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New York, um 1890: Die Reichen und Mächtigen genießen einen nie dagewesenen Luxus, ein Leben voller Glanz und Verschwendung. Die Rockefellers, Vanderbilts und Astors organisieren ihr Leben rund um prachtvolle Bälle, Opernaufführungen und Bankette. Der Star der Saison ist die 17-jährige Clara Carter. Sie hat einen Winter Zeit, den begehrtesten Junggesellen der Stadt an sich zu binden. Ihre Pläne, aufs College zu gehen, liegen auf Eis und sie muss sich dem strengen Regiment ihrer Tante beugen. Ist sie bereit, diesen Preis zu zahlen?
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Seitenzahl: 511
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ISBN 978-3-7751-7110-6 (E-Book)ISBN 978-3-7751-5274-7 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book:Satz & Medien Wieser, Stolberg
© der deutschen Ausgabe 2012SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]
Originally published in English under the title: She walks in Beauty© der Originalausgabe 2010 by Siri L. MitchellPublished in English by Bethany House, a division of Baker Publishing Group,Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.Cover art used by permission of Bethany House Publishers.All rights reserved.
Umschlaggestaltung: OHA Werbeagentur GmbH, Grabs, Schweiz; www.oha-werbeagentur.chSatz: Satz & Medien Wieser, Stolberg
Für mein süßes Mädchen – ich liebe dich genau so, wie du bist.
New York City, 1891Im Wohlstand, Glanz und Übermaßder wirtschaftlichen Blütezeit in den USA
»Zieh dich an, Clara. Nimm das Besuchskleid. Wir gehen aus.« Die Worte meiner Tante waren zugleich gebieterisch und exakt – so exakt wie ihre Haltung: Als Kombination von rechten Winkeln saß sie auf einem meiner Schlafzimmersessel. Sie hielt sich aufrecht wie ein Lineal.
Es gab jedoch weit wichtigere Dinge zu erwägen als Geometrie. Ich biss mir auf die Innenseite der Lippe, um zu verhindern, dass mir ein Lächeln entwich. Wir gingen aus! Und wir gingen nie aus. Wir gingen nie irgendwohin. Nicht, seit meine Tante vor einem Monat bei uns eingezogen war. Ein paarmal hatte ich die Erlaubnis erhalten, meine Freundin Lizzie Barnes zu besuchen, doch nur in Begleitung von Miss Miller, meiner Gouvernante.
Meine Tante erhob sich von einem Sessel, der das Gegenstück zu meinem war. Seine gepolsterte, mit Stiefmütterchen bestickte Sitzfläche und die fliederfarbenen Fransen passten zur restlichen Ausstattung meines Schlafzimmers. Ihre Hunde – dicke, kuschelige Zwergspitze –, die durch ihre plötzliche Bewegung aufgeschreckt waren, begannen zu bellen und um ihre Füße herumzutanzen. »Habe ich mich undeutlich ausgedrückt, Clara? Ich meinte jetzt.«
»Nein.«
»Was? Ich sollte meine Ohren nicht anstrengen müssen, um dich zu verstehen.«
Das sollte sie tatsächlich nicht. Ihre Ohren hatten die Angewohnheit, wie Suppenkellen von ihrem Kopf abzustehen, als wollten sie sich von ihrer unerbittlich altmodischen Frisur – in der Mitte gescheitelt, am Hinterkopf zu einem Knoten aufgesteckt – absetzen. »Nein, du hast dich nicht undeutlich ausgedrückt.«
»Also gut.« Sie schnalzte den Hunden zu und verließ das Zimmer, begleitet von aufgeregtem Gejaule. Die drei Hunde, die hinter ihr hertollten, waren die abscheulichsten Geschöpfe, die mir je begegnet waren.
Nachdem meine Tante sich zurückgezogen hatte, tauchte Miss Miller aus einer Ecke im Schatten auf, um die fliederfarbenen Vorhänge zur Seite zu schieben und die Rollos an meinen Fenstern herunterzuziehen.
»Ich verstehe nicht, warum sie meint, mich herumkommandieren zu können wie einen ihrer grässlichen Hunde! Ich bin kein Kind mehr – ich bin siebzehn Jahre alt!«
Miss Miller lächelte und bewegte sich zu dem frei gewordenen Sessel. »Sie ist es einfach gewöhnt, dass die Leute machen, was sie sagt.«
»Dann hätte sie bleiben sollen, wo sie hergekommen ist.«
»Sie möchte sich um Ihre Erziehung kümmern und das finde ich sehr freundlich von ihr. Vor allem, da Sie … na ja …«
»Da ich keine Mutter mehr habe.«
»Ich wollte Ihnen nicht … ich wollte Sie nicht daran erinnern. Es tut mir leid.« Miss Miller setzte sich, als ich aufstand, um mir vom Dienstmädchen beim Anziehen helfen zu lassen.
Ich konnte Miss Miller nie böse sein. Es war auch schon so furchtbar lange her, seit meine Mutter gestorben war. »Wir sind allein sehr gut zurechtgekommen, sie und ich.«
»Aber jetzt geht es um Ihre Einführung in die Gesellschaft.«
»Die ist noch Monate entfernt.« Über ein Jahr. Und meine Freude darauf war nicht größer als die Freude einer Maus, die einer Katze ins Auge blickt. »Außerdem könnten Sie doch meine Begleiterin sein!« Das hätte mir schon früher einfallen sollen. Lange bevor mein Vater angekündigt hatte, dass seine Schwester bei uns einzog.
»Nichts würde mir größeres Vergnügen bereiten, aber das steht mir nicht zu.«
»Ginge es nicht trotzdem? Dann müssten wir all das überhaupt nicht machen! Wir könnten behaupten, wir würden zu einem dieser Bälle gehen, und stattdessen das Kunstmuseum besuchen. Niemand müsste es erfahren.« Und selbst wenn ich an diesen furchtbaren Veranstaltungen teilnehmen müsste, könnte ich eine Kameradin gebrauchen. Jemand anderes als meine Freundin Lizzie, die sich bestimmt von der ganzen Aufregung anstecken lassen würde. Wenn sich herausstellen würde, dass niemand mit mir tanzen wollte, könnte Miss Miller mathematische Übungen mit mir machen oder italienisch mit mir sprechen, solange sich niemand mit mir unterhalten wollte. Das wäre genauso gut, wie hier zu sein, in meinem eigenen Schlafzimmer bei meinen Büchern.
Miss Miller lachte. »Sie hören sich richtig verzweifelt an.«
Das war ich auch.
Sie hörte auf zu lachen und betrachtete mich beinahe mitleidig. »Ich kann Sie nicht begleiten. Aber wenn es nach mir gehen würde, müssten Sie vielleicht gar nicht debütieren.«
Ich müsste nicht debütieren?
Miss Miller erhob sich, als das Dienstmädchen verschwand, um meine Bürste zu holen, und kam näher, bis sie mir ins Ohr sprechen konnte. »Ich habe ans Vassar College geschrieben. Ich bin ganz sicher, dass man dort von Ihren Studien beeindruckt sein wird.«
Vassar College? Sie hielt mich für gut genug, um dort zu studieren? Es versetzte mich in große Aufregung, das zu hören!
Sie drückte meine Schulter und trat auf den Gang hinaus, während mir Visionen von Collegevorlesungen und angesehenen Professoren durch den Kopf wirbelten.
Nachdem das Dienstmädchen mir die Haare festgesteckt hatte, eilte ich zur Eingangshalle, nur um dort festzustellen, dass ich zu früh dran war. Ich musste auf meine Tante warten. Ich hätte mir einen Roman mitgenommen, wenn ich daran gedacht hätte, aber jetzt hatte es keinen Sinn mehr, einen zu holen. Ich wollte nicht riskieren, dass meine Tante meine Schritte hörte und mir Vorhaltungen über meinen Literaturgeschmack machte.
Fünf Minuten, bevor die volle Stunde schlug, segelte meine Tante die Treppe herab, prachtvoll zum Ausgehen gekleidet. Ich schloss mich ihr an, als sie an mir vorbeiging und folgte ihr durch die Tür hinaus auf die Straße. Die Viktoria-Kutsche erwartete uns. Meine Tante bestieg sie zuerst. Ich wartete einen Moment, bis sie sich hingesetzt und ihre Röcke geordnet hatte, bevor ich ebenfalls hineinkletterte und mich neben ihr niederließ.
Vor uns setzte sich der Kutscher auf seinen Platz über den Vorderrädern.
Ich wurde zurückgeworfen, als die Kutsche sich in Bewegung setzte, und gerade als ich mich an ihr Schwanken gewöhnt hatte, kam sie zum Stehen. Der Kutscher glitt von seinem Sitz herab.
Aber … wir waren vor Lizzies Haus!
Es ähnelte unserem eigenen. Ein Dutzend Stufen führten zur Eingangstür. Es war genauso hoch und schmal und besaß einen Säulenvorbau. Zwei Fenster zierten das Stockwerk mit dem Salon, auf den weiteren Stockwerken waren es drei Fenster. Trotzdem hatte das Heim der Barnes' schon immer etwas weniger imposant und viel einladender als unseres gewirkt.
Der Kutscher hielt mir die Hand hin, um mir aus der Kutsche zu helfen. Ich trat zur Seite und wartete, bis meine Tante ausgestiegen war, bevor ich ihr die Stufen zur Tür hinauffolgte. Ein Diener erschien auf ihr Läuten hin und sie legte ihre Visitenkarte auf das glänzende Silbertablett in seiner Hand.
Wir wurden in einen Salon geführt, der in warmen Grün- und Goldtönen eingerichtet war. Wenn ich mich recht erinnerte, war er letztes Jahr mit dunklem Holz und pflaumenfarbigem Brokat ausgestattet gewesen. Mir gefiel die neue Zusammenstellung sehr gut.
Mrs Barnes hatte sich auf einem Sofa niedergelassen, Lizzie saß neben ihr. Sie erhoben sich beide, als wir den Raum betraten.
Meine Freundin grinste, als sie mich sah, nahm sich dann jedoch zusammen und verbarg ihre Freude hinter einem Hüsteln.
Es kam mir merkwürdig vor, dass unser Besuch sich auf den Salon beschränkte, während Lizzie und ich normalerweise sofort in ihr Zimmer hinaufeilten. Meine Tante und ich nahmen gegenüber von Mrs Barnes und Lizzie auf Sesseln Platz, die zum Sofa passten, welches wiederum zu den Vorhängen, den Teppichen und den Lampenschirmen passte. Der gesamte Raum vermittelte den Eindruck goldener Träume und glitzernden Sonnenlichts.
»Mrs Stuart. Es ist mir ein großes Vergnügen, Sie zu empfangen.« Mrs Barnes sprach mit dem südlichen Tonfall ihrer Herkunft. Er klang süß und schmelzend und ich hätte ihr endlos zuhören können.
Meine Tante seufzte und legte eine Hand auf ihre ausladende Brust. »Ich bedaure es, in dieser Saison nicht so auf der Höhe gewesen zu sein.«
Ich spürte, wie meine Brauen überrascht in die Höhe gingen. An den meisten Tagen regierte meine Tante so energisch über den Haushalt, dass der Rest von uns sich geradezu träge fühlte.
»Sicher kann Ihr Bruder, der Arzt, Ihnen helfen.«
»Ich fürchte, für mein Leiden kann nur der Himmel Heilung schenken.«
»Oh. Nun gut.« Mrs Barnes' Lächeln wurde einen Moment lang unsicher. »Natürlich ist es für uns alle ein Trost, dass wir unsere Tränen in Abrahams Schoß trocknen werden.«
Meine Tante hatte einen Großteil ihres Lebens damit verbracht, den Verlust ihres Ehemanns zu betrauern, eines Mannes, dessen geisterhafte Gegenwart vor allem durch das strenge Schwarz tiefer Trauer zum Ausdruck kam, in das sich meine Tante kleidete, solange ich mich erinnern konnte. Sie senkte den Blick einen Moment lang auf ihren Schoß. »Trübsal ist das Einzige, was man vom Leben erwarten sollte.« Sie schloss die Augen, seufzte noch einmal. Dann öffnete sie die Augen wieder. »Wenn wir gerade von Erwartungen sprechen, ich erwarte, dass Sie Ihre Lizzie auf die gesellschaftlichen Verpflichtungen ihres Debüts vorbereiten. Im nächsten Jahr.«
Mrs Barnes neigte den Kopf. »Genau wie ich davon überzeugt bin, dass Sie die ausgezeichneten Eigenschaften Ihrer jungen Nichte weiter veredeln.«
Gegenstand einer Unterhaltung zu sein, während man anwesend war, brachte einen in die seltsame Lage, so tun zu müssen, als wäre man abwesend. Ich versuchte, mich nicht zu bewegen und nicht zu atmen. Lizzie sah aus, als ginge es ihr genauso.
In der Zwischenzeit nickte meine Tante. »O ja, natürlich. Es muss so viel gelehrt und gelernt werden, dass man sich nur wundern kann, dass keine der jungen Frauen wartet, bis sie zwanzig ist, bevor sie in die Gesellschaft eingeführt wird.«
»In der Tat. Man sagt, Alter bringt große … Weisheit hervor.« Mrs Barnes' Ton vermittelte jedoch unmissverständlich, dass sie dieser Aussage nicht zustimmte. »Möchten Sie gern eine kleine Stärkung?«
»Nein. Nein danke.«
»Nicht einmal eine Tasse Tee?«
»Nein, das ist nicht nötig …«
Mrs Barnes lehnte sich ein wenig zurück und sah über ihre Schulter. Die Bewegung rief den Butler an ihre Seite. »Wir möchten gern Tee.«
Der Butler verbeugte sich und verließ den Raum, kehrte jedoch recht schnell wieder zurück. Es herrschte einige Momente Stille, während der Tee ausgeschenkt wurde. Als ich an meiner Tasse nippte, dachte ich mit Grausen an mein bevorstehendes Debüt. Ich hoffte, dass Miss Millers Plan funktionieren würde. Wenn ich nächsten Herbst nach Vassar ginge, wäre meine Einführung in die Gesellschaft ein Ding der Unmöglichkeit. Doch was, wenn der Plan nicht aufging? Was sollte ich mit Tanzen, Flirten und höflicher Konversation anfangen? Und wie sollte es mir jemals gelingen, meinen Vater zu überreden, dass er mir den Besuch der Universität gestattete?
Ich sah, wie Lizzie sich ein Lächeln verkniff, als ich eine ruckartige Bewegung mit meiner Tasse machte.
Sie allein wusste, wie sehr mir vor unserem bevorstehenden Debüt graute. Genau wie nur ich wusste, wie sehr sie sich danach sehnte. Ohne ihre Freundschaft und Unterstützung, ohne die Tatsache, dass wir uns dieser Prozedur gemeinsam stellen würden, hätte ich mich lieber in Nichts aufgelöst, als mich der gesamten Welt zu präsentieren. Meine Hoffnung ging nicht so weit zu glauben, dass ich ihr für immer entkommen konnte, auch wenn ich die Worte der lieben Miss Miller noch im Ohr hatte. Aber zumindest würde ich mir diese Saison noch keine Sorgen darüber machen müssen. Dafür würde nächsten Herbst noch Zeit genug sein.
Mrs Barnes und meine Tante sprachen unablässig über unser gemeinsames Debüt. Darüber, wie lange es dauern würde, unsere Kleider anfertigen zu lassen, und welche einzelnen Tänze wir beherrschen sollten. Und wie viele Mädchen zur gleichen Zeit mit uns debütieren würden. Ich wäre lieber oben in Lizzies Zimmer gewesen, um Andenken in ihr Sammelalbum zu kleben oder ihr zuzuhören, wie sie über die jüngste Mode in der Zeitschrift Harper's Bazaar schwärmte. Noch lieber wäre ich allein mit Byrons Versen in meinem eigenen Zimmer gewesen.
Lizzie schnitt mir gegenüber Grimassen, was ich ignorierte, während ich versuchte, ihre Katze unter dem Sofa hervorzulocken, indem ich mit der Spitze meines Schuhs wackelte. Das Tier hatte sich in der Vergangenheit schon ein oder zwei Mal auf die glänzenden Knöpfe gestürzt.
Mit fröhlichem Gebimmel schlug eine Uhr die halbe Stunde.
Meine Tante setzte Tasse und Untertasse auf den Salontisch und wandte sich mir zu. »Komm, Clara.«
Sie meinte es wörtlich. Ich gab ihr meine Hand und half ihr auf die Füße.
Als sie sich aus dem Zimmer bewegte, begleitet von Lizzies Mutter, fühlte ich, wie jemand an meinem Ärmel zupfte.
Als ich mich umdrehte, legte Lizzie ihren Arm auf meinen und beugte sich dicht zu mir. »Wir müssen uns übernächsten Donnerstag bei den Sträuchern treffen. Um halb vier.«
Ich nickte. Als meine Mutter noch gelebt hatte, hatten wir uns ständig dort getroffen. Sie hatte uns dann immer ein Tablett hinausgeschickt, auf dem es mit Tee gefüllte Fingerhüte für unsere Puppen gab.
Meine Tante hatte bereits die Eingangstreppe erreicht und wartete offensichtlich auf mich. Ich trennte mich schnell von Lizzie und verabschiedete mich von Mrs Barnes. Der Kutscher half uns in den Wagen und stieg dann auf seinen Sitz. Meine Tante verschränkte die Hände im Schoß und verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Das war ganz zufriedenstellend. Abgesehen natürlich von dem Tee, den sie uns aufgezwungen hat. Wer serviert schon Tee bei so einem Besuch?«
Ich nagte an meiner Unterlippe. Die Unterhaltung hatte mich durcheinandergebracht. Ich wollte weder über Debüts reden noch darüber nachdenken. Ich würde stattdessen an Vassar denken. An Vassar und seine großen Säle der Gelehrsamkeit, an all die wunderbaren Bücher voller Wissen, die mich nächsten Herbst erwarteten. Bestimmt könnte Miss Miller das College überzeugen, dass ich die Fähigkeiten für ein Studium besaß. Bestimmt könnte sie meinen Vater überzeugen, mich ans College gehen zu lassen.
Aber dann packte meine Tante eine meiner Hände, hielt sie zwischen ihren fest und hob sie an ihre Brust. »Ich habe entschieden, dass du bereits diese Saison debütieren wirst und nicht erst nächste.«
Diese Saison? Ich entzog meine Hand ihrem Griff, konnte meinen Blick jedoch nicht von ihrem Gesicht losreißen. Ich bin sicher, dass sich in meinen Augen der Schrecken widerspiegelte, den ich empfand. »Aber ich bin noch nicht bereit! Ich muss … ich muss noch Dutzende von Sachen lernen. Und du weißt doch, dass ich mich dabei nicht geschickt anstelle. Und außerdem – ich kann nicht ohne Lizzie debütieren!«
»Du kannst und du musst.«
»Aber du hast ihrer Mutter gesagt … du hast ihrer Mutter so gut wie versprochen, dass ich nächstes Jahr zusammen mit Lizzie in die Gesellschaft eingeführt werde. Wir hatten es doch so geplant.« Und ich hatte fest damit gerechnet … falls man es mir nicht erlaubte, nach Vassar zu gehen.
Meine Tante schob eine Hand in ihren Pompadour. Als sie wieder auftauchte, hielt sie einen Zeitungsausschnitt in den Fingern. Sie streckte ihn mir hin. »Lies das.«
New York Journal – Gesellschaft
1. Oktober 1891
Es wurde soeben bekannt, dass Franklin de Vries, Erbe des de Vries-Vermögens, und sein Bruder Harold in Kürze von ihrer großen Europareise zurückkehren werden. Nach ihrem Aufbruch letztes Jahr schockierte das Brüderpaar England, terrorisierte Frankreich und empörte Deutschland. Die beiden kauften nicht nur die Hälfte aller europäischen Schätze auf, sondern leerten auch etliche Weinkeller. Es ist noch nicht bekannt, was die entsetzten Italiener erwartet, die sie bald in Rom empfangen werden. Wir fürchten, der Kontinent wird nie mehr derselbe sein. Gute Reise, junge New Yorker! Eine glänzende gesellschaftliche Saison erwartet Sie bei Ihrer Ankunft!
Als ich aufblickte, schüttelte meine Tante den Kopf. »New Yorker – diese Brüder stammen von einigen der verdientesten niederländischen Siedler der Stadt ab … obwohl die jüngeren Söhne die älteren anscheinend immer in Schwierigkeiten bringen. Ich bin überzeugt, dass dies der Grund ist, warum sie zurückkommen. Aber genau auf so etwas habe ich gewartet.« Sie bleckte grinsend die Zähne und erhielt dadurch große Ähnlichkeit mit einem ihrer Hunde.
Ich gab ihr den Zeitungsausschnitt zurück.
Die Kutsche kam vor unserem Haus zum Stehen und meine Tante stieg aus. »Der de Vries-Erbe kehrt zurück und das ändert alles. Du musst ihn bekommen.«
»Aber Mama und Mrs Barnes waren die besten Freundinnen! Es war ihr größter Wunsch, dass …«
»… du heiratest. Und es ist der größte Wunsch deines Vaters, dass du Geld heiratest – de Vries-Geld. Wir haben einmal alles an die Familie de Vries verloren, er und ich. Wir werden ganz sicher nicht noch einmal in diese Situation kommen. Sie schulden uns den Erben, auch wenn sie das bis jetzt noch nicht wissen. Wir zählen auf dich, dass du nun die Ehre der Familie Carter wiederherstellst. Und das wirst du auch. Vorausgesetzt, dass du auf mich hörst und dir dabei von mir helfen lässt.« Sie kehrte mir den Rücken zu und begann, die Stufen emporzusteigen.
Ich sollte die Familienehre wiederherstellen? Eine Welle der Übelkeit überfiel mich. Ich hatte nicht geahnt, dass … aber … aber natürlich würde ich die Familienehre wiederherstellen. So eine ernste Verpflichtung war sogar ein Debüt wert. Aber da gab es immer noch einen sehr wichtigen Punkt, den meine Tante offenbar nicht verstanden hatte. Ich hastete hinter ihr her und stolperte über meinen Rock. »Ich kann nicht ohne Lizzie debütieren.«
»Und ich kann deinen Trotz nicht verstehen! Mein Bruder und ich haben uns der gehobenen Gesellschaft vielleicht genähert, aber man hat uns nie wirklich Zutritt gestattet. Du, mein liebes Mädchen, wirst das alles haben.«
»Aber …«
»Jeder halbwegs vernünftige Mensch wäre überglücklich bei dieser Neuigkeit.«
Aber genau das war der Punkt. In dem grandiosen Beziehungsgeflecht der gehobenen Gesellschaft von New York City war ich ein Niemand. Es leuchtete mir nicht ein, wie ein halbwegs vernünftiger Mensch von mir erwarten konnte, den de Vries-Erben für mich zu gewinnen. Und meine Tante redete so, als würde er mir bereits gehören.
Miss Miller suchte mich in meinem Schlafzimmer auf, wo das Dienstmädchen mir half, mich umzuziehen. »Ich habe ein wissenschaftliches Experiment für uns vorbereitet.«
Ich antwortete nicht, sondern setzte mich auf einen Sessel, um mir die Schuhe aufknöpfen zu lassen.
»Sie interessieren sich doch so für Naturwissenschaften.«
Ich fürchte, dass mir der Kummer ins Gesicht geschrieben stand, als ich zu ihr aufschaute. »Meine Tante hat mir gerade mitgeteilt, dass ich in der kommenden Saison debütieren soll.«
»Ja. Nächstes Jahr. Darum sind die Naturwissenschaften und das Lernen so wichtig. Es wartet eine ganz neue Welt darauf, von Ihnen entdeckt zu werden – ob das am College ist oder in den prachtvollsten Ballsälen der Stadt. Sie müssen Ihre Fähigkeiten in jeder Hinsicht erweitern, um all den Herausforderungen gerecht zu werden.«
»Nein. Dieses Jahr. Ich soll dieses Jahr in die Gesellschaft eingeführt werden.«
»Dieses Jahr? Das ist doch lächerlich! Sie sind noch nicht bereit dafür. Und Sie sind gerade erst siebzehn geworden.«
»Genau das habe ich auch gesagt.«
Eine winzige Falte erschien zwischen Miss Millers Brauen und verschwand schnell wieder. »Sie irrt sich. Ich werde mit ihr reden. Ihr Debüt war immer für Ihr achtzehntes Jahr geplant.« Sie hielt inne und warf mir einen scharfen Blick zu. »Und wir sind mit den Vorbereitungen im Verzug. Ich fürchte, ich habe die Unterweisung über gesellschaftliche Verhaltensweisen gegenüber den intellektuellen Leistungen vernachlässigt.«
»Darum sind wir auch so gut miteinander ausgekommen!«
Miss Miller lächelte. »Ja. Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie sich nächstes Jahr besonders anstrengen, wenn wir die Bücher zur Seite legen und uns dem Tanz und der Konversation widmen.«
»Das werde ich.«
Sie hob eine Braue.
Ich seufzte. »Ich verspreche es.« Jetzt würde ich keinen Rückzieher mehr machen können. Aber ich kann nicht behaupten, dass es mir leidtat, diesem leidigen Unterricht noch einmal für ein Jahr zu entkommen. Ehrlich gesagt, hatte Miss Miller meine gesellschaftliche Ausbildung bereits seit einiger Zeit immer wieder verschoben. Auf meine Bitte hin. Lizzie bekam schon einige Jahre lang Tanzstunden und Sprechunterricht. Aber warum sollte ich meine eigentlichen Lernfächer – Mathematik, Italienisch und Latein – zugunsten von Tanzstunden und Anweisungen für die richtige Körperhaltung zurückstellen? Das konnte alles nicht so schwer zu lernen sein wie Geometrie. Und ich hatte immer noch viel Zeit dafür … wenn Miss Miller sich nicht irrte.
Später, nachdem wir unser Experiment durchgeführt hatten, kehrten wir in mein Zimmer zurück, damit ich es aufzeichnen konnte. Anschließend ließ Miss Miller mich allein und rief das Dienstmädchen zu mir, das mir helfen sollte, mich zum Essen umzukleiden. Doch als ich auf dem Weg zum Speisezimmer die Treppe hinunterkam, sah ich, wie meine Gouvernante zur Tür geführt wurde. Von meiner Tante.
Miss Miller hatte einen Koffer in der Hand und trug Reisekleidung. Es sah nicht so aus, als ginge sie freiwillig. »Ich muss protestieren!«, rief sie.
Meine Tante fasste sie am Arm und zog sie zur Tür. »Protestieren Sie, so viel Sie wollen. Die Angelegenheit ist entschieden.«
»Ich habe Claras gesellschaftliche Erziehung vielleicht ein wenig verzögert, aber …«
»Ein klein wenig? Sie haben Sie überhaupt nicht erzogen!«
Miss Miller riss ihren Arm los und stellte ihren Koffer auf den Boden. »Sie müssen das verstehen – sie ist so intelligent. Diese letzten Jahre wegzuwerfen, um sich auf Tanzen und Etikette zu konzentrieren, wäre eine Farce gewesen!«
»Eine Farce? Eine Farce ist, dass ihr Debüt in weniger als zwei Monaten auf sie zukommt und sie nicht im Geringsten darauf vorbereitet ist!«
»Aber Sie müssen erfreut sein über die Fortschritte, die sie gemacht hat. Mount Holyoke würde sie mit Freuden nehmen. Und ich habe mir die Freiheit genommen, letzte Woche wegen Clara ans Vassar College zu schreiben.«
»Vassar? College? Was meinen Sie, wofür Clara bestimmt ist, Miss Miller?«
»Sie könnte alles machen, was sie möchte. In den Naturwissenschaften und … und … in der Medizin geht es gerade mit großen Schritten voran …«
Meine Tante gab dem Lakai ein Zeichen, Miss Millers Koffer aufzuheben. »Ich bin sicher, dass das alles wahr ist. Aber es gibt nur einen großen Schritt, den Claras Vater und ich von ihr erwarten: den zum Altar.«
»Also wirklich, Mrs Stuart!« Miss Miller streckte eine Hand nach dem Griff ihrer Tasche aus.
Der Lakai schien nicht zu wissen, wie er sich verhalten sollte.
Beherzt riss Miss Miller ihre Tasche an sich und umklammerte die Griffe mit beiden Händen. »Die Zeiten, als junge Mädchen früh in eine Ehe gedrängt wurden, sind vorbei.«
»Nicht in diesem Haus!« Meine Tante schob Miss Miller zur Tür hinaus und gab dem Lakai ein Zeichen, sie hinter ihr zu schließen. Als sie sich zur Treppe umdrehte, sah sie mich. »Miss Miller ist gegangen.«
»Aber … wohin?«
»Weg. Für immer.«
»Warum?« Warum schickte sie meine Lehrerin und engste Vertraute weg?
»Ihre persönlichen Ansichten waren unvereinbar mit den Anforderungen deiner Ausbildung.«
»Meiner Ausbildung? Aber wir hatten noch nicht einmal mit der Rhetorik angefangen!«
»Ja, nun gut. Alles hat einmal eine Ende.«
»Aber …«
»Ich will nichts mehr davon hören.«
»Du bist eine Tyrannin und eine Despotin! Und ich wünschte, du würdest dorthin zurückkehren, wo du hergekommen bist!« Ich konnte nicht verhindern, dass mir Tränen in die Augen schossen, aber ich drehte mich um und rannte die Treppe hoch in mein Zimmer, um Miss Miller noch einmal zu sehen. Die Stirn gegen die Fensterscheibe gedrückt, beobachtete ich, wie sie die Fifth Avenue hinabging, hoch aufgerichtet und mit gemessenem Schritt. Sie schaute kein einziges Mal zurück. So saß ich am Fenster, ein erwachsenes Mädchen von siebzehn Jahren, und weinte, wie ich seit dem Tod meiner Mutter vor sechs Jahren nicht mehr geweint hatte.
Nach einer Weile, sobald meine Tränen versiegt waren und ich merkte, dass ich wieder Atem holen konnte, ohne zu schluchzen, überlegte ich, was ich tun konnte. Ich beschloss, die Situation mit meinem Vater zu besprechen. Dazu brauchte ich eine Strategie. In letzter Zeit schien mein Vater seine geliebte Schwester mit allem zu betrauen, was mit meinem Wohlergehen zu tun hatte. Sie hatte ihn aufgezogen, als ihre Eltern gestorben waren, also durfte es nicht so aussehen, als würde ich ihr Vorwürfe machen wollen. Ich durfte auch nicht den Verdacht erwecken, undankbar für ihre Fürsorge zu sein. Schließlich hatte sie erst vor Kurzem ihr vornehmes Witwendasein im Schoß der Familie ihres Mannes aufgegeben, um bei uns zu leben. Und seither hatte sie rechtschaffen und selbstlos im Haus regiert.
Vermutlich erschien ich etwas zu spät zum Abendessen. Meine Tante und mein Vater hatten bereits Platz genommen, als ich auftauchte; ihre finsteren Blicke trafen mich, als ich den Raum betrat. Aber ich machte mir nichts daraus. Wir saßen schweigend da und wir aßen schweigend; der Butler versah seinen Dienst von seinem Platz hinter dem Ellbogen meiner Tante aus. Zuerst gab es Suppe, dann kam der Fischgang, dem der Fleischgang folgte.
Mein Vater bewegte sich auf seinem Stuhl.
Ich hatte mich immer für das glücklichste Mädchen der Welt gehalten, so einen gut aussehenden Vater zu besitzen. Mit seinem silbrigen Haar und dem gepflegten Bart sah er ausgesprochen attraktiv aus. Die Ehrbarkeit in Person. Er war natürlich der hervorragendste Arzt der Stadt und der Erfinder von Doktor Carters patentiertem Stärkungsmittel. Mit seinem Medikament hatte er ein Vermögen verdient. Doktor Carters wurde in Zeitungen und auf Plakaten in der ganzen Stadt angepriesen.
Er sah von seinem Lammkotelett auf und lächelte mich an. Ich erwiderte das Lächeln und warf einen kurzen Blick auf meine Tante, um zu sehen, ob sie etwas sagen würde.
Sie tat es nicht.
Ich durfte nicht reden. Nicht, wenn ich nicht zuerst angesprochen worden war. Entweder würde meine Tante etwas über Miss Miller sagen oder meine Gelegenheit wäre vorbei. Deshalb streckte ich meinen Ellbogen aus und stieß mein Wasserglas um, als ich mein Brötchen mit Butter bestrich.
»Clara!«
Ich verschränkte die Hände im Schoß und beugte den Kopf bei diesem tadelnden Ausruf meiner Tante.
»Sie kann keine Mahlzeit ordentlich zu sich nehmen und soll in dieser Saison debütieren?«
Ich hob vorsichtig den Blick und sah, dass mein Vater die Stirn runzelte. »Debütieren? Schon in dieser Saison? Aber ich dachte … sie ist doch erst …«
»Ich weiß, dass sie gerade erst siebzehn geworden ist, aber der de Vries-Erbe kehrt vom Kontinent zurück. Es darf keine Verzögerung geben.«
»Ganz gewiss nicht. Nicht, wenn der de Vries-Erbe zur Verfügung steht.«
»Es liegt noch viel Arbeit vor uns.«
Das Stirnrunzeln meines Vaters vertiefte sich, und ich sah meine Gelegenheit gekommen. »Wenn man Miss Miller überreden könnte zu bleiben, dann könnte sie mich vielleicht ausbilden.«
Alarmiert gingen die Augenbrauen meines Vaters in die Höhe. »Wenn man sie überreden könnte? Warum sollte man sie überreden müssen?«
Ich streifte meine Tante mit einem Blick, bevor ich wieder auf meinen Teller schaute.
»Warum?« Mein Vater sah seine Schwester an, und seine Stimme hatte einen scharfen Klang. »Miss Miller kam mit sehr guten Empfehlungen zu uns. Und es hat mich ein Vermögen gekostet, sie von den Vanderbilts wegzulocken.«
Meine Tante schnaubte. Ihre schwarzen Ohrringe schwangen hin und her, als sie energisch ihr Lammfleisch zerteilte.
Mein Vater legte sein Messer auf das Messerbänkchen und schob dann den Griff seines Löffels auf gleiche Höhe mit dem Griff seines Käsemessers. Er warf meiner Tante einen strengen Blick zu. »Meine liebe Schwester, du weißt, dass ich deine Methoden selten infrage stelle, aber in diesem Fall muss ich es tun.«
Jetzt musste ich meinen Standpunkt deutlich machen. Auch wenn ich noch nicht angesprochen worden war. »Wirklich, Vater, ich weiß gar nichts über die Gesellschaft. Ich bin völlig unvorbereitet für ein Debüt.«
Meine Tante sandte ein winziges Lächeln in meine Richtung. »O ja. Es ist genauso, wie Clara es gesagt hat. Sie ist gänzlich unvorbereitet für ein Debüt. Miss Miller hat in ihren Pflichten völlig versagt.«
Die Brauen meines Vaters zogen sich zusammen. »Wenn du denkst, dass sie nicht gut vorbereitet ist …?«
»Sie wird es sein. Jetzt ist die Zeit gekommen, Bruder. Überleg nur: der de Vries-Erbe. Das ist der Moment, auf den wir gewartet haben.«
Sie drehten beide den Kopf, um mich anzusehen. Und hinter dem Lächeln meines Vaters schien sich noch etwas mehr zu verbergen als seine übliche gute Laune.
Geschlagen zog ich mich nach dem Essen in mein Zimmer zurück. Teilnahmslos und entmutigt ließ ich mich auf mein Bett fallen. Als mein Kopf auf das Kissen traf, spürte ich etwas Hartes. Ich stützte mich auf den Ellbogen und hob die Decke. Es lag ein Buch darunter! Es waren sogar zwei.
Ich zog sie ans düstere Abendlicht.
Das erste war mein Byron. Der Byron meiner Mutter. Und der Rand eines Umschlags stand zwischen den Seiten hervor.
Ich setzte mich, streckte die Hand aus, um das Gaslicht hochzudrehen, nahm das Buch auf die Knie und schlug es auf.
Es war ein Brief. An mich adressiert. In Miss Millers eleganter Schrift.
Ich zog den Umschlag aus dem Gedicht »In ihrer Schönheit wandelt sie«, schlitzte ihn auf und zog ein einzelnes Blatt Papier hervor.
Meine liebste Clara,seien Sie nicht traurig darüber, dass ich gegangen bin. Wir wissen beide, dass Sie mich mit Ihren Studien schon seit Langem übertreffen. Ich bedaure es nur, dass ich Ihnen Riis' Buch nicht früher gezeigt habe. Es liegt nun an Ihnen, all das zu lernen, was ich Ihnen nicht beibringen kann. Dabei muss Ihre Tante Ihre Lehrerin sein. Beherzigen Sie Ihren Unterricht gut. Sie will wirklich nur Ihr Bestes, und ihre Erfahrung und ihre leitende Hand werden sich in den kommenden Tagen und Monaten als unschätzbar erweisen. Sollten Sie jemals Kontakt mit mir aufnehmen wollen, können Sie mich unter der Adresse meiner Schwester, Mrs John Mifflin, in Courtland erreichen.
Leben Sie wohl. Ich werde immer Ihre Freundin bleiben.
Julia Miller
Ich nahm das andere Buch in die Hand. Das Buch von Jacob Riis. Wie die andere Hälfte lebt. Ich schlug die erste Seite auf und begann zu lesen. Nach einer Stunde tauchte ich lang genug aus den Seiten auf, um das Licht noch einmal höherzudrehen.
Was erfuhr ich in diesem Buch nicht alles über die fürchterlichen Bedingungen, in denen die Hälfte der Stadt lebte! Es war erschreckend! Ich las von Mietshäusern, in denen es so wenig frische Luft gab, dass die Leute im Sommer auf den Dächern schliefen … und oft in den Tod stürzten. Ich las von Wasserleitungen, die so veraltet waren, dass das Wasser nicht einmal den zweiten Stock, geschweige denn den siebten oder achten erreichte. Es wurde berichtet von winzigen Zimmern, in denen ein Dutzend Menschen gemeinsam schlafen mussten. Und von Krankheiten, die ich für ausgerottet gehalten hatte und die jeden Sommer über diese Gebäude herfielen und unzähligen Kindern das Leben raubten. All das geschah, geschieht, innerhalb der Stadt. Meiner Stadt.
Genau hier.
Und die Fotografien! Die gejagten Augen verlorener Seelen, von Frauen und Kindern, sahen mir aus den Seiten entgegen. Sie flehten, baten und bettelten.
In meiner Stadt. Meiner Heimat.
Ich hatte die Vorstellung immer geliebt, wie die Freiheitsstatue am Hafen stand und die Gäste in der Stadt begrüßte. Allein der Gedanke an ihre erhobene Hand ließ mich erbeben.
Gib mir deine müden, deine armen,Deine niedergedrückten Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen,Das armselige Strandgut deiner überfüllten Küsten.Sende sie, die Heimatlosen, die vom Sturm Gestoßenen, zu mir.Ich erhebe meine Fackel neben dem goldenen Tor.1
Und wofür das? Zu welchem Zweck begrüßte sie den Einwanderer? Um ihn in einer rattenverseuchten, von Krankheiten heimgesuchten Bruchbude willkommen zu heißen? Um ihm kein Zuhause, keine Nahrung, keine ordentliche Unterkunft zu geben? Wie es schien, hatte die Freiheitsstatue versagt, ihr Versprechen zu halten.
In dieser Nacht fiel ich in einen unruhigen Schlaf. Die Bilder notleidender Kinder verfolgten mich und auch das sichere Wissen, dass Dutzende von ihnen jeden Tag in absoluter Armut lebten und starben. Aber was konnte ich tun? Was konnte irgendjemand tun? Das Problem war so gewaltig. Wenn die halbe Stadt in Mietshäusern wohnte, dann … waren das über eine Million Menschen. Ein einzelner Mensch wie ich konnte sicher nichts tun, um eine Veränderung zu bewirken.
Miss Millers Vermächtnis war verstörend und trostlos, und das Leben ohne sie kam mir langweilig und ziellos vor. Obwohl meine Tante die Aufgabe, meine gesellschaftliche Erziehung zu verbessern, übernommen hatte, hatte ich bis jetzt keine Lektionen erhalten. Die ersten zwei Tage nach der Abreise meiner Gouvernante war ich völlig mir selbst überlassen.
Der dritte Tag war ein Sonntag. Als wir die Grace Church betraten, ging eine beinahe unmerkliche Regung durch die Bänke. Eine Regung in unsere Richtung. Als wir uns den Gang hinabbewegten, hallten unsere Schritte durch das bogenförmige Gewölbe, auf dem die Decke ruhte.
Mein Vater straffte die Schultern.
Meine Tante hob das Kinn.
Ich versuchte, die Menschen, die sich bereits in den Kirchenbänken befanden und uns anstarrten, zu ignorieren. Ich versuchte, an nichts anderes zu denken als an Lizzie, und mich damit zu trösten, dass sie den gleichen Spießrutenlauf und die gleichen prüfenden Blicke zu erdulden hatte, wenn ihre eigene Familie nach uns hereinkam.
Aber sie würden uns nicht zu dicht folgen.
Nein, jede Familie in der Grace Church wollte den Gang wenigstens für ein paar Momente für sich allein haben. Damit man besser gesehen wurde, damit die Kleider besser begutachtet und die Hüte besser kritisiert werden konnten. Am Sonntag war die Bekleidung aufwendiger als an allen anderen Tagen der Woche.
Früher hatte ich die Leute in den Kirchenbänken angestarrt, während ich den Gang hinunterging. Aber damals war ich jünger. Damals wusste ich nicht, dass dieselben Leute auf mich zurückstarrten.
Schließlich erreichten wir unsere Bank. Ich nahm neben meiner Tante Platz, die wiederum neben meinem Vater saß.
»Dort. Drüben.«
Ich sah mich um, um die Worte jemandem zuordnen zu können.
»Du liebe Güte!« Die Worte drangen zischend an meine Ohren. Es war meine Tante. Sie blieb so steif, dass nichts erkennen ließ, dass sie sprach. »Wenn du dort hinüberschaust, auf die andere Seite des Gangs, ist da eine lange Bank. Auf der sitzen zwei Leute.«
Ich drehte den Kopf, damit ich sie sehen konnte.
»Nicht. So. Auffällig.« Sie presste die Worte zwischen den Zähnen hervor.
Ich richtete mich gerade auf und beugte mich dann ganz leicht nach vorne.
»Siehst du sie?«
»Nein.«
Meine Tante lehnte sich ein winziges Stück zurück. »Und jetzt?«
Sah ich sie? Es war schwer zu erkennen, wo die Bänke anfingen und aufhörten. Vor allem, wenn sie auf der anderen Seite des Gangs waren. Und es gab mehrere Paare dort. Zugegeben, die meisten von ihnen waren umgeben von anderen Menschen. Aber wie sollte ich wissen, ob ein Paar, das Platz um sich herum hatte, das Paar war oder nicht?
»Hast du sie gesehen?«
Ich vermutete, dass ich sie gesehen hatte. Die beiden mussten ja eines der Paare auf der anderen Seite sein, oder nicht? »Ja.«
»Dort wird der de Vries-Erbe sitzen. Wenn er wieder in der Stadt ist. Neben der Frau in Blau.«
Ach so! Neben dieser Frau. Ich hatte viel zu weit den Gang hinuntergeschaut. Mrs de Vries trug ein mittelblaues Kleid mit beiger Spitze am Hals und an den Handgelenken. Ihr dunkelblauer Hut saß auf einer aufgetürmten Masse blonden Haars und war mit elfenbeinfarbenen Bändern und einem Bausch elfenbeinfarbener Straußenfedern verziert.
Das war Mrs de Vries?
Was für Schlüsse konnte man über eine Frau ziehen, die Mittelblau und einen Hut mit Straußenfedern trug? Über eine Frau, deren Familie irgendwie die Ehre meiner Familie beschmutzt hatte? Ich konnte nichts weiter über sie sagen als über jede andere Frau, die den Gottesdienst besuchte. Mrs de Vries war völlig ehrbar. In jeder Hinsicht. Ich konnte keinerlei Schlüsse ziehen.
Es wäre trotzdem schön gewesen zu wissen, dass sie … nett war. Dass sie es mir nicht verübeln würde, dass man mir befohlen hatte, ihrem Sohn nachzustellen. Vor allem, da es nicht meine Idee gewesen war. Wäre es mir durch Zauberei oder andere dunkle Künste möglich gewesen, meinem Debüt zu entfliehen, so hätte ich möglicherweise diesen Ausweg genommen. Aber meine Familie zählte auf mich. Mein Vater zählte auf mich. Und ich durfte ihn nicht enttäuschen.
Am nächsten Morgen wurde ich ins Zimmer meiner Tante gerufen. Sie hatte eines der Gästezimmer übernommen und hatte es in tiefroten und dunkelbraunen Tönen dekorieren lassen, bevor sie eingezogen war. Ich war bisher nur zwei Mal dort gewesen. Beide Male hatte ich das Gefühl gehabt, als würde ich in eine unterirdische Grotte marschieren – in eine besonders muffige. Doch zumindest waren an diesem Morgen die schweren Vorhänge zur Seite gezogen worden, um ein paar Lichtstrahlen hereinzulassen.
Der Hund, der am dichtesten in ihrer Nähe lag, setzte sich auf und bellte und machte sie so auf meine Anwesenheit aufmerksam. Als sie mich sah, legte sie die Zeitung zur Seite und hob eine Lorgnette an ihre Augen. »Ich erwarte eine Entschuldigung.«
Zweifellos dafür, dass ich sie eine Tyrannin und Despotin genannt hatte.
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