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Entry Island - eine winzige Atlantik-Insel, 1000 Kilometer vom kanadischen Festland entfernt, mit gerade einmal 100 Bewohnern. Als Detective Mackenzie aus Montréal hierher geschickt wird, um einen Mord zu untersuchen, ahnt er nicht, dass dieser Fall sein Leben für immer verändern wird. Kaum hat Mackenzie die Insel betreten, präsentiert die örtliche Polizei ihm bereits eine Hauptverdächtige: die Ehefrau des Opfers. Doch was zunächst wie eine klare Angelegenheit erscheint, wird zusehends mysteriöser, da Mackenzie glaubt, die Beschuldigte zu kennen, obwohl er ihr nie zuvor begegnet ist. Schon bald kann es der Detective nicht mehr leugnen: Der Schlüssel zur Lösung des Falls liegt in seiner eigenen Vergangenheit.
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Seitenzahl: 613
Cover
Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
Zitat
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Epilog
Postscriptum
Anmerkung
Danksagung
Über den Autor
Peter May, Jahrgang 1951, gewann mit einundzwanzig den »Scottish Young Journalist of the Year Award« und veröffentlichte mit sechsundzwanzig seinen ersten Roman. Jahrelang arbeitete er als erfolgreicher Drehbuchautor für das britische Fernsehen, bevor er sich 1996 ganz auf das Schreiben von Romanen konzentrierte. Seitdem haben seine Kriminalromane zahlreiche Preise abgeräumt und die nationalen und internationalen Bestsellerlisten erobert. Peter May lebt mit seiner Frau in Frankreich und in Schottland.
Peter May
Der ewige Schlaf
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Sabine Schilasky
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:Copyright © 2014 by Peter MayTitel der englischen Originalausgabe: »Entry Island«
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Judith MandtTextredaktion: Kai Lückemeier, GescherTitelillustration: © Arcangel/Evelina Kremsdorf; © shutterstock/Anthony Ross; © fotolia/irisphoto1Umschlaggestaltung: Manuela Städele-MonverdeE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-2970-4
www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de
Für Dennis und Naomi
Gus am bris an latha agus an teich na sgàileanBis der Tag anbricht und die Schatten weichen
Hohelied Salomon 4;6(oft in gälischen Nachrufen verwendet)
Wie mühsam es war, diesen Pfad anzulegen, ist der Art, wie die Steine in den Hang gesetzt sind, noch immer anzusehen. Inzwischen ist er überwuchert, die leichte Vertiefung eines seitlichen Grabens ist kaum noch zu sehen. Vorsichtig bewegt er sich nach unten zu den Überresten des Dorfs, wobei ihn das merkwürdige Gefühl beschleicht, er würde in seine eigenen Fußspuren treten. Doch er war noch nie hier.
Die Reste einer eingefallenen Trockenmauer konturieren den kahlen Hügel über ihm. Dahinter, das weiß er, schlängelt sich ein silbriger Sandstreifen zum Friedhof und den stehenden Steinen auf der Anhöhe. Unter ihm sind die Grundmauern der Blackhouses zwischen den hohen Gräsern, die sich im Wind biegen und neigen, kaum noch auszumachen. Es sind die letzten Spuren von Mauern, in denen einst Familien lebten und in denen sie gestorben sind.
Er folgt dem Weg zwischen ihnen hinunter zum Kiesstrand, wo eine Zickzacklinie aus groben Steinbrocken in den Wellen verschwindet. Gurgelnd und schäumend schwappt das Wasser auf die Trümmer, den letzten Relikten eines vergessenen Versuchs, hier einen Anleger zu bauen.
An diesem Ort mochten einmal zehn oder zwölf Blackhouses gestanden haben, einfache Trockensteinhäuser mit krummen Schilfrohrdächern, aus denen Torfrauch quoll, um von den eisigen Winterwinden fortgepeitscht zu werden. In der Dorfmitte bleibt er stehen und malt sich die Stelle aus, an der der alte Calum gelegen haben mochte, blutend, mit gespaltenem Schädel, all die Jahre und Heldentaten ausgelöscht von einem einzigen Hieb. Er bückt sich, um die Erde zu berühren, und spürt sogleich eine direkte Verbundenheit mit der Geschichte und den Geistern. Dabei ist er selbst ein Geist, auf der Suche nach einer Vergangenheit, die doch nicht die seine ist.
Er schließt die Augen und stellt sich vor, wie es war, wie es sich anfühlte, hier, wo alles begann, zu einer anderen Zeit, in eines anderen Leben.
Die Vordertür des Sommerhauses führte von der Veranda – durch eine Fliegentür – direkt ins Wohnzimmer. Der große Raum nahm beinahe das gesamte Erdgeschoss eines Hauses ein, welches der Ermordete für Gäste vorgesehen hatte, die nie gekommen waren. Über einen schmalen Korridor unter der Treppe gelangte man in ein Bad und ein kleines Schlafzimmer auf der Rückseite. Im Hauptraum gab es einen offenen, gemauerten Kamin. Das ganze Zimmer war voller dunkler wuchtiger Möbel. Sime glaubte, dass das Haus selbst zwar modernisiert worden war, das Mobiliar jedoch noch das alte sein musste. Es kam ihm wie eine Reise in die Vergangenheit vor. Große alte Ohrensessel mit Armlehnenschonern, fadenscheinige Läufer auf unebenen, aber frisch versiegelten Dielenbrettern. An den Wänden hingen Ölgemälde in massiven Rahmen, und auf jeder verfügbaren Fläche standen gerahmte Familienfotos und Zierobjekte. Es roch sogar alt hier drinnen; unwillkürlich musste Sime an das Haus seiner Großmutter in Scotstown denken.
Blanc verlegte ein Kabel nach hinten ins Schlafzimmer, wo er seine Monitore aufbauen wollte, und Sime stellte zwei Stative mit Kameras auf, die sich auf den Sessel am Fenster richteten. Dort würde die frisch verwitwete Frau des Opfers gut ausgeleuchtet sein. Seinen eigenen Sessel stellte er mit dem Rücken zum Fenster, so dass sein Gesicht für sie im Dunkeln bleiben, er aber jede Mikromimik bemerken würde, die über ihre Züge huschte.
Er hörte das Knarren der Dielen oben. Als er sich zur Treppe wandte, sah er eine Polizistin aus dem Dunkel herunterkommen. Sie sah verwundert aus. »Was tun Sie hier?«
Sime erklärte ihr, dass sie alles für die Befragung vorbereiteten. »Wie ich höre, ist sie oben«, sagte er. Der weibliche Officer nickte. »Dann schicken Sie sie bitte nach unten.«
Einen Moment lang blieb er am Fenster stehen, hielt die dünne Gardine zur Seite und dachte an das, was der Sergeant Enquêteur gesagt hatte, der sie am einzigen Hafen der Insel in Empfang genommen hatte. Wie es aussieht, war sie es. Sonnenlicht schien ihm ins Gesicht, wodurch sich seine schmalen Züge unter den dichten blonden Locken im Fensterglas spiegelten. Als Sime die Müdigkeit in seinen Augen und die Schatten auf seinen eingefallenen Wangen bemerkte, lenkte er seinen Blick rasch hinaus, in Richtung Meer. Das hohe Gras am Klippenrand schwankte im Wind, gischtgekrönte Wellen trieben von Südwesten über den Golf, und in der Ferne sah Sime eine unheilvoll dunkle Wolkenfront am Horizont aufquellen.
Als die Stufen knarzten, drehte er sich um. Für einen kurzen Augenblick, der ihm jedoch wie eine Ewigkeit erschien, blieb die Welt für ihn stehen.
Auf der untersten Stufe hielt sie inne. Das dunkle Haar hatte sie nach hinten gebunden, weg von dem zarten Gesicht. Ihre blasse Haut war befleckt von getrocknetem Blut, und ihr blutverschmiertes Nachthemd war teils von einer Decke verhüllt, die ihr über die Schultern hing. Sime sah, dass sie groß war und sich sehr gerade hielt, als wäre es eine Frage des Stolzes, sich nicht von der Situation erdrücken zu lassen.
Ihre Augen waren von einem intensiven, klaren Blau, mit dunkleren Ringen um die Pupillen. Es waren traurige Augen, in denen sich eine Tragödie spiegelte. Die von Schlaflosigkeit verursachten Schatten darunter sahen aus, als hätte jemand mit kohleverschmierten Daumen über ihre Haut gewischt.
Sime hörte das langsame Ticken der alten Pendeluhr auf dem Kaminsims und sah Staubkörnchen im Licht tanzen, das durch die Fenster fiel. Ihre Lippen bewegten sich, doch es drang kein Laut an sein Ohr. Wieder regten sie sich stumm, formten Worte, die Sime nicht hören konnte, bis er plötzlich die Verärgerung in ihrer Stimme wahrnahm. »Hey! Warum starren Sie mich so an?« Auf einmal war es, als hätte jemand die »Pause«-Taste in seinem Kopf losgelassen. Seine Welt nahm wieder Fahrt auf, die Verwirrung blieb allerdings.
»Verzeihung«, sagte er. »Sie sind …?«
»Kirsty Cowell«, entgegnete sie erschöpft. »Ihre Leute haben gesagt, dass Sie mich befragen wollen.«
In seiner Verwirrung hörte er sich selbst sagen: »Ich kenne Sie.«
Sie runzelte die Stirn. »Das glaube ich nicht.«
Doch er war sich sicher. Er wusste nicht, woher oder wie, aber es bestand absolut kein Zweifel.
Schwer zu glauben, dass er nur wenige Stunden zuvor über tausend Meilen entfernt in seinem Bett in Montreal gelegen hatte, die Arme und Beine in den Decken verschlungen; wo sie ihn bedeckten, hatte er geschwitzt, wo nicht, hatte er gefroren. Seine Lider waren wie Schmirgelpapier gewesen und seine Kehle so trocken, dass er kaum schlucken konnte.
Er hatte keine Ahnung, wie oft er im Laufe dieser langen Nacht auf die Digitalanzeige des Weckers gesehen hatte. Es war blöd, das wusste er. Wenn man nicht schlafen konnte, kroch die Zeit im Tempo einer riesigen Schildkröte dahin. Und ihrem quälend langsamen Verstreichen zuzusehen, machte den Missmut nur größer und verringerte die Chance, überhaupt noch einzuschlafen. Wie jede Nacht bemerkte er hinter den Augen einen schwachen Kopfschmerz, der gegen Morgen zunahm, bis sich eine Schmerztablette zischelnd im Wasserglas auflöste, wenn es Zeit zum Aufstehen war.
Als er sich auf die rechte Seite rollte, spürte er die Leere neben sich wie eine stumme Rüge. Eine permanente Erinnerung an sein Versagen. Kalte Einsamkeit, wo einmal Wärme gewesen war. Er könnte sich auf dem Bett ausbreiten, es mit seinem eigenen Körper wärmen, doch er fühlte sich auf der einen Seite gefangen, auf der er so oft nach einem Streit still vor sich hin geschmort hatte. Nach Streitigkeiten, die nie von ihm ausgegangen waren, so hatte er immer geglaubt. Doch in den schlaflosen Nächten der letzten Wochen begann er, das anzuzweifeln. Schroffe Worte gingen ihm endlos durch den Kopf und füllten die zäh und dunkel verstreichende Stunden.
Schließlich, genau in dem Moment, in dem er in die Finsternis abzudriften begann, schreckte ihn das Schrillen seines Mobiltelefons auf dem Nachttisch auf. War er wirklich eingenickt? Er setzte sich kerzengerade auf und blickte zum Wecker. Sein Herz wummerte. Aber es war erst kurz nach drei. Er tastete nach dem Lichtschalter und blinzelte im plötzlich grellen Licht, während er nach dem Telefon griff.
Von seinem Apartment am Fluss in St. Lambert aus benötigte er in Stoßzeiten manchmal bis zu anderthalb Stunden, um über die Pont Jacques Cartier auf die Insel von Montreal City zu gelangen. Aber um diese Uhrzeit gab es kaum Verkehr auf den gigantischen Brückenbögen, die über den träge fließenden St. Lawrence River zur Île Sainte Hélène führten.
Als sich die Lichter leerer Hochhäuser um ihn herum erhoben, nahm er die Ausfahrt und fuhr die Avenue de Lorimier hinunter, bevor er nach Nordosten auf die Rue Ontario bog, wo die dunkle Silhouette des Mount Royal die Skyline im Rückspiegel dominierte. Die Fahrt zur 1701 Rue Parthenais dauerte nicht mal zwanzig Minuten.
Die Sûreté de Police befand sich in einem dreizehnstöckigen Hochhaus auf der Ostseite der Straße mit Aussicht auf die Brücke, den Fernsehsender und den Berg. Sime nahm den Fahrstuhl hinauf zur Division des enquêtes sur les crimes contre la personne im vierten Stock. Es amüsierte ihn immer wieder, dass im Französischen neun Wörter nötig waren, wo im Englischen ein einziges ausreichen würde. »Homicide«, Mordkommission, würden die Amerikaner schlicht sagen.
Capitaine Michel McIvir kehrte mit einem Kaffee zu seinem Büro zurück, und Sime begleitete ihn den Korridor hinunter, vorbei an gerahmten Schwarzweißfotos von Tatortermittlungen aus den Fünfzigern und Sechzigern. McIvir war knapp vierzig, nur eine Handvoll Jahre älter als Sime, und bemüht um eine Art von Autorität, von der Sime wusste, dass er sie nie besitzen würde. Der Capitaine beäugte seinen Sergeant Enquêteur streng.
»Du siehst beschissen aus.«
Sime verzog das Gesicht. »Da fühle ich mich doch gleich viel besser.«
»Kannst du immer noch nicht schlafen?«
Sime zuckte mit den Schultern, denn er wollte ungern zugeben, wie groß seine Probleme waren. »Geht so.« Rasch wechselte er das Thema. »Warum bin ich hier?«
»Es gab einen Mord auf den Magdalen Islands, draußen im Golf von St. Lawrence.« Er nannte sie bei ihrem französischen Namen, Les Îles de la Madeleine. »Der erste seit Menschengedenken. Ich schicke erstmal ein Achterteam hin.«
»Aber warum ich? Ich stehe nicht mal auf dem Dienstplan.«
»Der Mord fand auf der Île d’entrée statt, Sime, bei den Bewohnern besser als Entry Island bekannt. Die Madelinots sprechen größtenteils Französisch, aber auf Entry reden sie nur Englisch.«
Sime nickte. Jetzt verstand er.
»Ich habe ein kleines Flugzeug auf dem St. Hubert-Flugplatz bereitstehen. Ihr fliegt ungefähr drei Stunden bis zu den Inseln, und ich will, dass du die Befragungen machst. Thomas Blanc zeichnet alles auf. Lieutenant Crozes ist dein Teamleiter, Sergeant Superviseur Lapointe übernimmt Administration und Logistik.« Er zögerte, was untypisch für ihn war und Sime natürlich auffiel.
»Und die Spurensicherung?«, fragte er, obwohl er die Antwort schon kannte.
McIvir verkniff trotzig den Mund. »Marie-Ange.«
Die King Air B100 mit ihren dreizehn Sitzen war seit über zweieinhalb Stunden in der Luft. In der ganzen Zeit hatte das achtköpfige Team, das zur Ermittlung im Entry-Island-Mord abgestellt war, kaum fünf Worte gewechselt.
Sime saß allein vorn und war sich allzu bewusst, wie vieles ihn von seinen Kollegen trennte. Normalerweise gehörte er nicht zu ihrem Team. Er war nur aus linguistischen Gründen dabei. Die anderen waren alle französischstämmig. Sie sprachen alle mehr oder weniger Englisch, aber keiner von ihnen fließend. Sime hatte schottische Wurzeln. Seine Vorfahren hatten bei ihrer Ankunft hier Gälisch gesprochen. Innerhalb von ein paar Generation war die Sprache ihrer Heimat jedoch so gut wie ausgestorben und durch Englisch ersetzt worden. Nachdem die Verwaltung von Quebec in den 1970ern Französisch zur Amtssprache erhoben hatte, waren eine halbe Million englischsprechender Bewohner in einem Massenexodus aus der Provinz abgewandert.
Simes Vater hingegen hatte sich geweigert zu gehen. Seine Ururgroßeltern, sagte er, hatten sich einen Platz in diesem Land erarbeitet, und er würde einen Teufel tun, sich von hier vertreiben zu lassen. Und so waren die Mackenzies geblieben, hatten sich der neuen frankophonen Welt angepasst, zu Hause aber an ihrer eigenen Sprache und ihren Traditionen festgehalten. Sime nahm an, dass er seinem Vater eine Menge zu verdanken hatte. Er war im Französischen genauso zu Hause wie im Englischen. Momentan jedoch, an Bord dieses Fluges zu einer Mordermittlung auf einer abgelegenen Inselgruppe, machte ihn genau dieser Umstand zu einem Außenseiter. Etwas, das er immer hatte vermeiden wollen.
Er blickte aus dem Fenster und sah das erste Morgenlicht am Osthimmel. Unter ihnen war nichts als Meer. Sie hatten die bewaldete Gaspé-Halbinsel schon vor einer Weile hinter sich gelassen.
Sergeant Superviseur Jacques Lapointe kam gebeugt aus dem winzigen Cockpit und hielt einen Stapel Papiere in den Händen. Er war derjenige, der sich um alles kümmern würde: Unterkunft, Transport, sämtliche Technik. Und Lapointe würde die Leiche des Opfers auch zur Autopsie nach Montreal zurückbegleiten, in die Gerichtsmedizin im Untergeschoss der 1701 Rue Parthenais. Er war schon älter, etwa Mitte fünfzig, hatte von Arthrose gezeichnete Hände und einen schwarzen, silberdurchwirkten Schnauzbart.
»Okay.« Er erhob die Stimme, damit er bei dem Motorenlärm zu verstehen war. »Ich habe für uns Zimmer in der Auberge Madeli auf der Île du Cap aux Meules reserviert. Das ist die Hauptinsel, und von da geht eine Fähre nach Entry. Die Überfahrt dauert ungefähr eine Stunde.« Er sah in seine Notizen. »Der Flughafen ist auf Havre aux Maisons, die anscheinend über eine Brücke mit Cap aux Meules verbunden ist. Jedenfalls wird uns die örtliche Polizei in einem Minibus abholen. Es sieht so aus, als könnten wir gerade noch rechtzeitig ankommen, um die erste Fähre heute zu erwischen.«
»Soll das heißen, die würde auch ohne uns ablegen?« Lieutenant Daniel Crozes zog eine Braue hoch. Der Teamleiter war fast gleich alt mit Sime, aber ein bisschen größer und auf dunkle Weise gutaussehend. Irgendwie schaffte er es, durchgehend braungebrannt zu sein, was angesichts der langen, kalten Winter in Quebec verblüffte. Sime war nie ganz sicher, ob seine Bräune einer Tube oder längeren Aufenthalten auf der Sonnenbank entsprang.
»Keine Sorge«, Lapointe grinste. »Es ist die einzige Verbindung da rüber, und ich habe denen gesagt, dass ich das Teil versenke, wenn sie nicht auf uns warten.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Aber wie es aussieht, werden wir den Fahrplan nicht durcheinanderbringen. Und es schadet nicht, sich mit den Einheimischen gut zu stellen.«
»Was wissen wir über Entry Island, Jacques?«, fragte Crozes.
Der große Mann zupfte an seinem Schnauzbart. »Nicht viel, Lieutenant. Die Leute leben hauptsächlich von der Fischerei, die Bevölkerungszahlen sind rückläufig, und die Leute sprechen alle Englisch. Es sind insgesamt nicht mal hundert Bewohner, glaube ich.«
»Und jetzt einer weniger«, sagte Crozes, und leises Lachen ertönte.
Sime sah über den Gang und stellte fest, dass Marie-Ange lächelte. Mit ihrem kurzen braunen, blondgesträhnten Haar und der schmalen, athletischen Figur hatte sie etwas Knabenhaftes. Doch es war nichts Maskulines an ihren leuchtend grünen Augen und den vollen roten Lippen, die sich bei diesem entwaffnenden Lächeln über weiße Zähne strafften. Sie ertappte ihn dabei, wie er zu ihr blickte, und ihr Lächeln erstarb sofort.
Sime drehte sich wieder zum Fenster und merkte ein Knacken in den Ohren, als das kleine Flugzeug nach rechts schwenkte und in den Landeanflug ging. Für einen Moment blendete ihn ein roter Sonnenstrahl, der vom Meer reflektiert wurde, bevor das Flugzeug wieder zur Seite kippte und erstmals die Îles de la Madeleine unter ihnen zu sehen waren. Eine Reihe großer und kleiner Inseln, verbunden von Dämmen und Sandbänken, lag auf einer Achse, die von Südwesten nach Nordosten verlief. Seltsamerweise erinnerte die Formation, die eine Länge von einigen Dutzend Kilometern hatte, vage an einen Angelhaken.
Als sie zur letzten Etappe des Landeanflugs auf die Île du Havre aux Maisons einschwenkten, sagte der Pilot, dass sie rechts Entry Island sehen könnten, östlich von der Baie de Plaisance.
Sime sah die Insel zum ersten Mal, umrahmt von der aufgehenden Sonne am Horizont und mit zwei deutlichen Erhebungen, die wie umgekippte Osterinsel-Statuen wirkten. Der vom Meer aufsteigende rosa Morgendunst verlieh der Szenerie etwas seltsam Unwirkliches. Und auf einmal lief ihm ein unangenehmer Schauer über den Rücken.
Sime stand stampfend auf dem Kai. Sein Atem quoll in Wolken im frühen Morgenlicht auf, als Lapointe den Minibus rückwärts auf die Ivan-Quinn-Fähre setzte. Die Flugboxen mit ihrer Ausrüstung waren auf das Dach geschnallt. Sime trug eine Jeans, Lederstiefel und eine Baumwolljacke mit Kapuze. Er stand etwas abseits von den anderen. Der Abstand war nicht groß genug, als dass er einem ahnungslosen Beobachter aufgefallen wäre, doch für Sime fühlte er sich klaffend an, tief wie der Grand Canyon. Und es war mehr als die Sprache, die sie trennte. Blanc kam herüber, um ihm eine Zigarette anzubieten. Hätte er ihn besser gekannt, hätte er es gelassen. Aber Sime wusste die Geste zu schätzen.
»Danke, ich habe aufgehört«, sagte er.
Blanc grinste. »Nichts leichter als das.«
Sime sah ihn fragend an. »Ach ja?«
»Sicher. Ich hab’s schon hunderte Male gemacht.«
Sime schmunzelte, und stumm beobachteten sie eine Weile, wie Lapointe den Bus auf das enge Autodeck für nur zwei Fahrzeuge manövrierte. Sime sah seinen Kollegen an, der die Befragungen mit ihm zusammen machen würde. Blanc war einen Kopf kleiner als Sime und um einiges schwerer. Er hatte dichtes, lockiges schwarzes Haar, das oben schon dünner wurde. Dort bildete sich langsam eine Tonsur. »Wie ist dein Englisch?«, fragte Sime.
Blanc zog eine Grimasse. »Ich verstehe es einigermaßen. Aber sprechen kann ich es nicht so gut.« Er nickte in Richtung Hafenmauer. »Wie ich höre, weigern sich die Entry-Insulaner, Französisch zu sprechen.« Er schnaubte. »Ich bin froh, dass du das Reden übernimmst.« Sime nickte. Blanc würde mit zwei Monitoren und einem Aufnahmegerät am Ende der Kabel in einem anderen Zimmer sitzen und Notizen machen, während Sime die Befragungen vor der Kamera übernahm. Dieser Tage wurde alles aufgezeichnet.
Lapointe hatte nun eingeparkt, so dass sie über die Fahrzeugrampe auf die Fähre gehen und sich durch einen engen Gang zum Sitzbereich am Bug durchdrängeln konnten. Sime stieg die Treppe hinauf zum Oberdeck, wo er um das Brückenhaus herum nach vorn ging. Dort lehnte er sich unter einer rissigen CTMA-Flagge an die Reling und zählte drei Kreuzfahrtschiffe an verschiedenen Kais.
Es vergingen weitere zehn Minuten, bevor die Fähre aus dem Hafen und am Wellenbrecher vorbei aufs gläserne Meer glitt, wo in der Ferne Entry Island zu sehen war, ausgestreckt am Ende der Bucht. Die Sonne überstrahlte die schmalen Wolken am Horizont. Simes Blick war fast tranceähnlich auf die Insel fixiert, während das vom Wasser reflektierte Morgenlicht einen Heiligenschein um die Insel warf. Es hatte etwas Magisches, fast Mystisches.
Keiner von ihnen wusste, ob die Fähre immer von so vielen Leuten in Empfang genommen wurde. Jetzt jedenfalls drängten sich Fahrzeuge und neugierige Insulaner auf dem winzigen Kai, als ihr Schiff im Hafen von Entry Island anlegte. Sergeant Enquêteur André Aucoin von der Sûreté auf Cap aux Meules war dort, um sie abzuholen. Er war mittleren Alters, aber unerfahren und übertrieben ehrfürchtig angesichts der echten Polizisten vom Festland. Gleichzeitig genoss er seine fünfzehn Minuten im Lichterglanz. Dies war sein erster Mordfall. Er setzte sich vorn neben Lapointe in den Minibus und brachte sie während der holprigen Fahrt über die Insel auf den aktuellen Stand.
Zunächst wies er auf eine Ansammlung von Gebäuden oberhalb der Straße gleich hinter Brian Josey’s Restaurant und einem Supermarkt an der Main Street. »Von hier kann man es nicht sehen, aber da oben ist eine Flugzeugpiste. Cowell hatte eine eigene einmotorige Maschine, mit der er zwischen hier und Havre aux Maisons hin und her flog. Von da ist er dann mit den Linienflügen geschäftlich nach Quebec City oder Montreal weiter. Hier auf seinem Flugplatz hatte er einen Range Rover stehen.«
»In welcher Branche war er?«, fragte Crozes.
»Hummer, Lieutenant.« Aucoin kicherte. »Was gibt es denn sonst schon auf den Madeleines?«
Nun bemerkte Sime die tausende Hummerkörbe, die sich an den bunt gestrichenen Holzhäusern und Schuppen ein Stück abseits der Straße stapelten und die grünen Wiesen im Inselinneren sprenkelten. Bäume gab es keine, nur Telegrafenmasten; komisch schief hielten sie Kabel, die zwischen den einzelnen Masten recht tief durchhingen. Der letzte Schnitt der Sommergräser hatte große runde Heuballen ergeben, welche nun kleine Akzente in der Landschaft setzten. Weiter weg sah Sime den Turm einer weiß gestrichenen Kirche und die langen Schatten von Grabsteinen auf einem in gelbliches Morgenlicht getauchten Hang.
»Cowell betrieb die halbe Hummerflotte auf den Madeleines«, sagte Aucoin. »Jedes Jahr landete er einen Fang im Wert von fünfzehn Millionen Dollar an. Und dazu hatte er noch die Konservenfabrik auf Cap aux Meules.«
»War er von den Inseln?«, fragte Sime.
»Ja, ein geborener Madelinot aus der englischsprachigen Gemeinde Old Harry im Norden. Aber sein Französisch war gut. Man hat nicht gemerkt, dass es nicht seine Muttersprache war.«
»Und seine Frau?«
»Oh, Kirsty ist von Entry Island. Angeblich hat sie die Insel seit ihrem Abschluss an der Bishop’s University in Lennoxville vor zehn Jahren nicht verlassen.«
»Kein einziges Mal?«, fragte Crozes ungläubig.
»Die Leute sagen, nein.«
»Und was ist letzte Nacht passiert?«
»Wie es aussieht, war sie es.«
Crozes’ Ton wurde schärfer. »Ich habe Sie nicht nach Ihrer Meinung gefragt, Sergeant. Nur nach den Fakten.«
Aucoin wurde rot. »Laut Kirsty Cowell war ein Einbrecher bei ihnen im Haus. Ein Kerl mit einer Skimaske. Er griff sie an, und als ihr Mann dazwischenging, wurde er erstochen, und der Einbrecher rannte weg.«
Es war schwer zu übersehen, dass er ihr die Geschichte nicht abnahm. Wieder rutschte ihm seine Interpretation heraus. »Ist ziemlich eigenartig. Ich meine, ihr Leute seid zwar die Experten, aber hier auf Entry Island gibt es keine Einbrüche. Man kommt nur mit der Fähre auf die Insel und wieder runter, seit sie die Flüge eingestellt haben. Oder mit einem Privatboot. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass jemand mit einem Motorboot im Hafen anlegt und wieder wegfährt, ohne dass es irgendwer mitbekommt. Und auf der Insel gibt es nur noch einen anderen Anleger. Das ist der, den sich Cowell unten an den Klippen bei seinem Haus hat bauen lassen. Aber die Strömung dort ist heikel, also wird er kaum benutzt.«
»Also ein Insulaner«, sagte Sime.
Der Blick, mit dem Aucoin ihn ansah, hätte kaum sarkastischer ausfallen können. »Oder das Fantasiegespinst von Mrs. Cowell.«
Sie ließen den Leuchtturm rechts hinter sich und fuhren hinauf auf den Hügel zum Anwesen der Cowells. Die meisten Häuser auf der Insel waren traditionelle Holzbauten mit Schiefer- oder Schindelverkleidung unter steilen Schindeldächern. Und sie waren in leuchtenden Farben gestrichen – rot, grün, blau, manchmal auch in bizarren Nuancen von Lila oder Ocker. Die Fenster- und Türrahmen waren in Weiß oder Kanariengelb abgesetzt. Die Rasenflächen waren auffallend gepflegt; das Rasenmähen schien ein bevorzugter Zeitvertreib der Insulaner, denn sie kamen an mehreren Leuten vorbei, die den herbstlichen Sonnenschein zum Mähen nutzten.
Das Cowell-Haus stach nicht bloß in seiner Größe heraus, sondern auch im Design. Es wirkte irgendwie deplatziert, wie ein künstlicher Weihnachtsbaum in einem Fichtenwald. Der lange, gelb gestrichene Bau mit der Schindelverkleidung, dem roten Dach, den Gauben und Türmchen und dem großen Bogenfenster passte nicht auf die Insel. Als sie auf den Kiesweg am Klippenrand einbogen, sahen sie, dass sich über beinahe die gesamte Südseite ein Wintergarten zog, dessen Glastüren sich zu einem manikürten Rasen öffneten. Die Rasenfläche erstreckte sich bis zu dem Zaun am Klippenrand.
»Das ist verdammt riesig«, bemerkte Lapointe.
Aucoin blies Luft durch die geschürzten Lippen aus und genoss es, mit seinem Wissen zu glänzen. »Früher war es ein Gemeindehaus, drüben auf Havre Aubert. Cowell ließ es in drei Teile zerlegen und mit Barkassen, die er eigens zu diesem Zweck in Quebec City geordert hatte, auf diese Insel transportieren. Sie haben die Teile hier auf den Klippen wieder zusammengebaut und dann alles innen und außen ganz edel renoviert. Drinnen ist es fantastisch. Hat er für seine Frau machen lassen, klar. Nichts war ihm zu gut oder zu teuer für seine Kirsty, wie die Nachbarn sagen.«
Simes Blick wanderte zu einem kleineren Gebäude keine fünfzig Meter entfernt. Das klassische Haus in Blau und Weiß stand etwas weiter unten am Hang und hatte eine überdachte Veranda mit Blick auf die roten Klippen. Offenbar gehörte es ebenfalls zum Cowell-Grundstück. »Wer wohnt da?«
Aucoin folgte Simes Blick. »Oh, das ist ihr Haus.«
»Kirsty Cowells?«
»Richtig.«
»Wohnten die beiden in getrennten Häusern?«
»Nein, das ist das Haus, in dem sie aufgewachsen ist. Sie hat es von ihren Eltern geerbt, aber gewohnt haben sie und ihr Mann in dem großen Haus, das Cowell gebaut hat. Die alte Hütte haben sie auch renovieren lassen und als Sommer- oder Gästehaus genutzt. Obwohl die Leute, mit denen ich geredet habe, sagen, dass sie nie welche hatten. Gäste, meine ich.« Er sah wieder zu Sime. »Sie ist jetzt da drinnen, mit einer Polizistin. Ich wollte nicht, dass sie den Tatort verfälscht.« Falls er erwartet hatte, dass man ihm dafür auf die Schulter klopfte, wurde er enttäuscht. »Wenigstens nicht noch mehr als sowieso schon«, ergänzte er.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Marie-Ange scharf. Es war das Erste, was sie sagte, aber jetzt ging es um ihr Terrain.
Aucoin grinste nur. »Werden Sie schon sehen, Ma’am.« Bald würde er unwichtig für die anderen, doch bis dahin würde er seinen Wissensvorsprung nach Kräften auskosten.
Sie parkten vor dem Haus neben einem Range Rover, vermutlich Cowells. Streifenpolizisten von Cap aux Meules hatten Pflöcke eingeschlagen und Absperrband zwischen ihnen gespannt, wie sie es zweifellos aus Filmen kannten. Das Band flatterte und surrte in der steifen Brise. Marie-Ange holte ihre Kiste vom Busdach und schlüpfte in einen weißen Tyvek-Kapuzenoverall, bevor sie sich Schuhhüllen über die Turnschuhe stülpte. Die anderen zogen sich Plastiküberschuhe und Latexhandschuhe an. Aucoin beobachtete alles voller Bewunderung und mit einem gewissen Neid. Marie-Ange warf ihm ein Paar Schuhhüllen und Handschuhe zu. »Ich weiß, dass Sie wahrscheinlich schon überall herumgetrampelt sind, aber versuchen wir einfach, nicht noch mehr zu verbocken, als Sie bereits haben.« Erneut wurde er rot und funkelte sie feindselig an.
Das Team betrat das Haus vorsichtig durch die Schiebetüren und gelangte in einen gefliesten Raum mit einem Whirlpool. Von hier gingen sie weiter in den eigentlichen Wintergarten, der mit Sesseln und Glastischen vollgestellt war. Einer der Tische war eingeschlagen, die Scherben knirschten unter den Fußsohlen der Ermittler. Zwei Stufen führten hinauf in den Wohnbereich, wo alle sorgsam die getrockneten blutigen Fußabdrücke mieden.
Der große Raum mit dem glänzenden Holzboden war nach oben offen bis zum Giebel. Links standen ein großer Esstisch und Stühle, weiter hinten war eine offene Küche durch eine Anrichte vom Eingangsbereich abgetrennt. Eine zweiläufige Treppe ging rechts nach oben ins Halbgeschoss, und links führten drei geschwungene Stufen zu einem Sitzbereich mit einem Flügel und einer dreiteiligen Sitzgarnitur vor einem offenen Kamin.
Fast in der Mitte des Bodens lag ein Mann auf dem Rücken, einen Arm weit nach rechts gestreckt, den anderen an seiner Seite. Er trug eine dunkelblaue Baumwollhose und ein weißes, blutgetränktes Hemd. Seine Beine waren gerade ausgestreckt, leicht gespreizt, die Füße in den italienischen Lederschuhen zu den Seiten geneigt. Seine Augen und sein Mund waren weit geöffnet. Unnatürlich weit, im ewigen Schlaf.
Besonders schaurig wirkte die Szenerie, weil das Blut des Opfers weiträumig auf dem Boden verteilt war, in Streifen und Lachen mit willkürlichen Mustern. Blutige Fußspuren schienen ihn zu umkreisen, die Abdrücke nackter Füße, die einen Weg von dem Toten zur Küche und zurück beschrieben hatten. Auf dem Rückweg wurden sie blasser, dann wieder dunkler von frischem Blut, wo sie die Stufen hinunter zum Wintergarten führten. Das meiste Blut war beinahe trocken, oxidiert, klebrig und braun.
»Oh Gott!«, hauchte Marie-Ange. »Als sie von verfälscht sprachen, war das wirklich nicht übertrieben.«
»So war es schon, als wir herkamen«, erwiderte Aucoin. »Mrs. Cowell behauptet, dass sie versucht hat, ihn wiederzubeleben und die Blutung zu stoppen. Ohne Erfolg.«
»Sieht man«, murmelte Marie-Ange trocken.
Aucoin trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. »Die Fußabdrücke sind von ihr. Sie ist rüber zur Küche gelaufen, um ein Handtuch zu holen, mit dem sie die Blutung stillen wollte. Einer meiner Männer fand das Handtuch draußen im Gras, als es hell wurde. Als sie ihn nicht wiederbeleben konnte, ist sie den Hügel hinunter zu den Nachbarn gelaufen, um Hilfe zu holen.« Er machte eine Pause. »Das ist jedenfalls ihre Geschichte.«
Marie-Ange bewegte sich katzengleich um die Leiche herum, untersuchte jede Blutlache, jeden Spritzer, jeden Fußabdruck und Schmierstreifen auf dem Boden. Sime fand es schwierig, ihr dabei zuzusehen. »Hier sind noch andere Fußabdrücke«, sagte sie, »von einem Schuh.«
»Das wird die Krankenschwester gewesen sein. Die Nachbarn hatten sie hergerufen, und sie musste sich vergewissern, dass er tot war. Danach hat sie uns angerufen.«
»Falls die Frau eine Herzmassage bei ihm gemacht hat, muss sie selbst voller Blut sein«, sagte Crozes.
»Oh ja, Sir, das ist sie.« Aucoin nickte ernst.
»Ich hoffe, Sie haben ihr nicht erlaubt, sich zu waschen oder umzuziehen.« Marie-Ange warf ihm einen Blick zu, der fast so ätzend war wie ihr Tonfall.
»Nein, Ma’am.«
Sie wandte sich zu Lapointe. »Wir müssen sie fotografieren und untersuchen lassen, auf Fasern und Verletzungen. Ich will auch, dass unter ihren Fingernägeln Proben genommen werden. Und ihr müsst ihre Kleidung eintüten und in die Kriminaltechnik nach Montreal schicken.« Sie drehte sich wieder zu Aucoin um. »Gibt es einen Arzt auf der Insel?«
»Nein, Ma’am, nur die Schwester. Es sind eigentlich zwei. Sie wechseln sich wochenweise ab.«
»Dann muss sie genügen. Und ich schätze, dass ich bei der Untersuchung dabei sein muss, da es sich um eine Frau handelt.«
»Gab es Einbruchsspuren?«, fragte Blanc.
Aucoin zeigte die Andeutung eines Lächelns, doch er fing sich rasch wieder. »Nein. Es wäre auch nicht nötig gewesen einzubrechen. Keiner auf der Insel verriegelt seine Türen.«
Lieutenant Crozes klatschte in die Hände. »Okay, fangen wir an. Haben Sie die Frau vernommen, Sergeant Aucoin?«
»Nein, Sir. Ich habe nur die Aussagen der Nachbarn aufgenommen, sonst nichts.«
»Gut.« Crozes sah Sime an. »Wie wäre es, wenn ihr beide, du und Blanc, alles im Sommerhaus vorbereitet und eine erste Aussage aufnehmt, bevor sie untersucht wird?«
Als Sime mit der Befragung begann, war der Klang ihrer Stimme geradezu hypnotisch: monoton, frei von Emotionen. Sie leierte die Geschehnisse der letzten Nacht herunter, als würde sie alles zum x-ten Mal von einem Blatt ablesen. Und dennoch ergaben ihre Schilderungen zusammen mit den Details, die Sime von der Tatortbesichtigung kannte, ein sehr lebendiges Bild.
Noch ein anderer Eindruck drängte immer wieder in den Vordergrund, nur um sogleich wieder zu verschwimmen. Alles an ihr lenkte Sime ab. Die Art, wie ihr das Haar auf die Schultern fiel, matt, aber mit der Andeutung natürlicher Wellen. Sehr dunkel, beinahe schwarz. Die seltsam gefühllosen Augen, die ihn zu durchbohren schienen, bis er den Blickkontakt unterbrechen und vorgeben musste, sich seine nächste Frage zu überlegen. Die Art, wie ihre gefalteten Hände in ihrem Schoß lagen, eine in der anderen, die langen, eleganten Finger fest zusammengedrückt. Und ihre Stimme mit dem gedehnten kanadischen Akzent, in dessen Intonation keine Spur von Französisch mitschwang.
Die Wolken von vorhin brauten sich nun südlich der Inseln über dem Golf zusammen. Die Sonne kam und ging in flüchtigen Momenten, um das Meer immer wieder in blendendes Licht zu tauchen. Sime spürte den Wind ebenso deutlich, wie er ihn gegen das Haus drücken hörte.
»Ich wollte ins Bett gehen«, sagte sie. »Unser Schlafzimmer ist unten, im hinteren Teil des Hauses. Es hat Glastüren zum Wintergarten, aber der war dunkel. James war oben in seinem Arbeitszimmer. Er war erst kurz vorher nach Hause gekommen.«
»Von wo?«
Sie zögerte. »Er war von Havre aux Maisons hergeflogen und mit dem Range Rover vom Flugplatz gekommen. Den lässt er immer da oben stehen.« Sie stockte und korrigierte: »Ließ, meine ich.«
Sime wusste aus Erfahrung, wie schwer es Leuten fiel, von einem nahestehenden Menschen in der Vergangenheitsform zu sprechen.
»Ich hörte ein Geräusch aus dem Wintergarten und rief, weil ich dachte, dass es James ist.«
»Was für ein Geräusch?«
»Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht mehr. Ein Geräusch eben, wie ein Stuhl, der über Fliesen schabt oder so.« Sie verwob die Finger in ihrem Schoß. »Wie auch immer, als er nicht antwortete, bin ich nachsehen gegangen. Und da hat mich ein Mann aus der Dunkelheit angefallen.«
»Konnten Sie ihn sehen?«
»Da nicht, nein. Wie gesagt, es war dunkel. Er war nur ein Schatten, der aus dem Nichts kam. Aber ich habe gemerkt, dass er Handschuhe trug, weil er mir eine Hand aufs Gesicht drückte, und da konnte ich das Leder fühlen und riechen.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist seltsam, welche Dinge man unter Stress registriert.« Nun war sie es, die den Blickkontakt unterbrach und ins Leere sah, als versuchte sie, den Moment zu rekonstruieren. »Ich habe geschrien, um mich geschlagen und getreten, während er versuchte, mir die Arme nach unten zu drücken. Wir fielen über einen Sessel und landeten auf einem der Tische. Aus Glas. Er gab einfach unter uns nach und zerbrach. Ich glaube, ich bin auf ihn gefallen, denn für einen Augenblick schien er sich nicht rühren zu können. Ihm blieb die Luft weg, nehme ich an. Doch dann sah ich seine Messerklinge im Halbdunkel aufblitzen. Ich sprang auf und rannte um mein Leben, die Stufen hinauf ins Wohnzimmer. Und ich schrie nach James.«
Beim Erzählen war ihre Atmung schneller geworden. Sime bemerkte, wie sich die Haut an ihren Wangen und um ihre Augen rötete, als sie wieder zu ihm sah.
»Ich konnte ihn direkt hinter mir hören. Und dann fühlte ich die Wucht seiner Schulter hinten an meinen Oberschenkeln. Ich bin umgefallen wie ein nasser Sack und schlug so hart auf dem Boden auf, dass ich keine Luft mehr bekam. Ich konnte nicht atmen, nicht schreien. Lichter blendeten mich. Ich versuchte, mich frei zu strampeln und auf den Rücken zu rollen, damit ich ihn sehen konnte. Das habe ich irgendwie geschafft. Dann kniete er auf mir.«
»Da haben Sie ihn zum ersten Mal richtig gesehen.«
Sie nickte. »Nicht, dass ich viel über sein Aussehen sagen könnte. Er hatte eine Jeans an, glaube ich. Und irgendeine dunkle Jacke. Und eine schwarze Skimaske über dem Kopf. Aber eigentlich habe ich nur auf das Messer in seiner rechten Hand geachtet, Mr. Mackenzie. Er holte weit damit aus, um mich umzubringen. In dem Moment war ich sicher, dass ich sterben würde. Und auf einmal wurde alles ganz klar, als würde ich einen HD-Film in Zeitlupe sehen. Ich erblickte das Zimmer im Spiegel der Messerklinge, sah die Nähte der Lederfinger an dem Heft. Und eine merkwürdige Intensität in den Augen hinter den Sehschlitzen.«
»Die Farbe?«
»Seiner Augen?«
Sime nickte.
»Ich vermute, an die sollte ich mich erinnern. Sie schienen einfach dunkel. Schwarz. Vielleicht waren die Pupillen vollständig erweitert.« Sie holte tief Luft. »Und dann war James hinter ihm, zerrte mit beiden Händen an dem Handgelenk mit dem Messer, zog es nach hinten und den Mann weg von mir. Ich sah, wie er versuchte, ihm die Maske herunterzureißen, doch der Mann knallte ihm die Faust ins Gesicht. Beide gerieten ins Stolpern. Dann fielen sie mit einem furchtbaren Krachen zu Boden, und der andere Mann war oben.«
»Was haben Sie getan?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nichts, das irgendeinen Sinn ergab. Ich rannte durch das Zimmer und stürzte mich von hinten auf den Mann. Als hätte ich die Kraft, ihn aufzuhalten! Ich schlug und trat und schrie und merkte, wie James unter uns beiden ruckte. Dann traf mich ein Ellbogen oder eine Faust seitlich am Kopf.« Sie hob eine Hand und strich sich vorsichtig mit den Fingerspitzen über die rechte Schläfe. »Ich habe schon gehört, dass Leute die Sterne gesehen haben. In dem Moment habe ich sie auch gesehen, Mr. Mackenzie. Mein Kopf war voll von ihrem Licht. Es raubte mir alle Kraft aus den Armen und Beinen. Ich kippte auf den Rücken und dachte, ich muss mich übergeben. Ich war vollkommen hilflos, konnte mich nicht rühren, nicht mal die Augen öffnen. Dann hörte ich James rufen und gleich danach ein entsetzliches Keuchen und ein dumpfes Klatschen wie von Boxhieben. Und dann rannte der Mann an mir vorbei, die Stufen hinunter und durch den Wintergarten nach draußen.«
Sime beobachtete sie aufmerksam. Hatte sie das traumatische Ereignis anfangs noch völlig distanziert geschildert, war sie inzwischen sehr unruhig und emotional. In ihren Augen erkannte er Furcht und Besorgnis. Und sie rang die Hände in ihrem Schoß. »Und dann?«
Es dauerte ein wenig, ehe sie reagierte, als müsste sie sich aus der Erinnerung in die Gegenwart zurückholen. Plötzlich schien ihr gesamter Körper zu erschlaffen. »Als ich mich aufrappelte, sah ihn auf der Seite liegen, ganz zusammengekrümmt, wie ein Embryo. Er lag mit dem Rücken zu mir. Erst als ich bei ihm war, bemerkte ich das ganze Blut auf dem Boden. Er lebte noch und hielt sich die Brust, als wolle er die Blutung stoppen. Aber ich konnte sehen, wie mit jedem Herzschlag ständig neues Blut durch seine Finger sickerte. Ich habe versucht, zur Küche zu kommen und ein Handtuch zu holen, um die Blutung zu stillen, aber ich bin in dem Blut ausgerutscht und hingefallen. Der Boden war ganz glatt, und ich bin geschlingert und gerutscht wie ein Idiot. Panik, schätze ich.«
Sie schloss die Augen. Sime stellte sich vor, wie sie hinter ihren flatternden Lidern die Ereignisse visualisierte. Sie noch einmal durchlebte – oder sich ausdachte. Er war nicht sicher, was von beidem. Aber er wusste bereits, dass er sich wünschte, ihre Geschichte wäre wahr.
»Als ich wieder bei ihm war, lag er schon im Sterben. Ich konnte es an seinem Atmen hören, der war so schnell und flach. Seine Augen waren offen, und ich konnte sehen, wie das Licht in ihnen erlosch. Ich kniete in seinem Blut und schob ihn auf den Rücken. Eigentlich wusste ich nicht, was ich hätte tun sollen, also drückte ich ihm das aufgerollte Handtuch auf die Brust, um die Blutung zu stoppen. Aber da war schon so viel Blut auf dem Boden. Und dann kam dieser lange Atemzug aus seinem offenen Mund, wie ein Seufzen. Und dann war er tot.«
»Sie haben den Nachbarn erzählt, dass Sie versuchten, ihn mit einer Herzmassage wiederzubeleben.«
Sie nickte. »Das habe ich im Fernsehen gesehen. Aber im Grunde hatte ich keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich habe einfach beide Hände auf seine Brust gepresst, immer wieder, so fest ich konnte. Alles, um sein Herz wieder zum Schlagen zu bringen.« Nun schüttelte sie den Kopf. »Aber da war nichts. Kein Lebenszeichen. Ich muss zwei Minuten lang seine Brust gepumpt haben, vielleicht länger. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor. Schließlich gab ich es auf und probierte Mund-zu-Mund-Beatmung. Ich habe sein Kinn nach unten gezogen, ihm die Nase zugehalten und ihm Luft in den Mund gepustet.«
Sie sah Simon an, und Tränen schwammen in ihren Augen. »Ich konnte sein Blut schmecken. Es war an meinen Lippen und in meinem Mund. Aber ich wusste im Grunde, dass es nichts nützte. Er war tot, und ich konnte nicht das Geringste tun, um ihn zurückholen.«
»Da sind Sie zum Haus der Nachbarn gelaufen?«
»Ja. Ich glaube, ich war ziemlich hysterisch. Auf dem Weg nach draußen hatte ich mir die Füße im zerbrochenen Glas geschnitten. Ich konnte nicht sagen, welches Blut von ihm und welches von mir war. Die McLeans habe ich wohl halb zu Tode erschreckt.«
Bei ihrem Blinzeln liefen die Tränen über und rannen auf den Spuren ihrer Vorgänger über ihr Gesicht. Sie saß da und starrte Sime an, als wartete sie auf die nächste Frage oder wollte ihn herausfordern, ihr zu widersprechen. Doch er erwiderte schlicht ihren Blick, halb versunken in die Visualisierung ihrer Geschichte. Er war hin- und hergerissen zwischen der professionellen Skepsis, die man ihm während der Ausbildung eingeimpft hatte – und die sich auch aus Erfahrung speiste –, und menschlicher Empathie. Und immer noch hatte er dieses komische, verstörende Gefühl, sie zu kennen. Er hatte keinen Schimmer, wie lange sie stumm so saßen.
»Störe ich gerade, Simon?« Marie-Anges Stimme holte ihn abrupt in die Gegenwart zurück. Sime drehte sich erschrocken zur Tür. »Ich meine, ist die Befragung vorbei oder nicht?« Sie sprach Englisch, stand in der halb offenen Fliegentür und sah ihn neugierig an.
Sime stand auf. Er fühlte sich desorientiert, verwirrt, als hätte er kurzzeitig das Bewusstsein verloren gehabt. Seine Augen wurden von einer Bewegung im Flur hinter der Treppe abgelenkt. Er sah Thomas Blanc dort stehen, der ihn mit einem seltsamen Blick betrachtete. Er nickte stumm, und Sime sagte: »Ja, wir sind hier fürs Erste fertig.«
»Gut.« Marie-Ange wandte sich an Kirsty Cowell. »Ich möchte, dass Sie mit mir zur Klinik kommen. Wir machen Fotos, und die Krankenschwester wird Sie untersuchen. Danach können Sie sich saubermachen.« Sie sah zu Sime, aber er mied ihren Blick, deshalb drehte sie sich wieder der jungen Frau zu. »Ich warte draußen auf Sie.« Dann ließ sie die Fliegentür zufallen und war fort.
Sime blickte zum Flur, doch Blanc war wieder ins Schlafzimmer gegangen.
Kirsty stand auf. Sie fixierte ihn mit einem seltsam wissenden Blick. »Simon hat sie Sie genannt. Sie sagten mir, Ihr Name wäre Sheem.«
Er war unsinnig verlegen. »Ist er. Das ist schottisches Gälisch für Simon, geschrieben S-I-M-E. Zumindest schrieb mein Vater es so. Und so nennt mich jeder.«
»Außer ihr.«
Er fühlte, wie sich seine Wangen röteten, und zuckte mit den Schultern.
»Ein Paar?«
»Mein Privatleben ist hier nicht von Belang.«
»Also ein Ex-Paar.«
Vielleicht machten sie einfach der Stress und die Erschöpfung unverschämt. Sie sah nicht mal interessiert aus. Dennoch fühlte er sich gefordert zu antworten: »Verheiratet.« Dann fügte er hastig hinzu: »Gewesen.« Und schließlich: »Diese Befragung ist zu Ende. Ich möchte Sie aber nach der Untersuchung hier wiedersehen.« Sie blickte ihm noch einen Moment in die Augen, ehe sie sich umdrehte und durch die Fliegentür auf die Veranda ging.
Sime folgte kurz darauf und stellte fest, dass Marie-Ange auf ihn wartete. Die Witwe des Ermordeten war hinten in den Minibus eingestiegen, Lapointe saß am Steuer. Der Motor lief im Leerlauf, sein leises Surren wurde vom Wind fortgetragen. Marie-Ange trat so dicht an Sime heran, dass es vertraut gewirkt hätte, wäre ihre Körpersprache weniger feindselig gewesen. Sie senkte die Stimme. »Lass uns lieber jetzt gleich die Grundregeln klären.«
Er sah sie ungläubig an. »Welche Regeln?«
»Es ist ganz einfach, Simon.« Sie benutzte seinen formellen Namen schon seit der Trennung. »Du machst deinen Job, ich meinen. Sofern sich keine Überschneidungen ergeben, gibt es nichts, worüber wir reden müssen.«
»Wir haben schon seit Monaten nichts, worüber wir reden können.«
Ihre Stimme wurde noch leiser, zu einem Zischen, das im Wind kaum zu hören war. »Ich will nicht, dass wir uns hier streiten. Nicht vor meinem Team.«
Ihr Team. Als hätte er extra erinnert werden müssen, dass er hier der Zaungast war. Ihre Augen waren so kalt, dass er beinahe zurückwich. Und er dachte daran, wie sie ihn einst geliebt hatte.
»Es wird keinen Streit geben.«
»Gut.«
»Aber du kannst jederzeit kommen und deine restlichen Sachen abholen, wenn du willst. Mir gefällt nicht, dass sie in der Wohnung herumliegen.«
»Mich wundert, dass du sie bemerkst. Mich hast du kaum je bemerkt, als ich noch dort wohnte.«
»Vielleicht weil du nie da warst.«
Das ließ sie stehen. »Weißt du, was interessant ist? Ich will den Kram nicht. Er fehlt mir nicht. Wir fehlen mir nicht. Warum wirfst du nicht alles in den Müll?«
»Wie du es mit unserer Ehe getan hast.«
»Komm mir nicht damit. Du bist ein kalter Fisch, Simon, weißt du das? Du hast nichts zu geben. Ich bedaure einzig, dass ich so lange gebraucht habe, es zu erkennen. Dich zu verlassen war das Beste, was ich je gemacht habe. Du hast keine Vorstellung, wie frei ich mich fühle.«
All seine Kränkung und sein Kummer standen deutlich in den braunen Augen, mit denen er sie ansah. Er hatte sie oft gefragt, ob es jemand anderen gab, und sie hatte stets geleugnet. Alles war seine Schuld. Das Streiten, das Schweigen, der ausbleibende Sex. Und jetzt zahlte er den Preis für ihre Freiheit. »Dann hoffe ich, du genießt es«, war alles, was er sagte.
Sie hielt seinen Blick noch einen kurzen Moment. Schließlich drehte sie sich weg, um die Stufen hinunter zum wartenden Minibus zu laufen. Durch die leicht spiegelnde Autoscheibe sah er, dass Kirsty ihn beobachtete.
Nach einer Reihe gescheiterter Beziehungen war es ihm leichtgefallen, jedes Selbstvertrauen zu verlieren. Er erreichte den Punkt, an dem er zu glauben begann, dass er das Problem war.
Und an genau jenem Punkt war Marie-Ange in sein Leben getreten.
An einem schmerzlichen, einsamen Punkt. Er war damals auf die dreißig zugegangen, hatte eine Handvoll holpriger Beziehungen hinter und eine lange Abfolge leerer Nächte vor sich. Ihm war klar, dass sein Job sein Leben und seine Zukunft war. Und dass er bald so unglaublich festgefahren in seinen Gewohnheiten sein würde, dass ein Zusammenleben mit jemandem wie ihm am Ende keine Option mehr wäre.
Er war von jeher autark gewesen, selbst als Kind. Schon damals hatte er wenige Freunde gehabt und keinerlei Neigung, sich mitzuteilen.
Vor der Begegnung mit Marie-Ange war sein Apartment ein freudloser Ort gewesen. Er hatte sich nie die Zeit genommen, es über die Grundbedürfnisse hinaus ein- oder herzurichten. Das einzige Bild an der Wand war eine Landschaft, die fünf Generationen zuvor von einem Urahnen gemalt worden war, der sich nach seiner Ankunft in Kanada einen Ruf als Künstler erworben hatte. Nicht dass Sime sonderlich an dem Bild hing. Es war nach dem Unfall seiner Eltern übrig geblieben. Seine Schwester hatte die meisten Sachen von ihnen übernommen, fand aber, dass Sime das Gemälde haben sollte. Es an die Wand zu hängen, schien ihm die praktischste Lösung; so war es nicht mehr im Weg. Marie-Ange hatte es nie gemocht.
Eine Zeit lang hatte sie versucht, die Wohnung in ein Zuhause zu verwandeln. Nestbau. Aber sie beide gingen so viele Kompromisse ein, bis sich letztlich keiner von ihnen mehr wohlfühlte.
Die Wohnung war im zweiten Stock eines Apartment-Blocks in St. Lambert. Sie verfügte über drei Schlafzimmer und war ein ideales erstes Heim für ein Paar, das eine Familie gründen wollte. Dieser Gedanke war ständig in Simes Hinterkopf, als er einzog. Er war zuvor in einer Beziehung gewesen, die fast ein Jahr gehalten hatte, ein Rekord für ihn. Und sie wollten zusammenziehen.
Dann war sie auf einmal fort gewesen. Ohne ein Wort. Und Sime erfuhr nie, warum. Da fing es an, dass ihn die Selbstzweifel beschlichen.
Leute kennenzulernen war ihm nie leichtgefallen. Die Arbeitszeiten bei der Polizei waren quasi per definitionem asozial. Und sie machten es noch schwieriger, eine Beziehung aufrechtzuerhalten, weil man nie sagen konnte, wann man nach Hause kam, bisweilen nicht mal, an welchem Tag. In das gesellige Leben der Sûreté hatte sich Sime auch nie richtig integriert, wie viele seiner Kollegen es taten. Es schien ihm schlicht zu inzestuös. Folglich war die Dating-Agentur so etwas wie die letzte Hoffnung eines verzweifelten Mannes gewesen.
Ein Freund aus den Tagen an der Akademie hatte es vorgeschlagen, und anfangs war Sime vehement dagegen gewesen. Dennoch nagte die Idee über Wochen an seinem Unterbewusstsein und entkräftete langsam all seine Gegenargumente. Schließlich knickte er ein.
Es war eine Online-Agentur. Natürlich musste er ihnen bestätigen, wer er war, doch ansonsten wurde ihm völlige Anonymität garantiert. Sie gaben ihm einen erfundenen Namen, den er nach dem ersten Treffen behalten oder ersetzen konnte.
Sime hatte einen ganzen Abend mit dem Ausfüllen des Online-Fragebogens verbracht und sich bemüht, so ehrlich wie möglich auf all die Fragen zu antworten. Und dann, als er seine Antworten noch einmal durchlas, kam er zu dem Schluss, dass keine Frau, die alle Tassen im Schrank hatte, sich mit ihm verabreden wollen würde. Deshalb war er gleichermaßen überrascht wie schockiert, als die Agentur sagte, dass sie eine passende Kandidatin für ihn hätte und sich die betreffende Frau, falls er wolle, gern mit ihm verabreden würde.
Sime hatte Mörder in Grund und Boden gestarrt, war angeschossen worden, von einem amoklaufenden Mann mit einem Schnellfeuergewehr entwaffnet worden, aber nie war er so nervös gewesen wie am Abend des ersten Dates.
Sie hatten verabredet, sich in einem Starbucks in der Avenue du Mont-Royal Est zu treffen. Sime kam zu früh dort an, weil er fürchtete, im dichten Verkehr aufgehalten zu werden und deshalb zu spät zu kommen. In dem Café war es ruhig, als er es betrat und sich einen Grande Caramel Macchiato bestellte. Er setzte sich ans Fenster, so dass er die Kunden kommen und gehen sah.
Und da hatte er Marie-Ange die Straße überqueren gesehen. Selbstverständlich kannte er sie. Sie gehörte zu den Tatortspezialisten seiner Abteilung, auch wenn sie noch nie zusammengearbeitet hatten. Sime drehte sich weg, damit sie ihn nicht in dem Fenster sitzen sah, und war entsetzt, als sie die Tür öffnete und zum Tresen ging. Vor lauter Scham bei dem Gedanken, dass sie ihn hier bei einem Blind Date ertappen könnte, krümmte er sich beinahe in sich zusammen. Das hätte am nächsten Tag in der gesamten Abteilung die Runde gemacht. Er hoffte inständig, dass sie sich nur einen Kaffee zum Mitnehmen holen und wieder verschwinden würde.
Aber das tat sie nicht. Stattdessen nahm sie ihren Magermilch-Latte von dem Barista an, drehte sich um und sah ihn direkt an. Sime wünschte, der Boden würde sich auftun und ihn verschlucken. Sie schien fast erschrocken, aber die Tatsache, dass sie einander gesehen hatten, war nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Also lächelte sie, kam herüber und setzte sich an seinen Tisch. Sime gab sich alle Mühe, ihr Lächeln zu erwidern, auch wenn es sich eher wie eine Grimasse anfühlte.
»Hi, Sime. Wer hätte gedacht, dass ich dich hier treffe!«
Er platzte heraus: »Ich warte auf jemanden.«
»Aha?« Ein Schmunzeln erschien auf ihren Zügen, und sie zog eine Braue hoch. »Ein heißes Date?« Im Gegensatz zu ihm schien sie unnatürlich entspannt.
»In gewisser Weise.«
»Jemand, den ich kenne?«
»Kann ich mir nicht vorstellen.«
»Also niemand von der Polizei. Dieser Tage scheine ich nur noch Cops zu kennen.«
»Ja, geht mir nicht anders.«
»Ausgenommen dein Date.«
Sime versuchte, amüsiert zu wirken. »Ja, ausgenommen mein Date.«
Ein unangenehmes Schweigen folgte, und sie nippten an ihren Kaffeebechern mit den Plastikdeckeln. Marie-Ange blickte auf ihre Uhr, und Sime sah sie verstohlen an. Eigentlich hatte er sie bisher nie besonders beachtet. Sie war nur eine Kollegin, und ihr kurzes Haar und die knabenhafte Figur verstärkten den Eindruck, sie sei »einer von den Jungs«. Aber jetzt bemerkte er die wunderschöne Tiefe ihrer grünen Augen, das zart gebogene Kinn und die ziemlich vollen Lippen. Auf den zweiten Blick war sie wirklich recht attraktiv. Sie sah auf und ertappte ihn bei seinen Betrachtungen.
»Wann ist deine Verabredung?«
»Um sieben.«
Sie seufzte. »Schade, du hättest mich zum Essen einladen können. Ich habe heute Abend nichts anderes vor.«
Und auf einmal dachte er: Ja, ich würde viel lieber mit dir essen gehen! Mit jemandem, bei dem ich nichts vorspielen muss. Jemandem, der mich schon kennt. Der weiß, dass ich ein Cop bin und was das heißt. Er sah zur Wanduhr. Es war erst 18:55. Und er stand auf. »Machen wir das.«
Sie runzelte die Stirn. »Was machen?«
»Essen gehen?«
Sie lachte. »Was ist mit deinem Date?«
Sime schüttelte den Kopf und sah nervös zur Tür, falls sie plötzlich aufkreuzte. »Die mochte ich sowieso nie besonders.« Er reichte ihr die Hand. »Komm mit.«
Wieder lachte sie, nahm seine Hand und stand auf. »Wo gehen wir hin?«
»Ich kenne ein sehr gutes kleines Lokal drüben in der Rue Jeanne-Mance.«
Sie setzten sich und redeten den Abend, wie sie es nie wieder taten. Auf eine seltsame Weise fühlte Sime sich befreit. Der Wein half, seine Hemmungen zu lösen, und unversehens erzählte er von all den kleinen Ängsten und Macken, die er so sorgsam vor der Welt verbarg, weil man sich verwundbar macht, wenn man seine Schwächen offenbart. Aber er fühlte sich nicht in Gefahr, weil sie sich ebenfalls öffnete. Sie erzählte ihm von ihrer gescheiterten Teenager-Ehe, von dem Onkel, der so gern ihre keimenden Brüste streichelte, als sie gerade mal dreizehn war, und vom Kampf ihrer Mutter gegen den Alkohol und später gegen den Brustkrebs.
Sime erzählte ihr vom Tod seiner Eltern, die gerade den Salmon River hatten überqueren wollen, als die Brücke einstürzte, von seinen Schwierigkeiten mit anderen Kindern an der Schule und seiner Unbeholfenheit bei Mädchen.
Im Nachhinein klang das ziemlich deprimierend, dabei hatten sie auch viel gelacht. In zehn Jahren bei der Polizei sammeln sich allerhand Anekdoten an, deshalb war es schon spät, als sie bei ihrem zweiten Kognak saßen. Sime war vom Alkohol so mutig, dass er gestand, er wäre im Starbucks gewesen, um eine Frau zu treffen, die ihm eine Online-Dating-Agentur vermittelt hatte.
Marie-Anges Lächeln erstarb, und sie sah ihn mit großen Augen an. »Im Ernst?«
Sofort bereute er, es ihr gesagt zu haben.
»Und du hast die arme Frau versetzt, ohne ihr eine Chance zu geben?«
Sime bekam ein derart schlechtes Gewissen, dass er Mühe hatte, ihr in die Augen zu sehen. »War das wirklich so schlimm von mir?«
Sie schürzte die Lippen und nickte. »Tja, Sime, leider muss ich dir sagen, dass es ziemlich gemein war. Vor allem weil ich die Frau war, die du versetzt hast.«
Sime fiel die Kinnlade herunter. Er musste so perplex ausgesehen haben, dass sie lachte, bis ihr Tränen über die Wangen liefen. Er brauchte einen Moment, bis er begriff. Sie beide hatten ihr Blind Date versetzt, um mit jemandem zusammen zu sein, den sie schon kannten. Und derjenige, den sie bereits kannte, war ihr Blind Date gewesen.
Am Ende hatte ihr Gelächter zur Folge, dass der Restaurantbesitzer sie bat, zu gehen. Die anderen Gäste fühlten sich gestört.
Sie waren in Simes Apartment gegangen, und in der Nacht hatten sie den besten Sex ihrer ganzen Beziehung gehabt. Es war pures Begehren, wie Sime es nie zuvor erlebt hatte. Sechs Monate später waren sie verheiratet.
Doch wie Sime seither gelernt hatte, konnte man eine Beziehung nicht auf dem Fundament einer Nacht gründen. Und was für den Computer einer Vermittlungsagentur ein ideales Paar ergab, musste es im wirklichen Leben nicht zwangsläufig sein.
Von Südosten frischte der Wind auf, peitschte über die Klippen und plättete alles, was sich ihm in den Weg stellte. Die Sonne, die zunächst von einer hohen Wolke verschleiert gewesen war, wurde von Gewitterwolken verschluckt, die sich rasch über dem schiefergrauen, tosenden Meer näherten. Die Luft jedoch war noch warm und sanft auf der Haut. Sime saß inmitten der sich nach unten biegenden Gräser, nur Meter vom Klippenrand entfernt. Er konnte hören, wie sich unterhalb der Felsen die Wellen brachen, und hatte das Gefühl, der Naturgewalt völlig ausgesetzt zu sein. Gleichzeitig eins mit der Natur und komplett ihrer Gnade ausgeliefert. Er fühlte sich fast ein bisschen unwirklich, verloren in einem Leben, das irgendwo schiefgegangen war.
Wie konnte es sein, dass seine Beziehung zu Marie-Ange, die so leicht begonnen hatte, so schmerzlich verging? Zuneigung wurde zu Feindschaft. Die Erfüllung, die er in den frühen Tagen empfunden hatte, war einer peinigenden Leere gewichen. Ihm kam der Gedanke, dass keiner von ihnen jemals den anderen geliebt hatte. Es war eher ein Brauchen gewesen als Liebe. Und nachdem sie ihren ersten Hunger gestillt hatten, war das Bedürfnis eben nicht mehr da.
Anfangs hatte Marie-Ange eine klaffende Leerstelle in seinem Leben ausgefüllt. Er hatte schon seit Beginn der Pubertät gespürt, dass er anders war. Etwas fehlte. Etwas, das er nicht benennen und erst recht nicht verstehen konnte. Und für einige kurze Jahre hatte Marie-Ange dieses fehlende Etwas in ihm ersetzt, ihn in gewisser Weise vervollständigt. Was sie betraf, nahm er an, dass irgendein Mutterinstinkt sie getrieben hatte, den verlorenen kleinen Jungen in die Arme zu nehmen. Das war keine gute Basis für eine Beziehung. Wie sie eindrucksvoll bewiesen hatten.
Für einen Moment schloss er die Augen und ließ sich vom Wind streicheln. Könnte er doch nur schlafen, dann würde vieles von dieser Qual verschwinden. Dessen war er sich sicher. Er spürte den Impuls, sich einfach hier ins Gras zu legen, mit dem Geräusch des Windes und des Meeres in seinen Ohren, solange das heranziehende Unwetter noch entfernt war. Aber kaum schloss er die Augen, schwebte ihm aus der Dunkelheit Kirsty Cowells Gesicht entgegen. Als wäre sie immer da gewesen. Hätte auf ihn gewartet.
»Alles in Ordnung, Sime?«
Bei der Stimme, die über das Windrauschen hinweg ertönte, blickte er erschrocken auf und sah Lieutenant Crozes, der vor ihm stand. »Klar«, sagte Sime. »Ich denke nur ein bisschen nach.«
Crozes drehte sich zum Meer um. »Die Wettervorhersage kündigt ein höllisches Unwetter an.«
Sime folgte seinem Blick zu den schwarzen Quellwolken, die den Himmel immer weiter zu verschlingen drohten. »Ja, sieht ganz so aus.«
»Anscheinend sind das die Ausläufer vom Hurrikan Jess.«
Nur am Rande hatte Sime mitbekommen, wie in den Fernsehnachrichten von dem Wirbelsturm berichtet wurde, der die Ostküste der Vereinigten Staaten verwüstet hatte. »Im Ernst?«
»Ja, auf Unwetter-Niveau heruntergestuft. Allerdings nennen sie es ein orkanartiges Unwetter. Es steht also in den Sternen, ob wir heute Abend von der Insel kommen.«
Sime zuckte mit den Schultern. Eigentlich war es ihm egal, denn wo er sich auch hinlegte, er würde sowieso nicht schlafen. »Wie läuft es mit der Befragung der Nachbarn?«
Crozes atmete durch gespitzte Lippen aus. »Es ist zum Mäusemelken, Sime. Die sind alle nett und reden auch viel, erzählen aber nichts. Zumindest nichts von Belang. Und keiner sagt ein böses Wort über Kirsty Cowell.«
Sime stand auf und klopfte sich tote Gräser von der Hose. »Warum sollten sie?«
»Tja, selbst wenn sie sollten, machen sie es eben nicht. Sie ist eine von ihnen, eine waschechte Insulanerin. Doch auch wenn es niemand ausspricht, scheinen alle zu glauben, dass sie ihn umgebracht hat.«
Sime sah ihn verwundert an. »Warum?«
»Genau das sollten wir herausfinden«, antwortete Crozes achselzuckend, drehte sich um und nickte zu einem grün gestrichenen Haus keine hundert Meter hügelabwärts. »Solange sie bei Marie-Ange und der Schwester ist, könntest du vielleicht mal mit Blanc die Nachbarn befragen. Laut Aucoin waren sie die Ersten am Tatort.«
Erste feine Regentropfen stachen ihnen ins Gesicht.
Die McLeans waren ein seltsames Paar. Nervös saßen sie im Sommerhaus der Cowells. Obwohl sie offensichtlich schon oft hier gewesen waren, fühlten sie sich spürbar verunsichert und unwohl, als wären sie in fremder Umgebung. Sime schätzte Agnes auf ungefähr siebzig und Harry etwas älter. Agnes hatte volles weißes Wattehaar, hochaufgesteckt und an den Seiten gekräuselt. Harry hatte fast gar kein Haar mehr, und sein braungebrannter kahler Schädel war von Altersflecken übersät. Beide kamen Sime sehr klein vor, wie geschrumpft.
»Ich weiß nicht genau, wie spät es war.« Agnes’ Stimme war schrill und ging rauf und runter wie ein flatternder Schmetterling an einem Sommertag. »Wir hatten schon geschlafen.«
»Um welche Zeit gehen Sie normalerweise ins Bett?«
»Gegen zehn.« Harry hatte die Hände in den Schoß gelegt, die nikotinverfärbten Finger nestelten an seinem Ehering. Zweifelsohne wäre er glücklicher, hätte er eine Zigarette.
»Also war es nach zehn, aber noch vor Mitternacht?«
»Es war zehn nach zwölf, als ich das erste Mal auf die Uhr sah«, antwortete Agnes. »Und das war, nachdem wir die Schwester gerufen hatten.«