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Der erste Petrusbrief richtet sich an Gemeinden, die in ihrem Herkunftsumfeld Diskriminierungserfahrungen machen, nachdem sie sich zum durch Jesus vermittelten Glauben an den einen Gott hingewandt hatten. Der Brief stellt diese Erfahrungen in neue Deutungshorizonte, indem er sie z. B. als notwendige Konsequenz der Zugehörigkeit zu Gott oder als Aktualisierung der Nachfolge des Gesalbten darstellt. Zugleich fordert er seine Leserschaft dazu auf, ihr "Fremdsein" in der Welt durch "befremdlich anderes" Verhalten zu leben.
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Seitenzahl: 554
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Theologischer Kommentar zum Neuen Testament
Herausgegeben von
Ekkehard W. StegemannAngelika StrotmannKlaus Wengst
Band 19
Martin Vahrenhorst
Der erste Brief des Petrus
W. Kohlhammer GmbH
Umschlagbild entnommen aus „Nestle-Aland ‒ Novum Testamentum Graece“, S. 606 27. revidierte Auflage
© 1898, 1993 Deutsche Bibelgesellschaft
1. Auflage 2016
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN: 978-3-17-017959-2
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-029026-6
epub: ISBN 978-3-17-029027-3
mobi: ISBN 978-3-17-029028-0
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Der erste Petrusbrief richtet sich an Gemeinden, die in ihrem Herkunftsumfeld Diskriminierungserfahrungen machen, nachdem sie sich zum durch Jesus vermittelten Glauben an den einen Gott hingewandt hatten. Der Brief stellt diese Erfahrungen in neue Deutungshorizonte, indem er sie z. B. als notwendige Konsequenz der Zugehörigkeit zu Gott oder als Aktualisierung der Nachfolge des Gesalbten darstellt. Zugleich fordert er seine Leserschaft dazu auf, ihr 'Fremdsein' in der Welt durch 'befremdlich anderes' Verhalten zu leben.
PD Dr. Martin Vahrenhorst ist Schulreferent der rheinischen Kirchenkreise im Saarland und lehrt Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal / Bethel.
Vorwort
Einleitung
1. Der Verfasser des 1Petr
1.1 Pseudepigraphie versus Authentizität
1.2 Akzente des (neutestamentlichen) Petrusbildes
1.2.1 Herkunft und Sprache
1.2.2 Petrus im Zwölferkreis und in der frühen Gemeinde
1.3 Die Funktion der Zuschreibung des Briefs an Petrus
2. Die Leserschaft des 1Petr
2.1 Die Lokalisierung der Leserschaft
2.2 Die Lebensumstände der Leserschaft
2.2.1 Erfahrungen verbaler Gewalt
2.2.2 Spiegelt der 1Petr staatliche Verfolgungsmaßnahmen?
2.2.3 Der Bruch mit der Mehrheitsgesellschaft
2.3 Der religiös-ethnische Hintergrund der Leserschaft
3. Die Datierung des 1Petr
3.1 Die Pliniuskorrespondenz und der 1Petr
3.2 Das Verhältnis des 1Petr zu anderen Schriften des Neuen Testaments
3.2.1 Der 1Petr und das Matthäusevangelium
3.2.2 Der 1Petr und die Apostelgeschichte
3.2.3 Der 1Petr und das Corpus Paulinum
3.3 Das Verhältnis des 1Petr zum Polykarpbrief
3.4 Ein Zeitfenster von 40 Jahren
4. Der Abfassungsort des 1Petr
5. Der 1Petr als Diasporabrief
6. Der Aufbau des 1Petr
Kommentar
1,1-2 Präskript
1,3-12 Proömium
1,13-5,11 Hauptteil
1,13-25 Ermahnung zu einer Lebensführung, die der Heiligkeit Gottes entspricht
1,13-21 Abkehr von überkommenen Verhaltensmustern als Konsequenz der Zugehörigkeit zu Gott
1,22-25 Konsequenzen für das Verhalten innerhalb der Gemeinde
2,1-10 Leben und wachsen als Gottes Volk
2,11-3,12 Der gute und schöne Lebenswandel
2,11-12 Präambel zum guten und schönen Lebenswandel „unter den Völkern“
2,13-17 Unterordnung unter die Strukturen des Imperium romanum nach dem Grundsatz: Respekt gegenüber dem Kaiser, Furcht vor Gott, Respekt gegenüber jedem Menschen
2,18-25 Unterordnung der Sklaven als Explikation des Respekts und der Gottesfurcht
2,18-20 Leiden ist eine Gnade
2,21-25 Der Gesalbte als Modell
3,1-6 Unterordnung der Ehefrauen als Explikation des Respekts und der Gottesfurcht
3,7 Das Verhalten der Ehemänner als Explikation des Respekts und der Gottesfurcht
3,8-12 Das Verhalten aller als Explikation des Respekts und der Gottesfurcht und die darauf liegende Verheißung
3,13-17 Variation der Verheißung und das entsprechende Verhalten gegenüber Außenstehenden
3,18-22 Das Leiden und der Weg des Gesalbten als Vorbild und Grundlage für das Leben der Glaubenden
4,1-6 Aufforderung zu einem befremdlich anderen Verhalten
4,7-11 Grundsätzliches zum Leben in der Gemeinde
4,12-19 Vergewisserung über das Leiden als „Christianer”
5,1-4 Ermahnung an die Gemeindeleitung
5,5a Ermahnung an die Gemeindeglieder
5,5b-9 Ermahnung zu wechselseitiger Demut und Wachsamkeit
5,10-11 Zusage und Doxologie
5,12-14 Briefschluss
Literaturverzeichnis
1. Quellen
1.1 Bibel
1.2 Antike Literatur in griechischer und lateinischer Sprache
1.3 Antike Literatur in hebräischer und aramäischer Sprache
1.4 Pseudepigraphen
2. Hilfsmittel
2.1 Wörterbücher
2.2 Grammatiken
2.3 Konkordanzen
3. Sekundärliteratur
3.1 Kommentare zum 1Petr
3.2 Sonstige zitierte Literatur
Register
Bibelstellenverzeichnis (in Auswahl)
Außerbiblische Quellen (in Auswahl)
Wer in unseren Tagen am 1. Petrusbrief arbeitet, mag wohl aus vollem Herzen in das Bernhard von Chartres zugeschriebene Gleichnis einstimmen: „Wir sind gleichsam Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, um mehr und Entfernteres als diese sehen zu können – freilich nicht dank eigener scharfer Sehkraft oder Körpergröße, sondern weil die Größe der Riesen uns emporhebt.“
Ob dieser Kommentar wirklich „mehr und Entfernteres“ in den Blick nimmt, mag der Leser bzw. die Leserin entscheiden. Ich für meinen Teil bin dankbar dafür, dass ich mit den großartigen Kommentaren zu diesem Brief, die in den vergangenen Jahrzehnten erschienen sind, im Gespräch sein und von ihnen lernen durfte. Eine Reihe zeitgenössischer Studien trat ihnen bereichernd an die Seite.
Klaus Wengst betraute mich mit der Aufgabe, diesen Kommentar zu schreiben, gut ein Jahr nachdem ich meinen Dienst als Studienleiter des Programms „Studium in Israel“ in Jerusalem angetreten hatte. In den vergangenen Jahren konnte ich dem Unterfangen mehr oder meistens weniger Zeit widmen. Das Angebot, im Sommersemester 2014 den Lehrstuhl von Martin Karrer an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal / Bethel zu vertreten, ermöglichte es mir, konzentriert am Kommentar zu arbeiten, und das zu bündeln, was bis dahin an Vorarbeiten entstanden war. Meinen beiden Lehrern möchte ich an dieser Stelle für ihr Vertrauen und ihre Unterstützung danken.
Manche Gedanken klären sich auf dem Weg. Dass ich viel unterwegs sein konnte, verdanke ich nicht zuletzt den Kindern meiner Frau, die von den Pfadfindern, der Schule oder anderen Aktivitäten abgeholt werden wollten. Auf dem Hinweg über Wendungen des 1. Petrusbriefes zu sinnieren, und auf dem Rückweg im Gespräch mit Shalev, Eshed und Shunar ganz andere Welten entdecken zu dürfen, ist ein Privileg und ein Vergnügen, das ich nicht missen möchte. Der Dank an meine Frau Sandra ist weit mehr als eine Verneigung vor den Gepflogenheiten eines Vorworts: שותפה לחיים ולתורה!
Zum Abschluss des Buches haben Florian Specker vom Verlag und Klaus Wengst durch technische und inhaltliche Hinweise in besonderer Weise beigetragen. Dafür, dass Dipl. Theol. Elisabeth Bittner (Tübingen) zahlreiche Fehler eliminiert hat, möchte ich ebenfalls von Herzen danken.
Ich wäre nie nach Jerusalem gekommen, wenn mein alttestamentlicher Lehrer Robert Bach (1926-2010) mich nicht auf den Gedanken gebracht hätte, dass man dort studieren kann. Ihm verdanke ich zudem entscheidende Anstöße auf dem Weg zur Bibel in ihrer hebräischen und griechischen Gestalt. Ihm sei dieser Kommentar in Dankbarkeit gewidmet.
Jerusalem / Rechan, im Juli 2015 Martin Vahrenhorst
Die Annahme, dass der 1. Petrusbrief von dem galiläischen Fischer Simon mit dem aramäischen Spitznamen Kepha1 verfasst wurde, der sich um das Jahr 30 herum an den Ufern des See Gennesaret in die Nachfolge Jesu hatte rufen lassen (vgl. Mk 1,16ff), ist auf dem Hintergrund des weit verbreiteten Phänomens der Pseudepigraphie in der Antike im Allgemeinen und im biblisch-jüdischen Schrifttum im Besonderen zunächst recht unwahrscheinlich. Die Zahl der Schriften, die man in der Antike einer der großen Gestalten der älteren oder jüngeren Vergangenheit zuschrieb, übersteigt bei Weitem die der Texte, die unter dem Namen ihrer wirklichen Verfasser veröffentlicht wurden. Der König Salomo, Hiob, die Erzväter, Jakobs Söhne, Henoch, Mose, Esra, Baruch, ja sogar Adam und Eva – um nur einige zu nennen – wurden als fiktive Autoren von Texten bemüht, die um die Zeitenwende herum entstanden sind.
Im Neuen Testament setzt sich das Phänomen fort: Die frühen Gemeinden ließen Briefe im Namen des Paulus oder anderer Apostel kursieren,2 oder sie bemühten sich, Evangelien mit Gestalten der Jesusbewegung in Verbindung zu bringen, um sich der Verlässlichkeit des dort Erzählten zu vergewissern.3 Berücksichtigt man die weite Verbreitung der Pseudepigraphie, wird man weniger an der Frage interessiert sein, ob der Mensch, den die Tradition unter dem Namen Simon bar Jona (Mt 16,17) oder Simon bar Jochanan (Joh 1,42) kennt,4 den Rundbrief an die Gemeinden in Kleinasien tatsächlich verfasst hat, als vielmehr daran, welche Botschaft der unbekannte Verfasser des 1Petr mit dieser Zuschreibung wohl zu vermitteln suchte.
Die Mehrheit der Forschung geht seit dem 19. Jahrhundert5 davon aus, dass es sich beim 1. Petrusbrief um ein pseudepigraphes Schreiben handelt. Die wichtigsten Argumente, die in der Debatte um die petrinische Verfasserschaft des Briefs eine Rolle spielten und spielen, seien hier kurz vorgestellt. Besonderes Gewicht kommt dabei dem Sprachniveau des Griechischen zu,6 das einem Fischer aus Galiläa nicht so recht zuzutrauen sei.7 Ebenfalls gegen eine petrinische Verfasserschaft scheint die Gemeindesituation zu sprechen. Die vorausgesetzten Verfolgungserfahrungen passten – so wird vermutet – nicht in die Lebenszeit des Apostels, sondern eher in die letzten Jahrzehnte des 1. Jahrhunderts.8 Als drittes Argument werden etwaige Abhängigkeiten des 1Petr von anderen Textkorpora und Traditionen im NT ins Feld geführt, die ebenfalls für eine Datierung nach dem Tod des Apostels sprechen.9
In jüngster Zeit hat Karen H. Jobes die Frage nach der petrinischen Verfasserschaft positiv beantwortet. Auch sie ist sich selbstverständlich dessen bewusst, dass Pseudepigraphie ein weit verbreitetes und auch akzeptiertes Phänomen nicht nur in der jüdischen Antike war, stellt aber infrage, ob das für alle Textgattungen in gleichem Maße gegolten habe. Eine pseudepigraphe Weisheitsschrift, die sich mit der Aura des legendären Salomo umgibt, sei etwas anderes als ein Brief, der in eine aktuelle Situation hinein geschrieben wurde.10 Karen H. Jobes führt als Beispiel den 3. Korintherbrief ins Feld, dessen Autor nach der Entlarvung des Briefs als Fälschung seines Amtes enthoben worden sei.11
Demgegenüber steht aber die Beobachtung, dass dieser Brief in Teilen der östlichen Kirchen auch nach seiner Entlarvung als Fälschung noch für kanonisch gehalten wurde. So gesehen ist dieser Brief ein Beispiel dafür, dass pseudepigraphe Korrespondenz in der Kommunikation auch dann noch funktionierte, wenn der fiktive Charakter eines Schreibens längst bekannt war. Paul Achtemeier nennt weitere Beispiele für entlarvte Pseudepigraphie im frühen Christentum (Petrusevangelium und Paulusakten). In beiden Fällen sei, wie er bemerkt, weniger die Tatsache problematisch gewesen, dass die Verfasserangabe als Fälschung erkannt worden sei, vielmehr habe der Inhalt Anstoß erregt. „Writings whose content was above suspicion tended to be accepted, even when doubts about authorship existed“.12 Pseudepigraphie an sich ist in der Antike also kein Problem.
Wenn man den 1Petr in die Welt der pseudepigraphischen Literatur des antiken Judentums und des sich entwickelnden Christentums einordnet, stellt sich die Frage, welche Funktion die Zuschreibung des Briefs gerade an Petrus gehabt haben könnte. Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, ist es zunächst unerlässlich, die Konturen der Gestalt des Petrus, wie sie uns in den Schriften des Neuen Testaments entgegentritt, in Grundzügen nachzuzeichnen.
Petrus trägt einen griechischen Namen. Sein Vorname lautet nach dem übereinstimmenden Zeugnis der Quellen Simōn. Dieser Name mag sich zwar von dem des Jakobsohns šim’on ableiten (Gen 29,33), aber er wird nicht in der Umschrift wiedergegeben, die die LXX für diesen hebräischen Namen wählt, und die auch das NT als Namen kennt: Symeōn (Lk 2,25; 3,30; Apg 13,1 u.ö.). In der im NT gebräuchlichen Form ist der Namen Simon hingegen auch in der paganen Gräzität belegt (Diogenes Laertios 2,124; Plut. mor. 776 B).13
Über die Familienverhältnisse des exemplarischen Jüngers sind wir recht gut unterrichtet. Er hat einen Bruder, dem ebenfalls ein griechischer Name gegeben wurde: Andreas. Daraus könnte man zumindest folgern, dass Petri Herkunftsfamilie wenig Berührungsängste im Blick auf die hellenistische Welt und ihre Sprache gehabt haben dürfte.
Im Blick auf die petrinischen Reden in der Apostelgeschichte und das korrekte Griechisch des 1Petr wäre damit zumindest nicht ausgeschlossen, dass ein Fischer vom Nordufer des See Genezareth der damaligen Weltsprache mächtig gewesen sein könnte. In den letzten Jahren ist überhaupt mehr und mehr in den Blick getreten, dass das Land am See14 keinesfalls ein von der Umwelt und ihrer Kultur abgeschotteter Bereich war. Große hellenistisch-römische Städte wie Hippos oder Gadara lagen oberhalb des Sees, und unmittelbar in der Nachbarschaft der Orte, an denen wir Petrus begegnen, verlief ein Arm der via maris, der bedeutenden Handelsstraße, die Ägypten mit Damaskus und dem Zweistromland verband. Magdala, das auch einen griechischen Namen hatte (Tarichaea: von taricheuō [durch Einsalzen haltbar machen]), hat es durch den Export von eingesalzenen Fischen nachweislich sogar zu einem gewissen Reichtum gebracht.15 Das romantische Bild, das Galiläa von „harmlosen Ignoranten und holden Ignorantinnen“16 bevölkert sah, entspricht kaum der Wirklichkeit im 1. Jahrhundert.17
Sowohl aus der synoptischen Tradition (Mk 1,30), als auch aus 1Kor 9,5 wissen wir, dass Petrus verheiratet war18 und gemeinsam mit seinem Bruder ein Haus in Kafarnaum besaß.
Joh 1,44 lässt die beiden aus Betsaida stammen. Nach dem Zeugnis des Josephus erfreute sich dieser Ort der besonderen Gunst des Tetrachen Philippus (gest. 34 n. Chr.), was sich nicht zuletzt daran ablesen lässt, dass er sich dort hat bestatten lassen (Ant 18,108).19 Josephus berichtet im Kontext der Darstellung des Herrschaftsantritts der Herodesnachfolger Herodes Antipas und Philippus im Jahr 4 v. Chr. vom Ausbau und der Umbenennung Betsaidas in Julias (Ant 18,28):
„Philippus seinerseits baute die an den Quellen des Jordan gelegene Stadt Paneas aus und gab ihr den Namen Caesarea (Philippi), erhob dann den Flecken Bethsaida, der am See Gennesar lag, zum Range einer Stadt, verschaffte derselben Einwohner und Hilfsquellen und nannte sie nach des Caesars Tochter ebenfalls Julias.“ (Übersetzung Clementz)
Aus der Darstellung des Josephus ergibt sich leider keine sichere Datierung. Die Tatsache, dass Josephus im Zusammenhang des Herrschaftsantritts der Tetrachten von Namensänderungen in den nördlichen Landesteilen berichtet, bedeutet noch nicht zwingend, dass er sie auch in diese Jahre datiert. Diskutiert wird ferner darüber, ob die Identifizierung der Namenspatronin mit der Augustustochter Julia zutreffend ist, denn diese ist schon im Jahr 2 v. Chr. wegen Ehebruchs in Ungnade gefallen. Das ist natürlich kein Argument, das zwingend dagegen spricht, dass Philippus ein Jahr vor diesen Ereignissen Bethsaida zu ihren Ehren umbenannt haben könnte. Die Umbenennung könnte aber auch einer anderen Julia zu Ehren erfolgt sein, nämlich der Frau des Augustus, die ebenfalls Julia hieß. Diese war 14 n. Chr. verstorben und wurde bald darauf vergöttlicht und kultisch verehrt.20 Auffällig ist jedoch, dass Philippus erst um das Jahr 29 herum beginnt, zu ihren Ehren Münzen zu prägen. Letzteres spräche dafür, dass die von Josephus geschilderten Maßnahmen erst um das Jahr 30 n. Chr. herum stattgefunden hätten, vier Jahre vor dem Tod des Philippus.21 Über den Charakter der Stadt bzw. des Dorfes Betsaida zu der Zeit, in der Petrus dort aufwuchs, würde der Bericht des Josephus dann zunächst wenig aussagen.
Näheren Aufschluss darüber könnte die Auswertung der archäologischen Befunde bieten: Zwei Fundstätten am Nordostufer des See Gennesaret kommen für eine Identifikation mit dem antiken Betsaida-Julias infrage. Am bekanntesten ist Et-Tell, das besonders wegen seiner bedeutenden eisenzeitlichen Funde berühmt ist. Aus römischer Zeit haben sich relativ wenig Gebäudestrukturen erhalten, von denen einige dem klassisch römischen Muster eines Hofhauses entsprechen. Auffällig ist das Fehlen von öffentlichen Gebäuden, die man nach der Schilderung des Josephus an diesem Ort erwarten könnte.22 Eine Ausnahme stellen möglicherweise die Strukturen dar, die als Fundamente eines römischen Tempels beschrieben werden könnten.23
Die Kleinfunde (Gewichte, Haken für den Fischfang, Nadeln zum Reparieren von Segeln, Basaltanker) weisen auf das Vorhandensein einer Fischereiindustrie an diesem Ort hin.24 Auch Spuren von Textil- und Gerbereigewerbe haben sich erhalten. Im Blick auf die Bevölkerung dieses Ortes stellt Markus Bockmuehl fest: „Indeed there is to date no evidence of a Jewish presence anywhere on this site: no synagogue, no miqva’ot (ritual baths), no Jewish writings inscriptions or graphic arts. And aside from a small handful of Jewish coins the only epigraphic evidence is in Greek“.25
Ein zweiter Ort unweit von Et-Tell ist ebenfalls in der Diskussion: El-Araj. Er ist bis heute weit weniger erforscht und die Ergebnisse unterschiedlicher Surveys sind überraschend disparat.26 Möglich wäre, dass beide Orte sich zueinander wie Ober- und Unterstadt verhalten haben könnten – und so gemeinsam Betsaida bildeten.27
Wenn man versucht, die spärlichen Befunde im Blick auf die Gestalt des Petrus auszuwerten, so kann man wohl zumindest folgendes festhalten: Petrus lebte in seiner Jugend im Kontext von Et-Tell, d. h. in einem Umfeld, in dem es wohl keine öffentlichen hellenistisch-römische Bauten aber auch keine deutlich sichtbare jüdische Präsenz gab. Das verhält sich an anderen Orten um den See Genezareth herum deutlich anders (Gamla, Magdala, Kapernaum). „If there were any Jews at et-Tell, then unlike in other parts of the Gaulanitis they appear to have left no signs of a way of life that distinguished them from their Gentile neighbours“.28
Die im NT überlieferten Namen der drei Schüler Jesu aus Betsaida, Simon, Andreas und Philippus sind allesamt griechisch,29 was es zumindest möglich erscheinen lässt, „that Peter grew up fully bilingual in a Jewish minority setting. That his family and their friends were at ease with their Greek-speaking environment and its Herodian tetrarch seems reflected in the names they gave to their children“.30
Sobald Petrus Aramäisch gesprochen hat, war er jedenfalls als Galiläer zu erkennen (Mk 14,70; Mt 26,23), über deren besondere Aussprache wir aus anderen Quellen unterrichtet sind.31 Spätestens nach seiner Hochzeit scheint Petrus ins benachbarte – und deutlicher jüdisch geprägte – Kafarnaum umgezogen zu sein (vgl. Mk 1,29ff).32
Ähnlich wie bei der Gestalt Jesu können wir nicht davon ausgehen, dass die Evangelien abgesehen von biographischen Basisinformationen den „historischen Petrus“ so spiegeln, „wie er wirklich gewesen ist“. Sowohl bei Markus als auch bei Matthäus und Lukas steht er in je eigener Weise als exemplarischer Jünger im Dienst der Theologie der jeweiligen Evangelisten. „Das schon bei Mk angelegte Profil der Führungs- und Repräsentantenrolle bleibt auch bei Mt, Lk und Joh mit jeweils neuer Akzentuierung erhalten“.33 Dennoch wird man annehmen können, dass Petrus schon im Jüngerkreis des irdischen Jesus eine herausragende Rolle eingenommen hat, sonst wäre es schwer zu erklären, warum wir ihn – trotz seines eklatanten Versagens im Kontext der Passion Jesu (Mk 14,72 parr.) – nach der Erfahrung der Auferweckung Jesu (1Kor 15,5) in so prominenter Rolle in der Jerusalemer Gemeinde antreffen.34 „Nach Tod und Auferstehung Jesu ist er der Mann der ersten Stunde, der mit Charisma und Autorität die vorösterliche Jesusbewegung reorganisiert, unermüdlich und furchtlos das Evangelium verkündigt und damit maßgeblich für den missionarischen Erfolg unter den Jerusalemer Juden verantwortlich ist“.35
Paulus bezeichnet ihn als eine der „Säulen“ der dortigen Gemeinde (Gal 2,9), aber schon bald treffen wir ihn auch außerhalb des Landes Israel, zunächst in Antiochia, und wohl auch im paulinischen Gemeindekreis.36
Paulus berichtet in Gal 2,7 von einer „Arbeitsteilung“ zwischen ihm selbst und Petrus. Während er sich mit dem Evangelium für Menschen aus der Völkerwelt betraut weiß, sieht er Petrus zu den Juden gesandt. Dass diese Trennung in ihrer Klarheit nicht durchgehalten worden ist, zeigt die Korintherkorrespondenz. Die Gemeinde in Korinth kannte Petrus offenbar persönlich und wusste, dass er mit seiner Frau gemeinsam auf Reisen ist (1Kor 9,5). Es gab sogar eine Gruppe in dieser Gemeinde, die sich in besonderer Weise auf Petrus/Kephas berief (1Kor 1,12).37 Der Verfasser der Apostelgeschichte stellt Petrus zudem schon vor Beginn der paulinischen Missionstätigkeit als jemanden dar, dem die Legitimität der Hinwendung zu den Völkern aufgegangen sei38 und der sie in der Begegnung mit dem Hauptmann Kornelius in Caesarea auch aktiv vollzogen habe (Apg 10).39 Das mag – wie die Übernahme paulinischer Ansichten im Apostelkonvent (Apg 15,7ff) – Teil der lukanischen Theologie sein, die bekanntlich die Einigkeit unter den Aposteln herauszustellen versucht. Ob es darüber hinaus etwas von der tatsächlichen Situation spiegelt, ist umstritten. Dass sich jemand im Namen des Petrus an eine Leserschaft wendet, die aus Menschen nichtjüdischer Herkunft besteht, die sich dem Zeugnis des Briefs nach (zu einem Teil erst unlängst) zur Gemeinde geschlagen haben, ist im Licht dieser Informationen jedenfalls nicht unplausibel.
Über das Lebensende des Petrus liefert das Neue Testament keine direkten Informationen. Joh 21,18f spielt wohl auf den gewaltsamen Tod des Petrus an. Der Hauptstrom der Forschung geht mit der Tradition davon aus, dass Petrus seine letzten Lebensjahre in Rom verbracht hat.40 Ob die in der Regel in Anschlag gebrachten Quellen (vor allem 1Clem 5,4; IgnRöm 4,3) das jedoch tatsächlich hergeben, ist in jüngster Zeit erneut41 mit guten Gründen bezweifelt worden.42 Wir werden darauf bei der Besprechung des Abfassungsortes des 1Petr zurückkommen.43
Werten wir die bisher besprochenen Informationen im Blick auf die Verfasserfrage des 1Petr aus, so kann man sagen, dass die Zuschreibung des Briefes an Petrus kein unplausibles Konstrukt ist: Petrus stand in Kontakt mit Gemeinden, die sich aus Jesusanhängern heidnischer Herkunft zusammensetzen, und an solche ist der Brief aller Wahrscheinlichkeit nach gerichtet, wie im folgenden Abschnitt zu zeigen sein wird. Seine Herkunft aus Galiläa spricht keineswegs gegen die Annahme, dass er sich im Griechischen gut auszudrücken vermochte. Es ist durchaus möglich, dass er zweisprachig aufgewachsen ist. Zudem hätte er nach seiner Übersiedlung nach Jerusalem und später nach Antiochia genug Gelegenheit gehabt, seine Sprachkenntnisse zu vervollkommnen. Im Blick auf die petrinische Verfasserschaft des Briefes lässt sich also sagen: Si non è vero è ben trovato.44
Damit ist aber noch nichts darüber ausgesagt, welchen Zweck diese Zuschreibung erfüllt haben könnte. Wie schon angedeutet, verfolgt Lukas in der Apostelgeschichte die Tendenz, die Einheit und Einigkeit der beiden großen Apostel herauszustreichen. Diese Tendenz setzt sich in der Alten Kirche fort. Frühe Indizien dafür sind die Quellen, die bei der Diskussion um den Abfassungsort des Briefes eine Rolle spielen. Diese stellen die beiden Apostel nebeneinander bzw. lassen sie sogar gemeinsam auftreten (Dionysios von Korinth [dort Bischof um 170]).45 Spätere Traditionen von der auch ikonographisch belegten „concordia Apostolorum“ verfestigen dieses Bild.46
Die Schlussverse 1Petr 5,12f nennen neben dem Verfasser zwei Gestalten, die – wenn es sich nicht um ansonsten unbekannte Träger dieser Namen handeln sollte – vor allem als Mitarbeiter des Paulus bekannt gewesen sind.47 Mit der Wahl dieser Namen würde signalisiert, dass zwischen Paulus und Petrus eine grundsätzliche Einigkeit besteht (der 2Petr wird sich später sogar zum Sachwalter der paulinischen Überlieferung machen [3,15]). Die Zuschreibung dieses Briefs an Petrus könnte somit die Absicht verfolgen, den paulinischen Briefen einen petrinischen an die Seite zu stellen. Damit trägt die Verfasserangabe mit dazu bei, „das Bild einer harmonischen Zusammenarbeit zwischen den Jerusalemer Aposteln und Paulus zu zeichnen“.48
Der 1Petr wendet sich an eine Leserschaft, die in einem Gebiet lebte, dessen Umfang sich nicht ganz eindeutig bestimmen lässt. Das hat verschiedene Gründe: Zum einen ist nicht klar, ob der Verfasser bei den Ortsangaben in 1Petr 1,1 an römische Provinzen oder Landschaften denkt.49 Die Erwähnung Asiens in der Reihe lässt ersteres wahrscheinlich erscheinen, denn Asien bezeichnete im ersten Jahrhundert entweder die römische Provinz im Westen Kleinasiens oder den gesamten „Kontinent neben Europa“.50 Sollte der Verfasser diesen vor Augen gehabt haben, wäre nicht zu verstehen, warum er dann noch Pontus, Bityhinien, Galatien und Kappadozien erwähnt. Diese Bezeichnungen stimmen ihrerseits jedoch nicht mit den Provinznamen im ersten Jahrhundert überein, da Pontus et Bithynia gemeinsam ebenso eine Provinz darstellt wie Galatia et Cappadocia. Es handelt sich allenfalls um Teilprovinzen.
Zum anderen gehören die genannten Gebiete zu einer Region, die im ersten Jahrhundert mehrfach neu geordnet wurde, was nicht zuletzt an der strategischen Bedeutung Kleinasiens als Grenzraum zum Partherreich lag. Damit verschoben sich auch die geographischen Grenzen und Bezeichnungen.51
Es ist zum dritten fraglich, ob sich die Bewohner der angeschriebenen Regionen mit den römischen Provinznamen identifizierten oder ob der Verfasser dies tat. Man kann damit rechnen, dass sich die Bevölkerung dieser Gebiete weniger an den provinzialen als vielmehr an den städtischen Strukturen dieser Gebiete orientierte.52 Diese Städte hatten sich zum Teil schon in vorrömischer Zeit zu sogenannten koina zusammengetan, deren Grenzen nicht unbedingt mit denen der römischen Provinzen identisch waren.53 „Dass PsPetr Pontus an den Beginn seiner Liste setzt und von Bithynia trennt, könnte also dadurch bedingt sein, dass er um die Mehrdeutigkeit dieses Begriffs weiß …“.54
Die Reihenfolge der genannten Regionen gibt ebenfalls Rätsel auf. Sie lässt sich kaum als Reiseroute des Überbringers des Briefes auswerten. Sie entspricht wohl eher der „mental map of Asia minor“ des Verfassers.55 Diese hat das Gesamtgebiet möglicherweise vom Schwarzen Meer aus im Blick, denn die Aufzählung beginnt im äußersten Nordosten und endet im Nordwesten.56
Deutlich ist in jedem Fall, dass in 1,1 die „kleinasiatische Landmasse nördlich des Taurus“57 beschrieben wird.58 Genauere Angaben bleiben nicht zuletzt wegen der ungesicherten Datierung des 1Petr spekulativ.
Auffällig ist bei den genannten Regionen, dass der Süden Kleinasiens, der nach der Darstellung der Apostelgeschichte zum Kernland des paulinischen Missionsgebietes gehörte, ausgespart bleibt.59 Was Asien anbelangt, so hat Paulus nach Apg 19f dort vor allem in Ephesus gewirkt und die nördlichen Regionen der Provinz auf der Durchreise besucht.60 Galatien, in Zentralkleinasien61 gelegen, ist ein überaus großes Gebiet, so dass man auch im Blick auf Asien und Galatien erwägen kann, dass der Verfasser des 1Petr den Eindruck erweckt bzw. erwecken möchte, dass er sich zumindest nicht primär an Gemeinden im paulinischen Missionsgebiet wendet.62
In jedem Fall ist der angesprochene Adressatenkreis „ungenau und fast utopisch groß“.63 Das lässt Rückschlüsse auf den Charakter des Briefes zu. Er reagiert nicht auf konkrete Vorkommnisse in einer konkreten Gemeinde, so wie es die meisten Paulusbriefe tun, sondern stellt so etwas wie ein „von einer Autoritätsperson verfasstes Rundschreiben ‚zur Lage‘“64 dar.65 Er spricht in eine Situation hinein, die die „Geschwisterschaft in der (gesamten) Welt“ (vgl. 5,9) betrifft, oder betreffen könnte (vgl. 1,6 und die Optative in 3,14 und 17).66 Das rechtfertigt die Einordnung dieses Briefs unter die „katholischen“ Briefe.
Die Lebensumstände, in die hinein der 1Petr spricht, können weitestgehend nur aus dem Brief selbst erschlossen werden.67 Bei der Auswertung der Passagen im Brief, die transparent auf konkrete Erfahrungen der Adressatinnen und Adressaten sein könnten, fällt auf, dass theologisch gefüllte Beschreibungen neben solchen zu stehen kommen, die etwas konkretere Rückschlüsse auf die Erfahrungen erlauben, die der Verfasser bzw. seine Adressatinnen und Adressaten vor Augen gehabt haben könnten. Erstere stellen die konkreten Erfahrungen in bestimmte Deutungsrahmen, die zum Teil dem anderer frühgemeindlicher (und frühjüdischer) Schriften entsprechen, zum Teil aber auch allein dem 1Petr eigen sind. Letztere spiegeln die Erfahrung, ohne sie näher zu deuten. Dabei muss angemerkt werden, dass die Grenze zwischen gespiegelter und gedeuteter Erfahrung schillernd ist, und jedem Versuch, aus den Texten auf die Situation der Adressatinnen und Adressaten oder des Verfassers zu schließen, letztlich etwas Hypothetisches anhaftet.
Welche Erfahrungen spiegeln sich im 1Petr? Vorrangig handelt es sich dabei um Erfahrungen verbaler Gewalt68, über deren gesellschaftliche Kontexte und Konsequenzen nachzudenken sein wird. Der 1Petr hat vor Augen, dass Gemeindeglieder wegen ihres Lebenswandels „als Übeltäter verleumdet“ werden (2,12). So stellt es sich auch nach 1Petr 3,16 dar: Die Lebensführung der Glaubenden wird verbal diskreditiert (katalaleō, epēreazō). Schließlich werden sie wegen ihrer Zugehörigkeit zum Gesalbten geschmäht (oneidizō [4,14]). Fragen wir zunächst danach, welche Bedeutungen und Assoziationen sich mit den genannten Begriffen verbinden:
Das Verb katalaleō bzw. das dazugehörige Nomen katalalia begegnet im NT insgesamt in sechs Versen. In Röm 1,30; 2Kor 12,20 und 1Petr 2,1 sind sie Teil von sog. Lasterkatalogen. Jak 4,11 warnt eindringlich davor, dass Gemeindeglieder übereinander auf diese Weise reden. Allein in 1Petr 2,12 und 3,16 steht es für Erfahrungen, die Glaubende in ihrem Umfeld machen.
In der LXX begegnet das Lemma an vierzehn Stellen. Meist entspricht es dem hebr. dibber mit der folgenden Präposition be, was „gegen jemanden reden“ bedeutet (zum Beispiel Israels Kritik an Mose bzw. Gott in den Murrgeschichten [Num 12,8; 21,5.7; Ps 78,19]). Das kann in direkter Rede erfolgen, aber auch in Gestalt übler Nachrede (Ps 101,569; 119,23). Im außerbiblischen Griechisch decken Verb und Nomen das gleiche Bedeutungsspektrum ab. Der 1Petr könnte also zwei Vorgänge vor Augen haben, die einander keinesfalls ausschließen: Die Gemeindeglieder werden wegen ihres Lebenswandels direkt kritisiert – oder sie werden indirekt als Übeltäter verleumdet.
Das Verb epēreazō findet außer in 1Petr 3,16 nur noch in Lk 6,28 Verwendung. Die LXX kennt es nicht. In der paganen Gräzität bedeutet es „drohen, bedrohen, zu beeinträchtigen suchen, verleumden; misshandeln“.70 In 1Petr 3,16 ist als Objekt der Handlung die anastrophē, also der Lebenswandel der Glaubenden im Blick, demnach kommen als Übersetzungen „zu beeinträchtigen suchen“ und „verleumden“ infrage. Letzteres empfiehlt sich wegen des parallel stehenden katalaleō.
Das dritte Verb, oneidizō, ist im NT vor allem in der synoptischen Tradition beheimatet: Jesus schmäht die Städte, in denen seine Botschaft nicht aufgenommen wurde (Mt 11,20). Die Schächer am Kreuz schmähen Jesus (Mk 15,32 par.). Die Adressaten der Seligpreisungen erfahren das gleiche Schicksal (Mt 5,11; Lk 6,22). In der LXX übersetzt oneidizō fast ausschließlich ḥaraf (verhöhnen, schmähen71), das z.B. dazu dient, die Schmähreden Goliaths gegen Gott und sein Volk (1Sam 17,10.36.45) oder auch die Sanheribs vor den Toren Jerusalem (2Kön 19,16) zu schildern. „Schmähen, schelten, Vorwürfe machen“ sind die Bedeutungen im profanen Griechisch.72
Überblickt man das Bedeutungsspektrum der besprochenen Verben, so werden damit direkte oder indirekte Erfahrungen verbaler Gewalt zur Sprache gebracht. Dabei ist nicht immer genau zu unterscheiden, ob die Jesusanhänger im direkten Kontakt Schmähungen wegen ihrer Lebensführung zu erdulden haben oder ob ihnen gleichsam hinter vorgehaltener Hand allerlei Dinge nachgesagt werden.
In keinem Fall ergeben sich aus den besprochenen Verben direkte Hinweise auf handgreifliche bzw. juristische Konsequenzen73, die diese Sprachhandlungen gehabt haben könnten. Solche ließen sich allenfalls aus 1Petr 3,15 erschließen. Dort werden die Adressaten dazu aufgefordert, gegenüber jedem, der von ihnen „Rechenschaft fordert“, „jederzeit zur Verteidigung bereit zu sein“. Das NT kennt die apologia in der Tat als Verteidigungsrede vor Gericht (Apg 25,16; 2Tim 4,16; möglicherweise auch Phil 1,7.16). Doch auch in Situationen außerhalb eines formellen Gerichtsverfahrens findet das Wort Verwendung – und meint jede Art von Rechenschaft, die jemand einem anderen gegenüber ablegt (z.B. Apg 22,1; 1Kor 9,3).
Die Wendung „Rechenschaft fordern“ (logon aitein) ist ebenfalls nicht eindeutig juristisch besetzt. Gegen eine solche Verengung spricht vor allem der unmittelbare Kontext der genannten Wendungen, denn in ihm wird ausdrücklich dazu aufgefordert „einem jedem, der danach fragt“, Rechenschaft zu geben. 1Petr 3,15 hat also wohl eher keine Gerichtssituation vor Augen. Die geforderte Rechenschaft kann und soll gegenüber jedermann und darum überall geleistet werden. Auf verbale Aggression gegen ihren Lebenswandel sollen die Adressaten ihrerseits mit Worten reagieren, die über das Auskunft geben, was sie für die Zukunft erwarten, und was ihr Verhalten in der Gegenwart prägt.
Eine weitere Spur, die auf Maßnahmen schließen ließe, die über verbale Attacken hinausgingen, könnte sich aus der Tatsache ergeben, dass die Glaubenden von ihrer Umwelt als „Täter des Bösen“ wahrgenommen (2,12) werden. Außer im genannten Vers begegnet das Wort noch an drei weiteren Stellen (2,14; 3,17; 4,15 [jenseits des 1Petr findet es sich nur noch in Mk 3,4 par und 3Joh 11]). Nach 1Petr 2,14 besteht die Aufgabe der staatlichen Autoritäten darin, den Täter des Bösen zu bestrafen. In 4,15 steht der Täter des Bösen unter anderem neben dem Mörder und dem Dieb.
Im Licht der beiden zuletzt genannten Verse wäre es zumindest denkbar, dass das von der Mehrheitsgesellschaft als deviant wahrgenommene Verhalten der Gemeindeglieder sie durchaus in Konflikt mit den Strafverfolgungsbehörden gebracht haben könnte.74 Das, was dem Mörder, dem Dieb und dem Übeltäter widerfährt, bezeichnet der 1Petr nun allgemein als „Leiden“ (3,17). Dieses Wort begegnet überproportional häufig im 1Petr und darf sicherlich als eines der Leitworte des Briefs gelten. Es leitet über zu den Texten, die den Erfahrungen, auf die der 1Petr zu reagieren scheint, eine theologische Deutung geben. Diese besteht darin, dass sie die unter dem Stichwort „Leiden“ zusammengefassten Erfahrungen der Angehörigen der Gemeinden mit dem Leiden Jesu parallel setzt, und ihr Leiden als Ausdruck der Nachfolge des Gesalbten und als Gnadenerfahrung (2,20) interpretiert (4 von 12 Belegen für paschō sprechen vom Leiden des Gesalbten).
Allein das häufige Vorkommen des Wortes Leiden darf darum nicht als Indiz dafür gewertet werden, dass der Brief in eine Situation hineinspricht, in der sich die „Leidenssituation […] am Ende des 1. Jahrhunderts unter Domitian zugespitzt“ habe.75 Damit würde die Unterscheidung von Situation und Deutung verwischt, genauer gesagt: Deutung und Situation würden miteinander gleichgesetzt. Statt dessen ist zu fragen, welche Erfahrungen, die als Leid gedeutet werden, denn konkret angesprochen werden.
Der 1Petr kann zwischen gerechtfertigtem und ungerechtfertigtem Leiden (2,19) unterscheiden. Gerechtfertigt – und darum keiner theologischen Deutung wert – ist Leid, wenn es Übeltäter (kakopoiōn) zu erdulden haben (2,20; 3,17; 4,15). Mit dem Leiden der Anhänger des Gesalbten verhält es sich anders: Sie leiden – zumindest aus der Sicht des Verfassers – ungerechtfertigterweise (2,19), als Täter des Guten (2,20; 3,17), dem Willen Gottes entsprechend (4,19), um der Gerechtigkeit willen (3,14) – als „Christianer“ (4,16).
Soll und darf man nun aus der Tatsache, dass der 1Petr für die oben angesprochene gerechte Bestrafung der Täter des Bösen das gleiche Wort wählt wie für das Leiden der Glaubenden, folgern, dass beide das gleiche Schicksal, nämlich Strafverfolgung durch staatliche Behörden, erleiden? Diese werden überhaupt nur in 1Petr 2,13-17 erwähnt, allerdings ohne dass ihnen dort nachgesagt würde, sie führten Strafmaßnahmen gegen Glieder der Gemeinden durch. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein.76 Als diejenigen, die den Glaubenden das Leben – wie auch immer – schwer machen, erscheinen vielmehr ganz allgemein „die Völker“ (2,12; 4,3ff) oder eine nicht näher qualifizierte Gruppe in der dritten Person Plural (3,14.16), nicht aber die römischen Behörden.77
Sollten bei dem, was der 1Petr vor Augen hat, staatliche Autoritäten überhaupt eine Rolle gespielt haben, so kann man das aus den Angaben des Briefes allenfalls indirekt erschließen. Es wäre ja immerhin vorstellbar, dass die Strafverfolgungsbehörden tätig geworden sind, wenn die Anhängerschaft des Gesalbten von ihren Nachbarn als Täter des Bösen denunziert wurden. Die Details der Pliniuskorrespondenz könnten so etwas nahelegen (epist. 10,96 und 97).78 Die Darstellung in 1Petr 2,13-17 erwähnt solche Maßnahmen jedoch mit keinem Wort. Das mahnt zur Vorsicht bei Versuchen, die einschlägigen Verse im Licht dessen auszulegen, was Plinius schreibt.79
Ein weiterer Text, der vor allem in der älteren Forschung im Blick auf die Erfahrungen der Gemeinden, an die sich der 1Petr wendet, ausgewertet wurde, ist 1Petr 4,12: „lasst euch nicht befremden wegen des Brennes gegen euch“, könnte das „Brennen“ (pyrōsis) doch eine Form der Verfolgung spiegeln, die über verbale Gewalt weit hinausgegangen wäre.80
Die Fortsetzung des Verses deutet dieses Brennen als etwas, „das euch zur Prüfung geschehen ist“. Von Prüfungen spricht schon 1Petr 1,6. Diese prägen die Gegenwart der Adressaten – und sie dienen dazu, die Qualität ihres Glaubens unter Beweis zu stellen (1,7). Als Vergleich dient dabei der Vorgang der Gewinnung von Gold, das durch Feuer von der Schlacke getrennt wird. Eben dies könnte auch 1Petr 4,12 im Blick haben. Es würde sich dann nicht um die Schilderung einer besonders heftigen Verfolgung handeln, sondern um ein „reframing“81, eine Deutung des Erfahrenen auf der Linie von 1Petr 1,6f: Den Negativerfahrungen, die die Glaubenden in ihrem Umfeld machen, wird ein neuer Deutungsrahmen gegeben: Sie dienen als Prüfung. In diese Richtung weist auch einer der beiden Belege des Nomens pyrōsis in der LXX: „Prüfung für Silber und für Gold (ist die) Feuerprobe, aber ein Mann wird geprüft durch den Mund derer, die ihn loben (Spr 27,21]). Die pyrōsis (von LXX.D ganz angemessen mit „Feuerprobe“ übersetzt) ist ein Mittel der Prüfung. Wenn man sagen kann, dass sich die Verwendung dieses Wortes in 1Petr 4,12 „an das alttestamentliche Bild von der Läuterung der Metalle“ anschließt, „das auf die Prüfung der Gläubigen durch gottgesandte Leiden übertragen wurde“82, dann bietet auch dieser Vers keine Indizien, die auf konkrete Verfolgungsmaßnahmen schließen lassen. Er eröffnet statt dessen eine weitere Facette der Deutungshorizonte, die 1Petr seinen Adressaten anbietet.
Ziehen wir ein Zwischenfazit: Keiner der in der Forschung als Hinweis auf mehr oder weniger organisierte handgreifliche Verfolgungsmaßnahmen erwogenen Verse vermag die Beweislast zu tragen, die ihm auferlegt wird. Was bleibt, sind Spiegelungen erfahrener verbaler Gewalt.83
Es ist deutlich, dass die Adressaten in den bisher besprochenen Versen als Opfer einer feindlich gesinnten Umwelt angesprochen werden. Im Brief haben sich aber auch Texte erhalten, die erkennen lassen, welchen aktiven Anteil die Glieder der Gemeinden an dem Bruch mit der Mehrheitsgesellschaft hatten.
Es sind insbesondere zwei Verse, die nähere Rückschlüsse auf die Hintergründe der angesprochenen Erfahrungen erlauben: Nach 1Petr 1,18 sehen sich die Glaubenden herausgenommen aus dem „von den Vätern überlieferten Lebenswandel“. Dieser gilt ihnen im Rückblick als nichtig. Man muss sich vor Augen halten, was ein Satz wie dieser in der antiken Welt bedeutet: Alles, was von den Vätern überliefert ist, hat sowohl in jüdischen als auch in paganen Kontexten in der Antike einen grundsätzlich positiven Klang. Insbesondere die „von den Vätern überlieferte Frömmigkeit (tēn patroparadoton eusebeian)“ gilt es zu bewahren (Diod. 4.8.5).84
Das im biblischen Griechisch nur vom 1Petr verwendete Wort patroparadotos erinnert an lateinische Begriffe wie mos patrius (Cic. rep. 5,1; Cic. Cato 37) oder mos traditus a patribus (Liv. 27,11,10). Beide entsprechen dem bekannteren mos maiorum, dem „Kernbegriff des römischen Traditionalismus“.85 Dabei handelt es sich um ein System von überkommenen Wertvorstellungen, die sich auf die rechtlich nicht genau geregelten Bereiche des Lebens – auch im Blick auf Staat und Religion – beziehen. Speziell in der Kaiserzeit sind diese in bestimmten stadtrömischen Kontexten beheimateten Konzepte verallgemeinert worden. Mit H. Roloff wird man als gemeinrömisches Gedankengut bezeichnen dürfen, „dass alle staatlichen, religiösen und privaten Einrichtungen von den maiores stammen. […] Damit verbindet sich bei ihnen stets das Bewusstsein, dass diese Einrichtungen der maiores gut und verehrungswürdig sind, und dass man an ihnen nichts ändern darf. Zugrunde liegt die Anschauung, dass die maiores unbedingte auctoritas besitzen: ihre Einrichtungen und Handlungen sind ‚quasirechtlich verpflichtend‘, d. h. ihre Anerkennung beruht zwar auf freiwilliger Unterordnung, ist aber praktisch unbedingt“.86 Wie Bernd Schröder gezeigt hat, „gewinnt der Begriff mos maiorum als Zivilisationswert so doch eine übernationale, universale Anerkennung sowie den Charakter eines Kulturen verbindenden Elements“87.
Der Verfasser des 1Petr legt der Leserschaft seines Briefes nun nahe, sie sollte sich als aus diesen gesellschaftlichen Bindungen befreit ansehen. Was ihre Nachbarn als verbindliches Normensystem verstehen, das das gesellschaftliche Miteinander in seiner Gesamtheit regelt, gilt ihr als nichtig. Aus der Perspektive der Umwelt kann eine solche Distanzierung im Denken und im Handeln – wie weit sie auch konkret gegangen sein mag – nur als gesellschaftsfeindliches Verhalten gewertet werden. Zur Verdeutlichung sei noch einmal Bernd Schröder zitiert: „Umgekehrt unterliegen Gruppen, die des Verstoßes gegen die ‚väterlichen Gesetze‘ bezichtigt werden, scharfen Angriffen. […] im Blick auf den Umgang mit fremden Kulturen legt der starke Antijudaismus bei Cicero und später Tacitus für die polemische Kehrseite der Treue zu den ‚väterlichen Gesetzen‘ beredt Zeugnis ab“.88 Der letzte Hinweis wird uns weiter unten noch beschäftigen.
Ein zweiter Text, 1Petr 4,4, schildert in seinem Kontext eine ähnliche Distanzierung: Er unterscheidet zwischen der Zeit vor der Lebenswende der Adressaten und der danach noch verbleibenden Lebenszeit. Erstere sieht der Brief als von den „Begierden der Menschen“ (4,2) und dem „Ratschluss der Völker“ (4,3) bestimmt. Ein traditionell anmutender Lasterkatalog führt aus, was das konkret bedeutet hat: „indem ihr euch gehen ließet in Ausschweifungen, Lüsten, Trunksucht, Schmausereien, Zechgelagen und unerlaubtem Götzendienst“ (4,3).
Die Zeit nach der Lebenswende ist nun dadurch gekennzeichnet, dass die Adressaten nicht mehr „mitlaufen“ – also an dem, was sie vorher mit ihren Nachbarn gemeinsam hatten, nicht mehr teilnehmen. Es ist fraglich, inwiefern man diesen Lasterkatalog seiner Polemik entkleiden und nach den konkreten Verhaltensweisen fragen kann, die er vor Augen hat. Nur soviel ist deutlich: Offenbar haben sich die Adressatinnen und Adressaten, bevor sie sich dem neuen Glauben zuwandten, im Blick auf Essen, Trinken, die Gestaltung der Sexualität und des Gottesdienstes nicht anders verhalten als ihre Zeitgenossen auch. Nun aber haben sie an diesen gesellschaftlichen Vollzügen keinen Anteil mehr, unterziehen diese vielmehr einer radikalen Umwertung, die sich in der Polemik von 1Petr 4,3 spiegelt.89 Dadurch haben sie sich selbst aus der Mitte der Gesellschaft verabschiedet und an deren Rand gestellt. Ihr neues Verhalten „befremdet“ (xenizō) die Mehrheit und macht die Glaubenden ihrerseits zu Fremden in dem Umfeld, zu dem sie einmal gehört haben.90 Aus ehemals Integrierten werden notorische Integrationsverweigerer.
1Petr 1,18 und 4,4 ergeben zusammengenommen ein stimmiges Bild: Die Menschen, die sich einer Gemeinde angeschlossen haben, die sich als Eigentum des einen Gottes begreift, erscheinen als solche, die sich von den Normen der Gesellschaft und den damit verbundenen Formen sozialer Interaktion bewusst distanziert haben. Was die pagane Mehrheitsgesellschaft als durch väterliche Sitte geadelt ansieht, gilt ihnen an Sünde (1Petr 4,1). An Kulten und Festen der Umwelt, die das soziale Miteinander einer Gesellschaft prägen und pflegen, partizipieren sie nicht mehr. Wir werden sehen, dass und wie der 1Petr diese Distanzierung theologisch deutet und mit welchen Mitteln er dazu aufruft, an ihr festzuhalten, trotz aller unangenehmen Erfahrungen, die daraus resultieren.
Diese bestehen zunächst wie dargestellt in verbalen Attacken.91 Ebenso wie der Verfasser des 1Petr den Lebenswandel derer schmäht, die nicht zur Gemeinschaft der Glaubenden gehören, werfen diese ihrerseits den Gemeindegliedern direkt schlechte Verhaltensweisen vor bzw. sagen sie ihnen – als „Täter des Bösen“ (2,12) – indirekt nach.92
Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass Menschen, die sich von den überkommenen Wertvorstellungen ihrer Umwelt abwenden und ihre Lebensführung an einem neuen Wertsystem orientieren, sich plötzlich außerhalb der Gesellschaft vorfinden, zu der sie einmal gehört haben. Eine historische Analogie findet sich unter anderem in den Beschreibungen des Schicksals der Proselyten bei Philon von Alexandrien und im Roman Joseph und Aseneth.
Exkurs: Fremdheitserfahrungen von Proselyten
In zwei seiner Schriften (SpecLeg 1,51-53; Virt 102-103) kommt Philon näher auf die gesellschaftlichen Konsequenzen des Übertritts zum Judentum zu sprechen. Dabei fällt auf, dass er in beiden Zusammenhängen den Übertritt zum Judentum in äußerst kontrastreicher Sprache beschreibt: Bei der Konversion handelt es sich um eine Lebenswende „von den mythischen Gebilden weg zur offenkundigen Wahrheit und zur Verehrung des einen und wirklich seienden Gottes“ (Virt 102).93 Die Proselyten hätten den Entschluss gefasst, „frommer Gesinnung sich zuzuwenden“ (SpecLeg 1,51). Weiterhin charakterisiert Philon sie als diejenigen, „die mythische Gebilde verschmähen und an lautere Wahrheit sich halten wollen“, und ferner als Menschen, die „den Wahn ihrer Väter und Vorväter verwerfen“ (SpecLeg 1,53).
Das Leben vor der Konversion sieht Philon demnach bestimmt durch „mythische Gebilde“ bzw. den „Wahn der Väter und Vorväter“. Umso positiver erscheint das, was ihr Leben in der Gegenwart prägt (Wahrheit, fromme Gesinnung, Verehrung des einen und wirklich seienden Gottes). Ein ähnliches Kontrastschema94 findet auch im 1Petr (1,18; 2,10; 4,2f) Verwendung.
Philon zeigt jenseits aller literarischer Konvention ein klares Gespür dafür, dass es sich bei der von ihm beschriebenen Lebenswende um einen Vorgang handelt, der massive soziale Konsequenzen hat. So schreibt er, die Proselyten hätten „ihre Blutsverwandtschaft, ihr Vaterland, ihre Sitten, ihre Heiligtümer, die Bildsäulen ihrer Götter und ihre Verehrung aufgegeben …“ (Virt 102). Sie hätten „Vaterland, Freunde, Verwandte um der Tugend und Frömmigkeit willen verlassen; so sollen ihnen dann eine andere Heimat, andere Verwandte, andere Freunde nicht versagt bleiben, Schutz und Zuflucht biete sich vielmehr denen, die ins Lager der Frömmigkeit übergehen“ (SpecLeg I,52).
Der Übertritt zum Judentum stellt in Philons Augen einen völligen Bruch mit dem Herkunftsumfeld dar. Alle sozialen Bande – seien es die der Familie, seien es die der Freundschaft – erscheinen als gekappt. Die Proselytinnen und Proselyten verlieren ihre Heimat und die Zugehörigkeit zu ihrem Vaterland. Dies geschieht nicht zuletzt deshalb, weil sie die Werte ihrer Tradition als „Wahn der Väter und Vorväter“ einzuschätzen gelernt und sich so außerhalb der Tradition ihres Herkunftsumfeldes gestellt haben. Darum bedürfen sie des besonderen Schutzes und der besonderen Fürsorge seitens der Gemeinschaft, der sie sich durch ihre Konversion angeschlossen haben.
Ähnliche Erfahrungen spiegeln sich im Roman Joseph und Aseneth. Im antiken Judentum gab es zwei Arten des Umgangs mit dem Vers Gen 41,45, der von der Eheschließung zwischen der ägyptischen Priestertochter Aseneth und dem Israeliten Joseph erzählt. Was der Tora offenbar keine Schwierigkeiten bereitet, ist im antiken Judentum als durchaus anstößig empfunden worden, nämlich die Verbindung zwischen einem Juden und einer Nichtjüdin. Der Midrasch löst das Problem dadurch, dass er Aseneth in Wahrheit von Dina – also einer jüdischen Mutter – abstammen lässt (so z.B. Targum Pseudo Jonathan zu Gen 41,48). Der Roman Joseph und Aseneth wählt einen anderen Weg und lässt die schöne Aseneth zum Judentum konvertieren. In mehreren Redegängen bedenkt Aseneth die Konsequenzen ihrer Hinwendung zum Gott Israels: „Was soll ich tun, ich (selbst) die Elende, oder wo(hin) soll ich weggehen, zu wem soll ich meine Zuflucht nehmen […] ich Jungfrau und Waise und einsame und zurückgelassene und gehasste? Alle nämlich haben Hass gefasst (auf) mich und (zusammen) mit diesen mein Vater und meine Mutter, denn auch ich (selbst) habe Hass gefasst auf ihre Götter […]. Und deswegen haben Hass gefasst (auf) mich mein Vater und meine Mutter und all meine Verwandtschaft und sprachen: ‚Nicht ist eine Tochter (von) uns Aseneth, denn unsere Götter verdarb sie.‘ Und alle Menschen hassen mich.“ (11,3-6*)95. Ein Kapitel später begegnet das gleiche Motiv: „… denn mein Vater und meine Mutter (ver)leugneten mich und sprachen: ‚Nicht ist (von) uns eine Tocher Aseneth‘, denn ich verdarb und zertrümmerte ihre Götter und habe Hass gefasst (auf) sie. Und ich bin jetzt Waise und einsam, und andere Hoffnung nicht ist mir, wenn nicht auf dich, Herr …“ (12,12f)96.
Im Erzählgang wurde vorher davon berichtet, wie Aseneth ihre Götzenbilder und ihren mit Götzenbildern versehenen Schmuck vernichtet hat. Vom Hass der Eltern auf ihre Tochter wird hingegen im weiteren Erzählverlauf keine Rede sein.97 Das spricht dafür, dass es sich bei Aseneths Worten nicht um eine literarische Fiktion handelt (denn als solche fehlte ihr in der Erzählung jeder Zusammenhang), sondern um Spiegelungen realer Erfahrungen von Menschen, die sich von ihren althergebrachten Kulten ab- und der Verehrung des Gottes Israels zugewandt haben: Der Übertritt zum Judentum zerbricht die Beziehungen zu den Eltern und zur Herkunftsfamilie. Er nimmt dem Proselyten bzw. der Proselytin die Eltern und lässt ihn oder sie gleichsam verwaist zurück. Die Abkehr vom gemeinsamen Kult (der Roman spricht vom „Hass“98) zieht die Abkehr des Herkunftsumfeldes vom Konvertiten nach sich.99
Den Bruch mit dem Herkunftsumfeld thematisiert auch ein nachneutestamentlicher Midrasch zu Ps 146,8f, der sich im Midrasch Numeri Rabba (8,2) erhalten hat. Er zeigt, dass die im ersten Jahrhundert aufschimmernden Erfahrungen auch in späteren Jahrhunderten gemacht wurden:
„(Das gleicht) einem König, der Kleinvieh hatte. Das ging aufs Feld und kehrte Abends heim. So (geschah es) jeden Tag. Einmal ging ein Hirsch mit dem Kleinvieh hinein, er ging zu den Ziegen und weidete mit ihnen. Als das Kleinvieh in den Stall ging, ging er mit hinein, wenn es zum Weiden ging, ging er mit hinaus.
Da sagte der König: Dieser Hirsch begleitet das Kleinvieh und weidet mit ihm, jeden Tag geht er mit ihm hinaus und kommt mit ihm zurück. Da gewann der König ihn lieb. […]
Da sprach (ein Knecht) zu ihm: Mein Herr wie viele Böcke hast du, wie viele Schafe und Widder, und du ermahnst uns wegen keinem von ihnen, allein wegen dieses Hirsches, an jedem Tag zeichnest du ihn aus?!
Da antwortete der König: Das Kleinvieh will oder will nicht, es ist daran gewöhnt jeden Tag auf dem Feld zu weiden und am Abend im Stall zu schlafen. Die Hirsche, sie schlafen in der Wüste und sind es nicht gewohnt, die Siedlungen der Menschen zu betreten. Sollten wir es diesem nicht zugute halten, dass er die große und weite Wüste verlassen hat […], und kam und sich in den Hof stellte?!
Sollten wir es darum nicht dem Proselyten zugute halten, dass er seine Familie und sein Vaterhaus verlassen hat, dazu seine Nation und die Völker der Welt, und zu uns gekommen ist?
Darum hat Gott besonderes Augenmerk auf ihn und hat Israel ermahnt, dass sie behutsam mit ihnen umgehen und ihnen keinen Schaden zufügen.“
Der Roman Joseph und Aseneth kontrastiert das (Glaubens)leben vor und nach der Hinwendung zum Gott Israels ähnlich wie auch Philon denkbar scharf. Beide Lebensphasen stehen einander gegenüber wie Finsternis und Licht, Trug und Wahrheit, Tod und Leben (8,10: „und nachdem er aus der Finsternis ins Licht gerufen hat und aus dem Trug zur Wahrheit und aus dem Tod zum Leben“). Der Gegensatz von Licht und Finsternis begegnet noch einmal in 15,13 („mich aus der Finsternis zu retten und ins Licht zu führen“).100 Auch hier wird alles das, was einmal wertvoll und sinnvoll war, einer radikalen Umwertung unterzogen.
Wie die Proselyten, von denen Philon und der Verfasser des Romans „Joseph und Aseneth“ schreiben, nun umgekehrt in ihrem heidnischen Herkunftsumfeld wahrgenommen wurden, mag man einer Satire Juvenals entnehmen: „Bald kürzen sie ihre Vorhaut. Sie sind unterwiesen, Roms Gesetze zu verachten (Romanas autem soliti contemnere leges). Statt ihrer studieren sie jüdisches Gesetz mit Hingabe, ihm zu gehorchen und es zu verehren; sie verehren alle Lehren Mosis, übermittelt in einem Geheimbuch. Dieses verbietet ihnen, all jenen, die ihre Riten nicht annehmen, den rechten Weg des Lebens zu zeigen, und erlaubt ihnen nur, die Beschnittenen zum Quell ihrer Weisheit zu führen, und keinen anderen. Schuld daran ist der Vater, der an jedem siebten Tag faul wird und an den Aufgaben und Pflichten des Lebens nicht teilnimmt (partem vitae non attigit ullam)“ (Satiren 14,98-106).101 Zwei Aspekte verdienen hier besondere Erwähnung: Juvenal vermerkt die Abkehr der Proselyten von den römischen Gesetzen und die Nichtanteilnahme am Leben der Umwelt.
Ähnlich äußert sich Tacitus. Für ihn sind die Proselyten „gerade die schlechtesten Elemente […], die ihren heimischen Glauben schmählich aufgaben“102 (Nam pessimus quisque spretis religionibus patriis [hist. 5.5.1]). Wieder ist die Abwendung von dem, was von den Vätern überliefert ist, Gegenstand der Kritik. Wenig später fährt Tacitus fort: „Wer zu ihrem Kult übertritt, hält sich auch an diesen Brauch103; auch wird den Proselyten zu allererst das Gebot beigebracht, die Götter zu verachten, das Vaterland zu verleugnen, ihre Eltern, Kinder und Geschwister gering zu achten“ (Transgressi in morem eorum idem usurpant, nec quicquam prius imbuuntur quam contemnere deos, exuere patriam, parentes liberos fratres vilia habere. [hist. 5.5.2]). Jüdische und römische Autoren sind sich bei allen Unterschieden in der Bewertung doch darin einig, dass der Übertritt zum Judentum nicht anders als ein Bruch mit den durch Abkunft von den Vätern qualifizierten Traditionen gewertet werden kann. Beide lassen auch erkennen, welche gesellschaftlichen Konsequenzen er hatte: Der Bruch mit den Werten und Verhaltensweisen des Herkunftsumfeldes machte den Menschen, der ihn vollzog, in seiner Heimat heimatlos, lässt ihn als Waisen zurück und macht ihn zum Objekt des Hasses.
Ähnlich wie die Proselyten nach Philon und dem Roman Joseph und Aseneth durch ihren Übertritt zum Judentum in ihrem Herkunftsumfeld zu Fremden wurden (und nach Juvenal und Tacitus auch als solche wahrgenommen wurden), scheint es auch den Adressatinnen und Adressaten des 1Petr durch ihre Hinwendung zur Gemeinschaft des Gesalbten ergangen zu sein.104 Beide haben mit den von den Ahnen überlieferten Werten gebrochen (vgl. SpecLeg 1,53 und 1Petr 1,18). Philon gelten diese als „Dummheit“ (typhos), Joseph und Aseneth als „Trug“ (planos), dem 1Petr als „nichtig“ (mataios). Ähnlich wie der Roman „Joseph und Aseneth“ (8,10; 15,13) beschreibt auch der 1Petr die Hinwendung zum neuen Kult als Weg von der Finsternis zum Licht (2,9). Sowohl die Proselyten als auch die Adressaten des 1Petr bezahlen den Preis, der mit diesem Bruch verbunden ist: Die Hinwendung zu einem Kult, der die Teilnahme an anderen Kulten ausschließt, schafft zwangsläufig eine Distanz, die sich auch auf die übrigen Lebensvollzüge ausweitet. Ganz allgemein hat eine solche Selbstdistanzierung in der Antike den Juden den Vorwurf der Misanthropie eingetragen (Diodor 34/35.1.1.5; Pompeius Trogus 36.2.1ff; Hekataios bei Diodor 40,3). In den ersten Jahrzehnten des 2. Jahrhunderts finden wir den gleichen Vorwurf im Blick auf die Anhänger des Gesalbten bei („odium humani generis“ [ann.15,44,4]). Wendet man sich dieser an sich schon verachtenswerten Lebensform – unter Aufgabe der als durch Tradition geadelten Werte – freiwillig zu, reagieren römische Autoren mit schärfster Polemik.105 Zwei Beispiele haben wir besprochen. Sie könnten etwas von dem spiegeln, was der 1Petr meint, wenn er von katalalia spricht.
Der angestellte Vergleich mit den Proselyten, wie Philon und der Roman Joseph und Aseneth sie schildern, wirft nun die Frage nach dem Hintergrund der Leserschaft des 1Petr auf. Der 1Petr nimmt wie kaum ein anderer Brief des Neuen Testaments auf Texte der jüdischen Bibel Bezug. Daraus hat man gefolgert, dass sich der 1Petr an ein Publikum wende, das in den Heiligen Schriften Israels ebenfalls ganz selbstverständlich zu Hause war. Nur ein solches sei überhaupt in der Lage gewesen, die vielen Zitate und Anspielungen des Briefes zu verstehen. Es müsse sich bei den Adressatinnen und Adressaten des Briefs also um jüdische Menschen handeln, die zum Glauben an den Gesalbten gekommen seien.106
Der Beobachtung, der Verfasser des 1Petr gehe souverän mit biblischen Texten um, ist sicherlich uneingeschränkt zuzustimmen. Untersucht man die Schriftrekurse des 1Petr jedoch näher, so fällt auf, dass sowohl ausgewiesene Schriftzitate in gleicher Weise wie implizite Schriftrekurse in ihrem Kontext auch für den verständlich sind, der nicht weiß, dass der Brief an diesen Stellen auf einen anderen Text Bezug nimmt.107 Die Kommunikation zwischen Sender und Empfänger kann also auch dann gelingen, wenn die Adressaten über keine tiefere Vertrautheit mit Israels Schriften verfügen.108
Abgesehen davon ist es methodisch schwierig, aus der Vertrautheit eines Verfassers mit bestimmten Traditionen auf eine solche auf Seiten seiner Leserschaft zu schließen. Nicht jede Kommunikation ist auf allen Ebenen erfolgreich und die Tatsache, dass ein Brief weiter überliefert wurde, bedeutet nicht zwingend, dass seine Adressaten ihn auch in seinen feinsten Nuancen verstanden haben.
Allein aus der Tatsache also, dass der 1Petr überproportional häufig auf die Schriften Israels rekurriert, kann man nicht folgern, dass es sich bei seiner Leserschaft um jüdische Menschen gehandelt haben muss, die zum Glauben an den Gesalbten gekommen wären.109
Während es im 1Petr also keine Indizien gibt, die auf eine Leserschaft mit jüdischem Hintergrund schließen lassen, gibt es solche, die recht eindeutig für Leserinnen und Leser sprechen die aus paganen Kontexten stammen.110 Es handelt sich um den schon besprochenen Vers 1Petr 4,3: „Es ist genug, dass ihr in der vergangenen Zeit den Ratschluss der Völker getan habt“. Der Vers entfaltet sodann, was er damit meint – und zu den in diesem Zusammenhang aufgezählten Lastern gehört auch der Götzendienst (eidōlolatria). Dass der 1Petr in dieser Weise vom Lebenswandel jüdischer Adressaten spräche, wäre im NT zumindest singulär. Gleiches gilt für die ebenfalls schon besprochenen Verse 1Petr 1,14 und 18. Auch der Rekurs auf Hos 1,9 und 2,12 in 1Petr 2,10 erklärt sich am besten, wenn er auf die Berufung von Menschen aus der Völkerwelt anspielt, die ursprünglich eben nicht zum Volk Gottes gehörten.111 Ihre Zugehörigkeit zur Gemeinde lässt sie nun ähnliche Erfahrungen machen, wie Philon und der Roman Joseph und Aseneth sie in ihrem Umfeld bei den Proselyten beobachten konnten.
Exkurs: Das Verhältnis des 1Petr zum nicht an Jesus glaubenden Judentum
Der 1. Petrusbrief stellt seine nichtjüdische Leserschaft in den Deutungshorizont der Schriften und Traditionen Israels. Das geschieht einerseits in ausgewiesenen Zitaten (vor allem 1Petr 2,9f) und Schriftrekursen. Andererseits werden Gestalten der biblischen Welt nicht allein zu Vorbildern sondern auch zu Vorfahren (so 1Petr 3,5f). Die Adressatinnen und Adressaten sind ebenso wie Abraham Fremdlinge und Beisassen (1Petr 2,11), wo auch immer sie sich aufhalten mögen, und leben in der Diaspora (1Petr 1,1) wie weite Teile des jüdischen Volkes in den Jahrhunderten um die Zeitenwende.
Der 1Petr wendet diese (und andere) biblisch-jüdischen Qualifizierungen auf seine Leserschaft an, ohne darüber zu reflektieren, dass es neben den Gemeinden, die ihr Gottesverhältnis durch den Auferweckten vermittelt sehen, noch andere Gemeinden gibt, die die gleichen biblischen Texte und Traditionen auf sich selbst beziehen, ohne Jesus in besonderer Beziehung zu Gott wahrzunehmen. Das unterscheidet diesen Brief grundlegend von den paulinischen Briefen, die sich zu diesem Thema bekanntlich mehr als einmal äußern.112
Auch zu der großen Frage, wie denn nichtjüdische Jesusanhänger in die Gemeinschaft derer zu integrieren seien, die sich vom Gott Israels durch Geburt berufen wissen, nimmt der 1Petr keinerlei Stellung – ja er verrät mit keinem Wort, dass er eine Debatte über die Notwendigkeit oder die Nichtnotwendigkeit der Beschneidung überhaupt kennt. Über die beiden anderen jüdischen Identitätsmerkmale Sabbat und Speisegebote äußert er sich ebenfalls nicht.113 Er zitiert zwar souverän aus der Tora – wie auch aus den anderen Teilen der Schriften Israels –, aber er beruft sich nicht auf sie in handlungsorientierenden Zusammenhängen.114 All das unterscheidet ihn nicht nur von Paulus, sondern auch von den Evangelien, die auf diese Fragen unterschiedliche Antworten gefunden haben. Das Schweigen zu den genannten Themen hat in der Forschung zu geradezu gegensätzlichen Interpretationen geführt. Vertreter einer Spätdatierung überrascht das „Israelschweigen“ des 1Petr nicht, sei das Thema „Israel“ gegen Ende des 1. Jahrhunderts doch längst nicht mehr relevant gewesen.115 Forscher, die sich für eine frühere Datierung des 1Petr offen halten, sehen darin ein Indiz dafür, dass die Begrifflichkeit, die Gemeinden, in denen vor allem Menschen aus der Völkerwelt versammelt waren, von jüdischen präzise unterscheiden konnte, noch gar nicht vorhanden gewesen sei. „Noch aber ist Ekklesiologie gar nicht anders fassbar denn in Gestalt von Israel-Aussagen“.116
Dieser Kommentar wertet die einschlägigen Aussagen über die bedrängenden Erfahrungen im Brief dahingehend aus, dass sie sich analog zu dem verhalten, was Menschen erlebten, die im 1. Jahrhundert zum Judentum konvertierten.117 Er steht darin den Hinweisen nahe, die Klaus Berger in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gegeben hat: „Der Verfasser des 1Petr ist Judenchrist, und er geht davon aus, dass das Schicksal der Heidenchristen dem von Proselyten entspricht. Das hat historisch gesehen einiges für sich. Obwohl die Christen nach 1Petr schon einen eigenen Namen haben, werden sie doch offensichtlich als eine Art Juden betrachtet, und der Verfasser des 1Petr lehrt sie, diese Identität zu bejahen.“118 Von daher nimmt es nicht Wunder, dass der Verfasser ganz unmittelbar Ehrenprädikate Israels auf seine Leserschaft anwendet.
Die neuere Diskussion um das Auseinandergehen der Wege von Judentum und Christentum hat gezeigt, wie differenziert diese Prozesse in zeitlicher und lokaler Hinsicht verlaufen sind. Vor diesem Hintergrund hat jüngst Gudrun Guttenberger den 1Petr interpretiert. Ihr zufolge könnten wir es beim 1Petr durchaus mit einem Schreiben zu tun haben, für das auch gegen Ende des 1. Jh. „Ekklesiologie gar nicht anders fassbar denn in Gestalt von Israel-Aussagen“ (Klaus Berger) war. Vor dem Hintergrund einer zunehmend differenzierten Wahrnehmung der Trennungsprozesse sind „Begriffe wie ‚frühes Christentum‘, ‚Heidenchristen‘ oder ‚Judenchristen‘“119 problematisch geworden. Texte wie 1Petr 1,18; 4,3f sprechen wie dargestellt dafür, dass es sich bei der Leserschaft des Briefes um Menschen mit nichtjüdischem Hintergrund handelt. Deren konsequente „Israelitisierung“ könnte man auch als Indiz dafür werten, dass sie „ihrer Gruppenzugehörigkeit und kollektiven Identität nach jedoch als Juden und Jüdinnen konstruiert werden“.120 Der 1. Petrusbrief wäre „demnach als Text eines jüdischen jesusgläubigen impliziten und realen Verfassers an eine Gruppe von ehemals paganen und nunmehr jüdischen Adressaten in der Diaspora zu lesen“.121 Das Schweigen über jüdische Identitätsmerkmale könnte man dann auch in dem Sinne interpretieren, dass der Verfasser darüber nicht sprechen musste, weil „sie als unumstritten in Geltung stehend“ betrachtet werden.122 Israels Ehrentitel würden der Leserschaft des Briefs dann nicht „anstelle Israels, sondern als Teil Israels“ zugeschrieben.123
Nach dieser Sicht der Dinge stünde der 1. Petrusbrief also „nicht am Ende eines Trennungsprozesses, sondern konstruiert eine Situation, in der eine Trennung von jüdischer Gemeinde und Heidenchristen nicht angestrebt und auch nicht für nötig gehalten wird“.124 „Eine Trennung von frühen Christen und Juden“ sei noch nicht einmal in den Blick genommen worden. Der Brief setzte dann eine „Kommunikationssituation“ voraus, „in der die christliche Gemeinde als Bestandteil der jüdischen Bevölkerungsgruppe konstruiert wird“.125
Gegenüber dieser sehr reizvollen Rekonstruktion bleibt aber zu bedenken, dass die Leserschaft des Briefs von ihrer Umwelt offenbar nicht als Juden,126 sondern als „Christianer“ (christianoi) wahrgenommen wurden (1Petr 4,16). Der Verfasser des 1Petr korrigiert dies nicht, sondern fordert seine Adressatinnen und Adressaten dazu auf, genau darin einen Ehrentitel zu sehen.127
Der 1Petr entwirft seine Theologie nicht im luftleeren Raum, sondern reagiert auf das, was seine Leserschaft in ihrem Alltag erfährt. Es ist darum danach zu fragen, was wir über die jüdischen Gemeinden in der Region wissen, an die sich der 1Petr wendet.128 In ihr gab es seit der Perserzeit, spätestens aber seit den Seleukiden jüdische Gemeinden.129 Über die Zahl ihrer Mitglieder haben wir aber so gut wie keine sicheren Informationen.130 Tendenziell war die Verbreitung der jüdischen Diaspora in den Städten sicher größer als auf dem Land, aber auch dort sind inzwischen Spuren jüdischen Lebens nachgewiesen.131 Die meisten Gemeinden gab es südlich der Linie Adramyttium – Tarsus, also im Süden (Kilikien, Isaurien, Lykien und Pamphylien, Karien) und im Westen Kleinasiens (Asien).132 Die beiden literarischen Hauptquellen über das jüdische Leben in Kleinasien sind die Apostelgeschichte und die Schriften des Josephus. Keine von beiden stellt die Verhältnisse in Kleinasien sine ira et studio dar.