ge­schöp­fe der frei­en Fan­ta­sie. Nir­gend soll auf rea­le Per­so­nen auch nur an­ge­spielt wer­den. Der Ver­fas­ser hat le­dig­lich Ge­scheh­nis­se, wie sie in je­der Ta­ges­zei­tung auf­ge­zeich­net ste­hen, als Grund­stoff be­nutzt.

H. F.

Erstes Kapitel – Die gute schöne Friedenszeit

1 – Hackendahl erwacht

Vi­el­leicht war es das Pferd im Stall ge­we­sen, die Schim­mel­stu­te, das Lieb­lings­tier des al­ten Ha­cken­dahl: Es ließ pau­sen­los die Half­ter­ket­te durch den Krip­pen­ring ras­seln und schlug, sein Fut­ter for­dernd, un­abläs­sig mit dem Huf ge­gen das Stall­pflas­ter.

Vi­el­leicht aber war es auch die ers­te fah­le Däm­me­rung ge­we­sen, die mit ih­rem grau­en Schein das hel­le­re Mond­licht ab­ge­löst hat­te – viel­leicht hat­te der über Ber­lin grau­en­de Mor­gen den al­ten Ha­cken­dahl ge­weckt.

Vi­el­leicht aber hat­ten we­der Lieb­lings­tier noch Mor­gen­däm­me­rung Ha­cken­dahl so früh wach­ge­macht, um drei Uhr zwan­zig, am 29. Juni 1914 – son­dern et­was sehr, sehr an­de­res … Mit der Schlaf­se­lig­keit kämp­fend, hat­te der alte Mann ge­stöhnt: »Erich, Erich, das wirst du doch nicht tun …!«

Dann war er hoch­ge­fah­ren und hat­te in das Zim­mer ge­st­arrt, ohne noch et­was zu se­hen. Lang­sam war Er­ken­nen in sein Auge ge­tre­ten; über den ge­schwun­ge­nen Mu­sche­lauf­satz des Ehe­bet­tes fort, flan­kiert von den bei­den Knäu­fen rechts und links, sieht er ge­ra­de auf die Wand, an der sein Pal­lasch1 hängt aus der Zeit, da er noch Wacht­meis­ter bei den Pa­se­wal­ker Küras­sie­ren war, ne­ben dem Helm, un­ter dem Bild, das ihn an sei­nem Ent­las­sungs­ta­ge aus dem Dienst vor nun zwan­zig Jah­ren zeigt.

Er sieht mit wa­chem Auge im Däm­mer­licht den schwa­chen Schein auf der Klin­ge und auf dem gol­de­nen Ad­ler des Helms: Die­se Erin­ne­run­gen ma­chen ihn heu­te noch stol­zer und glück­li­cher als das große Fuhr­ge­schäft, das er auf­ge­baut hat. Das An­se­hen, das er beim Re­gi­ment ge­noss, freut ihn mehr als die Ach­tung, die dem er­folg­rei­chen Ge­schäfts­mann von den Nach­barn in der Frank­fur­ter Al­lee ge­zollt wird. Und, un­mit­tel­bar an sei­nen Angst­traum an­knüp­fend, sagt er, jetzt völ­lig wach: »Nein, Erich wür­de so et­was nie tun – nie!«

Mit ent­schlos­se­nem Ruck stellt er die Bei­ne auf den Bett­vor­le­ger, ein Hei­dschnu­cken­fell.

schwe­rer Sä­bel  <<<

2 – Gespräch zwischen Eheleuten

Stehst du schon auf, Gu­stav?« fragt es aus dem Ne­ben­bett, und eine Hand tas­tet nach ihm. »Es ist doch erst drei.«

»Ja­woll, Mut­ter«, ant­wor­tet er. »Drei Uhr fünf­und­zwan­zig.«

»Aber warum denn, Va­ter? Füt­tern ist doch erst um vier …«

Er wird fast ver­le­gen. »Mir ist so, Mut­ter, als könn­te was krank sein im Stall …«

Er steckt rasch den Kopf in die Wasch­schüs­sel, um wei­te­ren Er­klä­run­gen zu ent­ge­hen. Aber sei­ne Frau war­tet ge­dul­dig, bis er sich ab­ge­trock­net hat und nun da­bei ist, den auf­ge­wir­bel­ten Schnurr­bart mit Po­ma­de, Kamm und Bürs­te in Form zu brin­gen. Da sagt sie: »Du hast die gan­ze Nacht von Erich fan­ta­siert, Va­ter …«

Der Mann hält mit ei­nem Ruck im Käm­men inne, er möch­te et­was Ra­sches sa­gen, aber er be­sinnt sich. »So«, meint er dann gleich­gül­tig. »Da­von weiß ich nichts …«

»Was hast du denn mit Erich?« fragt die Frau be­harr­lich. »Ich mer­ke doch, ihr habt was mit­ein­an­der.«

»Die Eva hat ges­tern wie­der den gan­zen Nach­mit­tag in der Kon­di­to­rei Köl­ler ge­steckt. Das passt mir nicht – die Leu­te sa­gen da­für nur Café Knutsch.«

»Ein jun­ges Ding will auch was ha­ben vom Le­ben«, ant­wor­tet die Mut­ter. »Fräu­lein Köl­ler hat jetzt ein Gram­mo­phon ge­kauft. Sie geht nur we­gen der Mu­sik hin.«

»Es passt mir nicht!« sagt der alte Wacht­meis­ter nach­drück­lich. »Sorg du für Ord­nung bei den Mäd­chen, ich wer­de die Ben­gels schon an die Kan­da­re neh­men. Auch den Erich.«

»Aber …«, fängt die Frau an.

Aber Ha­cken­dahl ist schon fort. Er hat ge­sagt, was er will, und sein Wil­le gilt in die­sem Hau­se!

Auf­seuf­zend lässt die Frau sich zu­rück­sin­ken in die Kis­sen. Ach ja, ach du lie­bes Gott­chen! So ein Mann, starr wie ein Be­senstiel, möch­te, dass die Kin­der eben­so le­ben wie er! Der hat eine Ah­nung – aber ich wer­de schon da­für sor­gen, dass die Kin­der zu ih­rem biss­chen Le­bens­freu­de kom­men, auch die Eva, auch der Erich. Gera­de der Erich …!

Schon schläft sie wie­der.

3 – Im Schlafzimmer der Töchter

Der Va­ter steht einen Au­gen­blick un­ent­schlos­sen auf dem dämm­ri­gen Flur. Von un­ten, aus dem Stall, hört er den Schim­mel mah­nend klop­fen und ras­seln. Aber er wi­der­steht der Ver­su­chung, dem Lieb­ling ein heim­li­ches Ex­tra­fut­ter zu schüt­ten. Statt­des­sen klinkt er lei­se die Tür zum Schlaf­zim­mer der jun­gen Mäd­chen auf.

Die bei­den schla­fen ru­hig wei­ter, sie sind es ge­wohnt, dass der Va­ter mor­gens, abends, nachts sei­nen Rund­gang macht, ge­nau wie in der Ka­ser­ne, wo er auch die Schlaf­sä­le re­vi­dier­te, ob al­les in Ord­nung war. Als Ha­cken­dahl die Uni­form aus­zog, aus ei­nem Mi­li­tär ein Zi­vi­list wur­de, den Drosch­ken­be­trieb des da­hin­ge­gan­ge­nen Schwie­ger­va­ters über­nahm, gab er doch nichts von sei­nen mi­li­tä­ri­schen Ge­wohn­hei­ten auf. Ob es nun die Kut­scher, die Pfer­de oder die Kin­der wa­ren – sie hat­ten zu pa­rie­ren, als sei­en sie Sol­da­ten un­ter Mi­li­tär­recht. Was die Kin­der an­ging, so durf­ten sie kein Pri­vat­le­ben ha­ben, nichts von Ge­heim­nis­sen, wie sie Kin­der so lie­ben. In Schrän­ken und Kom­mo­den hat­te je­des Ding auf sei­nem Platz zu lie­gen, der Va­ter war er­bar­mungs­los in dem, was er Ord­nung und Sau­ber­keit nann­te. Der Va­ter – das war das Wort, das dro­hend über der gan­zen Fa­mi­lie Ha­cken­dahl hing. Der Va­ter – das hieß Be­fehl, Ur­teil, strengs­tes Ge­richt.

»Der ei­ser­ne Gu­stav«, so nann­ten sie ihn nur, in der Frank­fur­ter Al­lee – un­nach­gie­big, stur, dick­köp­fig, aber auch auf­recht und un­ta­de­lig. Spät in eine bür­ger­li­che Welt ver­schla­gen, die ihm zu weich vor­kam, ver­such­te er, sei­nen Kin­dern die Grund­sät­ze ein­zuimp­fen, durch die er, wie er mein­te, zum Er­folg ge­kom­men war: Fleiß, Pf­licht­ge­fühl, un­be­ding­te Recht­lich­keit, Un­ter­ord­nung un­ter den Wil­len ei­nes Hö­he­ren – hei­ße er nun Gott, Kai­ser oder Ge­setz.

Die bei­den Mäd­chen schla­fen ru­hig wei­ter in ih­ren Bet­ten, der Va­ter steht im Zim­mer und sieht sich prü­fend um. Über dem Stuhl von So­phie, der Ein­und­zwan­zig­jäh­ri­gen, hängt, acht­sam in Fal­ten ge­legt, das Schwes­tern­kleid, auf dem Nacht­käst­chen liegt die steif ge­stärk­te Schwes­tern­hau­be mit dem ro­ten Kreuz. Der Va­ter seufzt, weil die mün­dig ge­wor­de­ne Toch­ter es er­zwun­gen hat, Schwes­ter zu wer­den. Er hielt da­für, dass dies blas­se, bleich­süch­ti­ge, ein we­nig fröm­meln­de Kind sich bes­ser zur Leh­re­rin ge­eig­net hät­te. Aber So­phie wuss­te ih­ren Wil­len durch­zu­set­zen. »Wenn du eben durch­aus nicht willst, Va­ter«, hat­te sie in ih­rer stil­len, im­mer ein we­nig muf­fi­gen Art ge­sagt, »so muss ich es eben ohne dei­nen Wil­len tun.«

»Aber ich bin dein Va­ter!« hat­te er ge­ru­fen, ver­blüfft über sol­chen Un­ge­hor­sam. »Was du ge­gen mei­nen Wil­len tust, ist ge­gen das fünf­te Ge­bot!«

»Pas­tor Rie­nä­cker hat mir ge­sagt«, hat­te sie lei­se geant­wor­tet, »ich habe den Ruf …«

Der Ruf Got­tes – wahr­haf­tig, sie hat­te sich nicht ge­schämt, ih­rem Va­ter so et­was zu sa­gen. Seit wann sprach man von Gott, dem All­mäch­ti­gen, als sei man per­sön­lich mit ihm be­kannt …?! Für so was war man zu klein. Der alte Ha­cken­dahl glaub­te an eine Rang­ord­nung auf Er­den, als sei sie et­was Räum­li­ches: Ganz oben saß der lie­be Gott, sehr weit un­ten er – und was da­zwi­schen war: ein Oberst, Kam­mer­ge­richts­rat oder Kai­ser hat­te je­der sei­nen be­stimm­ten Platz, aber alle nä­her an Gott als die Ha­cken­dahls.

»Ich will doch nur dein Bes­tes, So­phie«, hat­te er ge­sagt. »Du bist viel zu schwach für den Be­ruf.«

»Gott wird mir die Kraft ge­ben«, hat­te sie geant­wor­tet.

Nun gut, nun gut – me­cha­nisch schiebt der Va­ter die Hau­ben­bän­der auf dem Nacht­käst­chen et­was nach links, so­dass sie in ei­nem ge­ra­den Win­kel zur Hau­be lie­gen, trotz­dem es viel­leicht nö­ti­ger wäre, bei den Klei­dern der zwei­ten Toch­ter, bei Eva, der Acht­zehn­jäh­ri­gen, auf Ord­nung zu se­hen.

Eva liegt auf der Sei­te, das Ge­sicht in den Arm ge­schmiegt, die lan­gen blon­den Haa­re brei­ten sich um den Kopf aus wie eine Ern­te­kro­ne. So­phie hat die Haa­re zur Nacht, wie es sich ge­hört, in zwei Zöpf­chen ge­floch­ten – aber Eva: »Nachts we­nigs­tens will ich das Haar frei ha­ben statt den ol­len Dutt den gan­zen Tag …!«

Ganz un­ge­hö­rig, aber bei ihr hat der Va­ter nicht nein ge­sagt. Sie sieht so hübsch aus, mit dem blon­den Ge­rin­gel um die lich­ten Far­ben des Ge­sich­tes; es macht sein Herz ir­gend­wie froh, sie so lie­gen zu se­hen, blü­hen­des Le­ben, ein er­wach­se­nes Mäd­chen – aber ein Kind noch!

Ein Kind noch, be­stimmt, er kennt doch sei­ne Eva …

Ha­cken­dahl run­zelt die Brau­en, wie­der denkt er an die Kon­di­to­rei, die­ses elen­de Café Knutsch mit sei­ner ble­cher­nen Mu­sik aus ei­nem rie­si­gen, rosa-gold be­mal­ten Schall­trich­ter. Ge­wiss, da­hin läuft sie in letz­ter Zeit, aber nur we­gen der Mu­sik, we­gen die­ses neu­mo­di­schen Ap­pa­ra­tes – kein Ge­dan­ke an Män­ner, an Küs­sen …

Er be­trach­tet sie nach­denk­lich, und un­ter sei­nem Blick wirft sie sich rasch, wie sie al­les tut, auf den Rücken. Sie streckt die Arme, sie stößt einen Laut aus, ir­gen­det­was se­lig Zufrie­de­nes, nur ein Oh! – aber so schön!

Dann sieht sie zu ihm hin. »Bist du das, Va­ter?«

»Gu­ten Mor­gen!« sagt er lang­sam.

»Gu­ten Mor­gen, Va­ter!« Und rasch: »Va­ter, du, hör mal …«

»Was ist denn? Du sollst doch noch schla­fen!«

»Kei­ne Angst – ich schlaf gleich wie­der ein. Du, Va­ter …« Sehr ge­heim­nis­voll: »Weißt du auch, wann Erich nach Haus ge­kom­men ist?«

»Du sollst doch nicht pet­zen!«

»Um eins, Va­ter! Denk dir, um eins!«

»Pfui, Ev­chen, du sollst nicht pet­zen!« sagt er noch ein­mal. Aber er sagt es nur schwach, denn das, was er eben ge­hört hat, er­regt ihn sehr.

»Pet­zen! Wo er mich auch im­mer ver­petzt! Und im Café Köl­ler ha­ben sie er­zählt, er hat Geld, Gold­stücke, Va­ter …«

»Du sollst doch nicht in das Café ge­hen!«

»Aber ich esse so ger­ne Schlag­sah­ne – und hier krie­gen wir nie wel­che!« Sie sieht ih­ren Va­ter lis­tig prü­fend an, sie merkt so­fort, er denkt jetzt nicht an ihre Sün­den. »Und jetzt will ich wie­der schla­fen. Gott, bin ich noch müde …«

»Ja, schlaf!« sagt der Va­ter mah­nend. »Und pet­ze nie wie­der. Pet­zen ist sehr häss­lich.«

Auf dem Flur hört er wie­der deut­li­cher das Klop­fen des Schim­mels. Es ist schon bald vier, es wird Fut­ter­zeit. Aber er geht doch lie­ber erst in das Zim­mer der Söh­ne.

4 – Im Schlafzimmer der Söhne

Drei Bet­ten, drei Schlä­fer, drei Söh­ne. Das könn­te so et­was wie Reich­tum sein – und der Va­ter hat das auch oft so emp­fun­den. Aber heu­te nicht – heu­te nicht. Es ist nicht nur die dunkle Spur des Angst­traums in Ha­cken­dahl, es ist nicht nur das an­ge­be­ri­sche Ge­schwätz von Eva – Ha­cken­dahl steht auf der Schwel­le und lauscht.

Lauscht …

Hun­der­te, Tau­sen­de von Men­schen hat er schla­fen hö­ren, laut und lei­se. Er kennt also die­ses ras­seln­de, schwe­re, gau­mi­ge At­men, er hat es ge­hört in den Ka­ser­nen­stu­ben, haupt­säch­lich in den Sonn­abend-, in den Sonn­tags­näch­ten, nach den Ur­laubs­ta­gen – aber in die­ser Stu­be, im Zim­mer sei­ner Söh­ne hat er es noch nicht ge­hört.

Jetzt hört er es. Er steht und lauscht, durch den Kopf schie­ßen ihm Evas Wor­te: Erich ist erst um eins nach Haus ge­kom­men. Aber es braucht ihm kei­ner zu er­klä­ren, was ein be­trun­ke­ner Schlaf ist, er hört das auch ohne Pet­zen …

Er geht has­tig auf Erichs Bett zu und bleibt wie­der ste­hen. Jetzt sieht er nur noch den be­trun­ke­nen Sohn. Es wäre An­lass ge­nug, über die Art zu schel­ten, wie Heinz, der Jüngs­te, Bubi ge­nannt, sei­ne Klei­der weg­ge­hängt hat. Oder dem Äl­tes­ten, dem vier­und­zwan­zig­jäh­ri­gen Otto, be­greif­lich zu ma­chen, dass der Va­ter wohl merkt, der Jun­ge schläft nicht. Er tut nur so, viel zu re­gungs­los liegt er im Bett.

Aber Ha­cken­dahl steht hilf­los vor Zorn und Trau­er an dem Bett sei­nes Erichs, sei­nes heim­li­chen Lieb­lings, die­ses ra­schen, fro­hen, hel­len Jun­gen, klü­ge­res Ge­gen­stück zur Eva … Zorn und Trau­er, ach, der Jun­ge tut nicht gut, er ist be­trun­ken … Er ist erst sieb­zehn, er geht in die Un­ter­pri­ma des Gym­na­si­ums, Lieb­ling sei­ner El­tern, Lieb­ling der Mit­schü­ler, Lieb­ling der Leh­rer – aber er ist be­trun­ken …

Der Va­ter steht ge­dan­ken­ver­lo­ren da, sein Fuß scharrt mit dem Bett­vor­le­ger her­um, aber viel­leicht ist es et­was an­de­res, gar kein Bett­vor­le­ger?! Jetzt hat er kei­ne Zeit, nach­zu­se­hen, er muss in das Ge­sicht des Soh­nes schau­en, die­ses ge­lieb­te Ge­sicht. Und er ver­sucht, dar­in zu le­sen …

Aber es ist im­mer nur erst Däm­mern in der Stu­be. So geht er an das Fens­ter und schlägt eine Ecke des Vor­hangs zu­rück, da­mit das schon hel­le­re Licht des Ta­ges voll auf den Schlä­fer fällt …

Da­bei be­geg­net sein Blick ei­nem an­de­ren Blick, dem Auge sei­nes äl­tes­ten Soh­nes Otto, das ihn dun­kel und ein we­nig trü­be an­schaut. Zorn steigt in Ha­cken­dahl auf, als habe Otto ihn bei et­was Ver­bo­te­nem er­tappt. Er gibt ganz die­sem plötz­li­chen Zorn nach, vor Otto kann man sich ge­hen­las­sen, Otto ist wei­cher Brei, we­der Zorn noch Lie­be schei­nen einen merk­ba­ren Ein­druck in ihm zu hin­ter­las­sen. Der Va­ter hebt dro­hend die Faust, als wol­le er ihn schla­gen, er zischt im Flüs­ter­ton: »Stil­le bis­te! Willst du gleich wie­der schla­fen!«

Und so­fort schließt der Sohn die Au­gen.

Ei­nen Au­gen­blick sieht der Va­ter noch in das blas­se, weich­li­che Ge­sicht mit dem schüt­teren Bart. Dann wen­det er sich wie­der zu dem an­de­ren Sohn zu­rück. Aber das klei­ne Zwi­schen­spiel hat ihn ver­än­dert, er ist ge­wis­ser­ma­ßen nicht mehr al­lein im Zim­mer, seit er weiß: Der Äl­tes­te ist wach. Mit dem ru­hi­gen Nach­den­ken ist es vor­bei, Zorn, Kla­ge, Trau­er sind ver­weht – es muss et­was ge­sche­hen …

Es muss et­was ge­sche­hen!

Zu­erst bückt er sich. Ja­wohl, er hat vor­hin nicht dar­auf ge­ach­tet, aber er hat sie doch be­merkt, die be­trun­ken ver­streu­ten Klei­dungs­stücke. Das war kein Bett­vor­le­ger, auf dem er ge­stan­den … Er fängt an, die Klei­der auf­zu­sam­meln.

Aus der Ta­sche der Wes­te glei­tet et­was, lei­se klap­pernd fällt es zu Bo­den …

Der Va­ter hängt erst die Wes­te or­dent­lich über die Stuhl­leh­ne. Dann hebt er den Schlüs­sel auf. Es ist ein ganz ge­wöhn­li­cher Schlüs­sel, ein klei­ner Hohl­schlüs­sel, wie man ihn für Schrän­ke und Schub­la­den ver­wen­det. Ziem­lich neu noch, selbst im mat­ten Licht meint der Va­ter, die Feil­stri­che am Bart zu er­ken­nen … Es ist eben kein Fa­brik­schlüs­sel, es ist ein vom Schlos­ser zu­recht­ge­feil­ter Schlüs­sel, nichts Be­son­de­res …!

Der Va­ter steht so still, so still. Er hält dies Schlüs­sel­chen in der Hand, er meint, die Zeit mit Se­kun­den und Mi­nu­ten in den Ohren rau­schen zu hö­ren, sie fällt wie ein dich­ter Re­gen, sie löscht alle Geräusche aus, alle Geräusche des Le­bens. Und das Le­ben selbst wird hin­ter die­sen Schlei­ern grau und farb­los und fer­ne …

Nur ein Schlüs­sel­chen …

Nein, er sieht nicht mehr nach dem Bett des Trun­ke­nen hin, es ist ihm auch gleich, ob Otto wach ist und ihn be­ob­ach­tet. Im tiefs­ten Schmerz ist je­der un­fass­bar al­lein. Nichts reicht mehr zu ihm …

Mit schwe­ren Fü­ßen, wie über den Bo­den schar­rend, mit Au­gen, die nur müh­sam se­hen, als sei­en sie halb blind, geht der Va­ter zur Tür, den Schlüs­sel vor sich in der Hand.

Die­sen klei­nen Schlüs­sel!

5 – Der Schlüssel

Auf dem Flur hör­te Ha­cken­dahl wie­der den Schim­mel mah­nend klop­fen und ras­seln. Das Lieb­lings­tier des Herrn war ver­wöhnt, es for­der­te sich sein Ex­tra­fut­ter. Nein, es war nicht in Ord­nung mit dem Schim­mel und mit dem Erich auch nicht: Es war mit dem Herrn des Hau­ses nicht in Ord­nung! Nach au­ßen pein­li­che Ge­rech­tig­keit und Pf­licht­treue, aber eine hal­be Stun­de frü­her stand er auf und schüt­te­te dem Schim­mel eine Ex­tra­ra­ti­on, heim­lich, ehe der Fut­ter­meis­ter Ra­bau­se kam. Alle sei­ne Kin­der gal­ten ihm gleich, aber wenn der Erich schmei­chel­te und nicht abließ, so lach­te er schließ­lich, la­chend ge­währ­te er ihm, was er den an­de­ren brum­mig ab­schlug.

Er hat­te bei sich ge­meint, dies sei nicht schlimm, nie­mand konn­te sei­nem Her­zen be­feh­len, wen es lie­ber ha­ben soll­te. Aber es war schlimm, es war kei­ne Ord­nung, ja, es war so­gar wi­der die Ord­nung, die mensch­li­che und die gött­li­che, den Be­weis des­sen trug er in der Hand.

Er trug ihn in der Hand, zwi­schen zwei spit­zen Fin­gern trug er den Schlüs­sel, wie einen Zau­ber­schlüs­sel, des­sen Wir­kung man noch nicht ge­nau kennt, mit dem man vor­sich­tig um­ge­hen muss. Es ist ein Zau­ber­schlüs­sel, er schließt dem ei­ser­nen Gu­stav neue Er­kennt­nis­se auf. Kein Va­ter­herz kann ei­sern sein, es ist Bo­den, der im­mer neu ge­pflügt wird; man­che von den Pflug­fur­chen ver­ge­hen nie wie­der.

Ha­cken­dahl steht jetzt vor sei­nem Schreib­tisch; er weiß nicht ge­nau, wie er hier­her­ge­kom­men ist, aber nun ist er hier, und es gibt kein Zu­rück­wei­chen mehr. Gibt es das über­haupt je? Ein preu­ßi­scher Un­ter­of­fi­zier weicht nicht zu­rück, er sieht dem Feind ins Auge, er greift an! Ha­cken­dahl blickt auf den Schreib­tisch, es ist ein großes Stück aus hel­ler Ei­che, viel ge­schnitzt, die gel­ben Mes­sing­be­schlä­ge zei­gen Lö­wen­mäu­ler.

In solch ein Lö­wen­maul stößt er den Schlüs­sel, er dreht ihn im Schloss, sie­he da, der Schlüs­sel schließt. Es über­rascht ihn nicht, er hat es nie an­ders er­war­tet, als dass die­ser von ei­nem Schlos­ser an­ge­fer­tig­te Schlüs­sel sei­ne Schreib­tisch­schub­la­de schlie­ßen wür­de. Und er tut es nun also auch – Ha­cken­dahl sieht in die Lade. Plötz­lich fällt ihm ein, dass frü­her, als die Kin­der noch klei­ner wa­ren, rechts vorn im­mer ein Block aus braun­rot ge­brann­tem Zu­cker lag. Je­den Sonn­tag, nach dem Es­sen, tra­ten die Kin­der hier vor der Lade an. Der Va­ter hielt Ge­richt über die Wo­che, mit dem Mes­ser schnitt er Stücke von dem Zucker­block ab, je nach Ar­tig­keit, klei­ne­re und grö­ße­re. Er hat­te das für gut und ge­sund ge­hal­ten; in sei­ner Ju­gend war Zu­cker et­was Kost­ba­res ge­we­sen, man glaub­te da­mals, dass er große Kräf­te ver­lieh. Ha­cken­dahl hat­te star­ke Kin­der ha­ben wol­len …

Spä­ter hat­te sich her­aus­ge­stellt, dass dies falsch ge­we­sen war. Der Zahn­arzt hat­te er­klärt, vie­les Zu­cker­es­sen ver­der­be den Kin­dern die Zäh­ne. Ha­cken­dahl hat­te es gut ge­meint, hat­te es aber falsch ge­macht. Das war oft so im Le­ben: Man mein­te es gut und mach­te es doch falsch. Vi­el­leicht wuss­te man nicht ge­nug, hat­te zu we­nig ge­lernt. Mit Erich hat­te er es auch gut ge­meint und hat­te es falsch ge­macht. Er war nicht streng ge­nug ge­we­sen, und nun hat­te er einen Dieb zum Soh­ne, das Schlimms­te, was es gibt: einen Haus­dieb, einen Bur­schen, der El­tern und Ge­schwis­ter bes­tiehlt …

Der Mann vor der Schreib­tischla­de stöhnt auf. Sein Stolz ist ge­trof­fen, sei­ne Sau­ber­keit ist schmäh­lich be­schmutzt; wenn der Sohn stiehlt, kann der Va­ter nicht ohne Ma­kel sein! Er hat, wäh­rend er hier steht, ein sehr ge­nau­es Ge­fühl für die er­bar­mungs­los ver­rin­nen­de Zeit, er hat es vier Uhr schla­gen hö­ren. Er muss hin­un­ter in den Stall, Füt­tern und Put­zen der Pfer­de be­auf­sich­ti­gen. In ei­ner hal­b­en Stun­de kom­men schon die ers­ten Nacht­drosch­ken von ih­rer Tour zu­rück, er muss mit ih­nen ab­rech­nen. Er hat kei­ne Zeit, hier ta­ten­los zu ste­hen und über einen miss­ra­te­nen Sohn zu grü­beln.

Ja­wohl, er müss­te jetzt das Geld in den Lein­wand­beu­tel­chen nach­zäh­len, er müss­te den Fehl­be­trag fest­stel­len und den Sohn ver­neh­men. Dann das Füt­tern be­auf­sich­ti­gen und das Put­zen, an­span­nen las­sen, ab­rech­nen … Er tut nichts von al­le­dem, er schüt­telt nach­denk­lich ein Lein­wand­beu­tel­chen, So­phie hat mit ro­tem Fa­den in Kreuz­stich »10 Mark« dar­auf ge­stickt, das Beu­tel­chen ent­hält Gold­stücke, Zehn­mark­stücke …

Aber er zählt den In­halt nicht nach, er geht we­der zum Sohn noch in den Stall, er ist in Erin­ne­run­gen ver­sun­ken. Sei­ne Mi­li­tär­zeit hat ihn zum Mann ge­macht, sie hat ihm Grund­sät­ze ge­ge­ben, al­les, was er spä­ter er­leb­te, im tä­ti­gen bür­ger­li­chen Da­sein, es gab Bei­spie­le da­für in der Mi­li­tär­zeit, Richt­li­ni­en. Er er­in­ner­te sich so man­chen Die­bes in den Mann­schafts­stu­ben, es gab un­ver­bes­ser­li­che Ker­le, die ih­ren Ka­me­ra­den im­mer wie­der den Ta­bak oder die von Haus ge­schick­ten Würs­te stahlen. Da gab es erst Stu­ben­kei­le, er­bar­mungs­lo­se Prü­gel mit dem Kop­pel­schloss, in der dunklen Nacht, auf den nack­ten Hin­tern, wäh­rend das Ge­sicht mit ei­nem Woi­lach1 ver­deckt wur­de. Aber auch ohne das hät­te kein Un­ter­of­fi­zier Ohren für sol­ches Ge­schrei ge­habt …

Half aber die Kei­le nicht, war der Dieb wirk­lich un­ver­bes­ser­lich, ein Feind sei­ner Ka­me­ra­den, so gab es die Ent­eh­rung vor of­fe­ner Front, die Ver­set­zung zu ei­nem Straf­ba­tail­lon – Schan­de und Schmach. Ka­me­ra­den, ja, ein Ka­me­rad war et­was Gu­tes – aber war ein Va­ter nicht viel­leicht doch noch mehr? War es nicht viel ge­mei­ner, einen Va­ter zu be­steh­len als einen Ka­me­ra­den? Der alte Ha­cken­dahl steht zö­gernd, er sieht sei­nen Sohn vor sich, in drei Stun­den hat der sei­ne Schul­sa­chen zu neh­men und ins Gym­na­si­um zu ge­hen. Es ist fast un­mög­lich, sich aus­zu­den­ken, dass der Sohn nicht ins Gym­na­si­um ge­hen wird, nie wie­der, die­ser sein Stolz, sein Ehr­geiz! Und doch – es muss ja sein! Er sieht den Sol­da­ten vor der Front, einen ganz be­stimm­ten Sol­da­ten, mit ei­ner großen, höck­ri­gen, blei­chen Nase. Trä­nen lie­fen über sei­ne Ba­cken, aber er­bar­mungs­los sprach die Stim­me des Of­fi­ziers fort, das end­gül­ti­ge, un­wi­der­ruf­li­che, ver­dam­men­de Ur­teil über den Mann und Dieb …

Es darf kein Weich­sein ge­gen das ei­ge­ne Herz ge­ben; dass es das ei­ge­ne Fleisch und Blut ist, das sün­dig­te, än­dert nichts: Ein Dieb ist ein Dieb. Sie ha­ben ihn den ei­ser­nen Gu­stav ge­tauft, wohl halb im Spott, weil er so starr­köp­fig sein kann. Aber man kann aus ei­nem Spott­na­men auch einen Ehren­na­men ma­chen.

Und schon zählt er, und nur, als er die Höhe der feh­len­den Sum­me fest­ge­stellt hat, hält er einen Au­gen­blick be­stürzt inne. So viel …? Es kann doch nicht sein …! Aber es ist so – noch mehr Schan­de und Schmach! Das kann nicht nur ver­trun­ken sein, sieb­zehn Jah­re, und plötz­lich sieht der Va­ter hin­ter dem blas­sen, be­weg­li­chen, klu­gen Ge­sicht sei­nes Soh­nes die Frat­zen von Wei­bern, käuf­li­chen Wei­bern, je­dem sau­be­ren Man­ne ein Ekel! Sieb­zehn Jah­re …!

Mit ei­nem Ruck stößt er die Schreib­tischla­de zu, schließt ab und geht ei­lend, ei­sern ent­schlos­sen zu­rück in das Schlaf­zim­mer der Söh­ne.

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6 – Der Streit mit Erich

Als der Va­ter so un­er­war­tet zu­rück­kommt, fährt der jetzt schon an­ge­klei­de­te Äl­tes­te, der Otto, auf sei­nem Fens­ter­platz schreck­haft zu­sam­men. Angst­voll ver­sucht er, Holz und Schnitz­mes­ser zu ver­ber­gen, schon zehn­mal hat ihm der Va­ter die­se lä­cher­li­che Spie­le­rei ver­bo­ten: Pfei­fen­köp­fe aus Holz schnit­zen, oder klei­ne Tie­re – eine Al­bern­heit, die ei­nes Man­nes, der ein­mal einen Stall mit drei­ßig Pfer­den lei­ten soll, un­wür­dig ist!

Aber der Va­ter be­ach­tet die­ses Mal nicht die Un­folg­sam­keit des Äl­tes­ten – er geht ohne Zö­gern auf das Bett von Erich zu, legt ihm die Hand fest auf die Schul­ter und be­fiehlt: »Wach auf!«

Der Schlä­fer be­wegt sich, er ver­sucht, sei­ne Schul­ter dem har­ten Griff zu ent­zie­hen, die Au­gen­li­der zit­tern – aber er wird nicht wach.

»Du sollst wach wer­den, hörst du!« be­fiehlt der Va­ter lau­ter.

Erich ver­sucht noch im­mer, sich in den Schlaf zu­rück­zu­ret­ten, aber es ist um­sonst. Die Hand des Va­ters macht Schmerz, die Stim­me des Va­ters droht.

»Was ist denn los?« fragt Erich und reißt die Au­gen müh­sam auf. »Schon Zeit für die Pen­ne?«

Der Va­ter sieht dem Sohn wort­los in das er­wa­chen­de Ge­sicht. Dann greift er mit ei­ner Hand in das lan­ge, blon­de Haar des Schlä­fers, er zieht den wi­der­stre­ben­den Kopf so nahe an den sei­nen, dass Stirn und Stirn sich fast be­rüh­ren … Die Au­gen se­hen das zu nahe Ge­sicht nicht mehr, sie se­hen nur das dunkle, feuch­te Auge des an­de­ren, so nahe – und in dem einen Auge ist Angst, in dem an­de­ren aber ein dunkles, fins­te­res Glü­hen …

»Was ist denn los?« fragt Erich wie­der. Aber er fragt es ohne Mut, ohne Über­zeu­gung.

Der Va­ter ant­wor­tet nicht, er hat im Auge des Soh­nes schon das Ge­ständ­nis ge­le­sen, das Herz klopft ihm so schwer …

Lan­ge, lan­ge bleibt er wort­los, dann hat er plötz­lich, ohne es ge­wollt zu ha­ben, doch lei­se ge­fragt: »Wo hast du das Geld ge­las­sen …?«

Die dunkle, nahe Pu­pil­le scheint sich eng zu­sam­men­zu­zie­hen, hat der Sohn geant­wor­tet? Der Va­ter weiß es nicht. Er reißt an den Haa­ren des an­de­ren, er schlägt mit der Stirn des Soh­nes ge­gen die ei­ge­ne, wie­der und wie­der.

»Mein Geld!« flüs­tert er. »Dieb! Schlüs­sel­fäl­scher!«

Der Kopf wa­ckelt halt­los, er ver­sucht nicht ein­mal, sich dem grau­sa­men Griff zu ent­zie­hen.

»Wie stinkst du?« fragt der Va­ter wie­der. »Nach Schnaps. Nach Hu­ren – gibst du de­nen mein Geld?«

Wie­der kei­ne Ant­wort, ach, die­se schlaf­fe, fei­ge Nach­gie­big­keit stei­gert den Zorn Ha­cken­dahls nur noch!

»Was denkst du, was ich mit dir tue?!« stöhnt er, fast sinn­los vor Zorn. »Zur Po­li­zei …! Ins Ge­fäng­nis …?«

Kei­ne Ant­wort.

»Was willst du?!« fährt Ha­cken­dahl zor­nig her­um zu dem an­de­ren, dem äl­tes­ten Sohn. »Misch dich nicht ein, du Töl­pel!«

»Ich gehe in den Stall«, sagt Otto gleich­gül­tig. »Soll ich für dich Fut­ter aus­ge­ben?«

»Du Fut­ter aus­ge­ben?!« ruft der Va­ter ver­ächt­lich und freut sich doch ir­gend­wie über die Ablen­kung, hat so­gar den Sohn Erich aus dem Griff ent­las­sen. »Das gäbe was Rech­tes! Nein, geh vor­an, ich kom­me gleich nach.«

»Ja­wohl, Va­ter«, sagt Otto ge­hor­sam und geht aus der Stu­be.

Der Va­ter sieht der schwer­fäl­li­gen Ge­stalt nach, dann wen­det er den Blick und sieht wie­der auf Erich, der jetzt auf­ge­stan­den ist und blass, mit ver­zo­ge­nem Ge­sicht, auf der an­de­ren Bett­sei­te steht.

»Und was hast du zu sa­gen?« fragt er und ver­sucht, sich wie­der in Zorn zu brin­gen. »Mach schnell – du hörst, ich habe zu tun. Ich muss Geld ver­die­nen für mei­nen Herrn Sohn zum Steh­len, Ver­sau­fen, Ver­hu­ren …«

Der Sohn sieht den Va­ter von un­ten her an, sei­ne Lip­pe zit­tert, als woll­te er wei­nen. Aber er weint nicht, und jetzt, da er aus dem Griff des Va­ters ist, das Bett als De­ckung zwi­schen ih­nen steht, spricht er auch. »Ich will auch was vom Le­ben ha­ben …«, sagt er.

»Häh? Willst du das?« ruft der Va­ter zor­nig. »Und was gibst du dem Le­ben? Wenn man was ha­ben will, muss man auch was ge­ben!«

Er sieht den Sohn an. Dann sagt er ver­ächt­lich: »Aber du bist ja ein Dieb, du stiehlst …«

»Ich will so nicht le­ben«, sagt der Sohn mür­risch und streicht die Haa­re aus der schmer­zen­den Stirn. »Im­mer nur Pen­ne und Schul­ar­bei­ten, und wenn ich eine hal­be Stun­de fort will, habe ich dich zu fra­gen, und du lau­erst mit der Uhr, dass aus drei­ßig Mi­nu­ten auch kei­ne ein­und­drei­ßig wer­den.«

»Kannst du so nicht le­ben? Als ich so alt war wie du, war ich Knecht beim Bau­ern. Ich habe mor­gens um drei aus dem Bett ge­musst, und wenn ich mich Klock neun zur Nacht hin­leg­te, fühl­te ich kei­nen Kno­chen mehr, so tot war ich! Du kannst nicht le­ben mit fünf Schul­stun­den, mit hei­len Klei­dern und gu­tem Es­sen – so kannst du nicht le­ben?!«

»Aber ich bin kein Bau­ern­knecht! Ein Schü­ler lebt nicht wie ein Knecht! Und die Zei­ten sind auch an­ders ge­wor­den, Va­ter!«

»Ja, die sind frei­lich an­ders ge­wor­den! Es sind Zei­ten ge­wor­den ohne Re­spekt und Ehre! Vor dem Schloss ha­ben die Ro­ten spek­ta­kelt und ihr Recht vom Kai­ser ge­for­dert. Ihr Recht! Du bist wohl auch so ein Ro­ter ge­wor­den und willst mir dein Recht auf Nach­schlüs­sel und ge­stoh­le­nes Geld be­wei­sen?!«

»Wenn du mir nie einen Gro­schen in die Hand gibst, Va­ter!« ant­wor­te­te der Sohn trot­zig. »Ja­wohl habe ich ein Recht, so zu le­ben wie die an­de­ren Gym­na­sias­ten. Du hast mich in die Welt ge­setzt und willst, dass ich stu­die­re … Dann gib mir auch, was dazu ge­hört! Aber du willst bloß ty­ran­ni­sie­ren, du bist nur glück­lich, wenn alle vor dir zit­tern. Du bist ge­nau wie dein Kai­ser: Wer nicht pa­riert, wird über den Hau­fen ge­schos­sen!«

»Erich!« rief der Va­ter töd­lich ver­letzt. »Wie kannst du das sa­gen?! Will ich nicht euer Bes­tes? – Was re­dest du über­haupt?« frag­te er, sich be­sin­nend, ru­hi­ger. »Du hast mir mei­nen Schlüs­sel ge­stoh­len und heim­lich einen falschen ma­chen las­sen, du hast mir mein Geld ge­stoh­len – und das willst du ver­tei­di­gen?! Da fällst du nicht auf die Knie und be­reust und bit­test? Ja, bist du denn ganz wahn­sin­nig ge­wor­den: Der Sohn bes­tiehlt den Va­ter, und nicht der Sohn, nein, der Va­ter soll schuld sein …?«

Er sah sich hilf­los in der Stu­be um. In sei­nem Bett der Heinz war nun doch von dem Lärm aus sei­nem fes­ten Jun­gen­schlaf er­wacht, er saß auf­recht und sah den Va­ter an. Mit sei­nem alt­klu­gen, schnodd­ri­gen Ber­li­ner Ton mein­te er: »Reg dich bloß nich uff, Va­ter. Der Erich is ja nich nor­mal, den ha­ben se mit der Muf­fe ge­bufft, det weiß die jan­ze Pen­ne. Der is ja rot …!«

»Rot!« schrie der Va­ter. »Mein Sohn rot! Ein Ha­cken­dahl So­zi­al­de­mo­krat! Ja, weißt du denn nicht, dass der Kai­ser ge­sagt hat, alle So­zi­al­de­mo­kra­ten sind Va­ter­lands­fein­de, und er zer­schmet­tert sie!«

»Wenn die dei­nen Wil­helm bloß nicht zer­schmet­tern!« sag­te der Sohn böse. »Der kann ja bloß mit sei­nem Sä­bel ras­seln!«

»Va­ter! Va­ter!« rief Heinz. »Lass Erich doch quas­seln, der is ja ver­rückt!«

»Das will ich mal se­hen!« schrie der Va­ter und drang über das Bett vor. »Ob mein ei­ge­ner Sohn …«

Er griff nach ihm, der Sohn wich aus …

»Fried­lich, im­mer fried­lich!« rief Heinz in sei­nem Bett …

7 – Zank der Schwestern

Hört euch bloß die­sen Lärm an!« klag­te die Mut­ter und schob sich in das Zim­mer der Mäd­chen. »Und das schon am frü­hen Mor­gen! Va­ter kann doch nie Ruhe hal­ten – er denkt im­mer, er ist noch in sei­ner Ka­ser­ne …«

Eva saß auf­recht in ih­rem Bett, mit in­ter­es­sier­tem, fast ver­gnüg­tem Ge­sicht lausch­te sie auf den Lärm. So­phie aber hat­te die De­cke hoch über die Schul­tern ge­zo­gen und tat, als höre sie nichts, nicht ein­mal die kla­gen­de Mut­ter.

»So­phie!« sag­te die Mut­ter fle­hend zu ihr. »Auf dich hört Va­ter doch am ehe­s­ten. Geh mal hin und be­ru­hi­ge ihn – und horch, was ei­gent­lich los ist. Was hat er bloß mit Erich – er hat sich schon im Schlaf mit ihm ge­strit­ten! So­phie! Bit­te!!«

»Ich will nichts mit eu­rem Streit und Un­frie­den zu tun ha­ben!« rief Schwes­ter So­phie, setz­te sich auf und sah mit blas­sem, zu­cken­dem Ge­sicht die Mut­ter an. »Oh, ihr quält mich ja so! Ich hal­te das nicht mehr aus! Im­mer Streit und Klatsch – ja, wo­für lebt man denn?«

»Fürs Kir­che­ge­hen doch!« rief Eva spöt­tisch. »Für den Herrn Pas­tor Rie­nä­cker. Gott, was hat der Mann für einen schö­nen Bart! Da kann es ei­nem ja gar nicht lang­wei­lig wer­den in der Kir­che …«

»Mit dir rede ich über­haupt nicht!« sag­te die Äl­te­re zor­nig. »Oh, wie ge­mein bist du! Du denkst, weil du … Aber ich will dir nichts Bö­ses nach­re­den, Gott ver­zeih mir die Sün­de, dass ich es ma­che wie du …«

»Strei­tet euch doch bloß nicht, Kin­der!« bat die Mut­ter jam­mernd. »Wir könn­ten uns doch alle so schön ver­tra­gen. Wir könn­ten un­ser ge­müt­li­ches Le­ben füh­ren, aber nichts, im­mer nur Streit und Zank …«

»Nein, Mut­ter«, sag­te So­phie ent­schlos­sen. »Das ist es ja gar nicht, das ge­müt­li­che Le­ben, wie du es dir denkst, alle Sonn­ta­ge nach dem Eier­häus­chen oder nach Hun­de­keh­le. Ihr denkt, das ist schön. Aber das fin­det ihr bloß schön, wir Jun­gen, und dar­in muss ich Ev­chen und Erich recht ge­ben, wir fin­den schön an­ders …«

»Dan­ke, Fräu­lein Tu­gend«, sag­te Eva spöt­tisch. »Ich brauch dei­ne Hil­fe nicht. Ich kann al­lein Mut­ter sa­gen, was ich will. Und so wie Erich, erst um ein Uhr nachts be­trun­ken nach Haus kom­men und Va­ter sein Geld klau­en …«

»O Gott, o Gott!« jam­mer­te die Mut­ter. »Das wird Erich doch nicht ge­tan ha­ben! Wenn Va­ter das er­fährt, schlägt er ihn tot! Er kann ja von mir Geld ha­ben …«

»Aber, Mut­ter«, rief So­phie ent­setzt, »hin­ter Va­ters Rücken darfst du Erich doch kein Geld ge­ben. Ihr müsst doch zu­sam­men­hal­ten als El­tern, ihr seid doch ein Ehe­paar …«

»Wenn ich sol­chen Quatsch bloß höre!« sag­te Eva ver­ächt­lich. »Das ist auch sol­ches Pfaf­fen­ge­schwätz! Lie­ber soll der Erich Geld klau­en …«

»Wozu braucht er denn Geld?« re­de­te So­phie hit­zi­ger da­ge­gen.

»Aber ich will dir sa­gen, was mit dir ist, So­phie!« fuhr Eva böse fort. »Du hast dich hier von al­lem ge­drückt. Du läufst lie­ber mit ’nem Un­ter­schie­ber von Ers­ter-Klas­se-Pa­ti­en­ten, als dass du Va­ters Nacht­pott leer machst! Da kommst du dir wer weiß wie fein vor, da bil­dest du dir ein, der lie­be Gott gibt dir ’ne gute Zen­sur, und du kriegst den ers­ten Platz im Him­mel …«

»Mut­ter!« rief So­phie wei­nend. »Lass sie nicht so ge­mein re­den, ich hal­te das nicht aus …«

»Ja, die Wahr­heit zu hö­ren, da­für bist du zu fein, aber uns die Wahr­heit zu sa­gen, da­für bist du nicht zu fein!«

»Und ich ma­che es nicht mehr mit!« rief So­phie ent­schlos­sen und wisch­te sich die Trä­nen mit dem Nacht­hem­d­är­mel vom Ge­sicht. »Ich habe es nicht nö­tig. Heu­te noch spre­che ich mit der Frau Obe­rin, und heu­te Abend noch zie­he ich mit Sack und Pack in das Mut­ter­haus!«

»So­phie!« rief die Mut­ter fle­hend. »Tu bloß das nicht! Va­ter er­laubt es nie! Du bist doch un­se­re Toch­ter, und wir sind eine Fa­mi­lie und ge­hö­ren zu­sam­men …«

»Ja­wohl, zum Strei­ten ge­hö­ren wir zu­sam­men!« sag­te Eva zor­nig. »So­phie hat ganz recht, sie soll ma­chen, dass sie weg­kommt! Und ich gehe auch bald. Je­der muss se­hen, wo er bleibt, und das mit Fa­mi­lie und El­tern­lie­be und Ge­schwis­tern – das ist al­les bloß Un­sinn!«

»Aber, Ev­chen, sage doch das nicht! Wir lie­ben uns doch un­ter­ein­an­der …«

»Gar nicht lie­ben wir uns!« rief Eva trot­zig. »Nicht aus­ste­hen kön­nen wir uns …«

»Sage doch bloß das nicht, Ev­chen!«

»Ich höre mir das nicht mehr an«, sag­te So­phie ent­schlos­sen. »Dass du so re­dest, das zeigt, dass du über­haupt kei­nen Glau­ben mehr hast, du nicht und der Erich auch nicht. Und wenn du hier weg willst, so tust du es nur, weil du zü­gel­los sein willst. Ich habe es schon lan­ge kom­men se­hen, und ich brau­che dich gar nicht zu tref­fen mit Ka­va­lie­ren Arm in Arm, pfui Teu­fel! Ich habe es schon ge­wusst, wie du im­mer auf den Rum­mel­platz ge­lau­fen bist und hast dich schon mit drei­zehn von den Ben­gels frei­hal­ten las­sen auf dem Ka­rus­sell!«

»Nei­disch bist du, weil dich nie ei­ner an­ge­se­hen hat, So­phie!«

»Ver­tragt euch doch wie­der, Kin­der!«

»Und nicht ge­schämt hast du dich, wenn dein Rock vom Wind hoch­ge­flo­gen ist, dass man so­gar die Hä­kel­spit­zen von dei­ner Hose sah!«

»Gera­de schön!«

»O Gott, Kin­der, helft doch!« jam­mer­te die Mut­ter. »Hört doch nur! Ich glau­be, der Va­ter schlägt den Erich noch tot …«

8 – Otto und Rabause auf der Futterkiste

Chef ver­schla­fen?« frag­te der alte Fut­ter­meis­ter Ra­bau­se, saß auf der Fut­ter­kis­te und klopf­te mit den Pan­ti­nen ge­gen das Holz. »Wird Zeit zum Füt­tern …«

Zwan­zig Pfer­de hat­ten die Köp­fe nach dem ein­tre­ten­den Otto ge­dreht und lei­se, er­war­tungs­voll ge­wie­hert. Aber sie kann­ten ih­ren Herrn, den Brin­ger der Nah­rung, sie wuss­ten, Otto war es nicht. So wand­ten sie die Köp­fe ent­täuscht wie­der fort, scharr­ten im Stroh, klirr­ten mit den Half­ter­ket­ten – und nur der Schim­mel klopf­te em­si­ger mit dem Huf.

»Kommt gleich«, ant­wor­te­te Otto und setz­te sich ne­ben Ra­bau­se auf die Kis­te. »Ist schon lan­ge wach.«

»Wa­rum hat er dann sei­nem Schim­mel noch kein Fut­ter ge­schüt­tet?« wun­der­te sich der Meis­ter. »Er ist sonst doch im­mer auf dem Kien.« Er lach­te. »Der Chef denkt, ich mer­ke es nicht, aber ich mer­ke es doch.«

»Das geht uns nichts an, Ra­bau­se«, sag­te Otto. »Es sind Va­ters Pfer­de und Va­ters Fut­ter, da­mit kann er ma­chen, was er will.«

»Sage ich denn was an­de­res, Ot­to­chen?« frag­te der alte Ra­bau­se. »Ich sage bloß, er füt­tert heim­lich, und das ist wahr. Sei­ne Lieb­lin­ge hat der Chef eben doch, er mag noch so sehr tun, als ob es nur nach der Ge­rech­tig­keit geht.«

»Da­von weiß ich nichts«, sag­te Otto ab­wei­send. »Ich tu, was Va­ter will.«

»Genau, was ich sage, Ot­to­chen«, grins­te der Alte. »Du bist aber auch nicht sein Lieb­ling.«

Eine Wei­le sa­ßen sie stumm auf ih­rer Kis­te. Dann räus­per­te sich Ra­bau­se, stieß Otto an und frag­te: »Du, Otto, hast du mir den Pfei­fen­kopf ge­schnitzt?«

»Ich bin noch nicht dazu ge­kom­men«, sag­te Otto. »Sie wis­sen, ich muss so auf­pas­sen, Va­ter will es nun mal nicht ha­ben.«

»Mach ihn auch recht schön«, bat Ra­bau­se. »Es muss mein Ajax wer­den, wie ich ihn sie­ben Jah­re ge­fah­ren habe, du weißt, eine Bles­se über das hal­be Maul.«

»Ich mach das schon«, sag­te Otto. »Ich muss nur erst­mal Zeit ha­ben.«

»Siehs­te, Otto – nun hast du doch wie­der ver­ges­sen, mich dar­an zu er­in­nern, dass ich Sie zu dir sage. Du weißt, der Chef hat mir das Du streng ver­bo­ten.«

»Ich habe es nicht ver­ges­sen, ich mag es Ih­nen nur nicht im­mer wie­der sa­gen.«

»Das ist es ja ge­ra­de!« rief der Fut­ter­meis­ter eif­rig. »Wenn Sie sel­ber es woll­ten, dass ich Sie zu Ih­nen sage, dann wür­de ich es auch nicht im­mer ver­ges­sen. Aber du willst es eben nicht.«

»Sie ha­ben eben wie­der du ge­sagt, Ra­bau­se!«

»Siehs­te! Dein Va­ter hat ganz recht, das ist kei­ne Sa­che, wenn der Fut­ter­meis­ter zum Sohn vom Chef du sagt. Du bist doch kei­ne zehn Jah­re mehr, wie da­mals, als ich zu euch kam, du bist jetzt fünf­und­zwan­zig …«

»Vier­und­zwan­zig.«

»Also vier­und­zwan­zig.« Der Fut­ter­meis­ter klopf­te nach­denk­lich mit den Fü­ßen ge­gen die Kis­te. »Vier­und­zwan­zig – da musst du viel­leicht noch mal Sol­dat spie­len …«

»Ich Sol­dat? Nein, da­mit bin ich durch, ein­mal ist ge­nug.«

»Aber wenn es jetzt einen Krieg gibt?«

»Es gibt doch kei­nen Krieg!«

»Hast du denn ges­tern nicht die Ex­trablät­ter ge­le­sen? Die Ser­ben ha­ben doch den ös­ter­rei­chi­schen Kron­prin­zen tot­ge­schos­sen – pass auf, es gibt einen Krieg.«

»Was ha­ben wir denn mit den Ser­ben zu tun? Wo woh­nen die über­haupt?«

»Weiß ich auch nicht ge­nau, Ot­to­chen, ir­gend­wo da un­ten …« Er wies un­be­stimmt in den Stall.

»Se­hen Sie! Da­rum kann es doch kei­nen Krieg ge­ben.«

Wie­der schwie­gen sie eine Wei­le. Dann fing der Fut­ter­meis­ter neu an: »Wenn jetzt aber der Chef nicht gleich kommt … Ich muss doch füt­tern. – Die Ta­xen müs­sen pünkt­lich raus. – Willst du nicht mal rü­ber­se­hen, Ot­to­chen?«

»Der Va­ter hat ge­sagt, er kommt gleich.«

»Oder ich rufe ihn sel­ber, wenn du Angst hast, Ot­to­chen.«

»Las­sen Sie’s man lie­ber, Ra­bau­se, Va­ter wird schon kom­men.«

»Was ist denn? Di­cke Luft?«

Otto nick­te.

»Schon wie­der? Am frü­hen Mor­gen? We­gen was denn?«

»Ach, nichts …«

»Hat wohl wie­der mal ein Topf in der Kü­che nicht rich­tig ge­stan­den? Der Chef macht es aber auch zu schlimm, sich macht er ka­putt und die an­de­ren mit! Du hast auch schon gar kei­nen Mumm mehr in dir, Ot­to­chen.«

»Ach, ich hal­t’s schon noch ’ne Wei­le aus. Aber ganz schön wäre es ja, es gäb einen Krieg, und ich käme raus aus dem Haus. Ich möch­te auch mal mei­ne Ruhe ha­ben und nicht im­mer an­ge­schnauzt wer­den.«

»Die schnau­zen aber auch bei den Preu­ßen, Ot­to­chen.«

»Aber nicht wie Va­ter …«

»Da!« rief Ra­bau­se. »Da ha­ben wir schon den Krach! Komm, Ot­to­chen!«

Und er lief zur Stall­tür.

»Wol­len wir nicht lie­ber hier­blei­ben?« frag­te Otto un­schlüs­sig. Dann aber ging er doch dem Fut­ter­meis­ter nach aus dem Stall.

9 – Strafgericht über Erich

Über den Hof kam der alte Ha­cken­dahl, er stieß den Erich, der nur in Hemd und Hose war, vor sich her. Aus den Fens­tern späh­ten die er­schro­cke­nen, die neu­gie­ri­gen Ge­sich­ter der Frau­en. Der Sohn hat­te es mit sei­nem Trotz ge­schafft: Er hat­te den Va­ter um alle Be­sin­nung ge­bracht.

»Ein Stu­dent willst du sein?!« schrie der Alte und stieß Erich, dass er tau­mel­te. »Ein Furz bist du in mei­nen Au­gen! Ein Gar­nichts! Ein Dieb!!«

»Ich las­se mir das nicht ge­fal­len!« rief Erich. »Ich will …«

»Herr Chef! Herr Chef! Bit­te, Sie we­cken die Nach­barn!« bat der alte Fut­ter­meis­ter er­schro­cken.

»Se­hen Sie ihn sich an, Ra­bau­se!« rief der ehe­ma­li­ge Wacht­meis­ter er­bit­tert. »Der Herr Sohn ver­lu­dert acht­zig Mark in ei­ner Nacht – und sagt noch, er hat ein Recht dar­auf! Still­ge­stan­den, du, wenn dein Va­ter mit dir re­det! Aber ich will dir zei­gen, wer Herr ist in die­sem Hau­se! Heu­te noch mel­de ich dich ab vom Gym­na­si­um …«

»Das tust du nicht, Va­ter!«

»Das tu ich. Ich schwö­re dir, dass ich es tu, heu­te noch!«

»Herr Chef, Herr Chef, be­ru­hi­gen Sie sich, über­le­gen Sie doch! – Rede dei­nem Va­ter doch auch zu, Ot­to­chen!«

»Va­ter …«

»Va­ter!«

»Ja­wohl, Va­ter! Jetzt kannst du Va­ter schrei­en, wo es zu spät ist! Aber es hat sich aus­ge­va­tert mit dir, Bür­sch­chen, jetzt bin ich nur dein Herr – und ich wer­de da­für sor­gen, dass du pa­rie­ren lernst!«

»Herr Chef …«

»Ja­wohl, Herr Chef, jetzt bin ich sein Chef! Marsch mit dir in den Stall, von heu­te an bist du Stall­knecht, und ich schwö­re dir, du sollst so viel aus­zu­mis­ten und zu put­zen krie­gen …«

»Das tue ich nie, Va­ter! Lie­ber lau­fe ich fort, ehe ich eine Mist­ga­bel an­rüh­re!«

»Herr Chef, be­sin­nen Sie sich doch, so ein hel­ler Kopf …«

»Für was hel­le? Für Dieb­stahl! Nichts da, du gehst jetzt in den Stall, Erich!«

»Ich gehe nicht in den Stall!«

»Du gehst in den Stall!«

»Nie!«

»Du ver­wei­gerst dei­nem Va­ter den Ge­hor­sam?«

»Ich gehe nicht in den Stall, ich fas­se nie eine For­ke an!«

»Erich! Treib es nicht zum Äu­ßers­ten! Geh in den Stall, tu die Ar­beit, ge­hor­che – und wir wol­len nach ei­nem Jahr se­hen …«

»Ein Jahr? Nicht eine Stun­de, Va­ter, nicht eine Mi­nu­te!!!«

»Du tust es nicht?«

»Nie!«

Der Va­ter stand nach­den­kend, fast ru­hig.

»Ot­to­chen, red du dem Erich zu«, bat der alte Ra­bau­se. »Er soll ver­nünf­tig sein. Es wird ja nicht ein Jahr dau­ern müs­sen, dein Va­ter wird auch mit ei­nem Mo­nat zu­frie­den sein, mit ei­ner Wo­che – er muss nur erst den gu­ten Wil­len se­hen.«

»Erich …«, bat Otto schwer­fäl­lig …

»Ach, sei du bloß still!« rief Erich böse. »Du Schlapp­schwanz – weil du im­mer ge­kro­chen bist, ist Va­ter bloß so ge­wor­den!«

»Komm!« sag­te der Alte, der nichts ge­hört zu ha­ben schi­en. »Komm!«

Er leg­te dem Sohn die Hand um den Arm. »Los!«

»Ich gehe nicht in den Stall!« wi­der­stand der Sohn.

»Komm!« sag­te der Va­ter. Er zog den Sohn mit sich. Es ging wie­der auf das Haus zu. »Bring mir die Kel­ler­schlüs­sel, Otto!« rief der Va­ter.

Otto lief.

»Was …?« frag­te Erich ver­wirrt.

»Komm!« sag­te der Va­ter.

Sie ka­men zu­rück in das Haus, aber sie stie­gen nicht die Trep­pe zu dem Ober­ge­schoss em­por, es ging in den Kel­ler hin­ab.

»So«, sag­te der Va­ter und stieß eine Kel­ler­tür auf. »Hier bleibst du, bis du dich be­son­nen hast. Ich schwö­re, ich las­se dich nicht eher raus, Erich, bis du dich ge­fügt hast.«

»Hier …?« frag­te Erich un­gläu­big und sah in den schwar­zen, dunklen, ver­git­ter­ten Kel­ler. »Du willst mich hier ein­sper­ren …?«

»Hier bleibst du so lan­ge, bis du dich be­son­nen hast. Ich gebe nicht nach!«

»Das tust du nicht, das darfst du nicht tun, Va­ter!«

»Das tue ich! Gib den Schlüs­sel, Otto! Geh rein, Erich. – Oder willst du ge­hor­chen und im Stall ar­bei­ten?«

»Va­ter!« bat der Sohn und hielt sich am Tür­rah­men fest. »Va­ter, höre doch, um Got­tes wil­len, gib ein­mal nach! Ich bin viel­leicht leicht­sin­nig ge­we­sen, ich ver­spre­che dir, ich will mich än­dern …«

»Gut, än­dere dich, geh in den Stall!«

»Nie!«

»Also rein mit dir!«

Mit ei­nem Ruck schob der Va­ter den Sohn in den Kel­ler, die Tür schlug zu. Von in­nen warf sich der Sohn da­ge­gen. »Va­ter! Va­ter …!«

Der Va­ter schloss ab.

Fäus­te trom­mel­ten von in­nen. Eine bei­na­he un­kennt­li­che Stim­me schrie: »Ty­rann! Schin­der! Hen­ker!«

»Komm füt­tern, Otto«, sag­te der Va­ter und ging.

»Du bist zu hart, Va­ter«, flüs­ter­te Otto.

»Wie?!« rief der Va­ter und blieb ste­hen. (Der im Kel­ler Ein­ge­sperr­te schrie wei­ter.) »Wie?! Und ist er etwa nicht hart zu mir!« Er sah den Sohn streng an. »Tut es mir nicht weh? Komm füt­tern, Otto!«

10 – Morgen auf dem Droschkenhof

Der Va­ter stieg vor dem Sohn Otto die Kel­ler­trep­pe hin­auf, wie ein sehr al­ter Mann.

»Jaja«, mur­mel­te er. »Nun hel­fe uns al­len Gott!«

Als er aber auf den Hof trat, wur­de sei­ne Hal­tung straf­fer. Fast im al­ten be­feh­len­den Ton rief er zu den Frau­en im Fens­ter hin­auf: »Habt ihr nichts zu tun? Macht, dass ihr an eure Ar­beit kommt!«

Gleich ver­schwan­den die Ge­sich­ter. Ha­cken­dahl trat in den Stall. »Al­les in Ord­nung, Ra­bau­se?«

»Im Stall ist al­les in Ord­nung, Chef«, ant­wor­te­te Ra­bau­se. Aber das war auch die ein­zi­ge An­deu­tung, die er auf die Ge­scheh­nis­se eben zu ma­chen wag­te.

In der nächs­ten Stun­de gab es viel zu tun: Ei­li­ge, stum­me Ar­bei­te­rei, um halb sie­ben muss­ten die Pfer­de zur Ta­ge­stour be­reit sein.

Aber doch fand Otto im­mer wie­der einen Au­gen­blick Zeit, un­ter die Stall­tür zu tre­ten, nach dem Kel­ler zu lau­schen. Er hör­te nichts – aber das sag­te noch nicht, dass der Bru­der sich ge­fügt hat­te. Die Aus­sich­ten auf ein Fü­gen des Bru­ders schie­nen ge­ring – fast so ge­ring wie die Aus­sicht auf ein Nach­ge­ben des Va­ters. Schwer seuf­zend mach­te sich Otto wie­der an sei­ne Ar­beit. Er merk­te, auch der Fut­ter­meis­ter Ra­bau­se sah öf­ter als sonst aus der Stall­tür – nur der Va­ter tat, als sei nichts ge­we­sen.

Erst als die Nacht­drosch­ken her­ein­ka­men, ging der alte Ha­cken­dahl aus dem Stall. Wie im­mer sprach er mit je­dem Kut­scher, sah selbst die Ta­xuhr nach, be­rech­ne­te die Gel­der, kas­sier­te und trug ein in sein Buch. In der ver­gan­ge­nen Nacht war das Ge­schäft un­ge­wöhn­lich gut ge­we­sen, die Drosch­ken hat­ten fast gar nicht an den Hal­te­plät­zen zu war­ten ge­habt. Ha­cken­dahl kas­sier­te viel Geld, er be­leb­te sich et­was, es war nicht al­les hoff­nungs­los, das Ge­schäft ging.

Er rief Ra­bau­se zu, dass die Pfer­de von den Nacht­drosch­ken eine Ex­tra­ra­ti­on Ha­fer be­kom­men soll­ten. Dann frag­te er den Kut­scher: »Und wo bist du hin­ge­fah­ren, Wil­lem?«

»Es war ja ville los in der Stadt«, sag­te der Kut­scher. »Die Leu­te sind mäch­tig uff­je­regt we­jen die Er­mor­dung von dem Erz­her­zog. Drei­mal habe ich bei Scherl je­musst, wo die Te­le­gram­me an­je­schla­gen sind. Den Mör­der ha­ben se ja fest, Herr Ha­cken­dahl, es is ein Stu­den­te, sei­nen Na­men hab ich aber nich be­hal­ten. Er hat gleich Jift ge­schluckt, aber er hat’s wie­der raus­ge­kotzt …«

»Ein Stu­dent, so«, sag­te der ei­ser­ne Gu­stav. »Und we­gen so was schla­gen sich die Leu­te die Nacht um die Ohren. Den Hin­tern blu­tig ge­hau­en, das ge­hört so ei­nem, Hin­rich­tung geht viel zu schnell, erst muss der mal Schmer­zen spü­ren … Aber es ist kei­ne Zucht mehr auf der Welt …«

Der alte Kut­scher sah von den blau­en Tuch­kis­sen hoch, die er ge­ra­de für die Tag­fahrt aus­bürs­te­te. »Mee­nen Se det, Herr Ha­cken­dahl? Ick denk im­mer, es is zu ville Zucht auf der Welt, al­les jeht nach Drill un Kom­man­do, und der Mensch is doch kei­ne Ma­schi­ne nich, er is ge­wis­ser­ma­ßen was Le­ben­di­ges, mit Je­füh­len …«

Aber der alte Wil­helm hat­te einen schlech­ten Au­gen­blick ge­wählt, denn ge­ra­de kam sein Kol­le­ge Piep­gras auf den Hof ge­fah­ren, und der hat­te bei sei­ner Drosch­ke trotz des mil­den Som­mer­mor­gens das Ver­deck hoch­ge­schla­gen, und das Kot­le­der war auch zu­ge­knüpft, als reg­ne es Pi­ckel­stei­ne. Aber das war nicht an dem, son­dern …

»Ja, Herr Ha­cken­dahl«, sag­te Piep­gras und stieg schnau­fend über das hohe Wa­gen­rad vom Bock und schob den Lack­zy­lin­der mit der Num­mer aus sei­ner buck­li­gen Stirn. »Wills­te ste­hen, Ot­til­je! Das Aas kann nie sein Fut­ter ab­war­ten! – Ja, Herr Ha­cken­dahl, nu sa­gen Sie bloß, was soll­te ich ma­chen? Klock ein­sen die Nacht sind die bei­den beim Al­ten Kuh­stall in mei­ne Drosch­ke ge­stie­gen, und über den Lehr­ter in den Tier­gar­ten hat er ge­sagt, und dann im­mer wei­ter, bis ich klop­fe! Und ich hab gar nicht ge­merkt, dass er einen auf der Lam­pe hat, aber ge­kloppt hat er nich. Und ich fah­re und fah­re, und manch­mal fra­ge ich: ›Ist es noch nicht ge­nug?‹ – Aber nichts, kei­ne Ant­wort, und wie ich nun schließ­lich an­hal­te, sehe ich, die bei­den pen­nen, aber wie! Da hilft kein Schüt­teln und kein Ru­fen, er quas­selt bloß be­trun­ke­nes Zeug, und von Woh­nung er­fah­ren und so ist kei­ne Rede.«

»Im­mer stellst du sol­che Ge­schich­ten an«, sagt Ha­cken­dahl är­ger­lich. »Weck sie auf! Rech­ne schnell mit ih­nen ab und sieh, dass sie run­ter­kom­men von mei­nem Hof!«

Und er trat einen Schritt zu­rück.

»Aber, Herr Ha­cken­dahl!« sag­te der Kut­scher vor­wurfs­voll. »Wie Sie bloß so sein kön­nen. Das sind doch zwei wie die rei­nen Kin­der, so was muss man doch ge­se­hen ha­ben, das freut Va­tern, und Mut­tern freut es auch … Das ist doch noch die wah­re Lie­be, aus­’m Ge­sang­buch …«

Und wäh­rend er so wei­ter­dröhn­te, schlug Piep­gras lang­sam das Ver­deck sei­ner Drosch­ke zu­rück und knüpf­te das Kot­le­der los …

Es wa­ren eine gan­ze Men­ge Leu­te, die da zu­schau­ten. Müde Drosch­ken­kut­scher vom Nacht­dienst und aus­ge­schla­fe­ne Drosch­ken­kut­scher vom Tag­dienst. Auch Otto und Ra­bau­se lie­ßen sich die­sen Spek­ta­kel nicht ent­ge­hen. (Der alte Piep­gras mach­te wirk­lich im­mer sol­che Wit­ze.) Selbst die Frau­en im Hau­se hat­ten eine Wit­te­rung von der Sa­che be­kom­men und sa­hen wie­der aus den Fens­tern, den drei­zehn­jäh­ri­gen Bubi zwi­schen sich …

Es war kein schlech­ter An­blick, der sich den Be­schau­ern al­len bot, nein, die bei­den Schlä­fer sa­hen gut und er­freu­lich aus. Wenn sie wirk­lich be­rauscht in die Drosch­ke ge­stie­gen wa­ren, jetzt schlie­fen sie einen wah­ren Kin­der­schlaf. Ihr Kopf lag, ganz wie es sich ge­hör­te, an sei­ner Brust, und an den Hän­den hiel­ten sie sich auch, als dür­fe ihre Ge­mein­sam­keit selbst nicht in den Wäl­dern des Schlafs und in den Dickich­ten des Traums ver­lo­ren­ge­hen …

Alle sa­hen still auf das freund­li­che Bild, und nach ei­ner Wei­le sag­te der alte Piep­gras ganz fried­lich: »Na, Herr Ha­cken­dahl, habe ich zu viel ge­sagt? So was freut einen doch, dass es das auch noch in der Kai­ser­stadt Ber­lin gibt, wo sich die Nut­ten auf der Fried­rich ge­ra­de­zu auf die Ha­cken tre­ten. Aber es jibt eben al­lens in Ber­lin …«

Wer kann sa­gen, was al­les dem al­ten Ha­cken­dahl beim An­blick der bei­den jun­gen Lie­bes­leu­te durch Herz und Hirn zog? Er war ja auch ein­mal jung ge­we­sen und sah, dass dies noch Kin­der­lie­be war, et­was Leich­tes, Fröh­li­ches …

Aber da hat­te nun Piep­gras das Wort ge­sagt von den Nut­ten, die sich auf der Fried­rich die Ha­cken ab­tre­ten, und in dem­sel­ben Au­gen­blick war ihm wohl die Toch­ter ein­ge­fal­len, die heim­lich in ein wirk­lich recht übel be­leum­de­tes Café schlich, und der Sohn, der heu­te Mor­gen nach ge­mei­nem Par­füm ge­ro­chen hat­te. Mit ei­nem Satz sprang er zu der Drosch­ke, riss den Schlä­fer bei der Schul­ter und rief zor­nig: »Wa­chen Sie auf! Ma­chen Sie, dass Sie von mei­nem Hof run­ter­kom­men, Sie Kerl, Sie!«

Noch eher aber als der jun­ge Mann wur­de das jun­ge Mäd­chen wach. Sie fuhr hoch und sah auf den frem­den Hof und in all die frem­den Männer­ge­sich­ter, die auf sie ge­rich­tet wa­ren, die alle er­schro­cken und böse und fins­ter aus­sa­hen. Dass die­se Fins­ter­keit nicht ihr, son­dern dem Aus­bruch des ei­ser­nen Gu­stav galt, das wuss­te sie ja nicht.

Sie fass­te ih­ren Freund bei der Hand, zog ihn hoch vom Sitz und rief: »O komm bloß, Erich, was ist nur?« Und schon lief sie, ihre lan­gen Rö­cke raf­fend, über den Hof dem Tor zu, ih­ren Erich mit sich zie­hend.

Den al­ten Ha­cken­dahl aber hat­te der Name Erich ganz ra­send ge­macht, er lief ne­ben den bei­den her und be­schimpf­te sie wei­ter. Auf der an­de­ren Sei­te aber lief der Drosch­ken­kut­scher Piep­gras, der ein sol­ches Ende sei­nes Scher­zes nie er­war­tet hat­te, und fleh­te und droh­te: »Herr Ha­cken­dahl, was ma­chen Sie bloß?! Der Herr hat doch noch nicht be­zahlt! Wol­len Sie wohl ste­hen­blei­ben, Herr, und mir mei­ne Taxe zah­len?!«

Aber das jun­ge Mäd­chen und der jun­ge Mann lie­fen im­mer schnel­ler, sie lie­fen von den bö­sen Ge­sich­tern der Welt fort, in den blau­en, fri­schen Ju­ni­mor­gen hin­ein …

Zu­erst blieb der alte Ha­cken­dahl ste­hen. Er stand un­ter dem stei­ner­nen Tor­pfos­ten mit der gol­de­nen Ku­gel dar­auf, trock­ne­te sich das Ge­sicht ab und sah wie er­wa­chend in all die Ge­sich­ter. Die Ge­sich­ter wand­ten sich aber alle ver­le­gen von ihm fort, ein je­der mach­te sich rasch an sei­ne wirk­li­che oder an eine Schein­ar­beit. Stumm ging der ei­ser­ne Gu­stav über den Hof, rief im Vor­bei­ge­hen nur halb­laut: »Mach du fer­tig, Otto!« und ver­schwand im Haus.

So­fort war der Hof ein Wir­bel von Ge­tu­schel und Ge­flüs­ter, und am dicks­ten stan­den sie um den jetzt schnau­fend zu­rück­ge­kehr­ten Piep­gras: Er hat­te die jun­gen Leu­te nicht mehr er­wi­scht, die Lie­be war in die­ser Nacht tax­frei ge­fah­ren.

11 – Hackendahl und sein Kassenbuch

Um sie­ben Uhr auf den Schlag wur­de im Hau­se Ha­cken­dahl Kaf­fee ge­trun­ken, und dem ei­ser­nen Gu­stav moch­te zu­mu­te sein, wie ihm woll­te, er stand Schlag sie­ben ge­ra­de auf­ge­rich­tet am Kop­fen­de des Ti­sches und ließ den Heinz das Mor­gen­ge­bet spre­chen. Dann gab es ein all­ge­mei­nes Stuhl- und Füßege­schar­re, und nun kell­te die Mut­ter die Mehl­sup­pe auf.

Schwei­gend kratz­ten die Löf­fel auf den Tel­lern, schwei­gend sah bald der, bald je­ner Erichs lee­ren Stuhl an. Manch­mal nur seufz­te die Mut­ter, des hung­ri­gen Soh­nes im Kel­ler ge­den­kend, sag­te »Ach ja« und »O Gott, o Gott«. Aber kei­ner ant­wor­te­te, bis sie end­lich klag­te: »Heu­te isst mal wie­der kein ein­zi­ger! Was das nur ist mit euch! Iss du we­nigs­tens was, Bubi, du hast doch kei­ne Ur­sa­che zu hun­gern!«

Der Ben­gel schoss einen wach­sa­men Blick auf den Va­ter und sag­te dann ab­grund­tief mit sei­ner mu­tie­ren­den Stim­me: »Ple­nus ven­ter non stu­det li­ben­ter – ein vol­ler Bauch stu­diert nicht gern. Im In­ter­es­se mei­nes la­tei­ni­schen Ex­er­zi­ti­ums ge­ziemt sich Zu­rück­hal­tung in der Ver­til­gung von ge­koch­tem Mehl …«

»O Gott!« seufz­te die Mut­ter. »Da­für lässt man nun sei­ne Kin­der stu­die­ren, dass man kein Wort mehr von ih­nen ver­steht und dass sie …«

Sie sprach nicht wei­ter, ihre Au­gen hat­ten sich mit Trä­nen ge­füllt, je­der sah, dass sie an den Sohn im Kel­ler dach­te, der aus­stu­diert hat­te.

»Hal­te den Mund!« knurr­te der Va­ter zu Heinz hin­über.

»Zu Be­fehl, pa­ter pa­triae!« Und nicht um­zu­brin­gen: »Soll ich einen Ent­schul­di­gungs­zet­tel für Erich in die Pen­ne mit­neh­men?«

Der Va­ter fun­kel­te den Sohn zor­nig an, die an­de­ren duck­ten die Köp­fe – aber das Ge­wit­ter zog ohne Ein­schlag vor­über: Ha­cken­dahl stieß nur sei­nen Stuhl zu­rück und ging auf sein Zim­mer.

Eine hal­be Stun­de spä­ter war Heinz zur Schu­le ge­gan­gen und So­phie ins Kran­ken­haus. In der Woh­nung räum­te Eva mit dem klei­nen Dienst­mäd­chen auf, in der Kü­che putz­te Frau Ha­cken­dahl Ge­mü­se, und im Stall be­rie­ten Otto und der alte Ra­bau­se, ob man den Va­ter an sei­ne Pri­vat­fuh­ren er­in­nern dür­fe oder nicht …

An sei­nem Schreib­tisch saß der alte Ha­cken­dahl. Er hat­te das Kas­sen­buch vor sich auf­ge­schla­gen, die Mor­gen­ein­nah­me hin­ge­legt, aber er zähl­te nicht nach, er trug nicht ein.

Er saß und grü­bel­te. Er grü­bel­te fins­ter und un­ge­lenk, er sag­te sich hun­dert­mal, dass die Welt nicht ein­fällt über einen klei­nen Haus­dieb, über einen Ar­beit­ge­ber, der vor sei­nen Leu­ten die Be­herr­schung ver­liert.

Nein, die Welt fiel nicht ein, aber sei­ne Welt war ihm ein­ge­fal­len. Er grü­bel­te, warum sei­ne Kin­der nie das woll­ten, was er woll­te, warum sie stets wi­der­setz­lich wa­ren. Er hat­te je­der Ob­rig­keit stets freu­dig ge­horcht, aber wenn sei­ne Kin­der ihm noch ge­horch­ten, so nur wi­der­stre­bend, mit Mau­len und Un­wil­len. Vi­el­leicht war al­les, was heu­te ge­sche­hen war, wirk­lich gar nicht so schlimm, in ei­nem vier­tel oder hal­b­en Jahr konn­te man es ver­ges­sen und be­gra­ben sein las­sen, aber es war doch schlimm! Weil es nicht nur die Haus­die­be­rei war, son­dern weil al­les zum Ver­fall dräng­te, aus­ein­an­der­streb­te, das Er­wor­be­ne miss­ach­te­te …

Mit ge­run­zel­ter Stir­ne starr­te er das Geld auf dem Schreib­tisch an. Die gute Nacht­ein­nah­me freu­te ihn nicht, er moch­te sie gar nicht ein­tra­gen ins Kas­sen­buch, er hat­te vor­her noch eine an­de­re Ein­tra­gung zu ma­chen.

Ja­wohl, er muss sie ma­chen, er nimmt die Fe­der in die Hand, zö­gert – und legt sie wie­der hin. Trost­los starrt er das Kas­sen­buch an. Es geht ihm wi­der Ord­nung und An­stand, was er tun muss …