Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 1 - Kersten Reich - E-Book

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 1 E-Book

Kersten Reich

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Beschreibung

Hochwasser des Überflusses: Wie der Mensch die Erde überschwemmt Obwohl der rasante Wandel unseres Klimas, die stetig anwachsende Armut und der dramatische Ressourcenschwund allseits bekannt sind und unsere Welt tagtäglich verändern, möchten wir weiterhin glauben, dass sie sich in gewohnter Weise weiterdreht. Vor allem die ungebremste Konsumgesellschaft hat zu einer Entgrenzung des Menschen geführt und dabei ursprüngliche Chancen in Hemmnisse für ein nachhaltiges Leben und Wirtschaften verwandelt. Kersten Reich führt in einer Tour de force durch die Menschheitsgeschichte lang eingeübte Verhaltens- und Denkmuster vor Augen: Antike Denker wie Platon treffen auf moderne Philosophinnen wie Martha Nussbaum - auf der Suche nach Lösungen für die brennenden Fragen unserer Zeit. Ein Buch, das die Augen öffnet und Wege aufzeigt, wie ein Neuanfang gelingen könnte!

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KERSTEN REICH

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde

Wie Erziehung und Verhalten die Nachhaltigkeit erschweren

Prof. Dr. Kersten Reich ist als Lernforscher und Kulturtheoretiker im deutschen und englischen Sprachraum durch viele Veröffentlichungen bekannt. Mehr als 40 Jahre lang hat er sich an der Universität Köln umfassend mit Fragen zu Demokratie und Erziehung, sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit beschäftigt. Zudem hat er mit seinen Büchern zum Lernen und zur Didaktik den Grundstein für die Eröffnung der Inklusiven Universitätsschule der Stadt Köln gelegt und so auf praktische Weise an einer Veränderung der Lernkultur mitgewirkt.

Außerdem für die Ohren: Die Podcast-Reihe reich & nachhaltig: Gespräche mit Kersten Reich – überall da, wo es Podcasts gibt!

Mehr über unsere Autoren/Autorinnen und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2021

ISBN: 978-3-86489-318-6eISBN 978-3-86489-823-5

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2021

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz: Publikations Atelier, Dreieich

Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Lektorat: Lea Mara Eßer

Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

IDie Welt in der Krise: Fakten & Wahrscheinlichkeiten

I.1Eine kleine Geschichte der Nachhaltigkeit

I.2Die globalen Herausforderungen

I.3Wahrscheinlichkeiten & Wahrheiten

IIMuster der Entgrenzung: Wie wir wurden, was wir sind

II.1Die Vergangenheit: Wege in die Nachhaltigkeitsfallen

II.1.1Der Grundkonflikt der Sorge von Platon bis heute: Begierde & Begrenzung

II.1.2Die Sorge als Besorgen: Wohlstandsvermehrung und Nachhaltigkeitsvermeidung

II.1.2.1Das Paradigma der Moderne

II.1.2.2Idealisiertes Vertragsrecht oder reale Machtpolitik? Die Lehren Machiavellis

II.1.2.3Hobbes & der Herrschaftsstaat: Benötigen Menschen ein Ungeheuer, das ihre Begierden zähmt?

II.1.2.4John Locke & und der Liberalismus: Sind die Menschen aus Einsicht vernünftig?

II.1.2.5Rousseau & die Natur: Ein Kampf zwischen Gemeinwohl und Egoismus

II.1.2.6Vom Gesellschaftsvertrag zum Nachhaltigkeitsvertrag?

II.2Die Gegenwart: Ausharren & Abwarten

II.2.1Warum ist fehlende Nachhaltigkeit eine Krise, die perfekt fürs Weitermachen ist?

II.2.2Wenn alles unsicher ist, dann ist es auch die Nachhaltigkeit

II.2.3Was muss geschehen, um das Verhalten zu ändern?

II.2.3.1Das Jetzt als Ausdruck menschlicher Vergesslichkeit

II.2.3.2Verhaltensänderungen als Schlüssel zu mehr Nachhaltigkeit

IIIDie Konsequenzen

III.1Der entgrenzte Mensch

III.1.1Der Mensch zwischen »I« & »Me«

III.1.2Langsames und schnelles Vorstellen & Denken

III.1.3Fakten, Wahrscheinlichkeiten & die soziale Konstruktion der Wirklichkeiten

III.1.4Der Nutzen definiert die Wahrheit

III.1.5Medienmacht ist Wahrheitsmacht

III.2Ekstasen der Sorgen & ihre Abwehr

III.2.1Dystopien als Vorwegnahmen der Folgen

III.2.2Mechanismen der Leugnung von Nachhaltigkeitssorgen

III.3Hindernisse für Verhaltensänderungen

III.3.1Wie lässt sich nachhaltiges Verhalten beeinflussen?

III.3.2Herausforderungen für Verhaltensänderungen

III.3.2.1Persönliche Barrieren

III.3.2.2Soziale Barrieren

III.3.2.3Wahrheitskonstruktionen und Lügenerwartungen

III.3.2.4Konsequenzen ziehen, Barrieren überwinden

III.3.3Wir wissen, was zu tun ist – warum zögern wir?

IVWege aus den Nachhaltigkeitsfallen

IV.1Erziehung als Problem & Lösung

IV.1.1Von der Autorität in die Individualisierung

IV.1.1.1Grundsätze der Erziehung seit Beginn der Moderne

VI.1.1.2Familie & Autorität

IV.1.1.3Nachhaltigkeit als soziale Sicherung

IV.1.2Staatliche Erziehung als institutionalisierte Autorität

IV.1.2.1Die Funktionalisierung der Erziehung

IV.1.2.2Schule & Autorität

IV.1.2.3Bildung ohne Nachhaltigkeit & die Grenzen der Erde

IV.1.2.4Mehr Selbstkontrolle, trotzdem weniger Nachhaltigkeit?

IV.1.3Negativer Fußabdruck statt positiver Handabdruck

IV.1.4Eine radikale Erziehungs- und Bildungsreform für nachhaltige Bildung

IV.2Wege der Nachhaltigkeit

IV.2.1»Weiter so« im besten Leben, das es je gab

IV.2.2Wer überleben will, muss für Nachhaltigkeit kämpfen

IV.3Individuelle Regeln der Nachhaltigkeit

Anmerkungen

Literaturverzeichnis (Band I & II)

Vorwort

Früher war der rauchende Schornstein ein Symbol für wirtschaftliches Wachstum, heute gilt er als Beispiel der Umweltverschmutzung. Gerade solche Symbole sind es, die den menschlichen Zweifel haben wachsen lassen, ob die Nachhaltigkeit unserer Handlungen und unsere Hinterlassenschaften für die nachfolgenden Generationen noch so zu rechtfertigen sind. Ist ein Umdenken an der Zeit und was kostet es uns? Oder müssen wir sogar umdenken, weil alles auf dem Spiel steht?

Nach einem einleitenden Kapitel, das die globalen Grenzen kurz abstecken soll, will ich in diesem Band zur Nachhaltigkeit insbesondere den Problemen unseres bisherigen Verhaltens und seiner Entstehung nachgehen. Ich will zeigen, dass wir uns durch die Bevorzugung bestimmter Vorstellungen und Denkweisen in die gegenwärtige Lage manövriert haben. Fehlende Nachhaltigkeit und daraus resultierende Folgen in der Natur und Umwelt sind nicht willkürlich oder zufällig, vielmehr sind sie aus vergangenen schädlichen Handlungen und unserem Umgang mit ihnen hervorgegangen. Dies lässt sich an folgendem Beispiel gut veranschaulichen:

Es wird erzählt, dass es in Delhi zur britischen Kolonialzeit eine Kobra-Plage gab. Um die Risiken durch diese hochgiftige Schlange zu mindern, wurden Prämien für gefangene Kobras vergeben. Schnell kamen findige Händler1 darauf, immer mehr Kobras zu züchten, um die Prämie einzuheimsen, woraufhin diese wieder aufgehoben wurde. Dies führte schließlich dazu, dass die Anzahl an Kobras sogar erheblich anstieg, da die Züchterinnen ihre Schlangen einfach aussetzten, nachdem sich mit ihnen kein Gewinn mehr machen ließ (vgl. auch Siebert 2001).2

Nachhaltigkeitsfallen gibt es heute viele. Die meisten Menschen würden wohl für Nachhaltigkeit plädieren, sobald ihnen klar wird, dass der Klimawandel auch ihr eigenes Wohlbefinden in Zukunft stark gefährden wird. Die Nachhaltigkeit ist aber immer nur ein Aspekt in ihrem Leben und steht so stetig in Konkurrenz mit anderen Erwartungen, Wünschen und Ordnungen, die oft deshalb im Vordergrund stehen, weil sie entweder über das Überleben oder ein Leben im Wohlstand entscheiden. Wenn diese Aspekte mit der Nachhaltigkeit in einen Konflikt geraten, der vielfach noch nicht einmal unmittelbar erkennbar ist, entsteht eine Falle, die darin besteht, einfach das alte Verhalten zu bevorzugen und Veränderungen nach hinten zu schieben. Ich weiß beispielsweise, dass mein Auto CO2 ausstößt und dies für das Klima schädlich ist. Aber das Auto ist mir wichtig, da es für mich Freiheit, Mobilität und sozialen Status repräsentiert. Außerdem benötige ich es, um zur Arbeit zu kommen, und weil alle anderen auch Auto fahren und der Nahverkehr eingeschränkt ist, fahre auch ich. Hinzu kommt, dass ich in einem Land lebe, das sehr viele Autos produziert, in dem viele Arbeitsplätze und die Wirtschaftskraft von eben dieser Produktion abhängen, sodass ich womöglich sogar den allgemeinen Wohlstand riskiere, wenn ich auf das Auto verzichten würde. Hier wird die Falle konkret sichtbar.

Die größte Nachhaltigkeitsfalle entsteht für mich heute aus der gedanklichen Vorstellung, es gäbe letztendlich immer einen Weg, durch den wir uns nicht wirklich schnell und umfassend ändern müssten. Viele Menschen sind sich der gegenwärtigen Umweltkrise und Ressourcenverschwendung, auch der darin offen zutage tretenden Nachlässigkeit gegenüber unseren Überlebenschancen in der Zukunft sehr wohl bewusst, glauben aber zugleich, dass es nie so schlimm kommen wird, wie es uns wissenschaftliche Prognosen vorhersagen. Die Grenzen der Erde, wie sie aus Sicht der Wissenschaften erscheinen, sind Menschen nur schwer vermittelbar, bevor Katastrophen in der Nähe eintreten.

In diesem ersten Band zur Nachhaltigkeit will ich mich mit der Herkunft von menschlichen Denk- und Vorstellungsweisen und vor allem psychologisch und pädagogisch erforschten Verhaltensformen beschäftigen, deren Bewusstmachung uns im Grunde immer wieder Mut machen kann, dass es noch nicht und nie zu spät ist, unser bisheriges Handeln zu ändern. Dieser Ansatz mag als ein zumindest mitunter optimistischer erscheinen, denn es ist für viele Menschen wichtig, einen positiven Sinn ihrer Handlungen und ihres Engagements anzunehmen, wenn es überhaupt erfolgreich sein soll. Allerdings – und dies ist der weniger optimistische Teil – zeigt eine Mehrheit solcher Forschungen auch schwer überwindbare Barrieren der Verhaltensänderung. Im vorliegenden Band wird aber immerhin aufgewiesen, wie es durch eine Umstellung des menschlichen Verhaltens gelingen könnte, die Nachhaltigkeitskrise auf verschiedenen Wegen zu meistern, wenn dies auch angesichts des gegenwärtigen Verhaltens breiter Massen als unwahrscheinlich erscheinen muss.

Was soll oder muss im Verhalten geändert werden? Die Ausgangslage ist ziemlich klar: Ressourcen werden knapper, die Treibhausgase steigen ständig, der Klimawandel schreitet voran, das Artensterben nimmt zu, der Müll und die Verschwendung haben einen Höchststand erreicht, die sozialen Folgen all dieser und vieler weiterer Ereignisse sind ungleich verteilt. Die Menschheit weiß, dass sie handeln, ihr Verhalten verändern, nachhaltiger leben muss, um die bestehenden Verhältnisse zumindest zu erhalten und nicht auch noch zu verschlechtern. Aber ist sie dazu überhaupt hinreichend in der Lage?

Ich möchte in der Beantwortung dieser Frage menschliche Denk- und Vorstellungsweisen beschreiben, die zeigen können, warum Menschen große Schwierigkeiten im Umgang mit der Nachhaltigkeit haben, die aber zugleich auch verdeutlichen, warum wir in diese Krise gekommen sind und welche Chancen in einer Bewusstmachung derjenigen Fallen liegen können, die uns davon abhalten, unser Verhalten zu ändern.

In einem zweiten Band zur Nachhaltigkeit, der zeitgleich mit diesem Buch erscheint,3 fällt das Forschungsergebnis deutlich negativer aus. Dort beschreibe ich, wie Ökonomie und Politik in der Gegenwart systematisch und umfassend verhindern, dass Nachhaltigkeit überhaupt gelingen kann: Ohne radikale Änderungen in der Ökonomie und Politik werden wir es nicht schaffen können. Es stellt sich hier zudem die Frage, inwieweit es überhaupt möglich ist, uns von der bisherigen Ökonomie und Politik abzuwenden und etwas Neues zu denken, damit die Wahrscheinlichkeit des Gelingens nicht weiter ins Utopische abgeschoben bleibt.

Teil I zeigt die Welt in der Krise fehlender Nachhaltigkeit. Die Fakten und Wahrscheinlichkeiten sind bereits erhoben, wer will, der kann sie sichten und daraus Schlüsse ziehen. Um dies einführend zu verstehen, beginne ich mit einer kleinen Geschichte der Nachhaltigkeit. Die Einführung in die Grenzen des Wachstums, die in diesem Band gegeben wird, ist ebenso für den zweiten Band bedeutsam. Die Einstiegsfrage lautet: Was ist Nachhaltigkeit heute? In einem Zeitalter vieler falscher, unvollständiger, verkürzter und verfälschter Nachrichten gibt es viele Mutmaßungen und Wunschannahmen über Nachhaltigkeit. Selbst möglichst exakt operierende Wissenschaften liefern keine vollständige Wahrheit der von Menschen verursachten Krisen und ihrer Folgen, wohl aber erarbeiten sie recht präzise und wahrscheinliche Beschreibungen und Prognosen. In einer kurzen Darstellung will ich klären, welche globalen Herausforderungen aus wissenschaftlicher Sicht bestehen; zu dieser Fragestellung sind mittlerweile unzählige Studien und Beiträge entstanden. Ich will diese nicht im Detail darlegen, sondern vor allem wesentliche Eckdaten zur Orientierung benennen, da die Studien, Erfahrungsberichte, und wissenschaftlichen Forschungen im Feld der Nachhaltigkeit unzählig sind und aus der Sicht vieler Perspektiven, Fächer und Interessen erzählt wird. Ich will mit einer knappen Einführung über bekannte und von der Wissenschaft wenig umstrittene »Tatsachen« beginnen, insbesondere um die sogenannten fake news zum Thema, beispielsweise zum besonders umkämpften Klimawandel, abzuwehren.

Fakten sind allerdings keine unumstößlichen Wahrheiten für alle Zeiten, sondern sie repräsentieren das, was nach dem heutigen Stand der Forschung die Grenzen des Wachstums bezeichnet, sie stellen eine Interessenlage von Forschung dar, die nicht mit den selektiven Interessen bestimmter Unternehmen und Konzerne unmittelbar verstrickt ist. Dies ist keinesfalls selbstverständlich, denn die Finanzierung wissenschaftlicher Forschung ist oft Auftragsforschung, die sich reiche Konzerne besonders gern leisten, um ihre Interessen im Lichte einer erkauften Verpflichtung als »wahr« erscheinen zu lassen. Andere Beeinflussungen finden aus politischen Interessen statt, wenn eine Partei etwa Wählerinnen und Wählern Versprechen gibt, um gewählt zu werden oder unbequeme Wahrscheinlichkeiten vorenthalten werden, um die Zustimmung bestimmter Gruppen von Menschen zu erhalten oder zu steigern.

Alle Fakten sind, kritisch betrachtet, immer nur Wahrscheinlichkeiten, aber wie kommt es, dass wir so ungern auf Wahrscheinlichkeiten hören wollen, sie oft so leicht abzutun bereit sind? Wenn man mit geschlossenen Augen eine Schnellstraße überquert, weiß man, dass es wahrscheinlich ist, überfahren zu werden. Das sehen die meisten Menschen ein. Aber wenn man mit einem SUV-Diesel durch die Gegend fährt, müsste man auch wissen, dass bei gleichzeitiger krimineller Energie des Herstellers mit Abschaltvorrichtungen die Gesundheit anderer durch Schadstoffe und das Klima durch Treibhausgase gefährdet sind, diese Gefährdung nur vorläufig unsichtbar bleibt. Weil sie in einer vagen Zukunft liegt, reicht die Fantasie leider oftmals nicht aus, um sich oder andere als unmittelbar bedroht zu erkennen. Dennoch ist es ein Fakt, dass hier CO2, Stickoxide und Feinstaub verursacht werden, die eine schädliche Wirkung auf die Umwelt haben. Wenn Populisten behaupten, dass dies alles nicht schlimm sei, weil es sich im Vergleich zu Naturkatastrophen nur um kleine Mengen handle, dann wird bereits eine Entschuldigung gesucht, die ich als Ausdruck einer Denk- und Vorstellungsfalle bezeichnen will, die für mich den Kern einer Nachhaltigkeitsfalle ausmacht. Wenn ein aktueller Schaden nicht sinnvoll zu leugnen ist, werden gern Vergleiche herangezogen, die das eigentliche Problem überhaupt nicht erhellen können und auch nicht darauf abzielen, weil das eigene Handeln nicht infrage gestellt werden soll. Solche Vorstellungs- und Denkfallen gibt es in kleinen und größeren Formaten, es gibt sie bei Schäden kleineren und größeren Ausmaßes, aber die Wirkmechanismen sind immer gleich: Leugnen, Fakten auslassen, Wunschdenken vor eine Wirklichkeitsprüfung stellen, die Wirklichkeit so lange umdeuten, bis sie in das eigene Welt- und Wunschbild passt.

Meine Argumentation in diesem Buch soll nach dem zusammenfassenden und einleitenden ersten Teil, der unsere gegenwärtige Ausgangsposition markiert, nicht vorrangig weitere Fakten sammeln oder bekannte neu zusammenstellen. Solche Differenzierungen lassen sich auf aktuellem Stand gut im Internet und in zahlreichen wissenschaftlichen Studien rekonstruieren. Ich will hingegen in den folgenden Teilen von einer zentralen Frage ausgehen: Warum gelingt es Menschen heute mehrheitlich nicht, tatsächlich und umfassend nachhaltig zu handeln, obwohl sie genau sehen könnten, was zu tun wäre?

Es gehört für mich vor dem Hintergrund vieler Antworten zu dieser Frage zu den falschen Hoffnungen in der Nachhaltigkeitsdebatte, wenn versucht wird, Konstruktionen und Wünsche von sogenannten faktischen Inhalten – gleichsam einer »absoluten« und reinen Wahrheit der Nachhaltigkeit – strikt unterscheiden zu wollen. Gewiss sind mit naturwissenschaftlichen Verfahren gewonnene Aussagen wahrscheinlicher und »sicherer« als bloße Meinungen und Mutmaßungen über Umweltveränderungen, aber in der Interpretation solcher Wahrscheinlichkeiten, in der politischen bis hin zur persönlichen Auslegung werden die vermeintlichen Tatsachen immer wieder zu Konstruktionen, die sowohl individuell als auch gesellschaftlich zu verhandeln sind. Und es ist dabei bisher nicht gelungen, Nachhaltigkeit wirksam für Verhaltensänderungen so zu erfassen, dass wir eine klare Mehrheitsperspektive gewonnen hätten, die allen Menschen einen vernünftigen Weg ohne Rücksicht auf Einzelinteressen weisen könnte. Was wir heute haben, das sind viele Einzelperspektiven, also etwa naturwissenschaftliche, ökologische, technologische, ökonomische, sozialwissenschaftliche, psychologische, pädagogische, philosophische oder andere Erklärungen, die in einzelnen Feldern operieren und dann zu Lösungen kommen, wobei so nur sehr partielle Vorstellungen über die Aufgabe entstehen. Hinzu kommt, dass in all den Wissenschaften dann wiederum Individuen tätig sind, die unterschiedliche Auffassungen in der Gewinnung und Interpretation solcher Ergebnisse entwickeln. Dabei würde die Komplexität des Themas interdisziplinäre bzw. transdisziplinäre Verständigungen über möglichst breite Gruppen von Menschen notwendig machen. Das Verhältnis der jeweiligen Konstruktion dessen, was Nachhaltigkeit ist und sein soll, die vor dem Hintergrund von selektiven Interessen geschieht – wer bezahlt und bestimmt die Forschungsergebnisse? – ist immer der erste kritische Einstieg in das, was der Öffentlichkeit dann als Fakten und Wahrheiten angeboten wird. Dagegen hilft nur, dass möglichst viele Menschen sich für die Nachhaltigkeit engagieren, um eine Einigung über die Bedeutung dessen, was aktuell zu wissen und zu tun ist, möglichst in breiter Mehrheit zu erreichen. Die einzige Alternative wäre, dass wir andere darüber entscheiden lassen oder dass wir warten, bis uns Katastrophen zum Handeln zwingen.

Nachhaltigkeitsfallen, das sind meist Denk- und Vorstellungsmuster, die sich Menschen imaginieren und konstruieren, um die Welt nach ihren Wünschen, Sehnsüchten, bisherigen logisch und natürlich scheinenden Erklärungen zu formen, ohne hinreichend Rücksicht auf real stattfindende Veränderungen, Einschränkungen, Risiken und Gefährdungen zu nehmen. Angesichts des Umstandes, dass die Menschheit schon seit fast 40 Jahren von der Klimaveränderung oder anderen Krisenphänomenen weiß, und der bescheidenen Gegenmaßnahmen, die bisher tatsächlich praktisch umgesetzt wurden, scheint es mir berechtigt zu sein, von einer Falle zu sprechen, in der wir uns selbst gefangen haben, um den bisherigen Lebensstandard, die Verschwendung, die Ausbeutung des Planeten und die Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen Lebewesen (einschließlich von Menschen) immer weiter zu praktizieren.

Was hat uns in diese Fallen getrieben, was sind ihre Bestandteile, was lässt sich gegen sie unternehmen? – das sind zentrale Fragen dieses Buches. Bisherige Erklärungsmodelle und heute vorrangig ihre medialen Ausdrucksformen beeinflussen das, was wir als Fakten sehen wollen, und formen eine Ausgangslage, die ich in mehreren Schritten zugänglich machen will.

Teil II erörtert, wie es dazu gekommen ist, dass der Mensch sich so sehr über sein eigenes Wohlergehen besorgt zeigt, aber so schnell die weitere Umwelt und die Folgen seiner Handlungen vergisst. Einige wichtige wiederkehrende Sorgen, die unser Verständnis von Nachhaltigkeit bis heute betreffen, will ich darstellen, um immer wieder auftretende Erklärungshorizonte und Handlungs- und Denkmuster zu verdeutlichen. Solche Erklärungen stellen einen Denkhorizont dar, der aus unserer Geschichte und Tradition überliefert ist und der uns auch heute oft hindert, klar genug zu sehen.

Beginnen werde ich mit einem Rückblick auf die Antike, in der bei Platon im Grunde schon dargestellt ist, mit welchen Wirkkräften wir es im menschlichen Überlebenskampf zu tun haben. In der Philosophie heißt es mitunter, dass alles, was in der Neuzeit kam, bereits in der Antike angelegt war, und zumindest was die Fragen nach der menschlichen Begierde, Gier und Maßlosigkeit sowie die Begrenzung schädigenden Verhaltens betrifft, scheint dem durchaus zuzustimmen zu sein. Menschen meinen heute sehr oft, der alten Geschichte entkommen zu sein, aber bei näherem Hinschauen sehen wir, dass viele Menschen noch stark in archaischen und traditionellen Verhaltensmustern gefangen sind. Ich will die Vielschichtigkeit dieser uns heute noch bestimmenden Vorstellungswelt am Beispiel von Hobbes, Locke und Rousseau diskutieren, weil die von ihnen schon zum Beginn der Neuzeit getroffenen Argumente bis heute immer wieder unter neuen und veränderten Begriffen wiederkehren. Nach meiner Ansicht haben wir es mit einer stillschweigenden Nachhaltigkeitsagenda zu tun, die meist ohne Bezug auf diese Ursprünge des Vorstellens und Denkens immer weiter tradiert wurde und bis heute in wesentlichen Aussagen dominant geblieben ist. Allerdings gehört es zur menschlichen Vergesslichkeit, dass begründende und still wirksame Ansätze, Theorien und Denkschulen heute sehr viel leichter als in früheren Zeiten einfach vergessen oder schlicht ausgelassen werden. Ich will einige Erinnerungsanstöße geben und zeigen, wie sehr wir bis in die Gegenwart noch in einem Vorstellen und Denken gefangen sind, das in seiner ersten Entstehungszeit noch klar bekennen konnte, warum es den Menschen über Natur und Umwelt stellt. Einschränkend ist zu sagen, dass meine Auswahl weder vollständig noch detailliert genug sein mag. Sie soll aber exemplarisch an wesentlichen Eckpunkten verdeutlichen, welche Vorstellungen und Denkweisen besonders nicht nur die sozialen Verhältnisse in der Interpretation bis in die Gegenwart beeinflussen, sondern zugleich auch markante Haltungen und Überzeugungen gegenüber der Nachhaltigkeit begründen. Sie gehören zugleich zum klassischen Erkenntnisrepertoire der Verhaltenswissenschaften bis heute.

Von der Vergangenheit geht es dann in die Gegenwart: Materialismus und Kapitalismus, wachsender Wohlstand und Überfluss mit all ihren Folgen für die Umwelt bis hin zu den Grenzen des Wachstums beschäftigen die Menschheit heute. All das setzte mit der liberalen Phase des Wirtschaftsdenkens ein, die gleichzeitig auch mit den Geburtsstunden der modernen Demokratie westlicher Prägung verbunden war. Wohlstandsvermehrung und Nachhaltigkeitsvermeidung gehen seither Hand in Hand. Die Sorge gilt vornehmlich immer dem, was den Menschen nah ist, was ihr Eigentum, ihren Konkurrenzkampf gegeneinander, ihr Vorwärtskommen auch gegen andere und die Umwelt betrifft, aber Anwälte für oder gegen etwas muss man bezahlen, und Natur und Umwelt haben keine eigene Verteidigung. Dies ist einer der Gründe, dass bisher die Nachhaltigkeitskrise vielen als harmlos erscheint. Mit der Individualisierung, die in den letzten Jahrzehnten immer weiter zugenommen hat, ist die Nachhaltigkeit eine Krise, die perfekt fürs Weitermachen ist, weil Menschen unter Wohlstandsbedingungen individuell alles kritisch besprechen und erklären können, ohne letztlich etwas ändern zu müssen. Dies hat damit zu tun, dass wir ohnehin in einem Zeitalter der Ambivalenz angelangt sind, aber auch damit, dass sich die Verantwortlichkeit für das eigene Tun oft ins Abstrakte verschoben hat und in individuellen Narrationen leicht zu entschuldigen ist. Die Mechanismen dieser Falle vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Ambivalenz des Zeitalters will ich analysieren

Die Gegenwart stellt vor die Frage, inwieweit eingetretene oder kurz bevorstehende Katastrophen Menschen dazu bringen können, ihr Verhalten zu ändern. In den Nachhaltigkeitsdebatten wird öfter argumentiert, dass die Menschen erst einmal hinlänglich Katastrophen erleben müssten, bevor sie ihr Verhalten an die Herausforderungen anpassen. Heute gibt es in der Tat viele Ekstasen der Sorgen und ihrer Abwehr, und ich will fragen, wie viele Katastrophen und Sorgen notwendig sind, um das Verhalten zu verändern. Ich diskutiere das hier zunächst als Ausdruck einer Vergesslichkeit. Vor allem aber beschreibe ich die Forschung zu den möglichen Verhaltensänderungen als Schlüssel zu Maßnahmen für mehr Nachhaltigkeit.

Teil III fokussiert stärker auf die Auswirkungen. Was hat uns die Geschichte der Sorgen in der Neuzeit hinterlassen? Welche Auswirkungen hat dies für die Sorge um Nachhaltigkeit? In diesem Band geht es mir um menschliches Vorstellen und Denken, im zweiten Band dann um die Ökonomie und Politik. Um nachhaltiges Vorstellen und Verhalten überhaupt näher bestimmen zu können, bedarf es aus meiner Sicht eines Herangehens, das die menschliche Sorge um eine nahende ökologische Katastrophe mit Fragen der Wahrheit und Wahrscheinlichkeit verbindet. Wissenschaften der Nachhaltigkeit zeigen hinreichend wahrscheinliche Szenarien dieser Katastrophe. Aber die menschliche Sorge führt erst dann zu Handlungen, wenn das Wahrscheinliche als »wirklich wahr« und eindeutig, nah und ausweglos erscheint. In welcher Weise trifft das heute zu?

Ich gehe in einer Kombination verschiedener Forschungsansätze sowohl der grundsätzlichen Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft als auch neueren psychologischen Forschungen über den Menschen nach, um ein besseres Verständnis davon zu ermöglichen, was Menschen wann und warum von anderen übernehmen und inwieweit sie ein eigenes Wissen und Meinen gegen andere behaupten können. Da gerade die Nachhaltigkeitsdebatte von sehr vielen Einflusskräften begrenzt, bestimmt, manipuliert und gelenkt wird, ist es wichtig, sich der Bedingungen für die Möglichkeit einer eigenen Wahrheitsfindung zu vergewissern. Es wird sich zeigen, dass die Entscheidung für Nachhaltigkeit keineswegs nur eine rationale Frage ist. Zudem sind stets Fragen des Nutzens in allen Sorgen als auch Beeinflussung durch andere, insbesondere durch Medien, zu beachten. Zu nachhaltigem Handeln kann kein Mensch nur für sich und aus gänzlich autonomer Einstellung finden, es ist immer auch eine Frage seines sozialen Umfelds und der Widersprüche des Zeitalters.

Ich zeige auf, dass wir in einem Zeitalter der Ekstasen aller Sorgen leben, weil alle bedrohlichen Informationen medial dramatisiert werden. Für die fehlende Nachhaltigkeit werden eher die erahnten Ereignisse einer Zukunft ins Drama überführt. Ich will dies für Dystopien im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit verdeutlichen. Sie sind Ausdruck eines Unbehagens, das viel stärker als die Politik sichtbar macht, was auf dem Spiel steht: Durch die bildliche Darstellung nahender Katastrophen wird der Versuch unternommen, der Ahnung einer gefürchteten Zukunft zu begegnen, indem diese durch eine fiktive Erzählung weitestmöglich auf Distanz gehalten wird. Sind die Dystopien noch Abarbeitungen einer gefürchteten Ahnung, so sind heute die Leugner beispielsweise des Klimawandels Menschen, die klassische psychologische Abwehrmechanismen benutzen, die auch in anderen Zusammenhängen auftreten. Die Inhalte der Verleugnung wissenschaftlicher Tatsachen sind vielfältig, die Mechanismen solcher Abwehrleistungen aber sind soziologisch und psychologisch sehr gut erforscht. Wann immer ich Gelegenheit hatte, mit den Leugnern der Nachhaltigkeitskrise, insbesondere des Klimawandels, zu diskutieren, haben mir die hier dargestellten Forschungen geholfen, die Mechanismen der Leugnung näher zu begreifen und in die Diskussion miteinzubeziehen. Dabei allerdings wird auch oft erkennbar, wie verhärtet die Abwehr wirken kann und wie wenig zugänglich der Abwehrpanzer für andere Erklärungen macht.

Abschließend wird diskutiert, was die Forschung uns konkret über die Chancen und Grenzen menschlicher Verhaltensänderungen lehrt. Dabei hat sie insbesondere Barrieren der Verhaltensänderung aufgewiesen, die uns sehr klar zeigen, wie schwierig es überhaupt ist, ein einmal angeeignetes Verhalten und Gewohnheiten zu ändern. Die Lösungen, die uns bleiben, erscheinen vielen noch als unendlich groß, anderen bereits als unendlich klein, aber so vielfältig sie auch im individuellen Fall sein oder erscheinen mögen, so radikal werden sie im großen Maßstab erfolgen müssen, damit sie nicht zu spät kommen.

Teil IV, in dem mögliche Auswege aus den Nachhaltigkeitsfallen erörtert werden sollen, wendet sich der Erziehung und Bildung zu. Bei gelingender nachhaltiger Erziehung scheint die Chance groß, Nachhaltigkeit tatsächlich verstehen und umsetzen zu können. Aber die Analyse der gegenwärtigen Erziehung und der Vorstellungs- und Denktradition zeigt im Gegenteil auch, wie statt einer möglichen Lösung ein anderes großes Problem vorliegt. Um nachhaltig erziehen zu können, müssten die Erziehenden selbst schon erzogen sein, müsste eine radikale Erziehungs- und Bildungsreform Voraussetzungen für einen Erfolg schaffen. So wie die Frage offen ist, ob nicht auch die soziale Gerechtigkeit verbessert werden müsste, bevor die Nachhaltigkeit besser gelöst werden kann, so bleibt auch die Frage, ob nicht Erziehung und Bildung völlig neu aufgestellt werden müssten, bevor wir erwarten können, dass sie das menschliche Verhalten in Richtung auf Nachhaltigkeit verbessern könnten.

Das Erziehungssystem hat durch die Trennung von Familie und Schule zwei unterschiedliche Autoritätsinstanzen und Verantwortlichkeiten errichtet, die fast alle Fragen des sozialen Lebens und der Verantwortung auch bezüglich der Nachhaltigkeit der Familie und dem jeweils vorhandenen Bildungsstand – aus dem dann auch die grundlegende Einstellung zur Nachhaltigkeit hervorgeht – überlässt. Mit diesem Vorgehen soll einer Neutralität der weltanschaulichen Beeinflussungen entsprochen werden, in der Raum für die Diversität einer pluralen Gesellschaft bleibt. Alle sollen sich eine eigene Meinung bilden können, was natürlich sowohl Raum für Nachhaltigkeitsbefürworter wie für ihre Gegner lässt.

Wie nehmen im Gegensatz zum Erziehungssystem Familien das Problem der Nachhaltigkeit auf? Die meisten Familien sehen heute die Nachhaltigkeit als Sorge im eigenen Leben vorrangig als Aufgabe ihrer sozialen Sicherung. Hier werden Einstellungen, Werthaltungen, Sorgen und Ängste tradiert. Der Staat hingegen ist, vertreten durch das Schulsystem, eher eine Verteilungsinstitution, die durch Benotung und Beurteilung die Abschlüsse regelt, die Aufstiege und Aufrückungen im gesellschaftlichen Leben klärt, gesellschaftlich wichtige Themen und Inhalte vermittelt, aber deren Priorisierung den Heranwachsenden überlässt. Dabei setzt der Staat auf zwei Beharrungskräfte: Einerseits auf die Tradition der Familien, insbesondere auf den Wunsch, ehemals erfolgreiche Modelle von Werten und Normen sowie Einstellungen und Verhaltensweisen zu bewahren. Andererseits auf die politisch dominanten Kräfte, die das Schulsystem gestalten und als Bürokratie der Bestimmung von Lebenswegen vorhalten. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Ideologie einer gleichen Behandlung unterschiedlicher Individuen mit günstigen oder ungünstigen Bildungsvoraussetzungen, denen mit gleichen Anforderungen und kostensparender Vorgehensweise im one-size-fits-all begegnet wird, erhält bloß die schon erreichten Besitzstände, sowohl was den Wohlstand als auch was die Bildung betrifft. Sie gibt sich stets neutral, obwohl sie Partei für die Stärkeren ergreift. In der Nachhaltigkeit ist dies ein ungünstiger Ausgangspunkt, denn obgleich die staatliche Erziehung und Bildung im Sinne einer ausgleichenden Vernunft zu wirken fähig wäre, hat sie sich stattdessen von Anfang an der Bewahrung bestehender Praktiken, Routinen und Institutionen ergeben. Ihre Aussage lautet stets: An bestehenden Strukturen und Verhaltensweisen wollen wir im Grunde nichts verändern.

Obwohl heute viel von einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) oder radikaler von einem Lernen für Nachhaltigkeit gesprochen wird, so ist eine solche Erziehung und Bildung bisher weder verbindlich im deutschen Schulsystem noch umfassend in der Bildungspolitik verankert. Die heutige Bildung bereitet die Menschen eher auf einen negativen Fußabdruck vor, der immer größer wird, als auf einen positiven Handabdruck, der die Grenzen des Wachstums respektiert und das Verhalten tatsächlich umfassend ändert.

Schon länger als der Kampf um mehr Nachhaltigkeit währt der Kampf um stärkere soziale Gerechtigkeit. Ein internationaler Vergleich der Schulsysteme zeigt, dass es beispielsweise den skandinavischen Ländern deutlich besser als Deutschland gelingt, auch bildungsbenachteiligte Gruppen erfolgreich werden zu lassen. In Schweden haben Heranwachsende aus bildungsbenachteiligten Milieus fünfmal höhere Chancen ein Abitur zu machen als in Deutschland. In keinem entwickelten Land ist der Bildungserfolg so stark von der Herkunft abhängig wie bei uns. Würden wir dieses politische und staatliche Versagen als Vorhersage für das Gelingen einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung nehmen, dann sind die Prognosen schlecht. Die in Deutschland lange schon aufgeschobene und abgewehrte »Bildungsrevolution«, die eine Übernahme etwa des erfolgreichen skandinavischen Modells bedeuten würde, wäre eine wesentliche Bedingung dafür, dass Nachhaltigkeit im deutschen Schulsystem überhaupt hinreichend vermittelt werden könnte.

Abschließend beschreibe ich, dass es zwei Argumentationen gibt, die beide häufig anzutreffen sind: Es sollen jene beim Wort genommen werden, die behaupten, dass es immer »weiter so« gehen soll, weil die Krise entweder übertrieben wird oder ohnehin gar nicht aufzuhalten ist. In dieser Sicht können sich Befürworter oder Leugner der Krise sogar einig fühlen. Dagegen mögen die Ausführungen den Optimisten Hoffnung geben, die niemals aufgeben wollen. Sie wissen, dass jede und jeder bei sich selbst anfangen muss, denn Nachhaltigkeit kann nicht einfach nur allgemein verordnet und instruiert werden, sondern bedarf der aus Einsicht erwachsenen und emotional vertretenen individuellen Handlung. Alle müssen sich Gedanken darüber machen, was gut funktioniert und was weniger gut gelingen kann. Die große ökologische und nachhaltige Transformation wird auch nicht ohne Verzicht zu vollziehen sein. Sie kann durch Innovationen und neue Lebenskonzepte kompensiert werden, sie kann sogar die Menschheit sozial gerechter machen und sich vielfältig in neue Richtungen entwickeln lassen, aber zunächst bedeutet sie eine wesentliche Umstellung in sehr vielen Lebensbereichen. Einige Eckpunkte für das Vorstellen, Denken und Verhalten, die für ein solches Umdenken nötig sind, will ich in den Blick nehmen.

Ich beende die Argumentation mit individuellen Regeln für ein nachhaltiges Verhalten, die ich aus einer Sichtung sehr vieler Vorschläge aus der Literatur verdichtet habe. Würden wir sie als Leitfaden für nachhaltiges individuelles Handeln nehmen, dann wären wir einen großen Schritt weiter. Sie werden im zweiten Band durch gesellschaftliche Regeln ergänzt.

Mein Dank gilt den vielen Forscherinnen und Forschern, die mir ihre Veröffentlichungen frei zugänglich gemacht haben. Die umfangreichen Referenzen finden sich im Literaturverzeichnis für beide Bände, das mit Links zu zugänglichen Quellen auch online unter www.westendverlag.de/nachhaltigkeit verfügbar ist. Es sind zu viele, die mich in meinem Vorhaben unterstützt haben, um sie hier einzeln zu nennen. Hervorheben will ich die Lektorin Lea Mara Eßer vom Westend Verlag, die durch ihre professionelle Überarbeitung zur Verbesserung des Textes beigetragen hat.

I

Die Welt in der Krise: Fakten & Wahrscheinlichkeiten

I.1Eine kleine Geschichte der Nachhaltigkeit

Über Jahrtausende hatten Menschen wenig Einfluss auf Naturereignisse. Sie waren ihnen ausgeliefert, lösten sie selbst aber nur in geringem Maße durch ihre Handlungen aus. Spuren der Menschheit sehen wir heute noch an vielen Stellen, etwa in Höhlen, wo Menschen ihren Handabdruck als ältestes Symbol einer Anwesenheit hinterlassen haben, der für den Lauf der Welt auf dem Planeten Erde jedoch nicht schädlich war. Je weiter wir bis in die heutige Zeit voranschreiten, desto mehr Hinterlassenschaften, Ruinen und Monumente aus der Vergangenheit sehen wir, aber der eigentliche Angriff auf den Planeten erfolgte erst im Zeitalter der Industrialisierung und der Expansion im Zeitalter von Weltkriegen. Der Gipfel dessen sind bisher die Atombomben, die alles Leben weiträumig vernichten und für lange Zeit schädigen können.

Ein Schaden gegen Lebewesen und den Planeten kann vielerlei äußerliche Ursachen haben, im Folgenden soll aber nur eine selbst gemachte, menschliche Verursachung mit dem Begriff Nachhaltigkeit fokussiert werden. Stellen wir uns vor, wir Menschen wären Heuschrecken. Wir überfallen alle möglichen Nahrungsquellen und fressen alles auf, was uns in den Weg kommt. Wir tun instinkthaft das, was unser Überleben garantiert und uns zugleich in den eigenen Untergang treibt, denn wenn alles aufgefressen ist, dann bleibt auch für uns nichts übrig. Die Natur gleicht solche Schäden in der Evolution so aus, dass die Heuschrecken Fressfeinde haben. Das begrenzt sie. Allein wir sind keine Heuschrecken, der Mensch hat auf der Erde keine Fressfeinde mehr außer sich selbst. Das bedeutet, Menschen müssen über die Nachhaltigkeit ihrer Handlungen nachdenken, wenn sie so zerstörerisch werden, dass sie unzählige Arten auslöschen, das Klima verändern, die Meeresspiegel ansteigen lassen und viele Effekte auslösen, die das Überleben auf dem Planeten auch für Menschen schwierig werden lassen. Denn in ihrer Kurzsichtigkeit entziehen sich die Menschen die eigenen Lebensgrundlagen.

Bereits 1962 hat Rachel Carson mit ihrem Buch Silent Spring eine Umweltbewegung ins Leben gerufen. Sie reagierte darauf, dass der Mensch durch den intensiven Gebrauch von Pestiziden ein Sterben der Vögel und anderer Lebewesen einleitete, das programmatisch für die Rücksichtslosigkeit des Umgangs mit der Natur erschien. Seither haben sich die Bedingungen immer weiter verschärft, der Weckruf hat die Menschheit nur bedingt erreicht. Bisher hat es unabhängig vom Menschen schon fünf Zeitalter der Auslöschung, der Vernichtung und des Aussterbens auf der Erde gegeben; das heute vor uns liegende sechste Szenario des Aussterbens ist erstmals menschengemacht. Wir sprechen heute deshalb von einem Zeitalter, das durch seinen Namen an den Menschen geknüpft ist: das Anthropozän (Crutzen 2002). Damit will die wissenschaftliche Forschung eine neue geochronologische Epoche erfassen, in der Menschen zum wichtigsten Einflussfaktor auf die geologischen, biologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden sind. Das Artensterben, das damit einhergeht, wird deshalb auch als sechste Auslöschung oder Ausrottung (extinction) charakterisiert.

Kolbert (2015) hat dies für einzelne Arten anschaulich dargestellt, um uns mit der Dimension und Dramatik des Ereignisses zu konfrontieren. Die fünf Auslöschungen, die der heutigen in den vergangenen 600 Millionen Jahren vorausgingen, betrafen beispielsweise vor etwa 65 Millionen Jahren die Dinosaurier. Aber nach allen bisherigen Auslöschungen, die durchaus bis zu etwa 75 Prozent aller Arten betroffen hatten, setzte die Evolution sich fort und gab neuen Arten eine Chance. Allerdings sind die Zeiträume, die eine solche Erneuerung benötigt, aus menschlicher Sicht unendlich lang, und sie kann nur gelingen, wenn die Umwelt sich schnell erholt. Das klimatische und ökologische Fenster, das Leben auf der Erde ermöglicht, hat besondere Bedingungen: eine zum Überleben günstige Temperatur, hinreichend Wasser und Verdunstungs-Regen-Kreisläufe, große Meere, eine günstige Atmosphäre mit Sauerstoff und viele andere förderliche Lebensbedingungen mehr. Solche günstigen Lebensvoraussetzungen sind selbst im Weltall wohl äußerst selten, zumindest soweit Menschen dies erfassen können.

Verschiedene Expertengremien4 gehen davon aus, dass das sechste Massenaussterben in der Geschichte des Lebens bereits begonnen hat. Nach Paul Crutzen (2002) zeichnet sich das Anthropozän durch folgende Eigenschaften aus (vgl. auch Kolbert 2015, 108):

Mehr als alles andere haben Menschen einen Treibhauseffekt durch die Nutzung fossiler Energien ausgelöst, der einen Klimawandel mit offenem Ende auslöst,

zwischen einem Drittel und der Hälfte der Erdoberfläche sind durch Menschen umgestaltet und genutzt worden,

viele nicht regenerierbare Rohstoffe werden ausgebeutet und stehen in Zukunft nicht mehr zur Verfügung,

die meisten der Flüsse der Erde sind gestaut oder umgeleitet worden,

Düngemittelpflanzen produzieren mehr Stickstoff, als es natürlich durch das Ökosystem auf der Erde aufgefangen werden kann,

die Fischerei entnimmt mehr als ein Drittel der Primärproduktion in den Küstengewässern,

Menschen nutzen mehr als die Hälfte des Frischwassers für ihre Bedürfnisse und entziehen es ökologischen Kreisläufen.

All dies beschränkt neben vielen weiteren Faktoren, die weiter unten genannt werden, den Lebensraum und die Überlebenschancen vieler Arten. Im Mai 2019 wurde der globale Bericht des Weltbiodiversitätsrats der UN-Organisation IPBES (Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem Services) veröffentlicht.5 Aus dieser Studie geht hervor, dass gegenwärtig mehr als eine Million Tier- und Pflanzenarten gefährdet und vom Aussterben bedroht sind. Während es sich bei den anderen fünf Massenauslöschungen aller Wahrscheinlichkeit nach um vulkanische Katastrophen und Einschläge von kosmischen Körpern gehandelt hat, die ursächlich das Klima und die Umweltbedingungen so rasch veränderten, dass sich die Pflanzen- und Tierwelt nicht schnell genug anpassen konnten, gilt für das aktuell einsetzende sechste Szenario des Aussterbens der Mensch als allein verantwortlich. Der IPBES-Bericht fasst die entscheidenden Gründe für das aktuelle Aussterben zusammen. Die hier genannten Gründe beschreiben Auswirkungen in der Reihenfolge des bereits erreichten und der Größe des Ausmaßes:

Verlust von Lebensraum; der Mensch hat zunehmend alle Flächen der Erde besiedelt und besetzt,

Veränderungen in der Landnutzung; die Agrarindustrie führt zu Monokulturen und vernichtet die Vielfalt nicht nur der freien Natur, sondern auch der landwirtschaftlichen Nutzung,

Jagd und Wilderei; das Artensterben wird durch menschliche Interessen beschleunigt,

Klimawandel; insbesondere die Treibhausgase führen zur Erderwärmung mit zahlreichen Folgen für das Klima und Artensterben, es ist zu befürchten, dass der Klimawandel recht bald zu einem dominanten Aspekt für den beschleunigten Prozess des Aussterbens werden wird,

Umweltgifte sowie das Auftreten von gebietsfremden und invasiven Arten (Neobiota); das menschliche Eingreifen zerstört einerseits die Vielfalt der Arten und fördert andererseits die Wanderung bestimmter Arten mit negativen Effekten für den bisherigen Stand der Evolution.

Die Tendenz der sechsten, der menschengemachten Auslöschung ist eindeutig: Die Biodiversität, also die Vielfalt der Arten auf der Erde, wird ebenso wie die Vielfalt der Ökosysteme durch den Menschen so massiv beeinträchtigt, dass eine Million Arten bedroht sind und schätzungsweise jeden Tag 70 bis 200 Arten verschwinden (vgl. IPBES 2019). Dies ist selbst angesichts der Vielzahl an Arten – geschätzt sind ca. 2 Millionen entdeckt (Biozahl 2006, 131 f.) – sehr hoch, dabei steht das Artensterben erst am Anfang und nimmt an Geschwindigkeit zu. Hier ist auch der Mensch selbst in seiner Ernährung betroffen, weil die Arten- und Genverluste auch die Vielfalt von angebauten Pflanzen und die ökologische Balance, die sich über lange Zeiträume der Evolution herausgebildet hat, grundsätzlich gefährden (vgl. auch Lovejoy & Hannah 2019).

Wie lange weiß die Menschheit schon von dieser Gefährdung? Besonders auf dem Feld der Ökonomie, hier in Verbindung mit Fragen eines sozialen Wandels hin zu maschinell und später industriell produzierenden Gesellschaften, wurden Fragen der Nachhaltigkeit bereits seit dem 18. Jahrhundert thematisiert. In der politischen Ökonomie bei Adam Smith, John Stuart Mill, David Ricardo und Thomas Robert Malthus wurde angesichts der ersten Auswirkungen der Industriellen Revolution problematisiert, inwieweit es Grenzen des ökonomischen und demographischen Wachstums gibt. Dabei standen Fragen der Wechselbeziehungen zwischen Wohlstandsentwicklung, sozialer Gerechtigkeit und den Gefahren einer Überbevölkerung im Fokus der Analysen. Da sich die damaligen Thesen eines Untergangs der Gesellschaften durch Überbevölkerung aber nicht bewahrheiteten und der Agrarsektor durch verbesserte Methoden deutlich mehr produzieren konnte als zunächst gedacht, trat eine lange Phase des Vergessens nachhaltiger Problemlagen ein. Es dominiert seither mit der stetig wachsenden Ausbreitung des Kapitalismus ein Fortschrittsglaube, der sich über lange Zeiträume in tatsächlichen Zuwächsen im Wohlstand für die meisten Menschen bewahrheitet. Dieser Wohlstand ist aber sowohl innerhalb der Nationen unterschiedlich verteilt, was stets die Frage nach sozialer Gerechtigkeit aufwirft, als auch zwischen den Nationen sehr unterschiedlich entwickelt, was den reicheren Ländern durch Kolonialisierung und Ausbeutung deutliche Gewinne und den armen Ländern schlechte Ausgangslagen einbrachte, die bis heute fortwirken. Die Idee des Fortschritts aber vermag es, als umfassende Ideologie der Herausbildung der Wohlstands- und Überflussgesellschaften sowohl die Fragen einer grundsätzlichen Erneuerung des Kapitalismus in Richtung von mehr sozialer Gerechtigkeit als auch ein Umdenken im Blick auf die Natur und Umwelt zu verdrängen.

In der gegenwärtigen Ausgangslage herrschen drei Wohlstandsstrategien vor:

Erstens benötigt die Wirtschaft freie Märkte, sie kümmert sich um Gewinnsteigerungen, Ausbreitung der Gewinnchancen und verbreitet die Illusion, dass auch die Armen etwas vom Reichtum der Gewinner abbekommen (trickle down effects). Die Natur sieht sie vorrangig als einen Bereich, der zur Verfügung steht und den man bewirtschaften kann, aber nicht sonderlich schützen muss.

Zweitens wird erwartet, dass wissenschaftlich-technologische Strategien immer weiteren Wohlstand und Sicherheit der Menschen garantieren. Es hat sich die selbstverständlich scheinende Ansicht herausgebildet, dass der Fortschritt auch relativ unabhängig von der ökonomischen oder ökologischen Sphäre durch Innovation, Wissenschaft und die Intelligenz des Menschen vorangetrieben werden kann. Die Natur wird vorrangig als ein Bereich erforscht, der den Menschen nützlich sein kann.

Drittens wird es als eine Aufgabe der Politik gesehen, diese beiden Wohlstandswirkkräfte miteinander zu koordinieren, auszubalancieren und zu stimulieren. Natur oder Umwelt kommen dabei erst dann in den Blick, wenn die Zeichen einer Krise nicht mehr zu übersehen sind.

Der Begriff der Nachhaltigkeit, zuerst von Carl von Carlowitz Anfang des 18. Jahrhunderts geprägt, um zu verdeutlichen, dass in der Forstwirtschaft nicht mehr Bäume abgeholzt werden sollten als nachwachsen, hat heute eine globale Dimension gewonnen. Erst mit der Veröffentlichung der berühmten Studie des Club of Rome 1972 rückte Nachhaltigkeit im heutigen Sinne in das Blickfeld der breiten Öffentlichkeit, obgleich es schon vorher hinreichend Signale für die Auswirkungen der gesellschaftlichen und vor allem ökonomischen Entwicklungen in Bezug auf die Biosphäre gab. Zu nennen wären nur die Atombomben und Atombombenversuche, Ölschäden durch Tankerunglücke, Boden- und Klimaschäden durch Urwaldabholzungen, der Einsatz von Pestiziden, der starke Verbrauch von Ressourcen, die zukünftigen Generationen nicht mehr zur Verfügung stehen werden, und viele andere mehr.

Nachhaltigkeit meint seither insgesamt den Umstand, dass in einer Welt des zunehmenden Konsums bei enorm gestiegener Weltbevölkerung – für viele eine Welt des Wachstums mit steigendem Wohlstand, Zunahme der Konsumgüter und eines Überflusses –, eine Balance gefunden werden muss zwischen allen Entwicklungen, die Menschen anstoßen und betreiben, und den Wirkungen, die diese auf die Umwelt und für die Zukunft haben.

Es ist ein unerfüllter Wunschtraum geblieben, dass alle menschlichen Handlungen in Harmonie oder jedenfalls in Beachtung von schädlichen Folgen zwischen Umwelt, Natur, anderen Lebewesen und den menschlichen Bedürfnissen und Wünschen auf eine lebenswerte Zukunft stehen. Als Kriterium gäbe es hier die Annahme, dass Nachhaltigkeit daran bemessen werden kann, inwieweit die globalen Bedürfnisse der Gegenwart es auch zukünftigen Generationen noch erlauben werden, ihre eigenen Bedürfnisse nach hohen qualitativen und sozialen Maßstäben leben zu können.6 Oder auf den Punkt gebracht: Ermöglichen wir zukünftigen Generationen ein Leben, das auch unseren Maßstäben von Lebensqualität genügen würde, oder hinterlassen wir ihnen eine geschädigte, schwierige, so eingeschränkt bewohnbare Welt, dass sie uns dafür verachten und hassen müssen?

Nachhaltigkeit ist vor diesem Hintergrund keineswegs nur eine Frage der Abkehr von fossilen Brennstoffen, so wichtig die CO2-Problematik zur Begrenzung des Klimawandels in der Gegenwart auch ist. Heute geht es um sehr viele Bereiche und Felder der Nachhaltigkeit, die alle eine eigene Dynamik entfalten. Die Idee der Nachhaltigkeit ist ein Konstrukt, das zwar einer Sorge um die Natur, Ökologie und Umwelt gilt,7 in dem aber die Sorge um die Menschheit, auch die Fürsorge um die Zukunft der Menschheit, im Zentrum steht. Wenn die Menschheit sich verpflichtet, für Nachhaltigkeit einzutreten – für die Umsetzung gibt es Empfehlungen der UN (Vereinten Nationen)8 – dann wird ein normatives Gebot erzeugt, dem sich alle verpflichten müssten: »Handle stets so, dass die Folgen deines Handelns nicht zum Schaden der Menschheit und der Umwelt in der Zukunft sind.« Allerdings müssten solche Empfehlungen, selbst dann, wenn sie eine Zustimmung durch Regierungen in der UN erfahren, immer auch in lokales Recht und konkrete Anwendungen übersetzt werden, um nachprüfbare Wirkungen zu erzielen.

Angesichts der weltpolitischen Lage, in der Länder wie die USA aus dem Klimaabkommen aus vorrangig wirtschaftlichen Interessen ausgetreten sind, erscheint es als sehr schwierig, die ohnehin eher formalen Bekenntnisse der UN in die Tat umzusetzen und tatsächlich mit Konsequenz umfassend zu verfolgen. Selbst ein Land wie Australien, das durch große Flächenbrände verwüstet wurde – das also unter den Klimafolgen bereits jetzt stark leidet –, tut sich 2020 immer noch schwer, die Kohleproduktion zu beschränken und nachhaltiger zu wirtschaften. Nachhaltigkeit besteht bisher nur aus Empfehlungen, die gedeutet, ausgelegt, verwässert, dann auch missdeutet und verfehlt werden können. Alle Klimakonferenzen dienen bisher eher der Beruhigung, die medial umfassend besprochen und verbreitet wird, sie sollen zeigen, dass die Politik sich bewegt und etwas tut, währenddessen beispielsweise der CO2-Ausstoß Jahr für Jahr weiter anwächst und alle gesetzten Klimaziele weit unterboten werden. Der Klimawandel ist ein verzwicktes Problem voller Widersprüche, wie beispielsweise Incropera (2016) umfassend herausarbeitet.

Wenn der Begriff der Nachhaltigkeit als Ausdruck einer ersten Sorge um die Natur und Umwelt entstanden ist, so zeigte sich recht schnell, dass der Mensch nicht nur mit Verpflichtungen das Problem angehen konnte. Dies liegt daran, dass der Mensch sich durch seine eigene Lebensweise Bedingungen geschaffen hat, die es ihm nicht einfach möglich machen, sich vorbehaltlos für Nachhaltigkeit zu entscheiden. Der Mensch als Teil der Natur steht so aus dieser Natur heraus, dass er zu einer Bedrohung der bisherigen Entwicklungsgrundlagen auf der Erde geworden ist. Nun könnte man spitzfindig argumentieren, dass der Mensch als Teil der Natur eben auch die Natur in neuen Formen hervorbringt: Worin also soll das Problem liegen?

Meines Erachtens liegt es darin, dass sich der Mensch als Naturwesen deshalb gegen die Natur stellen kann, weil er zugleich ein von der Natur zunehmend entkoppeltes Kulturwesen geworden ist. Die menschliche Plünderung der Ressourcen und Beeinflussung der Biosphäre bewirken so extensiv und intensiv die Verringerung der Artenvielfalt, die Vernichtung der ursprünglichen Vielfalt von Flora und Fauna, die Klimaerwärmung, die Degradierung der Böden durch Versiegelung und Bebauung sowie die Vermüllung (Verschmutzung, Vergiftung, Überflutung) durch Produktions- und Konsumabfälle, dass der Mensch zum bestimmenden Faktor eines Wandels der Welt mit negativen Folgen für alle natürlichen Lebensgrundlagen – auch seiner eigenen – wird (einführend etwa Davies 2016, Hamilton 2010, 2017, WWF 2016).

Um sich den Gründen für diese Entwicklungen anzunähern, ist es sinnvoll, sich die Unterscheidung zwischen den Begriffen Nachhaltigkeit (sustainability) und nachhaltige Entwicklung (sustainable development) klarzumachen. Viele Menschen wollen beide miteinander verbinden, um ihre bisherige Lebensweise nicht gänzlich infrage stellen zu müssen9:

Einerseits ist Nachhaltigkeit nur mit radikalen Verhaltensänderungen zu erreichen. Die Umwelt müsste unabhängig von den menschlichen Bedürfnissen und Wohlstandserwartungen so geschützt werden, dass ein Einhalten des 1,5-Grad-Ziels und vieler anderer Begrenzungen mehr gewährleistet werden, um das langfristige Leben auf der Erde nicht zu gefährden. Aber solche Ziele erscheinen immer stark auslegbar und schwer greifbar, weil die Veränderungen langsam einsetzen und oft erst nach Erreichen der Gradgrenzen spürbar werden. Ob ein oder zwei Grad sinnvoller für das Aufhalten schädlicher Umweltwirkungen sind, das zeigt erst die Zukunft. Zudem ist gegenwärtig nicht erkennbar, wie diese Ziele überhaupt erreicht werden sollen. Zu den bereits erwähnten gibt es viele weitere nachhaltige Ziele, die gegenwärtig ebenfalls verfehlt werden; ich werde weiter unten noch näher darauf eingehen.

Andererseits gibt es den Wunsch nach einer nachhaltigen Entwicklung: So unterstellen nationale und internationale Gremien als Vertretungen der Menschheit, eine Mehrheit wolle, dass der erreichte Wohlstand und das bisherige Leben im Überfluss dadurch weitergelebt und fortgeschrieben würden, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt die Lücke zwischen notwendiger Begrenzung und steigendem Wohlstand schließt. Die Erwartung, dass dies gelingen kann und muss, ist übergroß, der Zweifel an diesen Anspruch ist verhältnismäßig gering. Insbesondere die Politik der reichen Länder scheut hier jeglichen Zweifel, weil er die Wirtschaft schwächen und direkt Wählerstimmen für alle Parteien kosten könnte. »Die Diskrepanz zwischen dem Wissen über die ökologische Krise und der Effektivität ihrer politischen Bearbeitung wächst. Institutionen internationaler Umweltpolitik stecken gerade in Zeiten der Verschärfung ökologischer Probleme in einer Legitimationsund Funktionskrise.« (Brand & Wissen 2011, 12)

Der Entwicklungsgedanke ist von der zentralen Annahme geleitet, dass es entweder durch Wirtschaftsinteressen zu einer wissenschaftlich-technologischen Lösung der Umweltfragen oder in einer »grünen Ökonomie« (UNEP 2011) zu einem Ausgleich in sozialer und ökologischer Hinsicht kommen kann. Von sozialer Seite her gesehen, die auch einen Teil von Nachhaltigkeit darstellt, ist es überaus deutlich, dass neben der steigenden ökologischen Problematik eine wachsende Armutskluft zwischen Nord und Süd und selbst innerhalb der einzelnen Nationen vorhanden ist, die die menschliche Zukunft als soziale Lebensform in einer Schieflage zeigen.

Aber diese Doppeldeutung von Entwicklung wird in der herrschenden Ökonomie ganz anders rekonstruiert. Die Wirtschaft mit ihrem Gewinnstreben bei zugleich ungerechter Verteilung hat bisher in den kapitalistischen Strategien immer Vorrang, weil – so die Drohung – ohne sie ohnehin alles zusammenbrechen würde, was Wohlstand und Überfluss auch für die Massen bedeutet. Mit der Steigerung des Wohlstands sollen die Menschen auch bereit sein, ihre soziale Lage zu akzeptieren und wesentliche Kosten für die Ökologie mitzutragen.

Dagegen stehen die weltweiten Armuts- und Reichtumsberichte, die im Gegenteil zeigen, wie ungleich und ungerecht der Reichtum der Welt verteilt ist. Zudem hat die Umweltforschung nachgewiesen, dass die Reichen in der Welt deutlich mehr zur Schädigung beitragen als die Armen (Oxfam 2020): Von 1990 bis 2015 haben die reichsten 10 Prozent der Weltbevölkerung mehr als doppelt so viele klimaschädliche Kohlendioxid-Emissionen in die Luft geblasen wie die ärmere Hälfte der Menschheit zusammen. Ein Prozent der Reichen steht für 15 Prozent der Treibhausgase, die ärmere Hälfte der Menschheit gerade einmal für 7 Prozent. Hinzu kommt, dass die Reichen mit ihren SUVs und Flugreisen immer stärker auch ein Vorbild für die Schichten unter ihnen geworden sind.

Nun ist die Frage, welche Handlungen aus diesen Erkenntnissen folgen. Die systemrelevante Ökonomie nimmt die Forderungen der Nachhaltigkeitsagenda solange gelassen hin, wie die ökonomische Entwicklung im Vordergrund der Agenda steht. Einige fordern sofortige Handlungen, um die Wirtschaft ökologischer auszurichten (etwa Stern 2006, 2016). Und was für die soziale Frage schon lange gilt, das verschärft sich für die Ökologie noch, denn die Kosten sollen möglichst alle tragen, die Gewinne möglichst wenige machen. Vor diesem Hintergrund wird Entwicklung zu einer Art Mythos, der die gegensätzlichen Kräfte der sozialen Gerechtigkeit und der wachsenden Ökonomie mit Gewinnstreben scheinbar gut vereinen kann.

Und die Politik? Weder massenwirksame Beschreibungen wie der Film An Inconvenient Truth von Al Gore noch die ständigen Sachstandsberichte des Intergovernmental Panel on Climate Change (Weltklimarat, mittlerweile bis 2022 in der sechsten Berichterstattungsphase) oder zahlreiche Forschungsergebnisse, Sachbücher und Medienberichte oder Demonstrationen wie die Fridays for Future haben, obwohl die Einsicht in die Gefahr insbesondere der fossilen Brennstoffe für den Klimawandel gewachsen ist, dazu geführt, dass tatsächlich radikal umgesteuert wird. Es »weisen immer mehr Studien darauf hin, dass es zwar ein zunehmendes Wissen über die vielfältigen lokalen, regionalen und globalen Dimensionen der ökologischen Krise in den unterschiedlichsten Feldern wie Klimawandel, Erosion der biologischen Vielfalt oder Wasserknappheit gibt. Gleichwohl führen diese Einsichten kaum zu weit reichenden Politiken und schon gar nicht zu deren Implementierung« (Brand & Wissen 2011, 13).

Nachhaltigkeit ist ein Grenzbegriff, der stets zur Diskussion stellt, ob die Folge einer Handlung für das spätere Leben nachhaltig ist oder nicht (historisch vgl. Caradonna 2014). Es wird hier immer öffentlich, politisch, in Lobbygruppen, durch Protest und Widerstand, in sozialen Gruppen wie von einzelnen Menschen bestimmt, inwieweit Nachhaltigkeit der Erhalt eines bestehenden und für »gut« gehaltenen Zustandes sein soll oder ob eine verträgliche Weiterentwicklung im bisherigen Lebensstandard möglich erscheint. Hierbei richten sich die subjektiven Meinungen und Beurteilungen sehr stark nach selektiven Interessenlagen, menschlichen Wünschen auf Selbstverwirklichung und unzähligen Konsumwünschen.

Die eingenommenen Standpunkte sind sehr unterschiedlich: Es gibt die naturwissenschaftliche Sicht, etwa zu den Zuständen des Klimas, des Wassers, der Ressourcen usw. Einen weiteren Zugang bilden soziale, ökonomische und politische Studien, die das Verhältnis von Nachhaltigkeit zur menschlichen Wirtschafts- und Lebensweise vielfältig diskutieren. Eine besondere Rolle spielen außerdem philosophische, kulturbezogene bis hin zu ethischen Überlegungen, die meist einen großen Deutungsrahmen im Kontext der Kulturgeschichte aufbauen. Politisch-ökonomische Diskurse verbinden die ökologische Kritik mit einer Kapitalismuskritik. Der öffentliche Diskurs in den Medien und Regierungserklärungen wird insbesondere durch die UN und ihre Unterorganisationen wie auch einige führende Nichtregierungsorganisationen bestimmt. Hieraus hat sich ein Feld der politischen Ökologie entwickelt, in dem sich unterschiedliche Interessengruppen sammeln (vgl. etwa Peet et al. 2011, Perreault et al. 2015, Bryant 2015, Swyngedouw & Wilson 2014).

Insgesamt beschleunigt sich durch die Vielzahl der Ansätze in wissenschaftlichen Fachpublikationen und Fachgesellschaften – insbesondere in den Naturwissenschaften – eine wissenschaftliche Beurteilung, die zu einer Versachlichung beitragen kann, weil sie etwa nachweisbare Veränderungen und Kipp-Punkte bestimmt, die all die Subjektivierungen der politischen Interessengruppen objektivieren helfen. Ob dies dann wiederum dazu führen kann, die Menschen – und hier vor allem die Politik – eines Besseren zu belehren, das ist allerdings eine ganz andere Frage. Hieran bestehen deshalb große Zweifel, weil eine Wirkung der schon bestehenden wissenschaftlichen Datenlage bisher in ausreichender Weise ausgeblieben ist. Es stellt sich so die Frage, ob dies überhaupt durch Argumente gelingen kann oder ob erst größere Katastrophen oder Kipp-Punkte einsetzen müssen, um die Mehrheit der Menschen zu einer Berücksichtigung der Grenzen des Wachstums und zu nachhaltigem Handeln zu bringen.

Wenn diese Kipp-Punkte aber tatsächlich einsetzen, wird es für eine effektive Umsteuerung zu spät sein, wird der Zeitpunkt für notwendige Maßnahmen verpasst sein. Was die Lage erschwert, ist der Umstand, dass es sich als schwierig erwiesen hat, in komplexen Fragen mit sehr vielen Variablen, deren Lösungen immer nur in Aussagen über Wahrscheinlichkeiten liegen kann, genaue Zeitangaben mit exakten Prognosen zu machen (vgl. etwa Detten et al. 2013). Insbesondere Klimaleugner ziehen hieraus einen Profit, aber auch Fortschrittsanhängerinnen mutmaßen, dass es genügend »Fakten« für eine zwar nicht heile, aber sichere und lebenswerte Gegenwart gebe, die allein durch Fortschritt gerettet werden könne (Norberg 2016). Daraus wird dann gern geschlossen, dass alles besser sei, als wir bisher annehmen (Rosling et al. 2018), oder dass die westliche Vernunft mit ihrer Aufklärungsidee uns die Hoffnung gebe, es immer schaffen zu können (Pinker 2018).

Nachhaltige Entwicklung ist im Gegensatz zur Nachhaltigkeit als Konzept und Konstrukt stark vom Feld der Ökonomie bestimmt, die Entwicklung (auch der genutzten Natur) und Wachstum (insbesondere der Wirtschaft und des Profits) stets als Einheit denkt. Wenn im Sinne der global goals der UN von nachhaltiger Entwicklung gesprochen wird, muss deshalb gefragt werden, was denn genau entwickelt werden soll.10 Sind es die Grenzen des Wachstums, die eingehalten werden sollen, oder die Fortschritte des Wachstums, die helfen sollen, dass die Veränderungen nicht ganz so schädlich wie bisher ausfallen? Wie schädlich dürfen die Wirkungen sein, wie groß das Überschreiten der Grenzen? In welche neuen Kampfzonen wird der Schaden verschoben, damit der Wohlstand wächst und neue profitable Technologien entstehen?

Die UN hat 17 globale Ziele, die global goals, entwickelt, die alle für sich genommen wünschenswerte Ziele der menschlichen Entwicklung innerhalb der Grenzen des Planeten darstellen. Die 17 global goals lauten (vgl. United Nations 2016):

1.Armut beenden – Armut in all ihren Formen und überall beenden.

2.Ernährung sichern – den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern.

3.Gesundes Leben für alle – ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern.

4.Bildung für alle – inklusive, gerechte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten des lebenslangen Lernens für alle fördern.

5.Gleichstellung der Geschlechter – Geschlechtergleichstellung erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigen.

6.Wasser und Sanitärversorgung für alle – Verfügbarkeit und nachhaltige Bewirtschaftung von Wasser und Sanitärversorgung für alle gewährleisten.

7.Nachhaltige und moderne Energie für alle – Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und zeitgemäßer Energie für alle sichern.

8.Nachhaltiges Wirtschaftswachstum und menschenwürdige Arbeit für alle – dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern.

9.Widerstandsfähige Infrastruktur und nachhaltige Industrialisierung – eine widerstandsfähige Infrastruktur aufbauen, breitenwirksame und nachhaltige Industrialisierung fördern und Innovationen unterstützen.

10.Ungleichheit verringern – Ungleichheit in und zwischen Ländern verringern.

11.Nachhaltige Städte und Siedlungen – Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig gestalten.

12.Nachhaltige Konsum- und Produktionsweisen – nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sicherstellen.

13.Sofortmaßnahmen ergreifen, um den Klimawandel und seine Auswirkungen zu bekämpfen.

14.Nachhaltige Nutzung der Ozeane, Meere und Meeresressourcen – Bewahrung und Schutz, nachhaltige Bewirtschaftung und Sicherung der Vielfalt des Lebens.

15.Landökosysteme schützen, um sie wiederherzustellen und ihre nachhaltige Nutzung zu fördern, Wälder nachhaltig bewirtschaften, Wüstenbildung bekämpfen, Bodendegradation beenden und umkehren und dem Verlust der biologischen Vielfalt ein Ende setzen.

16.Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen – friedliche und inklusive Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung fördern, allen Menschen Zugang zum Recht ermöglichen und leistungsfähige, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufbauen.

17.Umsetzungsmittel und globale Partnerschaft stärken – Umsetzungsmittel stärken und die globale Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung mit neuem Leben füllen.

Sind diese globalen Ziele nun tatsächlich Ziele oder sind es politische Wünsche? Und wie steht es um ihren inneren Zusammenhang mit der Nachhaltigkeit? Die 17 global goals mögen für sich genommen alle wünschenswert sein, aber im inneren Zusammenhang werfen sie sehr kritische Fragen auf. Sie weichen der ökologischen Fragestellung immer dort aus, wo die soziale Lösung vorrangig ist, aber in ihren ökologischen Folgen nicht weiter thematisiert wird. Was würde es ökologisch bedeuten, wenn wir die Armut bis 2030 abschafften? Welcher Konsum, welche Schäden durch Massen von Menschen würden entstehen, wenn die ehemals Armen auch so leben wollten wie diejenigen, die die großen ökologischen Schäden angerichtet haben? Werden diese Fragen von denjenigen gestellt, die jetzt schon in reichen Ländern leben, müssen sie zynisch wirken. Denn wer kann denen eine Teilhabe verwehren, deren Konsumfreiheiten erst jetzt beginnen – die endlich auch kaufen, reisen, im Überfluss leben wollen? Viele der 17 globalen Ziele setzen auf einen Entwicklungsfortschritt, der ökonomisch hoffnungsfroh und sozial wünschenswert ist, aber ökologisch nicht in den Wechselwirkungen durchdacht wird.

Die gewünschte Transformation ist komplexer, als es sich in globalen Zielen ohne Wechselwirkung darstellen lässt. Chabay (2020, 153) nennt drei Gründe, die nachhaltige Entwicklungsziele (sustainable development goals – SDGs) schwierig machen:

Erstens repräsentieren die SDGs ein Bündel kritischer Fragen und Probleme, die hochgradig miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Sie lassen sich nur aus Veranschaulichungsgründen in einzelnen Segmenten darstellen, sind in der Praxis aber nur ganzheitlich und mit systemischen Modellen zu erfassen. Ihre Auflösung benötigt ein ganzheitliches Vorgehen und Verständnis.

Zweitens unterstellen die Ziele immer schon, dass die sozio-ökonomische Realität des gegenwärtigen Kapitalismus die einzige Grundlage für eine Lösung darstellt, ohne hinreichend zu diskutieren, an welchen Stellen dies selbstwidersprüchlich wird und wo und wie dabei gegengesteuert werden könnte. Hier zeigt sich der Kompromisscharakter der UN-Strategie und der Durchsetzungscharakter ökonomisch starker Länder.

Drittens bleibt die politische Struktur der Unterzeichnerländer der Ziele außen vor. Zwischen diesen politischen Regierungen – zwischen Demokratien und autoritären Regimen – muss es aber zwangsläufig zu Widersprüchen zwischen nationalen und globalen Zielstellungen, Zugehörigkeiten in Besitzverhältnissen und Wohlstandserwartungen und Verpflichtungen gegenüber dem Planeten und seinen Grenzen kommen. Die Frage danach, wie eine nachhaltige Politik gelingen kann, erscheint als eine Grundfrage, die in der Umsetzung der SDGs als Spannungsverhältnis zwischen schönen Zielen und wünschenswerten Erzählungen im nationalen Kontext und tatsächlichen Taten und deren Wirkungen für Verzicht und Veränderungen erfahren wird.

Vor diesem Hintergrund scheint es mir sinnvoll, von einem Lernen für Nachhaltigkeit (learning for sustainability – LFS) zu sprechen, um zweierlei auszudrücken: Einerseits sind alle Menschen als lernende Wesen in allen Altersgruppen betroffen, so ist es nicht allein Aufgabe der Erziehung, für Nachhaltigkeit zu sorgen (Jucker 2014, 2). Andererseits wird der Entwicklungsgedanke, der immer mit kapitalistischem Wachstum verbunden ist, nicht schon in die Definition der Nachhaltigkeit eingeschlossen, weil wir offener auf das Problem schauen müssen (Strachan 2012, 6).

Eine sozial-ökologische Transformation, die mit einer nachhaltigen Entwicklung intendiert wird, ist deshalb so anspruchsvoll, weil schon die jeweiligen Ausgangsbedingungen unterschiedlich sind. Menschen sind in den historisch gewachsenen sozialen Strukturen stark von der natürlichen Welt abhängig, in der sie leben. Ihre Beziehung zur jeweiligen Umwelt bestimmt über den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess die Einstellungen, Haltungen und Erwartungen, sie treibt an, was in einer Gesellschaft und Kultur für wertvoll, relevant und unverzichtbar angesehen wird. Bereits von dieser Ausgangslage her reagieren die Menschen sehr unterschiedlich auf den notwendigen Transformationsprozess angesichts der planetaren Grenzen.

Diese Grenzen werden dabei immer wieder in den Dimensionen der Ökologie, der Ökonomie und des Sozialen als circles of sustainability dargestellt. Das Drei-Kreis- oder Säulen-Modell wird auch in der Bildung für Nachhaltige Entwicklung in der Öffentlichkeit und den Schulen verwendet. Zwei Positionen – Fortschritt durch ökonomisches Wachstum und wissenschaftlich-technologischen Fortschritt – werden dabei unter der Hauptkategorie Entwicklung vereint. Vielfach wird in den Diskussionen seither vergessen, dass es sich um ein politisches Konstrukt handelt, das in Kompromissen in diese Form gegossen wurde. Zudem wird die Entwicklung in den drei Säulen Ökonomie, Soziales und Ökologie oft eher statisch und abgegrenzt dargestellt. Im Grunde geht es um eine Konstruktion, die Perspektiven benennt, Wirkfaktoren in sehr allgemeiner Art identifiziert, die allenfalls als systemische Bestandteile eines komplexeren Wirkungszusammenhanges betrachtet werden können. Ich will sie in einem eigenen Schaubild in Kreisformen kurz zusammenfassen (siehe Schaubild).

Dort, wo die drei Kreise sich überschneiden, müsste Nachhaltigkeit stehen. Aber die so konfigurierte Ordnung des Diskurses der Nachhaltigkeit ist trügerisch, sie ist schon in der UN ein Kompromiss. Das Drei-Kreise-Modell, das 2002 in Rio vom World Business Council for Sustainable Development (WBCSD) eingeführt wurde, ist deshalb problematisch, weil es von vornherein Ökonomie und Ökologie als scheinbar gleichwertige Bedeutungssysteme anführt, obwohl de facto die Ökologie ein Subsystem der Ökonomie geblieben ist (Jucker 2014, 3). Dieser Kompromiss wird immer wieder neu beschworen, weil viele Menschen heute durch die schon länger geführten Debatten glauben, dass die drei Hauptwirkfaktoren tatsächlich die entscheidenden und dann auch noch gleichwertig seien. Auch in meinen Kreisen scheinen diese Perspektiven in gewisser Harmonie zueinander zu stehen, und nur sie scheinen bedeutsam zu sein. Aber stimmt das so?

Schaubild 1: Wirkfaktoren in der Nachhaltigkeit