Schelmenrepublik - Martha Carli - E-Book

Schelmenrepublik E-Book

Martha Carli

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Beschreibung

So geht es nicht weiter. Sagen alle. Nichts stimmt mehr. Die Nachrichten stammen aus einem fremden Land, das Schiff ist aus Pappe, das Meer aus Plastikfolien. Die Mäuse fressen die Katzen, der Wagen zieht das Pferd, der Ochse schlachtet den Metzger, und der arme Mann gibt dem Reichen Almosen. Kommt mit auf eine Reise in eine scheinbar unbekannte, unwirtliche und verkehrte Welt, die bei näherer Betrachtung doch merkwürdig vertraut wirkt. Sie ist bevölkert von Wesen, die fremd scheinen und doch ganz nah sind. Alle an der Schwelle zum Wahnsinn, alle kurz vor dem Scheitern. Wir begegnen einem flüchtenden Möchtegern-Weltenlenker (mit Kurbel) und seinen botmäßigen Vasallen, treffen (indirekt) einen voll verdrahteten Philosophenkönig (Borgosoph) in seiner altbackenen Utopie, erleben einen Rausch aus Firlefanz-Ökonomie samt König (Import-Export) in einem gefälschten Schloss, entdecken das Elend der Helden und den Schaden, den sie anrichten (Hamlet schließt sich den Schelmen an ...) und finden uns schließlich in einer Akademie wieder, die im Kern ein Hohlkörper ist und zur Unterhaltung der dummen Leute "da draußen" einen Zirkus betreibt (inklusive Gummi-Enten und Geist im Gefäß). Die Reisegesellschaft besteht aus gelehrten Schelmen und Ehrenschelmen, die einander und uns das Erlebte erklären und ins rechte Licht rücken. Gelegentlich wird gelacht über die Märchen, die wir uns und anderen über uns selbst, über unsere Geschichte und unsere "Zivilisation" erzählen. Am Ende der Reise – in der Schelmenrepublik – wird klar, dass in der "Gefälschten Welt" nichts so ist, wie es scheint. Nichts stimmt. Der Staat ist ein peinliches Versehen, die Aufklärung verfolgt die Hexen, der Fortschritt geht nach hinten los, die Helden sind die Verlierer der Geschichte, die "Wissenschaft" ist nur mehr eine Gegenveranstaltung zur Wirklichkeit und die Zivilisation ... das sind die anderen.

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Verlag, Herausgeber und Autoren übernehmen keine Haftung für inhaltliche oder satztechnische Fehler.

©Martha Carli 2022

marthacarli.com

Martha Carli

Die Schelmenrepublik

Kompendium für Trost und Widerstand

Edition Rabe und Coyote

MMXXII

Das Land war in Gefahr, und Yossarian setzte das traditionelle Recht auf Freiheit und Unabhängigkeit aufs Spiel,

indem er von diesem Recht Gebrauch machte.

Joseph Heller, Catch 22

Die Schelmenreise, über die ich hier berichte, ist eine Grand Tour zu einigen Stationen einer Welt, die ich der Einfachheit halber „Gefälschte Welt“ nennen will. (Warum ich das tue, werdet Ihr bald erkennen.) Die Reise endet in der Schelmenrepublik, wo die Reisenden und ihre neuen Freunde, die sie unterwegs aufnehmen, in Sicherheit sind.

Inhaltsverzeichnis

Einführung – Die Schelmenreise

Ich erläutere kurz Zweck und Ziel der Reise und versäume auch nicht, einige Angehörige der Reisegesellschaft vorzustellen.

Ansichten eines Schelms

Sollte jemand vor Beginn der Reise wissen wollen, was es mit Schelmen und Trickstern auf sich hat, bietet diese kurze Manifest tiefere Einblicke.

Erste Station – Megalopolis

Der Weltenlenker oder die Banalität des Bösewichts

Wir treffen den Weltenlenker mit seiner Kurbel und machen Bekanntschaft mit seinen Helfern und willigen Vollstreckern, die auf den ersten Blick völlig harmlos aussehen. Wir besuchen eine Agentur für Eindeutigkeit und lauschen dem Weltenlenker, wie er in schwerer See über das Nichts spricht.

Rettung der Karnevalisten, die von Rabe und Coyote zum Zug begleitet werden.

Interludium I – Auf dem Weg von Megalopolis nach Utopia Platonica

Zweite Station – Utopia Platonica

Ein Ausflug in den Totalitarismus

Ich beginne von vorn mit der Betrachtung der Gefälschten Welt. Einige meiner Mitreisenden schlagen Plato als einen Ausgangspunkt vor und überlegen, wer von ihm abgeschrieben haben könnte. Wir treffen auf Bücklinge, auf Gerechte und auf Uploader. Indirekt begegnen wir auch dem Borgosophen, der ganz sicher von Plato abgeschrieben hat. Er überlegt noch immer, ob er dem Weltenlenker Asyl gewähren soll, nachdem der aus Megalopolis geflohen ist.

Rettung der Staatsfeinde und einiger Bücklinge, die sich während der Unruhen zu ungeahnten Höhen aufschwingen und eine kleine Sabotage durchführen.

Diskussion der Basisfreiheiten

Interludium II – Auf dem Weg von Utopia Platonica nach Groß-Firlefanz

Dritte Station – Groß-Firlefanz

König Cumex I., das Fischbrötchen und die RolltreppeGroßer Bahnhof in Groß-Firlefanz, wo alles, aber auch alles käuflich ist. Wir verhandeln erfolgreich mit den selbstbestimmten Rolltreppen und begegnen in einer Schlossattrappe überraschend König Cumex I., der überlegt, ein Fischbrötchen-StartUp zu gründen, vielleicht aber auch ein paar Kulturen zu verkaufen. Wo genau der Große Firlefanz ist, weiß er leider nicht. Wir machen am Rande Bekanntschaft mit der Methode des „Solidarity Suicide“ und der Konsumperformanceaufsichtsbehörde.

Honoré, der Große und Rubens, die Umsichtige, stoßen zu uns, außerdem Rettung einiger elender Gestalten.

Interludium III – Auf dem Weg von Groß-Firlefanz nach Herostratien

Vierte Station – Herostratien (ursprünglich geplant)

Wehe dem Land ...

Der Besuch in Herostratien fällt wegen einer Heldenkrise aus. Stattdessen Picknick auf freier Strecke mit einem Vortrag von Meeker. Hamlet stößt zu uns, außerdem ein berühmter Schelm, der eine auffallende Ähnlichkeit mit einem gewissen Yossarian hat. Helden sind peinlich und meistens ziemlich beschränkt. Hamlet und der Berühmte kommen mit uns.

Unbeziffertes Interludium

Fünfte Station – Abstrahien

Das Nichts nichtet ...

Wir besuchen die Akademie von Abstrahien und lernen ihren Direktor kennen. Er hat eigenhändig neue Wissensformen modelliert und rühmt sich, mit der Theorie von Allem den Monotheismus in der Wissenschaft erfunden zu haben. Besonders stolz ist er auf die neu geschaffene Abteilung für die Produktion von Falschinformationen und Verhaltensmanagement zum Besten der einfachen Leute. Im angeschlossenen Zirkus besichtigen wir das Shopping- und Service-Center samt Zirkusdirektor, einer Wortverkürzungsmaschine, dem Geist im Gefäß und anderen Lustbarkeiten.

Zu unserer großen Freude treffen wir Cavendish und Vico und nehmen sie mit.

(Kleines) Interludium IV – Auf dem Weg von Abstrahien in die Schelmenrepublik

In der Schelmenrepublik ...

Der Kongress

Vortragssession (Die Reihenfolge der Vorträge kann variieren.)

Die Wahrheit über Abstrahien

Zwischen den Stühlen

Wie man Lügengeschichten schreibt

Raus aus der eigenen Haut

Epikur (er selbst)

Der Schelmenroman

Heiliges Lachen

Anhang

Kolloquium „Schelmenpolitik“

Zusammenfassender Bericht vom Ereignis mit den Themen:

Clownpolizei

Staatsfeinde

Zivilisation

Rechte, Freiheit, Politik

Wie man in Tlaxcala Politiker wird (Leihgabe)

Anarchie

Widerstand

Editorische Notiz: Die Session „Widerstand“ habe ich aus der fließenden Berichterstattung herausgenommen und in ein praktisches Handbuchformat mit thematisch geordneten Einzelstücken übertragen.

Weitere Schelmenbücher und die Angebote der Schelmenakademie

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Die Schelmenrepublik

Martha Carli ist die Gründerin der Schelmenrepublik. Sie ist Autorin mehrerer Bücher zum Schelmenwesen. Außerdem schreibt sie Kriminalgeschichten und -romane. Sie lebt und arbeitet in der Schelmenrepublik.

Schelmenrepublik ist übrigens ein anderes Wort für Wirklichkeit.

Die Anmeldung zum kostenlosen Schelmen-Newsletter ist zwar nicht zwingend vorgeschrieben. Sie wird aber dringend empfohlen.

[email protected]

https://marthacarli.com

Einführung – Die Schelmenreise

Wie es begann, vermag ich nicht mehr zu sagen. Es muss das große Durcheinander gewesen sein, als in der Welt, die ich ab jetzt Gefälschte Welt nennen will, gewisse Entwicklungen einen Höhepunkt erreicht hatten. Es war ja nicht nur die Tatsache, dass der Esel den Pfaffen aus der Kirche trieb, die Maus die Katze fraß, der Hund den Herrn verprügelte, der Kaufmann sein Geld verschenkte, König Cumex I. ein Fischbrötchen-StartUp gründete und die große Kurbel den Weltenlenker am Kopfe traf. Es war wohl auch dieser schreckliche Nebel, der immer undurchdringlicher wurde, durch den man aber deutlich Hilfeschreie vernehmen konnte. Denn auf einmal gab es in der Gefälschten Welt viel Moral und wenig Brot.

Ich beschließe auf Reisen zu gehen, aber ich tue es nicht allein. Ein Schelm ist niemals allein. Was Ihr hier vor Euch habt, ist der wahrhaftige Bericht einer kuriosen und abenteuerlichen Reise durch gefährliche Gegenden der Gefälschten Welt. Die erlauchte Reisegesellschaft war mitunter großen Gefahren ausgesetzt, traf auf Ungeheuer von namenloser Schrecklichkeit (inkl. den abgetrennten, vollverkabelten Kopf eines gewissen Kurzweil auf der Suche nach dem finalen Upload), befreite zahllose arme Seelen aus der Verdammnis und geleitete sie in den schützenden Hafen der Schelmenrepublik. (Sogar Hamlet stieß zu uns. Er wollte partout kein Mörder werden.)

Das klingt natürlich furchtbar albern und pathetisch, und ich entschuldige mich dafür. Aber alle Chroniken und Reisebeschreibungen, die auf sich halten, besorgen sich Monster, Gefahren, Weltenlenkerkurbeln, Borgosophen und Windmühlen bei den entsprechenden Reiseausstattern. Es ist schwer zu sagen, wann die Reise, von der ich erzähle, beginnt, ob sie schon begonnen hat oder noch beginnen wird, weil sie eigentlich ununterbrochen beginnt. Wann sie endet, ist ebenfalls schwer auszumachen.

„Zeit lässt sich nicht in simple lineare Beschreibungen zwingen“, erklärt unser Zeitkultur- und Komplexitätsexperte Edward T. Hall, der uns auf der Reise in die Gefälschte Welt begleitet. Er hat herausgefunden, dass es in der wirklichen Welt so viele Arten von Zeit wie es Menschen auf der Erde gibt.

Der Zug steht bereit. Er wird uns sicher durch die Gefälschte Welt fahren, uns trösten und ein Zuhause sein, wenn wir von unseren Ausflügen zurückkehren. Hier können wir uns ausruhen und stärken und unsere Erlebnisse diskutieren. Ich freue mich besonders, mitteilen zu können, dass Arcimboldo höchstpersönlich uns begleitet. Er sorgt für die exzellente Verpflegung und sieht dabei immer schön bunt aus. Schelme, aber auch Ehrenschelme sind immer hungrig.

Unsere Waggons sind bequem und haben große Fenster, die von lieblichen Kletterpflanzen umrankt sind. Der Boden unter den Sitzen ist mit Gras bedeckt und übersät mit blühenden Blumen. Launiges Plappern und Schwatzen mischt sich mit leiser Musik ... Ja, ich habe nun einmal diese Neigung zum Fabulieren. Aber glaubt mir, Listen und simple Aufzählungen wollt Ihr nicht hören.

Ein Teil der Reisegesellschaft ist bereits eingetroffen. Rabe erzählt mir gerade, wer uns alles im Geiste begleiten wird. (Und ich erzähle Euch in Kürze, was es mit Rabe auf sich hat. Nur soviel an dieser Stelle. Rabe ist einer der ganz Großen unter den Trickstern und Schelmen. Während der Reise sitzt er meistens auf meiner linken Schulter, wenn er nicht gerade zusammen mit Coyote groben Unfug treibt oder arme Seelen rettet.)

Von irgendwoher dringt ein schmatzendes Geräusch an unsere Ohren. Auf einem Fensterplatz sitzt ein dicker Kerl im Netzhemd, der genießerisch eine Currywurst vertilgt. Er schaut freundlich zu uns herüber und widmet sich dann wieder seiner kräftigen Mahlzeit, deren Masse sich wegen der bekannten Hall’schen Instantan-Zeitschleife nicht verringert. Er ist noch nicht lange bei uns. Einige meiner Kollegen haben ihn seinen Erziehern entrissen, die ihn den Anonymen Wurstessern zuführen und ihm ein hellblaues Oberhemd anziehen wollten. Hier bei uns fühlt er sich wohl und packt auch kräftig mit an, wenn Not am Mann ist. Das Netzhemd ist dabei das ideale Kleidungsstück.

Die Dame im orangen Kleid ist eine fröhliche Dissidentin. Wir konnten sie kurz vor Beginn der Reise aus einer Agentur für Eindeutigkeit, Prinzipienmoral und Abstraktionen befreien. Sie erzählte uns, dass die Beschäftigten in diesen Agenturen ihren Sauerstoff von zuhause mitbringen müssen. Durch ihre Befreiung entging sie nur knapp dem schrecklichen Schicksal, prinzipienmoralische Spezialanfertigungen für den hypermoralischen Amoklauf mit Eindeutigkeitsturbo anfertigen zu müssen. Für die Erklärung gewisser Aspekte der Gefälschten Welt wird sie eine unschätzbare Unterstützung sein.

„Anarchie!“, brüllt einer von weiter hinten. „Nieder mit ... ach, was weiß ich? Ich bin Anarchist!“ Der Rufer schwenkt einen großen Hut und freut sich über das Gelächter um ihn herum. Anarchie ist sogar für Schelme ein schwieriges Thema. Zum Glück haben wir die besten Kenner der Materie dabei. Aber eins nach dem anderen.

Schelme und Ehrenschelme, im Fleische und im Geiste, sind im Zug versammelt. Es kann losgehen. Lautlos fährt der Zug an und gleitet bald leise durch eine liebliche Landschaft. Gerade kommt Arcimboldo mit dem Teewagen vorbei und verteilt Obst und Süßigkeiten an alle, die keinen Proviant mitführen. „Stärkt Euch gut“, rät er. „Ihr solltet bei Kräften sein. In manchen Gegenden ist die Luft so dünn, dass man glatt hindurchsehen kann.“ Bevor jemand bemerkt, was er gesagt hat, beeilt er sich, im nächsten Wagen zu verschwinden. „Ich schicke Euch den Reiseführer mit dem Fahrplan“, ruft er uns noch über die Schulter zu.

Ich sehe neugierig aus dem Fenster. In der Ferne erkenne ich schemenhaft eine merkwürdige Struktur. Sie scheint riesig zu sein.

Die Abteiltür öffnet sich. Der Reiseführer tritt ein. Den Fahrplan schwenkt er fröhlich in der Hand. Wir begrüßen Joseph Meeker, gefürchteten Zerschmetterer von Heldenreisenportalen und anerkannten Experten für die Birmingham-Motte. 1

Er wartet noch einen Moment, bis sich alle versammelt haben. Hall arbeitet in seiner zeitlos liebenswürdigen Art daran, diejenigen zu platzieren, die noch nicht da sind. Aus dem Speisewagen kommen weitere Passagiere herbei und gesellen sich zu den anderen. Schon jetzt ist es eine beeindruckende Ansammlung von Schelmen und Ehrenschelmen, Experten für das Sitzen zwischen den Stühlen und Fachleuten für die Umkehrung der Geschichtsschreibung. Ein paar Mythenkiller sind auch dabei, und da haben wir auch einige Mitglieder des Komitees für den Kampf gegen feste Gewissheiten. Einige begleiten uns im Geiste und in ihren Büchern, andere sind aus allen Weltecken in unser Universum gekommen, um mit uns gemeinsam die Gefälschte Welt zu bereisen und davon zu berichten. Manche kommen aus der Abteilung Zivilisation und Sortierte Trickster. Dann gibt es die Spezialeinheit Zivilisierter Widerstand und die Arbeitsgruppe Wissenschaftsmythologie sowie eine starke Antiapokalypseeinheit, spezialisiert darauf, Kaninchen von Schlangen wegzuziehen. Gerade entdecke ich auch die Utopielöser und die Firlefanz- und Kanaillenexperten.

Rabe, Coyote, die Wilde Frau und andere, die noch nicht genannt werden können, werden uns leiten und beraten, meistens so, dass wir es nicht einmal bemerken. Manchmal werden sie ins Geschehen eingreifen. Auch das werden wir nicht immer auf den ersten Blick erkennen.

Die soeben Genannten sind natürlich noch nicht die ganze Reisegesellschaft. Ihr werdet sie nach und nach kennenlernen.

Meeker räuspert sich. „Dann will ich mal beginnen.“ Er sieht sich um und nickt zufrieden. Er hat die volle Aufmerksamkeit der Anwesenden.

„Die erste Station ist Megalopolis“, beginnt er. „Dort finden wir den Weltenlenker, eine unregistrierte, nicht-evolutionäre Lebensform, die es trotz eines langen Strafregisters geschafft hat, eine Anhängerschaft der automatisierten Mittelschichten um sich zu scharen. Diese Leute sind bereit, über jeden geistigen Abgrund zu springen, wenn der Weltenlenker es ihnen befiehlt.

„Womit lenkt er denn die Welt?“ Die Frage kommt von Rabe, der es sich gerade mit einem Stück Kuchen im Gepäcknetz bequem gemacht hat.

„Mit einer Kurbel“, antwortet Meeker mit Pokerface. Hier und da hört man leises Kichern.

„Wir werden in Megalopolis außerdem eine Agentur für Eindeutigkeit besichtigen, wenn wir es schaffen, hineinzukommen.“ Er nickt freundlich in Richtung Dissidentin, die mit einer kleinen Handbewegung Hilfe zusagt, falls nötig.

„Totalitarismus, Sekten, Utopien! Gerechte, Uploader, Borgosophen!“, ruft Meeker im Ton eines Marktschreiers aus und amüsiert sich über unsere fragenden Gesichter. „Schon gut“, lenkt er ein. „Die zweite Station ist Utopia Platonica, und das sind die Dinge, die wir dort finden.“

„Anarchie!“ tönt es erneut von den hinteren Reihen. Diesmal gibt es Applaus.

„Ich habe auch noch ein paar Staatsfeinde“, ruft jemand dazwischen. Muss einer der Ethnologen sein. „Inklusive Clownpolizei.“ Definitiv ein Ethnologe. Es scheint der kräftig gebaute Dalrymple zu sein, der ständig eine Thermoskanne voller Kaffee und jede Menge Butterbrote mit sich herumträgt.

„Ist ja gut, ist ja gut“, beschwichtigt Meeker ihn. „Wenn ich dann weitermachen dürfte? Unsere dritte Station istGroß-Firlefanz, bekannt für seine bahnbrechenden Wettbewerbe. Alle, die es schaffen, sich in zertifizierten Programmen auf die richtige Art nahezu totzuarbeiten und dabei ein außergewöhnliches Konsumlevel zu erreichen, gewinnen Rabatte für intracraniale Smartphonehalterungen, spikeverstärkte Stoßstangen in Kinderkopfhöhe, lebenslange Abonnements für Biobananen und ein Windrad. Die erwirtschafteten Vermögen werden in speziellen Maschinenparks, in der Regel in Ministerien, Parlamenten oder Gerichtshöfen in politische Macht verwandelt, was insgesamt als besonders umweltschonend angesehen wird. Und, meine lieben Freunde, freut Euch auf König Cumex I., der in einem falschen Schloss wohnt und Fischbrötchen verkauft. Steuerfrei.“

„Die sollten lieber Epikur lesen“, sagt Epikur mit sanfter Stimme und vergnügter Miene. „Ich darf doch hier Reklame für meine goldenen Worte machen?“

„Selbstverständlich“, beruhigt Meeker ihn freundlich und fragt in die Runde. „Wo sind der informelle Sektor und die Allmende?“

„Die sind noch im Speisewagen“, rufen Netzhemd und Dissidentin und essen weiter. Meeker macht eine kleine Pause und lächelt versonnen. „Die vierte Station ist Herostratien“, kündigt er an. „Da kenne ich mich gut aus, und ich werde persönlich die melodramatischen Helden über die Klippe und in den Abgrund des Vergessens stoßen. Wehe dem Land ... Ihr wisst schon.“

„Aber werden die uns da nicht angreifen?“, will einer der anwesenden Dialektiker wissen und rückt seine Brille zurecht. Meeker lächelt. „Keine Sorge, mein Junge. Helden sind zu dumm, einen Schelm zu erkennen.“ Der Dialektiker von der Arbeitsgruppe Wissenschaftsmythologie lehnt sich entspannt zurück und flüstert seinem Kollegen etwas zu.

„Die fünfte Station ist Abstrahien.“ Meeker räuspert sich. „Das wird ein bisschen anstrengend“, warnt er vorsichtig. „Die Luft ist dort sehr dünn und sauerstoffarm, alles ist blassgrau und neblig. Die blassgrauen Bewohner leben von Prinzipienmoral und Plastikwörtern und leiden unter Dogmatismus, Bösartigkeit und Blutarmut.“

Unser Reiseführer studiert seine Unterlagen und zählt mit wohligem Schauer auf, womit wir in Abstrahien rechnen müssen. „Falschinformationen, Verhaltensmanagement, Zirkusdrohnen, jede Menge Wahrheit, TOE und GUT, ganz neue Wissensformen und ungeahnte Abstraktionshöhen.“

„Hör schon auf, Meeker ...“, geht Dalrymple dazwischen. „Wir haben schweres Gerät und jede Menge Butterbrote dabei.“ Meeker lacht. „Du hast recht. Und wenn wir Abstrahien hinter uns haben, ist das Schlimmste ohnehin schon geschafft. Denn von dort aus kehren wir unmittelbar zurück in die Wirklichkeit.“ Zustimmendes Gemurmel.

Dann wendet Meeker sich wieder ans Publikum und kündigt den großen Kongress an, die in einem Garten in der Schelmenrepublik stattfinden wird – oder vielleicht gerade schon stattfindet. Er übergibt an Rabe, der inzwischen mit seinem Kuchen fertig ist.

„Die beiden Williams bitte, Hynes und Doty“, bittet Rabe die beiden Kongressionäre. „Zeigt Euch kurz.“ Hynes und Doty kommen vor und winken mit ihren Manuskripten. „Die beiden, die übrigens ausgewiesene Schelmen-Experten sind, haben den Kongress vorbereitet, und sie haben einiges in petto.“ 2Hier und da wird applaudiert.

„Das war’s für den Moment, meine lieben Freunde“, schließt Meeker seine Ausführungen. „Unterwegs erfahrt Ihr mehr.“ Rabe nimmt sich noch ein Stück Kuchen von Arcimboldos Teewagen und zieht sich wieder ins Gepäcknetz zurück.

Nachdem Ihr nun einigermaßen im Bilde seid, möchte ich Euch ein in der Schelmenwelt weithin berühmtes, sich ständig änderndes Manifest zur Kenntnis geben, das jungen und auch neuen Schelmen für die erste Orientierung an die Hand gegeben wird. Wir wissen nicht, wer es verfasst hat und wie viele Schelme daran mitgearbeitet haben. Aber das spielt auch überhaupt keine Rolle. Wir wissen, dass es sehr sehr alt und über die ganze Welt verbreitet ist. Jedem, der es liest, erscheint es in seiner eigenen Sprache und in seinen Lieblingsfarben.

Wer ein Schelm werden will, sollte es lesen. Falls Ihr nicht alles auf Anhieb versteht oder Dinge Euch seltsam vorkommen, was wahrscheinlich ist, fragt mich.

Als Schelm ist man ständig auf Überraschungen gefasst, weil Schelme häufige Verursacher von Überraschungen sind.

Ansichten eines Schelms

Um es gleich vorweg zu sagen: Ich finde es unverschämt, immer wieder als „mythischer Held“ bezeichnet zu werden. Ja, unverschämt, und es ist mir egal, wie Ihr meinen Ton findet ... Mit Helden will ich nichts zu tun haben, weder mythisch noch sonst wie. Vor allem die jugendlichen und die tragischen Helden finde ich albern. Deshalb imitiere ich sie so gern. Ich habe für mein ganz persönliches Amüsement sogar einen ganzen Aristoteles erfunden, damit er die tragischen Helden, diese albernen Kerle, feiern kann mit all ihrem Heldenkitsch. Ihr lacht. Täuscht Euch nicht, wenn Ihr über den Quixote lacht, der die ebenso albernen Ritter imitiert. Über wen lacht Ihr am Ende wirklich? Ihr bemerkt es meistens erst ein bisschen später. Aber das macht nichts. Überlegt einmal. Könnt Ihr noch einen Ritter sehen, ohne dass der Quixote sich davorschiebt? Hauptsache, Ihr habt eines begriffen. Über Schelme muss man sich nicht lustig machen, über Helden schon. Nachdem das nun geklärt ist, höre ich auch schon auf zu maulen.

Was ein Schelm ist, wollt Ihr wissen? Na gut. Ein Schelm ist Sommer und Winter gleichzeitig, ist der Coyote als Rabe, der Pfaffe als Esel – oder war es umgekehrt? Vermenger von Lüge und Wahrheit, Herr der Tiere, Idiot, Picaro, Possenreißer und so weiter und so weiter. Ich komme dazu.

Ich, der Schelm, bin lebensdienlich, bringe Zivilisation, Feuer, Ackerbau, Maiskuchen, Näharbeiten, Erkenntnis, Klugheit, Butterbrote und was man sonst so braucht. Wenn ich die Welt erschaffe, tue ich das nach dem Zufallsprinzip, immer mit Weile und in ständiger Abstimmung mit allen natürlichen Existenzen – nicht mit einem Fingerschnippen vom Himmel herab. Die Methode Versuch und Irrtum habe ich den Menschen abgeschaut, die auch keine Freunde von Systematik und starren Plänen sind.

Wenn ich in Eurer Nähe bin (und Ihr noch nicht so gut seid im Schelmensehen) solltet Ihr immer mit allem rechnen. Es kann sein, dass ich Euch nach Strich und Faden betuppe. Ich bin der Bürokrat, der die Akten verlegt, der Pfaffe, der den Esel in die Kirche führt, der Minister, der das Licht in Eimern ins Haus trägt. Ich spotte Eurer Götter und Eurer Gewissheiten und ich schreibe Eure Zeitungen mit Lügengeschichten voll. Und glaubt mir: Kein Tabu ist mir je zu heilig, keine Bananenschale je zu deplatziert.

Ach übrigens: Die Anti-Tabu- und Bananenschalenmethode eignet sich besonders gut für moralisch Hochbegabte, notorische Rechthaber und Eindeutigkeitsliebhaber. Sie rutschen häufiger aus als andere. Allerdings brauchen sie meistens gar keine schlüpfrige Bananenschale, um auszurutschen – was mir durchaus recht ist. Es spart Arbeit.

Ihr wollt jetzt endlich Klarheit? Wer entscheidet, was das ist? Ich sitze zwischen allen Stühlen und wechsele Form und Inhalt, so oft ich will. Das Eine ist das Böse, sagen meine Freunde, die Sioux. Ich erschaffe die Welt, zerschrote Eure Häuser und nehme Euch Eure liebsten Überzeugungen. Da habt Ihr Eure Klarheit. Ihr seid ja nur ärgerlich, weil Ihr mich nicht sehen könnt, ich Euch aber schon. Aber keine Sorge. Ich liebe Euch alle.

Eure Häuser? Ich hätte Eure Häuser zerstört? Und ich hätte gesagt, ich liebte Euch alle? Wie käme ich denn dazu? Euren Häusern ist nichts passiert. Das war nur ein Witz, und Ihr habt ihn geglaubt, weil Ihr so wild darauf seid, dass man Euch bestraft für Dinge, die Ihr überhaupt nicht getan habt, ihr frommen Untertanen.

Ich, der Schelm, bin ein heiliges Wesen, Schöpfer und Witzbold, das Gegenteil meiner selbst, Krähe, Schwindler, heute Rabe, morgen Pfaffe, Clown, Narr, Simplicissimus, Lazarillo, Spaßmacher, Kulturheros, Monster, Geist, Coyote, Fuchs, Hase, Kaninchen, Betrüger, Formwandler, Grenzgänger, Moralverächter, Vermenger von Lüge und Wahrheit, Tabubrecher, Blasphemiker, Ketzer, Tänzer, Sänger, Brüller, Götterbote, Vielfraß, Wilde Frau – kein anmaßender Gott, der aus purer Angeberei Leute quält, wie seinerzeit Hiob. 3

Hiob hatte gar nichts falsch gemacht. Er war nichts weiter als ein Versuchskaninchen in einem Duldungs- und Gehorsamkeitskult. Seine Freunde ließen ihn im Stich, um einem abstrakten Wesen zu dienen, das ihnen wichtiger war als der notleidende Freund.

Nein, so ein Wesen bin ich nicht. Ich spiele Euch Streiche, damit Ihr nicht träge werdet, ich halte Euch den Spiegel vor, aber ich habe kein Interesse daran, Euch zu quälen, um anzugeben, Euch auseinanderzubringen und Euch dann auch noch ins Schlafzimmer zu gucken.

Bei den Winnebago 4 habe ich einmal einen Wasserfall an eine andere Stelle gerückt, damit die Menschen es bequemer hätten. Ich schickte Ihnen keine Sintflut als Strafe für ihre Sünden. Welche sollten das sein? Wollte ich jedes Mal Leute strafen, weil sie angeblich sündigen, käme ich aus dem Wasserschleppen gar nicht mehr heraus. Und was für eine Verschwendung natürlicher Ressourcen.

Sprach ich schon von Zivilisation?

Ich weiß noch, wie ich einmal – ich war als Coyote unterwegs – einen alten Schädel fand. Das war vor der Zeit, als fromme Christenmenschen und Eisenbahnaktionäre den „Wilden“ die Abstraktion, den Doppelwhopper, das Gesangbuch und die Erfindung der virtual reality brachten – das Leben im Jenseits als Belohnung für ihre Leiden hinieden.

Ich glaube, der Schädel stammte von einem Rothirsch. Ich sah hinein und entdeckte ein Ameisendorf, in dem gerade ein Sonnentanz aufgeführt wurde. Das sah so schön und manierlich aus, dass ich gern mehr sehen wollte. Also machte ich mich klein, um in den Schädel hineinkriechen und besser sehen zu können. Doch irgendetwas hatte nicht funktioniert. Plötzlich hatte ich wieder meine normale Coyotengröße, mein Kopf steckte in dem Schädel fest. Da hatte ich eine Idee. Ich wanderte zu einem Dorf und verkündete den Bewohnern: „Ich bin heilig. Ich habe übernatürliche Kräfte. Ihr müsst mir Tribut zollen!“ Die ehrfürchtig erschrockenen Dorfbewohner defilierten in einer Prozession an mir vorbei und bestrichen mich mit Pollen als Zeichen des Segens. Aber der letzte in der Reihe war ein schlauer Bursche, der hinter seinem Rücken einen Stock verbarg. Als er mich erreichte, schlug er damit auf den Hirschschädel ein, bis er zerbrach und herunterfiel.

„Das hättet ihr schon längst tun sollen“, rief ich ihnen zu. „Aber Ihr wolltet ja lieber eine übernatürliche Macht anbeten …“ 5

Das war bei den Apachen. Aber ich bin überall auf der Welt zuhause. Wirklich überall. Im Unterschied zum Helden übrigens, denn anders als der Held komme ich ohne Ideologie, abstrakte Ideale oder metaphysische Systeme aus. Aber ich will nicht wieder davon anfangen.

Die Menschen sind nirgends scharf auf rachsüchtige Götter, die willkürlich herrschen und Schaden anrichten, nur weil sie’s können. Wirklich nirgends. Sie regeln ihre Angelegenheiten stets selbst, mal mehr, mal weniger friedlich. Meistens friedlich. Einen obersten Moral- und Prinzipiengeber brauchen sie nicht und haben sie nie gebraucht. „Moralische“ Widersprüche gehören zum Leben und lassen sich oft nicht in Gut und Böse trennen. Das halten sie aus, und sie handeln es aus. Sie haben konkrete Probleme und finden konkrete Lösungen. Der Obrigkeit das letzte Hemd zu geben für einen Stehplatz im Jenseits, gehört nicht dazu. (Ja, ich weiß, es gibt Gegenden in der Gefälschten Welt, in der zu viel Prinzipienmoral, zu viel Gehorsamslust und zu viele Pfaffen und Eisenbahnaktionäre die Menschen schlimm deformiert haben. Wer weiß, ob sie noch zu retten sind. Aber das soll nicht meine Sorge sein.)

Ich erzähle lieber noch eine Geschichte. Manche Schamanen sind geschickte Bauchredner. So machen sie den Leuten vor, der Raum sei voller Geister. Die Priester brauchen solche Tricks nicht mehr. Sie behaupten einfach die Anwesenheit der Geister, und wehe, jemand zweifelt daran. Der nächste Scheiterhaufen ist nicht weit, und auf einmal ist kein Schelm mehr da, sich über Schamanen und andere Obrigkeiten lustig zu machen.

Nun, ich tat es einmal und imitierte mit Bauchrednerei einen Schamanen, um der Großmutter vorzugaukeln, ich hätte viele Gäste. In Wahrheit wollte ich einfach nur alles allein aufessen.6Oh, wie unmoralisch! Schon vergessen? Über wen lacht Ihr, wenn Ihr über mich lacht, wenn ich Helden und Schamanen und wen auch immer imitiere?

Nun, Schamanen und Priester singen Euch vom Jenseits. Ich helfe Euch, Eure Probleme im Diesseits zu lösen.

Bibeln, Eisenbahnaktien und die Halluzinationen des Teufels

Man setzt mir zu. Mit Bibeln und Eisenbahnaktien, glühenden Eisen, Diffamierung, Denunziation und jeder Menge Feuer. Jedes Mal, wenn die Agenturen für Eindeutigkeit erscheinen 7, wird es ungemütlich für mich. Brutal sogar. Als die Kirchen noch allein für derlei Dinge zuständig waren, taten sie, was sie konnten bis zur Selbstverleugnung. Schließlich mussten sie bei der Bekämpfung der Schelmerei und ihrer Freunde immer wieder von ihren hehrsten Grundsätzen absehen, die es ihnen verboten, Mord und Totschlag, Diffamierung und Denunziation, Brandschatzung und Konfiszierung zur Erreichung ihrer Ziele einzusetzen.

Aber dem wilden Treiben der Volkskulturen mit tausend Sprachen und noch mehr Verkleidungen bei unzähligen Festen und Karnevalsumzügen und dem Einklang mit der Natur muss Einhalt geboten werden, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, die Einheit im Geiste zu sichern und das Lachen zum Verschwinden zu bringen. Ihre höchsten Götter hätten auch nicht gelacht, erklären sie. Alles andere sei Aberglauben und Halluzination und des Teufels, das Böse schlechthin, das vom Guten mit immerwährender Verkündigung der einen Wahrheit, mit eiserner Faust, mit Feuer und mit dem Zehnten bekämpft werden müsse.

Sie denken, sie wären uns damit los. Sie vergessen aber – oder sie haben es nie gewusst – , dass das Leben immer widersprüchlich, unübersichtlich, unvorhersehbar, unzählbar und unmessbar ist, und dass wir diejenigen sind, die sich darin auskennen, die die dadaistische Energie des Lebens nutzen und daraus Zivilisation machen können – und dass sie es nicht können.

Wir sind die lachenden Dritten, die sich über die Schädelstätten der Dichotomien und Dualismen erheben, zuhause im unendlichen Universum dazwischen, darunter und darüber.

Und während sie ihre lachhaften Heldendramen mit all ihrem pastoralen Kitsch aufführen, spielen wir die Komödie des Lebens, in der alle die pathetischen großen Gefühle und der institutionalisierte Sinngebungszwang nichts verloren haben, es sei denn als Witz.

Schelm werden

Früher oder später wird es unausweichlich. Will man ein gelingendes Leben führen, muss man ein Schelm werden. Alles andere führt in die dunkelsten Ecken der Gefälschten Welt, in die Irre oder in die Fänge unseriöser Gebrauchtwertehändler und sinistrer Möchtegern-Weltenlenker.

Auch wer sich auf dem Boden der Vernunft bewegen und seinen Verstand behalten will, kann nur noch ein Schelm werden.

Und wer das unaussprechlich schöne Abenteuer eines freien und gescheiten Lebens ohne Bananenverordnungen und fensterlose Häuser auskosten und genießen will, wird spätestens jetzt ein Schelm.

Der Weg ins Schelmenwesen ist allerdings keine Ausbildung zum Possenreißer und kein Wochenendvergnügen mit Papiergirlanden. Ein Schelm zu sein, ist eine Frage der Haltung. Es geht um eine Entscheidung, den Verzicht auf Opferrolle und Angstlust, es geht um Denken und Handeln und um Lebenskunst und Glück. Es ist eine Entscheidung, die Konsequenzen hat. Eure neuen Wege führen zwischen alle Stühle und auf die Wilde Jagd, auf dünnes Eis und in groben Unfug. Sie führen hinaus aus dem Spiegelkabinett der vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, hinaus aus dem „Gehäuse der Hörigkeit“ (Max Weber), in dem man Euch gefangen halten will – als ewige Deppen in einem banalen und nur noch um sich selbst kreisenden Firlefanzuniversum.

Als ehrbare Schelme helfen wir anderen, sich all dem zu entziehen. Wir retten die Hexen vor der Inquisition – und damit vor dem sicheren Tod.

Erste Station – Megalopolis

Der Weltenlenker oder die Banalität des Bösewichts

Der Weltenlenker – Der Techniker – Das temporale Verzerrungsfeld – Der Marsrover – Synchronisierungsparameter – Das Rathaus – Die Agentur für Eindeutigkeit – Der Karneval (und die verlorene Unschuld) – Die administrative Dispositionsparallaxe – Falschinformationen – Die Guten und die willigen Vollstrecker – Verbotene Früchte – Werte, frische Werte! – Und wie man in Kirchen Kerzen anzündet – Bedingte Arbeitserlaubnis und ein Befreiungskommando – Der Weltenlenker im Dorftheater oder: Das Nichts nichtet – Verhaftung eines Präsidenten und Flucht des Weltenlenkers

Der riesige Bahnhof von Megalopolis ist fast leer. Es ist ruhig und sauber, und alles ist in nur einer Farbe angestrichen. Es ist ein spezielles Grau, das man einmal für den Hauptbahnhof einer großen Stadt in der Mitte eines kleinen Kontinents hatte entwickeln lassen. Die Station war – wie allgemein bekannt – ein erstes Testfeld für einen Bahnhof, der nicht mehr in erster Linie dem Transport diente. 8Aber lassen wir das. Das Ding ist ja jetzt weg. Einer der vielen schlecht informierten Milliardäre aus dem Micky Maus Empire hatte den Bahnhof für ein historisches Baudenkmal gehalten, gekauft und abtransportiert. Kurz später lösten sich seine Milliarden in Luft auf. Aber er hatte ja den Bahnhof. Die restliche graue Farbe kaufte der Weltenlenker.

Wir steigen aus. Für alle Fälle haben wir uns gut versorgt mit Butterbroten, Kuchen und Schokolade, Bier und Kaffee. Paiute, ein freundlicher Nachwuchsschelm aus dem Nordwesten, erinnert an alte und neue Gerüchte, die man sich bei uns zuhause in der Schelmenrepublik erzählt. Ihnen zufolge verschwinden in Megalopolis Menschen spurlos, von einem auf den anderen Tag. Umso wachsamer laufen wir den Bahnsteig entlang Richtung Ausgang.

Wir freuen uns alle schon darauf, endlich einmal ins Zentrum der Macht vorzudringen und dem Weltenlenker ins panoptische Auge zu blicken. Eine gerade und zwei seitliche Treppen führen uns auf den Bahnhofsvorplatz. Wir schauen uns um. Der Platz ist mit grauen Steinplatten belegt. Erst jetzt erkennen wir, wie riesig der Bahnhof ist. Das Gebäude scheint den Himmel zu streifen, die vorgebauten rechteckigen Säulen ragen in schwindelnde Höhen. Die Pyramiden sind nichts dagegen, oder die Ziggurat von Uruk mit ihren 30 Millionen Ziegeln oder das groteske Ungetüm in Versailles. Moment. Ich glaube, Versailles hat auch einer der Milliardäre gekauft und abtransportiert. Oder waren es doch die Pyramiden?

Ich blicke an den rechteckigen Säulen entlang ganz nach oben und entdecke einen ziemlich betagten Zeppelin. Langsam und ein wenig schwerfällig dreht er sich im Wind, genug, dass ich die Aufschrift lesen kann: Marsrover.

Die Wilde Frau, groß, mächtig, in wallenden Pflanzengewändern und mit bunten Bändern im dunklen Haar über dem majestätischen Gesicht, steht vor einem der Bäume, die den Platz säumen. Sie hält ein Blatt zwischen Daumen und Zeigefinger, die Stirn in Falten gelegt. Hekate vom Institut für Vergleichende Pflanzenmythologie winkt ihr mit fragendem Blick. Aber die Wilde Frau schüttelt nur den Kopf. Wir rufen sie zurück, wir wollen weiter.

Bald erreichen wir das andere Ende des Platzes. Außer uns ist immer noch niemand hier. Vielleicht hinter den mit weißem Linnen verhangenen Fenstern? Ich denke an den verkauften grauen Großstadtbahnhof. Dort hatten die Verantwortlichen auf die Frage, was denn Menschen außer einzukaufen an einem Bahnhof zu tun haben könnten, mit Unverständnis reagiert.

„Kommt Leute, lasst uns abhauen“, meint die Wilde Frau, die immer schnell mit Entschlüssen ist. „Ihr seht doch, dass hier absolut nichts los ist. Wie ich diesen Weltenlenker-Typen einschätze, ist er längst abgehauen.“

„Wenn Du Dich da mal nicht täuscht. Seht mal dort ...“ Einer der Dialektiker kneift die Augen zusammen und schüttelt den Kopf wie einer, der nicht glauben kann, was er sieht.

Ein Schelm macht sich die Ahnungslosigkeit derjenigen zunutze, die er hinter die Fichte führen will. Möchtegern-Weltenlenker, die die Welt, die sie lenken wollen, gar nicht kennen, sind ihm ein fröhliches Fest.

Der Weltenlenker

Und tatsächlich, das muss er sein, der Weltenlenker. Es ist schwer zu erkennen, wie groß er ist. Als unregistrierte, nicht-evolutionäre Lebensform verändert er ständig seine Erscheinung. Der Anzug scheint grau zu sein, vielleicht auch graublau. Der Schädel ist kahl oder ... Moment, ein graublonder Seitenscheitel ... oder doch ein schwarzer Raspelschnitt? An seinem Kopf ist deutlich eine Apparatur zu erkennen, die ihre Form behält, wenn er die seine ändert. Der Weltenlenker macht vor einem mannshohen Kasten halt, in dem plötzlich eine große Kurbel steckt, die zuvor noch nicht dort war. Der Weltenlenker muss sie mitgebracht haben. Langsam schleichen wir uns heran, um besser sehen zu können. Nach wie vor sind wir die einzigen Lebewesen auf dem riesigen Platz, und erst jetzt erkennen wir, dass alles mit einer leichten Staubschicht überzogen ist. Im Moment können wir uns dieses Phänomen noch nicht erklären. Die Atmosphäre ist seltsam verhalten, alles wirkt matt. Dann entdecken wir den Grund. Ein Schild in der Nähe fordert uns auf, flach zu atmen, um Sauerstoff zu sparen.

Als wir nahe genug sind, können wir erkennen, dass der Weltenlenker die Kurbel mit beiden Händen ergreift und zu drehen beginnt, so wie man einmal die Autos angeworfen hat. Wir beobachten ihn eine ganze Weile. Rabe lacht in sich hinein und zupft mich leicht am Ohr. Er scheint etwas zu ahnen.

Gelegentlich hält der Weltenlenker inne und horcht. Dazu legt er eine Hand ans Ohr und beugt sich leicht nach unten. Er achtet sorgfältig darauf, dass die Apparatur an seinem Kopf nicht mit dem Kasten kollidiert. Wenn ich es richtig sehe, trägt er im Moment einen graublauen Anzug und ist kahlköpfig. Schließlich scheint er mit der Hörprobe zufrieden zu sein, nimmt die Kurbel aus der Buchse und entfernt sich. Dabei verliert er an Größe und trägt wieder das geschmacklose kleine Karo mit Seitenscheitel.

Der Techniker

Als der Weltenlenker sich weit genug entfernt hat, tritt aus einer Tür auf der Rückseite des Kastens jemand hervor. Dem Kittel nach zu urteilen, scheint er eine Art Techniker zu sein. Verdutzt sieht er sich um, riskiert noch einen Blick nach unten und schickt sich an, die Tür zu schließen. Er ist sichtlich verblüfft, einen Haufen schräger Vögel zu sehen und lächelt scheu.

„Guten Tag“, entbieten wir einen höflichen Gruß. „Wir sind fremd hier“, übernimmt Meeker. „Wir interessieren uns für die Besonderheiten von Megalopolis. Ob wir vielleicht einen Blick in diesen eigenartigen Kasten werfen dürften?“ Der Techniker streicht seinen Kittel glatt und mustert uns mit freundlichem Blick. In seinen Augenwinkeln entdecke ich etwas Verschmitztes, aber ich kann mich natürlich täuschen.

„Bitte sehr, tretet näher“, sagt er. Rabe keckert leise.

Der Techniker öffnet die Tür und lässt uns ins Innere des Kastens eintreten. An einer Wand ist ein Gestänge zu sehen, das offenbar von der äußeren Buchse ins Innere der Anlage führt. Wie gehen ein paar Stufen hinab und sehen eine riesige Maschinenhalle, deren Dimensionen wir nicht einmal ansatzweise ausmachen können. Sie scheint sich im Unendlichen zu verlieren. Die Hallenwände bestehen aus mächtigen Steinquadern, über die Decke ziehen sich schwere Eisenträger mit Kettenwinden und Lederriemen, an denen Material und Maschinen transportiert werden. An den Wänden entlang sind gigantische Maschinen aufgereiht. Sie verursachen infernalischen Lärm. Zwischen den Maschinen laufen Menschen umher, manche mit Klemmbrettern, auf denen sie schreiben, andere mit Werkzeug, wieder andere scheinen in einer endlos sich wiederholenden Bewegung Schrauben anzuziehen und Zahnräder zu schmieren. Die Maschinen bestehen aus dunklem, poliertem Holz, Stahlelementen und Messing. Sie sind übersät mit Schaltern, Buchsen und Anzeigen. Mittels glänzender Rohre sind sie miteinander verbunden. Erleuchtet wird die Halle von bakenden Gaslampen an Wänden und Deckenhalterungen.

Plötzlich beginnen sie zu flackern. Der Techniker pfeift. Dann geschieht das Unvorstellbare.

Die ganze Halle verschwindet. Die Maschinengeräusche verstummen. Nichts bewegt sich. Statt der Halle sehen wir zwei Männer und eine Frau, die ebenfalls in Kittel gekleidet sind. Sie sitzen im Weltenlenkerkasten an einem einfachen hölzernen Tisch und winken uns lächelnd zu. Dann widmen sie sich wieder ihrem Kartenspiel.

„Der Job wird gut bezahlt“, sagt unser neuer Bekannter. „Eigentlich sind wir Schauspieler, aber nachdem alle Theater geschlossen wurden, war es nicht leicht, über die Runden zu kommen.“ Er zögert. Als er bemerkt, dass wir gespannt zuhören, fährt er mit seiner Erzählung fort. „Wir sitzen im Kasten und beobachten die Umgebung durch ein Periskop. Falls Passanten in der Nähe sind – sie kommen nur, wenn der Weltenlenker nicht hier ist – verlässt einer von uns den Kasten und tut möglichst geheimnisvoll. Wir stellen sicher, dass die Maschinengeräusche im Untergrund zu hören sind und erklären den Passanten, dass es sich um eine streng geheime Anlage der höheren Weltenlenkerei handele und sie unter keinen Umständen darüber reden dürften.“

„Was ist das für eine Projektion?“, will ichwissen. „Wie macht ihr das?“

„Das ist ganz einfach“, erwidert der Techniker. „Es ist ein ganz normales Hologramm. Dazu lassen wir ein altes Grammophon laufen, das zur Kulisse den passenden Ton ableiert.“

„Und die Kurbel?“, fragt Diamond von der Arbeitsgruppe Zivilisation und Sortierte Trickster, während er auf gelehrte Art seinen großen Schnurrbart zwirbelt. „Was tut der Typ damit?“

„Ah“, sagt der Techniker, der inzwischen eine grüne Fliege trägt. Der Kittel ist verschwunden. „Kommt näher“, winkt er uns heran und zeigt uns die Buchse an der Außenseite des Kastens.

„Zwei Mal am Tag kommt der Weltenlenker und dreht die Erde.“

„Zwei Mal am Tag kommt der Weltenlenker und dreht die Erde“, wiederholt Dalrympleden Satz des Technikers mit todernster Miene. Rabe keckert etwas Unverständliches. Niemand spricht, alle warten. Also erzählt der Techniker weiter. Seine neue grüne Hose passt gut zu seiner Fliege und bildet einen schönen Kontrast zu seinem leuchtend roten Haar. Doch bevor er etwas sagen kann, geht Hall dazwischen.

Das temporale Verzerrungsfeld

„Ich weiß, was hier los ist“, ruft der Zeitexperte aufgeregt. „Es gibt hier ein temporales Verzerrungsfeld. Ist es nicht so?“ Wie ein Spürhund auf einer Fährte läuft er mit tastenden Schritten auf und ab. Der Techniker nickt lachend. „Sehr gut. Da haben Sie ganz recht“, bestätigt er Halls Vermutung. „Das ist eines der kleinen Experimente des Weltenlenkers ...“

„Will er schneller auf den Mars?“, feixt Hall mit Blick auf den Marsrover, der träge in seinen Halteseilen rollt. Der Techniker schüttelt den Kopf. „Nein, Er will gar nicht in die Zukunft“, eröffnet er uns. „Er will ganz woanders hin. Die erste Station soll das frühe 19. Jahrhundert sein. In dieser Zeit sind die Geschäfts- und Arbeitsmarktbedingungen für Unternehmen überaus günstig. Maschinenstürmer und andere Störenfriede sind besiegt und der reibungslose Zustrom billiger Ressourcen aus Übersee ist uneingeschränkt gewährleistet.“

„Ich nehme an, die zweite Station soll ihn noch weiter in die Vergangenheit zurückführen und näher an sein eigentliches Ziel heranführen“, mischt sich Collins von der insularen Schelmendelegation ein. Nach allem, was ich weiß, ist er Spezialist für Ausbeutung und Enclosure. Er trägt eine karierte Fliege und ein altes Tweedjackett zu seinem leicht hochnäsigen Gesicht, gerade so, als wolle er um keinen Preis mit jemand anderem verwechselt werden.

„Was er will, sind feudale Pracht und Herrlichkeit nach vollendetem Allmenderaub. Reichtum, Macht und Kontrolle in den Händen Weniger. Ich glaube, heute nennt man das Privatisierung“, spricht Collins voller Eifer weiter. Seine Wangen sind leicht gerötet. 9 Der Techniker nickt langsam. Da ist er wieder, der verschmitzte Ausdruck.

„Ja, wissen Sie, das alles geschieht zum Wohle und zum Nutzen aller“, beginnt er. „Sagt der Weltenlenker. Allerdings ...“

„Ja?“, fragen Hall und Collins gleichzeitig.

„Er müsste erst das Problem der Paradoxal-Annihilations-Zeitschleife in den Griff bekommen.“

„Klugscheißer“, raunt Rabe auf meiner Schulter kaum hörbar.

„Oh, natürlich, Entschuldigung“, sagt der Mann mit einer kleinen Verbeugung Richtung Rabe. „Das ist so. Wenn der Weltenlenker in der Vergangenheit auf sich selber trifft, werden beide Versionen ausgelöscht, annihiliert, was bleibt, ist Nichts, ein feuchter Fleck auf dem Teppich sozusagen.“ Er amüsiert sich über unsere verwirrten Gesichter. „Wie in Timecop“, erklärt er. „Muscles from Brussels, nein? Nie gesehen ...?“ 10

Rabe zupft mich am Ohr. Ich weiß, was kommt. „Er kann mich sehen!“, sagt er aufgeregt. „Er kann mich sehen. Wir können ihn mitnehmen.“

Inzwischen sind einige Passanten aufgetaucht. Sie sind neugierig stehengeblieben und schauen zu uns herüber. Wir winken sie heran. Zögerlich kommen sie näher. Auf ihren Gesichtern zeigt sich scheue Ehrfurcht. Offenbar haben sie Angst, dem Weltenlenkerkasten zu nahe zu kommen. Schließlich schaffen sie es, ihre Furcht zu überwinden und stoßen zu uns. Wir stellen uns oberflächlich vor und fragen höflich, ob sie wohl wüssten, welchem Zweck der Kasten diene.

„Aber ja“, antworten sie. „Hier dreht der Weltenlenker die Erde. Ohne ihn stünde sie still, und der Mond würde auf uns herabstürzen.“

„Davor hat er übrigens wirklich Angst“, ergänzt der ehemalige Techniker, der jetzt ein leuchtend rosafarbenes Jackett trägt und sich alsPinch vorstellt. „Deshalb will er unbedingt zum Mars.“

„Und von dort ins 19. Jahrhundert?“, fragte Meeker skeptisch. Pinch machte eine komische entschuldigende Geste. „Logik ist nicht seine Stärke.“

Der Marsrover

„Und er nimmt uns alle mit auf den Mars“, ruft eine Frau aus der kleinen Gruppe im Brustton der Überzeugung. Sie trägt einen asymmetrischen Haarschnitt, ein loses Kleid ohne Gürtel, flache Schuhe und eine Leinentasche.

„Was das wohl kostet?“, brummt Rabe. Er legt den Kopf schief und mustert die Frau, die ihn nicht sehen kann. Ermutigt durch unsere Aufmerksamkeit, redet sie weiter.

„Wir fliegen alle mit dem Marsrover“ sagt sie und zeigt nach oben. „Aber weil der Mars so weit weg ist, hat der Weltenlenker in einer großen Wüste riesige Magnete aufgestellt, die den Mars näher heranziehen werden.“

„Teuerste, sind sie sicher, dass in diesem Luftschiff genug Platz für Sie alle ist“, fragt einer der Dialektiker nachsichtig. „Sehen Sie einmal genau hin. In so einer Gondel haben genau 14 Passagiere Platz.“ Aufgeregt reden die Passanten alle durcheinander. „Nein, das glauben wir nicht“, sagt einer. „Der Weltenlenker sorgt für uns. Er würde nicht allein wegfliegen ... oder doch?“ Sie fallen in ein aufgeregtes Getuschel. Offenbar beschließen sie, bei nächster Gelegenheit einmal allen Mut zusammenzunehmen und ihren Marskapitän zu fragen.

Synchronisierungsparameter

„Soll ich Euch vielleicht herumführen?“, bietet Pinch an. Dankbar nehmen wir sein Angebot an. Er druckst ein wenig herum und tritt verlegen von einem Bein aufs andere. Rabe weiß wie üblich, was kommt, fliegt auf Pinchs Schulter und flüstert ihm etwas ins Ohr. Der ehemalige Techniker lächelt glücklich und stellt Rabe mit leiser Stimme eine Frage. Rabe nickt. Ein neuer Freund? Er kommt zurück auf meine Schulter, sagt aber nichts. Ich weiß, dass es keinen Sinn hat, ihn zu fragen. Also übe ich mich in Geduld.

Unterdessen erzählt Pinch, dass der Weltenlenker nach jeder Erdendrehung den Bürgermeister von Megalopolis aufsucht, um ihm die Synchronisierungsparameter und die Parole des Tages mitzuteilen. Anschließend gibt der Bürgermeister die Anweisungen an die Verwaltung weiter, wo die entsprechenden Durchführungsvorschriften erarbeitet werden. Die werden wegen der administrativen Dispositionsparallaxe aber erst dann zur Ausführung gebracht, wenn die in den Parolen angesprochenen Sachverhalte zuverlässig nicht mehr existieren. Mit den Synchronisierungsparametern verhält es sich ebenfalls so, was zur gewünschten Folge hat, dass absolut nichts aufeinander abgestimmt ist. Darüber hinaus legt der Bürgermeister das Ende des jeweiligen Tages fest.“

„Vielen Dank für die außerordentlich präzise Ausführung“, lobt einer der Dialektiker unseren neuen Freund. „Ich denke, darüber sollten wir mehr in Erfahrung bringen.“ Wir sind alle einverstanden und machen uns auf den Weg zum Rathaus.

Inzwischen haben wir das Ende des riesigen Bahnhofsvorplatzes erreicht. Pinch führt uns in eine unbelebte Straße nach schräg rechts. Sie ist vorwiegend von hohen grauen Häusern gesäumt, deren Fenster man nicht öffnen kann. Auch der Himmel ist grau. Wir müssen tief atmen, um genügend Sauerstoff aufzunehmen. Am Ende der Straße liegt ein schmaler Platz, ebenfalls von grauen Häusern gesäumt. In der Mitte steht eine Skulptur aus ineinandergeschlungenen Drähten, die eine Hohlkugel bilden. In ihrem Inneren sitzt ein kleiner Panzer. Pinch gibt den Reiseführer, da offenbar Fragen aufkommen.

„Das ist das Friedenssicherungswissensnetzwerk“, sagt er mit gewichtiger Miene und geht schnell weiter. Die Passanten mustern uns misstrauisch. Die Drähte des Wissensnetzwerks haben schon ein wenig Rost angesetzt. Wir kommen gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Weltenlenker das Rathaus erreicht. Er dreht sich noch einmal um, reckt das Kinn und mustert die Umgebung mit Feldherrenblick. Die Wangen hängen ein wenig. Das wird besser, als er die randlose Brille mit einer spiegelnden Sonnenbrille vertauscht, die sein halbes Gesicht verdeckt.

Das Rathaus

Das Rathaus ist ein reich geschmückter Bau, der vollständig von einem Glaskasten umgeben ist. Ich sehe dorische Säulen mit korinthischen Kapitellen, Löwenköpfe und palladianische Giebel über den Fenstern. Als Farbe dominiert Gold. Ein wenig Rot scheint auf den Fenstersimsen auf, hier und da gibt es einen sitzenden Löwen mit einer blauen Schleife um den Hals. Sehr beeindruckend. Der Weltenlenker öffnet eine unsichtbare Tür im Glaskasten und betritt das Rathaus durch die bereits offene Pforte. Wir sind nahe genug, um im Rathaus einen dünnen Mann in einem etwas zu engen Anzug ausmachen zu können, der Pfeile auf eine Scheibe wirft. Die Pforte schließt sich. Nach wenigen Minuten ertönt eine Glocke im Rathausturm. Ringsum bleiben die Menschen stehen und zählen die Schläge. Es sind acht. Dann sehen sie auf ihre Uhren und beschleunigen ihre Schritte. „Der Tag ist heute um acht zu Ende“, erklärt Pinch die plötzliche Eile der Menschen.

Die Pforte öffnet sich. Der Bürgermeister verlässt das Rathaus. Die unsichtbare Glastür öffnet sich automatisch, so wie er sich nähert. Wie aus dem Nichts erscheinen Polizisten oder Soldaten – das ist nicht zu erkennen – als Leibgarde für den Bürgermeister und marschieren im Gleichschritt vor, neben und hinter ihm her.

„Wo ist der Weltenlenker?“, fragt Meeker. Pinch hebt die Augenbrauen. „Ich habe keine Ahnung“, gibt er zu. „Niemand weiß, wohin der Weltenlenker geht, wenn er die Parole übermittelt hat.“

„Es muss einen Hinterausgang geben“, erklärt Meeker, der sich mit Hinterausgängen auskennt. „Er wird sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.“

Fürs Erste beschließen wir aber, dem Bürgermeister zu folgen. Die Straßen sind still und nicht allzu belebt. Wir müssen uns zurückhalten, um nicht aufzufallen, zumindest dem Bürgermeister und seinen Begleitern nicht. Der Bürgermeister selbst macht zum Glück nicht den Eindruck, dass ihm etwas auffallen könnte. Bei den Männern in Kampfmontur sind wir nicht so sicher. Auch die Häuser in unmittelbarer Nähe des Rathauses machen einen merkwürdig leblosen Eindruck. Viele von ihnen sind, anders als diejenigen auf den anderen Seiten des Platzes, ähnlich verziert wie das Rathaus. Auf den Pflanzen in den schmalen Beetstreifen davor liegt der feine Staub, den wir hier überall entdecken.

Der Bürgermeister nimmt einen Weg, der ihn um das Rathaus herumführt, hin zu einer breiten Straße. Hier sehen wir zum ersten Mal Fahrzeuge, können aber nicht erkennen, ob sie Passagiere transportieren. Nach einigen Minuten betritt der Bürgermeister eine Kirche, die rechterhand an der Straße liegt. Bei näherem Hinsehen entpuppt sie sich als hypermodernes Geschäftshaus, das nur aussieht wie eine Kirche oder vielleicht einmal eine war. Des Bürgermeisters Wachen postieren sich zu beiden Seiten des Eingangs.

Die Agentur für Eindeutigkeit

In den Wandvitrinen, in denen früher vielleicht Gottesdiensttermine und Gemeindenachrichten ausgehängt wurden, werden einige der Angebote angepriesen, die das Haus zu bieten hat. Nachdenklich schüttelt die Dissidentin den Kopf. „Sieh Dir das an“, sagt sie zu ihrem Freund im Netzhemd. „Diesem Schicksal bin ich entronnen.“

Wir drängen uns vor den Vitrinen, können aber nicht alle sehen, was geschrieben steht. „Ich lese vor“, kündigt Meeker an, zieht sein gestreiftes Jackett aus und rückt seine Hosenträger zurecht.

„Handliche Portionen Prinzipienmoral zum Mitnehmen“, liest er. „Preis je nach Abstraktionsgrad. Garantierte Lebensferne gibt es als Extra. Für Großabnehmer wie Kirchen, Parteien, Kommissionen und Universitäten gibt es Rabatte. Unternehmen werden gebeten, Glaubensbekenntnis und Ritualpraxis offenzulegen. Für alle ist ein Nachweis obligatorisch, dass der Gebrauch von Nebelkerzen und Plastikwörtern, die Methode der Umdeutung von Begriffen und im Bedarfsfall die Produktion von Sündenböcken beherrscht wird.“

Meekers Gesichtsausdruck ist noch spöttischer als sonst. „Verkaufsschlager und Sonderangebot zum Dauertiefpreis sind unmissverständliche Eindeutigkeit und ein zugehöriges Set Totschlagargumente auf streng wissenschaftlicher Basis. Im Kleingedruckten steht, dass auch Spezialanfertigungen für den hypermoralischen Amoklauf hergestellt werden, zum Sonderpreis, versteht sich.“ Meeker lässt sich von Dalrymple einen Schluck Kaffee geben, um sich zu stärken.

„Moment, hier ist noch etwas“, entdeckt er uns. „Sieht aus wie eine Referenzliste. Aha. Hört, hört. Der militärische Arm der Nationalen Kitschpropaganda-Agentur, die Schnelle Eingreiftruppe Courts-Mahler, die Abteilung Falschinformationen und Verhaltensmanagement der Akademie der Wissenschaften und der Bürgermeister gehören zu den zufriedenen Kunden.“ Meeker nimmt zum Kaffee jetzt auch noch eines von Dalrymples Butterbroten, die – das verstehe ich jetzt erst – wie die Currywurst unseres Freundes im Netzhemd niemals zur Neige gehen.

„Oh, seht nur! Ein Pranger!“, ruft Farrandentzückt. Er setzt kurz seine Kappe ab, die er wie immer verkehrt herum trägt, und streicht sich über den kahlen Schädel. „Nun seht Euch das an“, fordert er uns auf. Farrand steht, leicht vornüber gebeugt vor einer anderen Vitrine und studiert deren Auslage aufmerksam. Ich geselle mich zu ihm und entdecke eine Reihe von Fotoporträts ganz unterschiedlicher Personen. Sie alle machen einen sehr niedergeschlagenen Eindruck. Unter jedem Foto steht ein einziger Satz. „Ich habe Falschinformationen verbreitet.“ Unter den Bildern mit ihren Unterschriften ist zu lesen, dass Bürgermeister und Weltenlenker denjenigen aufmerksamen Bürgern danken, welche die Festsetzung der Straftäter möglich gemacht haben. Man versichert ihnen, dass die Gestrauchelten ihrer gerechten Strafe zugeführt werden.

Inzwischen ist Pinch zu uns getreten, die anderen recken die Hälse, um auch etwas zu sehen. „Nach allem, was ich weiß, verschwinden die Leute einfach ebenso wie ihre Angehörigen, es sei denn, sie schwören öffentlich ab – wenn sie nicht ohnehin diejenigen waren, die ihre Lieben verpfiffen haben.“

Wir schütteln die Gruselgeschichte ab und betreten die Geschäftskirche oder das Kirchengeschäft, wie auch immer. Niemand hindert uns. Das kühle Dunkel des gewölbten Bauwerks umfängt uns. Rabe schüttelt sich und plustert die Federn auf. „Kalt hier“, meint er. „Und dunkel.“ An den Stellen, an denen früher einmal Bänke gestanden haben müssen, steht jetzt gar nichts. An den Wänden des alten Kreuzgangs hängen Porträts des Bürgermeisters, Vexierbilder des Weltenlenkers, Aufnahmen von Menschenansammlungen in Nebel oder Tränengas gehüllt, außerdem einige alte Stiche von brennenden Scheiterhaufen und ertränkten Hexen. Auch dieses Gebäude muss einen Hinterausgang haben, denn wir können den Bürgermeister nirgends entdecken.

Plötzlich steht eine Dame in Ganzkörperbeige vor uns und fragt mit hoher süßer Stimme: „Was kann ich für Sie tun?“

„Wir suchen eine preiswerte Moralausstattung für die nachhaltige und umweltschonende Ausbeutung diverser Zuzügler“, prescht Meeker vor. Die beige Dame lächelt wissend und hebt einen Zeigefinger.

„Da habe ich etwas für Sie“, maunzt sie. „Wie wäre es mit einem Fernsehspot mit Diversity-Zertifikat? Alle relevanten Zuzüglergruppen in einer großen glücklichen Familie vereint. Perfektes Diversity-Washing, geeignet für Moralhaushalt und Gewissenspflege.“

„Und niemand sieht die Realität?“

„Garantiert nicht“, bestätigt die Dame. „Jedenfalls nicht die relevanten Gruppen.“ Meeker schüttelt ihr die Hand. „Hervorragend“, strahlt er sie an. „Wie sieht es mit einer zuverlässigen wissenschaftlich fundierten Eindeutigkeitsproduktionseinheit aus? Und wenn wir beides nehmen, können wir doch auch über den Preis reden ...?“ Meeker hat sich bei der Dame untergehakt und flüstert Ihr etwas ins Ohr.

„Oh ja, da haben Sie wieder Glück“, sagt sie mit leicht geröteten Wangen. Die Dialektiker kichern hinter vorgehaltener Hand, was sonst nicht ihre Art ist.

„Unsere Agenturwissenschaftler tanzen auf jeder Hochzeit, wenn der Preis stimmt. Aber das sollte kein Problem sein. Ach, und da ist noch etwas, was Sie interessieren könnte. Heute Abend gibt es in der Akademie einen Workshop, wie man mangelnde Kenntnisse durch zielgruppenspezifische moralische Empörungsrhetorik überspielt. Ist nicht ganz billig, wird aber gern genommen.“

„So etwas was in einer Kirche unterzubringen, hat schon was“, flüstertFarrand mir zu. „Früher waren die Kirchen für die Eindeutigkeit zuständig und mühten sich nach Kräften, den Leuten das lebendige Leben auszutreiben.“

„Auch mit Gewalt?“, frage ich ihn.

„Das geht nur mit Gewalt.“ 11

Ich will ihn noch etwas anderes fragen. Aber Farrand ist verschwunden.

Schelme haben seit jeher ein feines Gespür für totalitäre Tendenzen.

Der Karneval (und die verlorene Unschuld)

Meeker führt die beige Dame vom ehemaligen Altar zurück Richtung Pforte, wo es ein wenig heller ist. Plötzlich verzerren sich die Züge der Dame. Reines Grauen steht ihr ins Gesicht geschrieben. Schockstarr vergisst sie zu atmen. Dann geht sie wie ein Automat zur Pforte und starrt hinaus. Kurz später springt sie auf den Tisch in der Nähe des Eingangs und schreit. Coyote frisst geistesgegenwärtig die ausgelegten kostbaren Broschüren, damit sie sie nicht zertritt. „Schnell, mein Telefon ...“ schreit sie Meeker an. Meeker ist so nett.

„Polizei!“, brüllt sie in ihr Telefon. „Militär!“ Wählen muss sie offenbar nicht. „Aus vollen Rohren schießen“, brüllt sie weiter, „und dann nach und nach hocheskalieren.“ Entsetzt wirft sie ihr Telefon auf den Boden und beginnt, an den Nägeln zu kauen.

„Guckt mal“, sagt Coyote ehrfurchtsvoll. „Sie kaut beidhändig. Das musste erstmal bringen.“ Wie betäubt starrt die Dame durch das Kirchenportal auf die Straße. Jetzt wollen wir auch erfahren, was los ist. Eben will ich Rabe fragen, ob er womöglich schon etwas weiß. Da stelle ich fest, dass er verschwunden ist. Verwundert folge ich den anderen zum Eingangsportal und trete auf die Straße.

Ein Karneval zieht durch, das Militär zieht auf, wie aus dem Nichts taucht ein Pfaffe auf. Er wedelt mit einem Weihwasserschwenker in der Luft herum. „Apage satanas“, brüllt er aus Leibeskräften. Von überall her strömen die Leute herbei. Die Lage wird unübersichtlich. Wir sehen groteske Puppen und einen rückwärts laufenden Esel mit Hut, mit Laub vermummte Tänzer und johlende schrill gekleidete Jungen und Mädchen mit Stecken und Kesseln, Affen, die auf den Händen laufen und halbnackte Frauen, die einen Mönch vor sich hertreiben. Eulenspiegel zeigt den Passanten den nackten Arsch. Es trommelt, es johlt, es pfeift. Der Lärm ist ohrenbetäubend.

Rabe kommt zurück auf meine Schulter. „Warst Du das?“, frage ich ihn. Er setzt sein bestes Pokerface auf. „Ich weiß nicht, wovon Du sprichst.“

Hall schaut sich suchend um. „Farrand, da bist Du ja“, sagt er. „Das musst Du Dir denn ansehen. Wo warst Du denn bloß?“ Erwähnte ich schon, dass Farrand Experte für historische Eindeutigkeitsforschung und Wilde Jagd ist? Darüber hinaus ist er der gefeierte Autor des Standardwerkes „Die hermetische Eindeutigkeit und ihre Feinde“. Er wirft einen verträumten Blick auf den Karnevalszug, bis Hall ihn am Ärmel zupft.

„Ah ja, wo war ich? Nun, ich habe mir die Kathedrale der Ersten Globalsakralen Werte- und Wahrheitsbörseangesehen“, antwortet er Hall. „Ist aber noch eine Baustelle. Sie wollen den Turm so in die Höhe bauen, dass er sich irgendwann der Krümmung der Erdkugel anpasst und sich mit seinem Gegenstück trifft, das von Waitangi auf den Chatham-Inseln aus errichtet wird, um auch im asiatischen Raum endgültig Fuß zu fassen. Man ist sich allerdings noch nicht klar darüber, wie man das Problem der temporalen Uneindeutigkeit in der Nähe der Datumsgrenze lösen kann. Als Alternative erwägen sie, einen Tubus quer durch die Erde zu ziehen und Ausbuchtungen nach außen zu bohren – als Seitenschiffe sozusagen.“ Hall kichert und klopft Farrand auf die Schulter. „Na, da sind wir aber gespannt, was?“ Dann verschwinden beide im bunten Treiben.

Ein wesentlicher Teil der Ausbildung zum Schelm ist das umgekehrte Denken. Dazu kann gehören, Bücher von hinten zu lesen und zu schreiben, vor allem aber, ganz normale Dinge andersherum zu tun.

Plötzlich hören wir einen Schrei. „Das war der kleine Paiute“, ruft die Wilde Frau aufgeregt. Auf der Suche nach ihm stürzt sie sich ins Getümmel. Die Turbulenzen nehmen zu. Soldaten und Polizisten in voller Kampfmontur schlagen wie von Sinnen um sich. Andere kommen hinzu, offenbar eine Spezialeinheit, ebenso vermummt wie die Schläger und noch bedrohlicher im Auftritt. Sie beginnen wie wild, aufs Trottoir einzuschlagen und dabei wilde, monströse Geräusche von sich zu geben. Enger und enger wird der Kessel um die Karnevalisten. Zwei der höheren Ränge fordern die erste Einheit auf, abzuziehen und Verstärkung zu holen. „Alle! Sofort!“, brüllt der eine unüberhörbar. „Befehl des Weltenlenkers!“ Soldaten und Polizisten ziehen ab. Als es wieder ein wenig ruhiger wird, nehmen Eulenspiegel und Paiute die Helme ab. „Na, wie waren wir?“ Coyote pfeift bewundernd durch die Zähne

Ein Schelm muss immer damit rechnen, zu einem überraschenden Einsatz gerufen zu werden. Dann gilt es zu improvisieren, Chamäleonitisch zu sprechen und Schutzfarben zu tragen.

Wir laden die Karnevalsgesellschaft ein, mit uns zu kommen. Rabe und Coyote bieten an, sie zum Zug zu begleiten. „Aber natürlich kommen wir mit Euch“, sagt Eulenspiegel, als könne daran irgendein Zweifel bestehen, während er seinem neuen Freund Paiute einen Arm um die Schulter legt. Pantagruel aus dem Land des guten Käses schließt sich ihm an. „Wir wollen schon lange wieder nach Hause“, sagt er. Wir können ihm seine Erleichterung anhören. Er sieht sich noch um und schüttelt mitleidig den Kopf. „Hier können wir ohnehin nichts mehr tun.“ Plötzlich höre ich jemanden hinter mir sprechen.

„Der Karneval hat seine Unschuld verloren“, raunt ein stocksteifer Kerl mit Automatenstimme, weißem Haar, strengem Seitenscheitel und Lakritzbrille. „Na, das will ich doch hoffen“, sagt ein üppiges Weibsbild aus der bunten Gesellschaft, drückt dem Seitenscheitel einen dicken schmatzenden Kuss auf die Wange und lacht aus voller Kehle über sein entsetztes Gesicht. Rabe und Coyote sammeln die Neuen ein, und die Karnevalsgesellschaft trollt sich zum Bahnhof. Auch wir wollen uns wieder auf den Weg machen.

Die administrative Dispositionsparallaxe

„Da ist der Bürgermeister“, ruft Collins, der Inselschelm aufgeregt. „Da!“ Er zeigt in Richtung eines hohen gläsernen Gebäudes. Wir folgen dem kleinen Bürgermeister in seinem zu engen Anzug zu dem Glashaus, das, wie Pinch uns erklärt, die erweiterte Regierung von Megalopolis ist. Hier werden täglich die Durchführungsvorschriften und Gesetze wie auch die Verwaltungsdurchführungsvorschriften der Gesetze auf der Grundlage der Tagesparole produziert, die, wie wir von Pinch ergänzend erfahren, nicht nur wegen der administrativen Dispositionsparallaxe mit Verzögerung bearbeitet werden. Ein weiterer Grund sind die auch hier herrschenden temporalen Verzerrungen sowie ein anhaltender Personalmangel, was tatsächlich zu Verzögerungen von zwei bis drei Jahren führen kann.

Der kleine Bürgermeister läuft mit hochgerecktem Kinn über einen breiten Streifen Nichts. Denn niemand darf sich ihm auf mehr als 20 Meter nähern. Es ist eine Vorschrift zum Schutz der Amtsträger vor unzufriedenen Bewohnern, wie Pinch uns aufklärt. Die Straßen sind aber auch hier nicht sehr belebt, so dass der Bürgermeister sich nicht allzu viele Sorgen wegen eines unfreiwilligen Kontakts mit der Bevölkerung machen muss. Dennoch scheint er es eilig zu haben. Einmal sieht er sich misstrauisch um. Er hat bemerkt, dass wir ihm folgen. Er zögert. Soll er uns ansprechen? Oder soll er uns abführen oder erschießen lassen? Nein, er eilt weiter. Wir eilen hinterher. An dem großen gläsernen Gebäude, das noch zu wachsen scheint, je mehr wir uns nähern, patrouillieren Sicherheitskräfte zu Pferd und zu Wagen. Die Mannschaften der Luftstreitkräfte hängen in rucksackartigen Halterungen an surrenden Drohnen. Der Bürgermeister dreht sich noch einmal nach uns um und zögert erneut. Doch dann ruft er die Parole durch ein Sprachrohr ins Gebäude hinein, um gleich darauf hinter einer hohen Hecke auf einer Seite des Gebäudes zu verschwinden.

„Ich sehe nirgends Eingänge“, sage ich zu Pinch. „Wie kommen die Leute denn ins Gebäude?“

„Oh, nein, nein“, sagt Pinch. „Eingänge hat man aus Sicherheitsgründen weggelassen. Die Mitarbeiter wurden mit eingebaut.“ Ich überlege, wie eingebaute Mitarbeiter ersetzt werden, wenn sie wegen schwerer Krankheit oder Tod ausfallen. Wie kommen die Verblichenen heraus, wie die Neuen hinein? Ich werde Pinch später fragen.

Er und Meeker sind etwas zurückgefallen und beraten sich. Nach einer Weile stoßen sie wieder zu uns. Sie haben einen Vorschlag. „Wir haben noch ein wenig Zeit, bevor wir weitermüssen“, sagt Meeker. „Pinch wird uns gleich, wenn Ihr wollt, noch zu den Vierteln den Vollstreckern führen, was uns aber nicht lange aufhalten wird.“

„Vollstrecker?“, fragt einer der Dialektiker besorgt.

„Du musst Dir keine Sorge machen“, beruhigt die Dissidentin ihn. „Du verstehst das, wenn Du sie siehst.“

„Wir hätten auch noch Zeit, den Vortrag des Weltenlenkers im Dorftheater an der Bütt anzuhören“, nimmt Meeker den Faden wieder auf. „Ich habe da vorhin ein Plakat gesehen, auf dem das angekündigt wird. Also: Hat jemand Lust auf Weltenlenker?“

„Aber immer“, rufen die Dialektiker wie aus einem Mund und treffen damit ins Schwarze. Martinelli von der Antiapokalypse-Einheit zieht ihren knallroten Lippenstift nach und rückt ihre Brille zurecht. Dalrymple und Hall reiben sich die Hände, und Diamond zwirbelt vor lauter Vorfreude seinen großen Schnurrbart. „Möchte zu gern wissen, von wem er so abschreibt“, murmelt er. Rabe und Coyote werfen sich seltsame Blicke zu.

Unter Pinchs Führung setzen wir unseren Weg fort. Unser nächstes Ziel ist das Viertel der „Epigonen, Vollstrecker und besserverdienenden Moral- und Gewissensbesitzer“, wie es mit vollem Namen heißt.

„Das sind übrigens die Privatkunden der Agentur, erzählt die Dissidentin vergnügt. „Die zahlen jeden Preis.“

Falschinformationen

Kaum sind wir ein paar Schritte gegangen, werden wir erneut Zeugen eines Zwischenfalls. Schwer bewaffnete Polizisten oder Soldaten setzen einen mageren Mann fest, der voller Angst fast in die Knie geht.