Der erfundene Indianer - Martha Carli - E-Book

Der erfundene Indianer E-Book

Martha Carli

0,0

  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Was würden Sie sagen, wenn Sie als harmloser Ethnologe aus einem Paralleluniversum in eine Welt kämen, in der so ziemlich alles schief gegangen ist. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Wirklichkeit verschwindet und durch Kopien, Erfindungen und Abstraktionen ersetzt werden soll. John Rabel und sein Team sind in einer Stadt namens Berlin auf Posten. Sie sollen herausfinden, was vor sich geht, damit sich das Verhängnis nicht auch in anderen Welten ausbreitet. Ein Historiker erfindet einen Indianer und gerät in dunkle Machenschaften der drei Ministerien, die in einer Schlossattrappe residieren. Die Mordrate unter Wissenschaftlern steigt exorbitant. Für die Ethnologen sind diese Ereignisse bloße Gegenstände der Forschung – bis einer ihrer eigenen Leute ermordet wird. Sie beschließen zu ermitteln. Plötzlich sind sie mit verwirrenden Fragen konfrontiert: Kann man Kommissar Horawitz trauen? Was hat es mit dieser zwielichtigen Reporterin auf sich? Welhe Rolle spielen die Ministerien bei den Verbrechen? Und wir fragen uns: Kann John Rabel in seiner Immersionsbibliothek die Toten zum Sprechen bringen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Martha Carli

Der erfundene Indianer

John Rabels erster Fall

Kriminalgeschichte

Edition Rabe und Coyote

©Martha Carli 2022

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Weg und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben vorbehalten.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Verlag, Herausgeber und Autoren übernehmen keine Haftung für inhaltliche oder satztechnische Fehler.

https://marthacarli.com

Was würden Sie sagen, wenn Sie als harmloser Ethnologe aus einem Paralleluniversum in eine Welt kämen, in der so ziemlich alles schief gegangen ist. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Wirklichkeit verschwindet und durch Kopien, Erfindungen und Abstraktionen ersetzt werden soll.

John Rabel und sein Team sind in einer Stadt namens Berlin auf Posten. Sie sollen herausfinden, was vor sich geht, damit sich das Verhängnis nicht auch in anderen Welten ausbreitet.

In den drei Ministerien, die in einer Schlossattrappe residieren, gehen seltsame Dinge vor sich. Die Mordrate unter Wissenschaftlern steigt exorbitant. Für die Ethnologen sind diese Ereignisse bloße Gegenstände der Forschung – bis einer ihrer eigenen Leute ermordet wird.

Sie beschließen zu ermitteln. Plötzlich sind sie mit verwirrenden Fragen konfrontiert:

Kann man Kommissar Horawitz trauen?

Was hat es mit dieser zwielichtigen Reporterin auf sich?

Welche Rolle spielen die Ministerien bei den Verbrechen?

Und wir fragen uns: Kann John Rabel in seiner Immersionsbibliothek die Toten zum Sprechen bringen?

„Der erfundene Indianer“ ist der Auftakt einer Reihe von Geschichten mit dem Detektiv John Rabel und seinen Freunden. Nachdem der erste Mord (fast) aufgeklärt ist, führt das nächste Verbrechen in das „Seltsame Institut für Kulturphysik“.

Martha Carli

Martha Carli ist Kriminalschriftstellerin mit einer nicht ganz ernst gemeinten Verehrung für Edgar Wallace und profundem Insiderwissen aus der Wissenschaft.

Darüber hinaus betreibt sie die allererste unter den ersten Schelmenschulen der Welt.

https://marthacarli.com

Es war einer dieser unvergleichlichen Maitage. Für Momente wurde die Stadt in mildes Licht getaucht, und das frische Grün beruhigte das Gemüt. Friedlich und wie aufgebahrt lag der Tote hingestreckt am südlichen Ende des Gartenplatzes. Unter den tiefschwarzen Haaren wirkte die Blässe seines Gesichts fast pathetisch, fremd und erhaben zugleich. Seine Kleidung wirkte ebenso elegant wie einfach, dunkel im Ganzen, sehr gerade. Am linken Ringfinger trug er einen in Silber gefassten Türkis, der zu der Kette passte, die, fast verborgen unter dem Kragen, seinen Hals umfing. Seine Schuhe waren aus sehr feinem, weichem Leder gefertigt und offenbar handgenäht. Sie hatten ihn nun zu dem Ort gebracht, von dem er aus seine letzte Reise antreten sollte.

Das Telefon in John Rabels Bibliotkek klingelte um genau acht Uhr. Sonderbar. Dieses Telefon um diese Zeit? Rabel eilte zu dem riesigen Tisch, schob ein paar Bücher und Karten zur Seite und schlug nebenbei einen dicken Folianten zu. Die Bilder darin schienen sich zu bewegen, wenn die Sonne in einem bestimmten Winkel in die Bibliothek eintrat.

John Rabel war groß und kräftig gebaut. Seine grün-braunen Augen blickten wach und listig in die Welt, sein gelocktes rotbraunes Haar lebte im Zustand konsequenter Anarchie. Er trug ein weißes Hemd, die Armel aufgerollt, eine bunte Fliege, eine bequeme Hose aus unbekanntem Material und feine weiche Lederschuhe. Er legte seinen noch offenen Füllfederhalter vorsichtig auf dem Tisch ab, öffnete einen großen alten Erdglobus und nahm das Telefon heraus.

„Rabel.“

John Rabel hörte schweigend zu. Er schaute hinaus in den Garten, ohne etwas zu sehen. Weder Bäume noch Stauden, noch blühende Tulpen. In seinem Gesicht spiegelte sich zuerst Unglauben, dann Traurigkeit, dann konzentrierte Entschlossenheit. „Ich verstehe“, sagte er, legte den Telefonhörer zurück und schloss den Globus. Geistesabwesend schloss er die kleine Tür im Wandpaneel, durch die er gerade gekommen war. Er schüttelte den Kopf. Nein, das wollte er nicht wahrhaben. Das Geräusch einer Tür weckte ihn aus seinen tiefen Gedanken. Er drehte sich um. „Ah, Humboldt, kommen Sie rein“, sagte er leise.

„Ich habe das Telefon gehört. Was ist los? Was will die Zentrale von uns? Es ist doch noch gar keine Zeit.“

„Ahanu ist tot.“

„Ahanu ist tot? Wie?“

„Er wurde erschossen.“

Humboldt sagte nichts. Seine tief liegenden blauen Augen weiteten sich leicht, um sich gleich darauf zu schmalen Schlitzen zu verengen. Er war zwar erst seit kurzem in diesem Team. Aber Ahanu kannte er schon lange. Rabel setzte sich an die Längsseite des gewaltigen Tisches, der fast die ganze Länge des großen Raums durchmaß. „Humboldt, Sie wissen, dass ich mir diesen Posten nicht ausgesucht habe.“ Er machte eine Pause, als müsste er eine schwere Entscheidung fällen. Und das musste er auch. „Aber das hier nehme ich persönlich.“ Rabels Stimme hatte einen drohenden Ton angenommen. „Ich denke, wir werden gegen einige Direktiven verstoßen müssen. Nun setzen Sie sich schon.“

Humboldt setzte sich auf die vordere Kante des nächsten Stuhls, ganz gespannte Aufmerksamkeit.

„Sind Sie dabei?“

Humboldt sah Rabel an. Er musste nichts sagen. „Was ist mit den anderen?“

„Ich werde alle fragen“, sagte Humboldt. „Aber die Antwort kann ich Ihnen genau so gut jetzt gleich geben.“ Rabel nickte. Auch er zweifelte nicht daran, dass das Team keinen Moment zögern würde, die Regeln zu brechen.

„Gut. Woran arbeitete Ahanu im Globalhistorischen Institut? Der letzte Bericht ist fünf Tage alt.“

„Ich war gerade dabei, seinen neuen Bericht einzuarbeiten. Er ist von gestern“, sagte Humboldt. „Wir sprachen noch kurz darüber.“

„Wann war das?“

„Kurz nach 10.“

„Hat er irgendwas gesagt ...“ Aber Humboldt schüttelte schon den Kopf.

Humboldt tippte etwas in ein Notepad. „Offiziell arbeitete er an Ratiometrie in, Moment, Amazonien, das ist eine Gegend in Brasilien. Er kam gut voran, seit er jeden Morgen um 7 Uhr anfing. Alle anderen kommen frühestens um 9.“

„Und inoffiziell?“

„An den Messreihen eines gewissen Rolf Ralé, Lateinamerikaerxperte.“

„Ergebnis?“

„Noch keines. Glauben Sie, die im Institut haben was mit Ahanus Tod zu tun?

„Ich weiß nicht, ob solche Leute genug Vorstellungskraft haben, einen Mord zu begehen.“

„Das Ministerium?“

„Gute Option.“

„Aber welches Motiv sollte das Ministerium haben?“

„Das sollten wir herausfinden, nicht wahr?“

*

Sollte der Mord an ihrem Kollegen mit ihrer Arbeit hier zu tun haben, war die Lage ernster, als sie alle gedacht hatten. Es war schlimm genug, dass man ihn und seine Leute in diese halluzinierende Parallelwelt geschickt hatte, um ethnografische Daten zu sammeln und herauszufinden, warum fast alle Zivilisationen verschwunden waren. Seit vielen Jahrhunderten breitete sich eine destruktive Kultur ohne Anzeichen eigener Zivilisation über die Welt aus. Überall, wo sie hinkam, verschwanden immer größere Teile der Wirklichkeit und wurden durch Kopien und Surrogate ersetzt. An manchen Tagen spürte Rabel dieses Paralleluniversum wie Gift in seinen Adern. Er ertrug es nicht so gut wie Humboldt oder Jimmy Scholz oder Anita. Es fasste ihn an. Zuhause hatte man ihm geschmeichelt. „Rabel, Sie sind der Beste für diese anspruchsvolle Sache“, hatten sie ihm erklärt. „Sie wissen doch, wie viel auf dem Spiel steht.“ Er wusste es, und er war nicht unempfänglich für den Honig, den sie ihm um den nicht vorhandenen Bart schmierten. Schließlich hatte er angenommen. Seine Bedingung war, dass er eine leistungsfähige Immersionsbibliothek der neuesten Bauart bekam und sich seine Leute selbst aussuchen konnte.

Jetzt hatte er eine persönliche Rechnung mit dieser Welt offen.

*

Seit knapp zwei Jahren koordinierte Rabel eine Spezialgruppe von Undercover-Ethnologen. Ihr Standort war eine größere Stadt namens Berlin. 12 weitere Standorte waren über die Welt verteilt. Die Sondierungsethnologen hatten Basisdaten hinterlassen. Acht Milliarden Bewohner, vorwiegend destruktive Wirtschafts- und Politiksysteme, dysfunktionale Bildungs- und Ausbildungswege, ideologische Engführung in den sogenannten „Fragen des Lebens“, Ersetzung der Gemeinwesen durch virtuelle Surrogate, Militarisisierung des Gesundheitswesens, desaströse Umweltbedingungen, fast vollständige Abwesenheit unabhängiger Informations- und Diskussionsplattformen, ideologisch geprägte variationsarme Wissenschaft. Spuren von Zivilisation zeigten sich nur noch in sehr abgelegenen Weltgegenden und in einem reichen und vielfältig vernetzten informellen Sektor. Nicht alle Teile dieses unüberschaubaren Sektors bewegten sich im Untergrund.

„Humboldt? Sind Sie noch da?“

„Ich bin immer da“, sagte Humboldt, als er sich im Türrahmen materialisierte. „Gut zu wissen. Wissen Sie schon, wer offiziell mit der Sache betraut ist?“

„Horawitz.“

„Horawitz? Wie ist das möglich? Derselbe Horawitz?

Humboldt nickte.

„Und Humboldt“, Rabel beugte sich vor. „Wir müssen herausfinden, wohin sie Ahanu gebracht haben. Wenn man den Knopf findet, wird es ungemütlich. Können Sie ihn damit orten?“

„Wenn die Zentrale das kann, kann ich das auch.“ Humboldt bemühte sich, nicht beleidigt zu wirken.

„Gut. Wir werden ihn unter keinen Umständen in den Händen dieser Barbaren lassen.“ Auf Humboldts Gesicht erschien ein trauriges Lächeln. „Wenn wir ermitteln, sollten wir vielleicht auch ein wenig unsere Tarnung anpassen.“

*

Bislang war John Rabel offiziell als Chef eines exklusiven Think Tanks aufgetreten, der leicht geheimnisumwittert, offenbar reich und vor allem einflussreich gewisse Unregelmäßigkeiten bei der Produktion von Wissenschaft und Wahrheit untersuchte. Mit gefälschten Papieren, jeder Menge Bestechungsgeld und Humboldts brillanten technischen Fähigkeiten als Hacker und Fälscher hatten sich Rabel und Teile seines Teams im Zuge teilnehmender Beobachtung Zugang zu gewissen Kreisen verschafft.

„Ich nehme an, wir haben noch genug Geld?“, fragte Rabel. Erst vor kurzem hatten sie für die Freilassung Ihres Kollegen „Jimmy Scholz“ erhebliche Mittel einsetzen müssen. Jimmy bestand darauf, mit seinem Tarnnamen angeredet zu werden. Er schlug alle Warnungen in den Wind, durch „going native“ die Distanz zum Forschungsgegenstand zu verlieren. „Man muss doch nah ran, wa?“ erklärte er. „Sonst kriegste doch nüscht mit.“ Eines Tages brachte ihn das „Nah ran“ ins Gefängnis. Gänzlich unbedarft war er Mitglied eines subversiven Karnevalsvereins geworden, der wie polytheistische Gesellschaften, Künstler, Spieler und Pikaros, Untergrundradios und wandernde Barterplattformen verboten war. Die meisten von ihnen galten als terroristische Vereinigungen und wurden streng verfolgt. Aber um Jimmy musste man sich keine Sorgen machen. Als sie ihn aus dem Gefängnis abholten, strahlte er sie an: „Det war erste Sahne.“

„Geld ist kein Problem“, sagte Humboldt. „Für Jimmy werde ich noch etwas Bargeld herstellen. Gut gedeckte neue Konten nebst passenden Karten und Legende sind in Arbeit. Neue Visitenkarten werde ich ebenfalls anfertigen.“ Humboldt fand die Sicherheitstechnologie der hiesigen Welt primitiv, ja geradezu kindisch. Als sie hier ankamen, konnte er sich für die Herstellung ihrer Ausweispapiere praktisch ohne Hindernisse in die zuständige Passbehörde „einwählen“, wie er es nannte.

„Wünschen Sie den üblichen Titel?“ Rabel stutzte. Warum redete Humboldt so maniriert? Erst jetzt fiel ihm auf, dass sein Kollege in einen dunklen formellen Anzug mit langen Rockschößen und scharf gebügelten Hosenbeinen gekleidet war. Die grauseidene Weste mit Uhrtasche nebst Inhalt schien perfekt auf sein kurzes graues Haar abgestimmt zu sein. Was mag er nur wieder gelesen haben?

„Nein, keinen Titel. Auf die Vorderseite schreiben Sie Rabel. Detektiv, auf die Rückseite setzen Sie einen kleinen Raben und die passende Mailadresse. Lassen Sie sich was einfallen. Geben Sie sich Titel nach Gusto. Die anderen fragen Sie.“ Humboldt unterdrückte einen allzu eifrigen Gesichtsausdruck und tippte Notizen in das Notepad, das an einem Band an seinem Gürtel hing.

Rabel stand auf. Er ging in der Bibliothek auf und ab, bis er scheinbar zufällig vor einem kleinen gerahmten Spiegel stehenblieb. Wie müsste er wohl als glaubhafter Detektiv aussehen? Dann fiel ihm etwas ein. „Humboldt, wenn Sie schon dabei sind, machen Sie mir einen Ausweis „Spezialeinheit oder was Ähnliches im Ministerium für Wissenschaft und Wahrheit, falls ich den noch nicht habe. Können Sie herausfinden, wie die aussehen und so weiter?“

„War das eine Frage“, fragte Humboldt indigniert zurück.

„Schon gut, schon gut.“

*

Mit bedächtigen Schritten und gesenktem Blick näherte sich Helmut Diehl kurz vor 9 Uhr morgens seinem Arbeitsplatz in der Mitte der Stadt. Er trug einen schlecht sitzenden Anzug unbestimmter Farbe und billige Schuhe. Sein schmutzig graues, noch volles Haar trug er in einem strengen Seitenscheitel. Unvermittelt knallte ihm ein junger Bursche in Sportkleidung gegen die Schulter, dass er fast strauchelte. Der Rempler lief weiter, ohne Notiz von ihm zu nehmen. Kurz später durchschritt Diehl das Hauptportal des Schlosses. Er straffte die Schultern.

Die Ministerien legten Wert auf Repräsentation. Sie glaubten auch an die günstige Wirkung von Herrschaftsarchitektur. Also hatten sie sich auf gemeinsamen Beschluss aus 3D-Druck-Elementen ein Schloss bauen lassen. Die Pläne hatte ein Bauarbeiter zufällig in einem Keller des ehemaligen Parlaments gefunden. Sie waren alt und kaum noch leserlich. An einigen Stellen musste man deshalb improvisieren und hatte zu diesem Zweck für alle Fälle jede Menge Zierrat herstellen lassen.