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Siebzehn Jahre sind vergangen, seit Roddy Mackenzie, Leader der Band Amran, mit seinem Flugzeug verunglückte und verschollen blieb. Ein halbes Leben später ist Fin Macleod, früher Roadie der Band, zurück auf der Hebrideninsel Lewis. Im Auftrag eines Gutsbesitzers bekämpft er Wilderer. Doch der Erste, den Fin zur Strecke bringen soll, ist ausgerechnet sein alter Freund Whistler. Die beiden werden Zeugen eines Moorbruchs, der das Wrack von Roddys Flugzeug zu Tage befördert. Fin erkennt an Whistlers Reaktion sofort, dass etwas nicht stimmt. Dabei ahnt er noch nicht, dass es gar nicht Roddys Leiche ist, die sie gefunden haben ... Ein packender literarischer Krimi aus Schottland.
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Seitenzahl: 495
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Siebzehn Jahre sind vergangen, seit Roddy Mackenzie verschwunden ist. Seine Band Amran war gerade auf dem Höhepunkt ihres Ruhms, als Bandleader Roddy verunglückte. Flugzeug und Leiche blieben verschollen. Fin Macleod arbeitete als Roadie für Amran. Ein halbes Leben später ist Fin endgültig zurück auf der Hebriden- Insel Lewis. Ein Gutsbesitzer hat den Ex-Polizisten eingestellt, um der Wilderer Herr zu werden. Doch der Erste, den Fin zur Strecke bringen soll, ist ausgerechnet sein alter Freund Whistler. Dessen keltische Flöte hat den Klang von Amran einst unverwechselbar gemacht.
Die beiden Freunde werden Zeugen eines unheimlichen Naturschauspiels, eines Moorbruchs, der das Wrack von Roddys Flugzeug zu Tage befördert. Fin erkennt an Whistlers Reaktion sofort, dass etwas nicht stimmt. Dabei ahnt Fin noch nicht, dass es gar nicht Roddys Leiche ist, die sie gefunden haben….
Zsolnay E-Book
Peter May
Moorbruch
Roman
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz
Paul Zsolnay Verlag
Der Originaltitel lautet The Chessmen, zuerst veröffentlicht unter dem Titel Le braconnier du lac perdu bei Editions du Rouergue.
ISBN978-3-552-05845-3
© Editions du Rouergue, 2012
Umschlag: Anzinger und Rasp, München
Foto: © plainpicture/Mohamad Itani
Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe
© Paul Zsolnay Verlag Wien 2017
Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien
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Kreutzfeldt digital, Hamburg
In liebevollem Gedenken an die kleine Jennifer
»Welt ist ein Schachbrett, Tag und Nacht geschrägt,
Wie Schicksal Menschen hin und her bewegt,
Sie durcheinander schiebt und schlägt,
Und nachher in die Schachtel legt.«
– aus dem Rubaiyat des Omar Khayyam, XLIX
Er sitzt an seinem Schreibtisch, grau vor Angst und vor dem Gewicht dieses gewaltigen Schritts, der sich, einmal getan, nicht rückgängig machen lässt. So wenig wie die Zeit und der Tod.
Die Hand, die den Stift hält, zittert beim Schreiben.
Mit dem Gedanken trage ich mich schon eine ganze Weile. Ich weiß, die meisten Menschen werden nicht verstehen, warum ich das tue, vor allem die nicht, die mich lieben und die ich ebenfalls liebe. Ich kann nur sagen, niemand kann ermessen, durch was für eine Hölle ich gegangen bin. Und in den letzten Wochen ist es einfach unerträglich geworden. Es ist Zeit, dass ich abtrete. Es tut mir so leid.
Er setzt seinen Namen darunter. Den üblichen extravaganten Krakel. Unleserlich. Und faltet das Blatt zusammen, als würden die Worte verschwinden, wenn man sie nicht mehr sieht. Wie ein böser Traum. Wie der Schritt ins Dunkel, den zu gehen er sich anschickt.
Nun steht er auf und blickt sich ein letztes Mal in seinem Zimmer um. Bringt er wirklich den Mut auf, das durchzuführen? Soll er den Brief dalassen oder nicht? Würde das etwas ändern? Er wirft einen Blick auf das Blatt, das aufgeklappt ist und am Bildschirm des Computers lehnt, wo es, hofft er, gleich auffällt. Der Schmerz der Reue erfüllt sein Herz, als sein Auge der geschwungenen Schreibschrift folgt, die er vor so vielen Jahren gelernt hat, als er sein ganzes Leben noch vor sich hatte. Eine bittersüße Erinnerung an Unschuld und Jugend. An den Geruch von Kreidestaub und warmer Schulmilch.
Und jetzt ist das alles umsonst gewesen!
Als Fin die Augen aufschlug, lag ein seltsam rosa getöntes Licht in dem alten Steinhaus, in dem sie Schutz vor dem Sturm gefunden hatten. Träger Rauch stieg aus dem noch schwach glimmenden Feuer in die stille Luft auf. Whistler war nicht mehr da.
Fin stützte sich auf die Ellbogen. Der Stein am Eingang war zur Seite gerollt worden, und dahinter lag der rosa getönte Nebel, mit dem der Morgen in den Bergen anfing. Der Sturm hatte sich verzogen. Er hatte sich abgeregnet und eine unnatürliche Stille hinterlassen.
Unter Schmerzen schälte sich Fin aus seinen Decken und kroch am Feuer vorbei zu seinen Sachen, die über den Stein ausgebreitet waren. Sie waren zwar immer noch ein bisschen feucht, aber trocken genug, dass er sie wieder anziehen konnte, und er legte sich auf den Rücken und schob ruckelnd die Beine in die Hose, setzte sich dann auf, knöpfte das Hemd zu und zog den Pullover über den Kopf. Er streifte die Socken über, zwängte die Füße in die Stiefel und kroch hinaus zum Hang, ohne sie erst umständlich zuzuschnüren.
Die Aussicht, die ihn empfing, war fast übernatürlich. Steil ragten ringsum die Berge des Südwestens von Lewis auf, ihre Gipfel von niedrigen Wolken verhängt. Das unter ihm liegende Tal erschien ihm nun breiter als am Abend zuvor im Licht der Blitze. Die riesigen Felsbrocken, die an seinem Boden verstreut waren, erhoben sich wie Geistergestalten aus den Nebelschwaden, die von Osten heranzogen, wo eine noch nicht sichtbare Sonne schon ein unnatürlich rot leuchtendes Licht warf. Es war wie beim Anbeginn der Zeiten.
Whistler zeichnete sich umrisshaft neben den verfallenden Steinhütten ab, die hier Bienenkörbe genannt wurden und auf einem Grat standen, von dem man das ganze Tal überblickte. Noch wackelig auf den Beinen, stolperte Fin auf dem aufgeweichten Boden zu ihm hinüber.
Whistler schaute nicht her, tat überhaupt nichts dergleichen. Er stand einfach nur da, starr wie ein Ölgötze. Fin war bestürzt über Whistlers bleiches Gesicht, aus dem alle Farbe gewichen war. Der Bart sah aus wie Farbe, schwarz und silbern, auf weiße Leinwand gespachtelt, die Augen dunkel und unergründlich, in Schatten versunken.
»Whistler, was ist?«
Doch Whistler gab keine Antwort, und Fin sah nun auch zu der Stelle im Tal, die Whistler fixierte. Im ersten Moment konnte er den Anblick, der sich ihm dort bot, gar nicht einordnen. Er erfasste zwar, was er sah, es ergab aber keinen Sinn. Fin wandte sich um und sah an den Bienenkörben vorbei zu den noch höheren Felsen und dem mit Geröll bedeckten Hang, der zu dem Bergrücken führte, auf dem er am Abend zuvor gestanden und den Loch betrachtet hatte, auf dessen Wasser sich die Blitze spiegelten.
Dann schaute er wieder ins Tal hinab. Aber da war kein Wasser und kein Loch. Bloß eine große leere Senke. An dem deutlich abgegrenzten Rand war zu erkennen, wie sie sich im Verlauf von Äonen durch den Torf und den Stein eingegraben hatte. Der Vertiefung im Boden nach zu urteilen maß sie vielleicht eine Meile in der Länge, eine halbe Meile in der Breite und fünfzig oder sechzig Fuß in der Tiefe. Ihr Bett bildete ein dicker Brei aus Torf und Schlamm, getüpfelt mit großen und kleinen Felsbrocken. Am östlichen Ausgang, wo das Tal sich im Morgennebel verlor, zog sich ein breiter brauner Kanal, der vierzig oder fünfzig Fuß messen mochte, wie die Schleimspur einer Riesenschnecke durch den Torf.
Fin warf Whistler einen Blick zu. »Wo ist der Loch abgeblieben?«
Doch Whistler sagte achselzuckend nur: »Der ist weg.«
»Wie kann ein Loch einfach verschwinden?«
Whistler starrte noch eine ganze Weile weiter wie in Trance zu der leeren Senke. Dann sagte er unvermittelt, als habe Fin eben erst gesprochen: »So etwas ist früher schon mal vorgekommen, Fin. Ist aber lange her, du und ich waren noch nicht auf der Welt. In den Fünfzigern war das. Drüben bei Morsgail.«
»Ich verstehe kein Wort. Wovon sprichst du?« Fin konnte sich keinen Reim auf das Gehörte machen.
»Da war es genau dasselbe. Der Briefträger kam auf dem Pfad, der von Morsgail nach Kinlochresort führt, jeden Morgen an einem Loch vorbei. Ganz abgelegen, mitten im Nichts. Der Loch nan Learga. Tja, und eines Morgens kommt er wie üblich dort vorbei, da ist der Loch weg. Und an der Stelle bloß noch eine tiefe Senke. Ich bin selber schon viele Male da vorbeigekommen. War damals eine ziemliche Sensation. Da haben sich Journalisten aus London herbemüht, von Zeitungen und vom Fernsehen. Und was die spekuliert haben … Heute würde man sie für verrückt halten, aber damals haben sie den Äther und die Spalten ihrer Zeitungen damit gefüllt. Die beliebteste Hypothese war, dass ein Meteor in den Loch eingeschlagen und ihn zum Verschwinden gebracht hätte.«
»Und was war wirklich passiert?«
Whistler zuckte die Achseln. »Am plausibelsten ist noch die Theorie, dass es ein Moorbruch war.«
»Und das ist was?«
Whistler verzog die Lippen und konnte den Blick nicht von dem schlammgefüllten Becken des verschwundenen Lochs lösen. »Tja … so was kann in einer langen Phase ohne Regen schon mal vorkommen. Hier ist es aber eher selten.« Es fehlte nicht viel, und er hätte gelächelt. »Die oberste Torfschicht vertrocknet und reißt ein. Und wie jeder Torfstecher weiß, wird Torf, wenn er einmal trocken ist, wasserundurchlässig.« Er wies mit dem Kopf auf die Stelle, an der sich die Spur der Riesenschnecke im Dunst verlor. »Da hinten ist noch ein Loch, weiter unten im Tal. Wenn ich Geld hätte, würde ich es darauf verwetten, dass der Loch hier in den anderen gesickert ist.«
»Wie das?«
»Die meisten Lochs ruhen auf einer Schicht Torf und der wiederum auf Lewiser Gneis. Ganz oft sind sie durch Kämme aus einem weniger festen Gestein getrennt, Amphibolit zum Beispiel. Wenn es nach einer trockenen Zeit stark regnet, wie gestern Abend eben, läuft das Regenwasser durch die Risse im Torf durch und bildet eine Schlammschicht über dem Grundgestein. Gut möglich, dass der Torf zwischen den Lochs hier einfach auf dem Schlamm weggerutscht ist, und dann ist das Wasser im oberen Loch wegen seines Gewichts durch das Amphibolit durchgebrochen und alles zusammen ins Tal gesackt.«
Ein Lüftchen regte sich, die Sonne stieg ein Stückchen höher, und der Dunst hob sich. Genug, um den Blick auf etwas Rot-Weißes freizugeben, das an der wohl tiefsten Stelle des Lochs das Licht einfing.
»Was zum Teufel ist das?«, sagte Fin und fragte, als Whistler keine Antwort gab: »Hast du ein Fernglas dabei?«
»Im Rucksack.« Whistlers Stimme war kaum mehr als ein Hauch.
Fin lief zu ihrer Steinhütte zurück, kroch hinein und holte das Fernglas. Als er wieder auf dem Kamm war, stand Whistler noch genau so da wie zuvor. Und starrte weiter reglos auf die Senke, die einmal der wassergefüllte Loch gewesen war. Fin hob sich das Fernglas an die Augen und drehte so lange an den Okularen, bis der rot-weiße Gegenstand scharf zu sehen war. »Allmächtiger!«, murmelte er. Es war ihm herausgerutscht, wie er jetzt selber hörte.
Es war ein einmotoriges Kleinflugzeug, das dort, leicht schräg, zwischen Felsbrocken klemmte. Es wirkte fast unzerstört. Die Fenster des Cockpits waren von Schlamm und Schlick verdunkelt, Rot und Weiß des Rumpfs waren aber deutlich auszumachen. Nicht anders als die schwarzen Lettern des Rufzeichens.
G-RUAI.
Fin spürte, wie sich jedes einzelne seiner Nackenhaare aufstellte. RUAI, die Kurzform von Ruairidh, der gälischen Form von Roderick. Ein Rufzeichen, das einmal wochenlang in allen Zeitungen stand, als das Flugzeug – und Roddy Mackenzie mit ihm – vermisst wurde. Siebzehn Jahre war das jetzt her.
Der Nebel zog wie Rauch, vom Morgengrauen getönt, über die Berge hinweg ab. Es war vollkommen still. Kein Geräusch nirgends. Nicht einmal ein Vogelruf. Fin ließ Whistlers Fernglas sinken. »Du weißt, wessen Flugzeug das ist?«
Whistler nickte.
»Was zum Teufel macht es da unten, Whistler? Angeblich hat er laut eingereichtem Flugplan doch zur Isle of Mull gewollt und ist irgendwo über dem Meer vom Radar verschwunden.«
Whistler zuckte die Achseln, sagte aber nichts dazu.
»Das schau ich mir mal aus der Nähe an«, sagte Fin.
Whistler hielt ihn am Arm zurück, einen seltsamen Ausdruck in den Augen. Angst, hätte Fin gemeint, wenn er es nicht besser gewusst hätte. »Das sollten wir lieber lassen.«
»Warum?«
»Weil es uns nichts angeht, Fin.« Whistler seufzte. Ein tiefer Atemzug, mit dem er die Sache entschlossen abtat. »Melden werden wir es wohl müssen, aber ansonsten sollten wir uns nicht einmischen.«
Fin schaute ihn prüfend an, beschloss aber, keine Fragen zu stellen. Er befreite seinen Arm aus Whistlers Griff und sagte noch einmal: »Ich schau mir das aus der Nähe an. Du kannst mitkommen oder es lassen.« Er drückte Whistler das Fernglas in die Hand und ging los, kraxelte den Hang hinab zu dem leeren Becken.
Der Abstieg war steil und schwierig, führte über Geröll und harten Torf, glitschig geworden von Gras, das der Regen zu Boden gedrückt hatte. Gesteinsbrocken säumten das Ufer dessen, was einmal der Loch gewesen war, und Fin geriet immer wieder ins Schlittern, hatte Mühe, nicht auszugleiten, und breitete die Arme aus, damit er nicht das Gleichgewicht verlor. Immer tiefer stieg er hinab in den einstigen Loch, sank beim Waten durch Schlamm und Schmutz stellenweise bis zu den Knien ein, wenn er keine Felsbrocken als Trittsteine für die Durchquerung der Senke nutzen konnte.
Fin war schon fast bei dem Flugzeug angekommen, als er sich zum ersten Mal umdrehte und sah, dass Whistler nur wenige Schritte hinter ihm war. Whistler blieb keuchend stehen, und die beiden Männer schauten einander fast eine volle Minute frontal an. Dann glitt Fins Blick an ihm vorbei und über diverse Schichten aus Torf und Stein, die sich ausnahmen wie die Höhenlinien auf einer Geländekarte der Armee, aufwärts zu dem Rand, der noch zwölf Stunden zuvor die Uferlinie gewesen war. Wäre das Wasser des Lochs noch da, befänden sie sich inzwischen fünfzig Fuß unter der Oberfläche. Fin drehte sich wieder um und legte die restlichen Meter bis zum Flugzeug zurück.
Es lag mit sehr leichter Schräge zwischen den Brocken aus Fels und Stein am Fuße des Lochs, fast wie von Gottes Hand behutsam dort abgelegt. Whistler, merkte Fin, atmete neben ihm. »Weißt du, was komisch ist?«, sagte er.
»Was?« Es klang nicht so, als wolle Whistler es wissen.
»Ich sehe nicht die geringste Beschädigung.«
»Und?«
»Wenn das Flugzeug in den Loch gestürzt wäre, müsste es doch zertrümmert sein, richtig?«
Whistler gab keine Antwort.
»Ich meine, sieh doch mal selbst. Kaum eine Beule dran. Die Fenster sind alle ganz. Nicht mal der Scheibenwischer ist zerbrochen.«
Fin stieg über ein paar letzte Steine und zog sich auf der ihm zugewandten Seite an der glitschigen Tragfläche hoch. »Auch kaum sichtbarer Rost. Der Rumpf ist wohl zum Großteil aus Aluminium.« Er wagte nicht, sich auf der trügerisch glatten Tragfläche aufzurichten, und kroch deshalb auf allen vieren zur Tür des Cockpits. Das Fenster war so dick mit grünem Schleim überzogen, dass man nicht ins Innere sehen konnte. Fin fasste nach dem Türgriff und wollte die Tür aufziehen. Sie gab nicht nach.
»Lass gut sein, Fin«, rief Whistler ihm von unten zu.
Aber Fin war entschlossen. »Komm rauf und hilf mir mal.«
Whistler machte keine Anstalten.
»Herrgott, Mann, Roddy ist hier drin!«
»Ich will ihn nicht sehen, Fin. Das wäre wie Störung der Totenruhe.«
Kopfschüttelnd wandte sich Fin wieder der Tür zu, stemmte die Füße links und rechts davon gegen den Rumpf des Flugzeugs und zog mit aller Kraft. Mit einem lauten Geräusch, das wie berstendes Metall klang, gab die Tür nach, und Fin fiel rückwärts auf die Tragfläche. Zum ersten Mal seit siebzehn Jahren strömte Tageslicht in das Cockpit. Fin setzte sich auf, kam auf die Knie und zog sich so weit am Türrahmen hoch, dass er ins Innere schauen konnte. Whistler, hörte Fin, schwang sich jetzt hinter ihm auf die Tragfläche, aber er drehte sich nicht um. Ihm bot sich ein entsetzlicher Anblick, und der Gestank von faulendem Fisch stieg ihm in die Nase.
Das Armaturenbrett unter der Frontscheibe wölbte sich über das Cockpit, bestückt mit einer Vielzahl von Messgeräten und Anzeigen, deren Glas beschmiert und schmutzig und deren darunterliegende Zeiger vom Wasser und von Algen verfärbt waren. Der Platz des Passagiers oder des Kopiloten auf der Beifahrerseite war leer. Der rote, der schwarze und der blaue Steuerknopf zwischen den Sitzen waren voll sichtbar und auf Neutralstellung herausgezogen. Ein Toter war auf den Pilotensitz daneben geschnallt. Zeit, Wasser und Bakterien hatten das Fleisch abgenagt, zusammengehalten wurde das Skelett nur noch von den gebleichten Resten der Sehnen und festen Bänder, die sich bei den kalten Wassertemperaturen nicht zersetzt hatten. Die Lederjacke des Toten war praktisch noch ganz. Die Jeans waren zwar verblichen, hatten ansonsten aber durchgehalten. Ebenso die Turnschuhe, obwohl der Gummi der Sohle, sah Fin, aufgequollen war und die Schuhe sich um die Reste der Füße ausgedehnt hatten.
Kehle, Ohren und Nase hatten ihre ursprüngliche Form eingebüßt, die Schädeldecke lag frei, nur ein paar Haarsträhnen hafteten noch an Resten von weichem Gewebe.
All das war entsetzlich genug für die beiden alten Freunde, die den begabten, rastlosen jungen Roddy mit dem lockigen blonden Haar nicht vergessen hatten. Am meisten aber machte ihnen die grässliche Verletzung zu schaffen, die auf der rechten Seite von Gesicht und Hinterkopf zu sehen war. Der halbe Kiefer schien zu fehlen, eine Reihe gelber, abgebrochener Zähne lag frei. Das Jochbein und der obere Schädel waren bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert.
»Allmächtiger!« Whistlers Fluch drang Fin direkt ins Ohr.
Er hatte die Szene nach dem Öffnen der Tür sofort aufgenommen, war unwillkürlich zurückgefahren und dabei mit dem Kopf an Whistlers Schulter gestoßen. Schlug die Tür wieder zu, machte kehrt und ließ sich an ihrer Außenseite hinabgleiten, bis er saß. Whistler ging in die Hocke und sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an.
»Du hast recht«, sagte Fin. »Wir hätten die Tür nicht aufmachen sollen.« Whistler war so blass, dass Fin in seinem Gesicht nun Pockennarben ausmachen konnte, die ihm bisher nie aufgefallen waren – vielleicht das Zeichen dafür, dass Whistler als Kind Windpocken gehabt hatte. »Aber nicht, weil wir die Totenruhe stören, Whistler.«
»Sondern?«, sagte Whistler finster.
»Weil wir einen Tatort verunreinigen.«
Whistler sah ihn erst eine ganze Weile an, Unverständnis im Blick seiner dunklen Augen, bevor er kehrtmachte, sich vom Flügel auf den Boden hinabließ und davonging, mit entschlossenen Schritten die Kraterwand hinauf und weiter zu den Bienenkörben in der Höhe stieg.
»Whistler!«, rief Fin ihm nach, aber der blieb nicht einmal stehen und schaute auch nicht zurück.
Fin saß in Gunns Büro und blickte auf die Berge von Papierkram, die sich wie Schneewehen auf dem Schreibtisch des Detective Sergeant aufgehäuft hatten. Ab und zu rumpelte draußen in der Church Street ein Fahrzeug vorbei, und sogar aus der Entfernung hörte Fin die Möwen, die ihre Kreise um die im Hafen liegenden Trawler zogen. Düstere, verputzte Häuser mit steilen Dächern füllten die Aussicht vor dem Fenster, und er stand auf und ging hinüber, um einmal etwas weiter sehen zu können. Die Metzgerei Macleod & Macleod, nicht verwandt und nicht verschwägert. Blythwood Care, der Secondhandladen an der Ecke, mit dem handschriftlichen Hinweis im Schaufenster: Wir akzeptieren keine Restbestände von Wohltätigkeitsbasaren. The Banglia Spice, das indische Restaurant, und das Thai Café. Menschen, sehr weit weg von ihrem Zuhause.
Für andere ging das Leben weiter, als sei nichts geschehen. Bei Fin hatte der Fund der sterblichen Überreste Roddys in dem Flugzeug am Grund des Lochs sämtliche Erinnerungen auf den Kopf gestellt. Seine Vorstellungen vom Gang der Geschichte und davon, wie alles gewesen war, würden nie wieder so sein, wie sie waren.
»Ein Moorbruch, das klingt einleuchtend. Ihr Freund Whistler weiß, wovon er spricht.«
Fin wandte sich um, als Gunn mit einem Stoß Papieren in der Hand hereinkam. Das runde Gesicht unter dem spitzen Haaransatz war so glattrasiert, dass es im Kontrast zu dem dunklen Haar regelrecht leuchtete. Gunn hatte ein Adstringent und ein stark parfümiertes Aftershave auf die rosige Haut aufgtragen. Fin sagte: »Es gibt nicht viel, was Whistler nicht weiß.« Und fragte sich im Stillen, was Whistler noch wissen mochte, aber nicht sagte.
»Der Loch bei Morsgail ist verschwunden, stimmt. Und Anfang der Neunziger hat es an steilen Nordhängen auf Barra und Vatersay offenbar auch ein paar große Erdrutsche gegeben. Das ist also nichts Neues.« Gunn ließ seine Papiere – noch mehr Schneegeriesel – auf den Tisch fallen und seufzte. »Kein Glück hatten wir allerdings mit der Familie des Verstorbenen.«
Fin war sich nicht sicher, warum, aber Roddy als Verstorbenen bezeichnet zu hören war fast schmerzlich. Obwohl er schon seit siebzehn Jahren tot war. Der begabteste und erfolgreichste keltische Rockstar seiner Generation, in der Blüte seiner Jahre gefällt.
»Der Vater ist vor fünf Jahren verstorben, die Mutter im vorigen Jahr in einer geriatrischen Einrichtung in Inverness. Keine Geschwister. Entfernte Verwandte gibt es sicher noch irgendwo, denn das Haus auf Uig wurde von der Familie verkauft. Die aufzutreiben kann aber dauern.« Gunn fuhr sich durch die dunklen geölten Haare und wischte die Hand mechanisch an der Hose ab. »Ihr Freund Professor Wilson steigt, während wir hier sprechen, gerade in Edinburgh in ein Flugzeug.«
»Angus?«
Gunn nickte. Er hatte nicht die angenehmsten Erinnerungen an seine bisher einmalige Begegnung mit dem sarkastischen Pathologen. »Er möchte den Leichnam in situ untersuchen, und wir lassen den gesamten Fundort fotografieren.« Gunn rieb sich nachdenklich das Kinn. »Das wird durch alle Zeitungen gehen, Mr Macleod. Die verdammte Presse wird wie ein Schwarm Geier hier einfliegen. Tja, und die Obrigkeit noch dazu. Aus Inverness. Würde mich nicht überraschen, wenn die Allerobersten persönlich aufkreuzen. Die stellen sich gern vor Kameras und sehen sich ihre wohlgenährten Gesichter dann im Fernsehen an.« Er hielt kurz inne, drehte sich um und schob die Tür zu. »Sagen Sie schon, Mr Macleod. Warum glauben Sie, dass Roddy Mackenzie ermordet wurde?«
»Das würde ich lieber lassen, George. Ich möchte Ihre Wahrnehmung des Schauplatzes nicht beeinflussen. Ich finde, das ist eine Einschätzung, die Sie selber treffen sollten.«
»Meinetwegen.« Gunn ließ sich auf seinen Stuhl fallen und drehte sich herum, sodass er Fin direkt gegenübersaß. »Was zum Teufel haben Sie und Whistler Macaskill überhaupt bei Sturm in den Bergen gemacht, Mr Macleod?«
»Das ist eine längere Geschichte, George.«
Gunn hob die Arme und verschränkte die Finger hinter dem Kopf. »Ach, wir haben noch Zeit, bis die Maschine des Pathologen landet …« Er ließ den Satz in der Schwebe. Eine Aufforderung an Fin. Und Fin wurde klar, dass er und Whistler sich nach einem halben Leben erst vor wenigen Tagen wiedergetroffen hatten. Die ihm schon wieder vorkamen wie eine Ewigkeit.
Es war ein richtiger Altweibersommer gewesen, die warme trockene Phase zog sich lange hin, bis weit in den September, eine Seltenheit auf dieser nördlichsten Insel der Äußeren Hebriden. Die Insel Lewis – viel weiter nach Nordwesten kann man in Europa nicht kommen – war braun verdorrt nach Monaten mit Sommersonne und, ganz ungewohnt, Wochen ohne Regen. Und das Wetter hielt immer noch.
Fin hatte an dem Tag für die Fahrt von Ness an der Westküste entlang bis nach Uig fast zwei Stunden gebraucht. Schon in Siadar, noch weit im Norden, hatte er die im Südwesten gegen Harris zu aufragenden Berge gesehen, ein dunkles, dräuendes Lila, das scharf von einem Himmel abgegrenzt war, wie er blasser blau nicht sein konnte. Es war weit und breit die einzige Stelle, an der noch Wolken am Horizont zu sehen waren. Nicht bedrohlich, einfach nur da, zwischen den Berggipfeln dahintreibend. Das Fingerkraut, das mitten im Farn wuchs, vergoldete mit seinen Blüten eine Landschaft, in der sogar die Farbe der Heide ausgebleicht war. Die zarten Blütenblätter wogten in der steifer werdenden Brise, die vom Ozean heranzog und den Geruch des Meeres und einen Anflug von Winter mitbrachte.
Es war der erste Tag seines neuen Lebens, und Fin sann darüber nach, wie sehr es sich in gut anderthalb Jahren bereits verändert hatte. Früher war er verheiratet gewesen, hatte einen kleinen Sohn, ein Leben in Edinburgh und einen Job als Detective im Dezernat »A« der Kriminalpolizei. Jetzt hatte er das alles nicht mehr. Er war in den Mutterschoß zurückgekehrt, auf die Insel, auf der er geboren war, wusste aber nicht recht, warum eigentlich. Auf der Suche nach dem, der er einmal gewesen war, vielleicht. Bestimmt wusste er nur eines: dass die Veränderung unwiderruflich war und dass sie an dem Tag begonnen hatte, an dem ein Autofahrer auf einer Straße in Edinburgh seinem Sohn das Leben genommen und nicht angehalten hatte.
Als er das untere Ende des Loch Ròg Beag umfahren hatte, bog Fin mit seinem schlammbespritzten Allrad-Suzuki von der einspurigen Straße auf einen holprigen Schotterweg ab, auf dem es keine Ausweichstellen gab. Kam an einer Schar Highlandrinder mit langen, gebogenen Hörnern und zottigem braunem Fell vorbei und folgte dem Fluss aufwärts zu einer Pfütze von Loch, an dem, was ungewöhnlich war, zwischen Hügeln versteckt Bäume wuchsen, in deren schützendem Schatten die Suaineabhal Lodge stand.
Fin hatte Kenny John Maclean eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Big Kenny hatte die Insel wie alle anderen aus ihrer Clique verlassen. Sein Leben war aber ganz anders verlaufen. Er bewohnte nun ein altes Crofthaus, das, durch Anbauten vergrößert und modernisiert, gegenüber der Lodge stand, durch den Fahrweg von ihr getrennt. Eine Hundemeute kam bellend aus einem mit Wellblech gedeckten Schuppen, als Fin auf dem Parkplatz hielt. Die eigentliche Lodge befand sich im Gebäude eines alten Bauernhauses, und als Sir John Wooldridge den Red River Estate erwarb, baute er an der Seite und hinter dem Haus an und setzte an der Stirnseite einen Wintergarten davor, von dem aus man den Loch überblickte. Anders als die Cracabhal Lodge an der Spitze des Loch Tamnabhaigh, die während der Jagd- und Fischsaison über zwanzig Gästen Quartier bot, verfügte Suaineabhal nur über eine Handvoll Gästezimmer und war Anglern vorbehalten. In der Lodge gab es aber eine öffentliche Bar, die zu dieser Jahreszeit jeden Abend von Anglern, Jagdführern und Einheimischen besucht wurde, die Lust auf ein Bier und einen Schnaps hatten.
An diesem Vormittag war das Gelände menschenleer, doch dann kam Kenny von der Schmalseite des Lochs her durch das Tor geschritten und brachte die Hunde mit einem Kommando zum Schweigen. Vom Tadel ihres Rudelführers eingeschüchtert, begnügten sie sich damit, Fin lautlos zu beschnuppern und seine fremden Gerüche zu ergründen, während die Sonne sie in getupften Fleckchen umgab wie Regen. Kenny trug grüne Jägerstiefel über einer Khakihose und eine mit vielen Taschen besetzte Weste über einem grünen Armeepullover mit Schulter- und Ellbogenflicken. Unter der flachen Mütze, die er sich beim Näherkommen vom Kopf zog, kam ein Schopf krauser kurzer Haare zum Vorschein, dessen rötlich braune Farbe verblasste. Er streckte seine schwielige Pranke aus und drückte Fin herzlich die Hand.
»Ist verdammt lange her, Fin.« Obwohl er fast den ganzen Tag Englisch sprach, griff Kenny bei Fin automatisch aufs Gälische zurück. Es war die erste Sprache ihrer Kindheit, das Idiom, das ihnen ganz natürlich über die Lippen kam.
»Tut gut, dich zu sehen, Kenny«, sagte Fin ehrlichen Herzens.
Sie standen da und schauten sich an, begutachteten das Veränderungswerk der Jahre. Die fünf Zentimeter lange Narbe, die neben Kennys linkem Jochbein verlief, die Folge eines Unfalls, den er in der Kindheit gehabt hatte und der ihn fast das Auge gekostet hätte, war mit der Zeit verblasst. Kenny hatte schon immer eine kräftige Statur gehabt und war größer als Fin gewesen. Inzwischen war er riesig, ein Kerl wie ein Baum. Er wirkte auch älter als Fin. Andererseits besaß er schon als Kind einen altväterlichen Zug, ein kerniger Bursche vom Lande ohne besonderen geistigen Tiefgang. Intelligent genug freilich, auf eine Landwirtschaftsschule in Inverness zu gehen, von der er auf die Insel zurückkehrte und Verwalter des Grundbesitzes wurde, auf dem er aufgewachsen war.
Fin, seinerseits auch nicht eben schmächtig, hatte sich hingegen seine jugendliche Gestalt bewahrt. Sein dicht gekräuseltes Haar wuchs noch üppig, und seine grünen Augen achteten auf die versteckte Skepsis, die er im Blick des alten Schulfreunds wahrnahm.
»Angeblich bist du wieder mit Marsaili zusammen. Ihr lebt zusammen, hab ich gehört.«
Fin nickte. »Zumindest bis ich das Crofthaus meiner Eltern wieder hergerichtet habe.«
»Und ihr Sohn ist von dir, erzählt man sich, nicht von Artair.«
»Ach ja?«
»So hab ich’s gehört.«
»Du hörst offenbar so einiges.«
Kenny grinste. »Ich halt immer die Ohren offen.«
Fin erwiderte das Lächeln. »Pass aber auf, dass da nicht mal Dreck reinkommt. Dann hörst du vielleicht nicht mehr so gut.«
Kenny prustete. »Du warst schon immer ein kluger Bursche, Macleod.« Ein Moment verging, in dem sein Lächeln verschwand wie die Strahlen der Sonne, vor die sich eine Wolke schiebt. »Wie ich höre, hast du auch einen Sohn verloren.«
Die Haut um Fins Augen bekam einen rötlichen Ton und ließ sie dunkler erscheinen. »Das hast du richtig gehört.« In der langen Pause, die nun folgte, wurde klar, dass er sich nicht weiter darüber auslassen würde.
Kenny setzte die Mütze wieder auf und zog sie sich tief in die Stirn, das Signal, dass der persönliche Teil des Gesprächs vorbei war. Sogar seine Stimme klang nun anders. »Ich muss dir noch erklären, was deine Aufgabe hier sein soll. Jamie wird die wichtigsten Punkte schon angerissen haben, aber wie die meisten Grundbesitzer kennt er sich im Gelände nicht aus.«
Fin hörte die Botschaft wohl. Jamie mochte zwar Kennys Boss sein, aber Kenny hielt sich für ihm überlegen. Und nun war er Fins Boss, und ihr kurzer Austausch von gleich zu gleich war vorüber.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich als Leiter des Sicherheitsdienstes eingestellt hätte. Nichts für ungut, Fin. Du warst bestimmt ein guter Polizist, aber ob dich das befähigt, Wilderer aufzuspüren, weiß ich nicht. Trotzdem … uns steht es nicht zu, nach dem Warum zu fragen, was?«
Fin sagte: »Du wärst vielleicht sogar besser dafür geeignet.«
»Um was wäre wenn geht es nicht, Fin. Ich bin mit der Leitung eines Guts mit einer Fläche von über 20.000 Hektar, auf der extensive Lachs- und Forellenfischerei und außerdem noch Jagd betrieben wird, vollkommen ausgelastet.« Er klang wie eine Werbebroschüre. »Und das Problem, das wir haben, ist nicht eben klein.«
Kennys Range Rover holperte und schaukelte über den mit Schlaglöchern übersäten Fahrweg, der dem Flusslauf folgte, durch ringsherum immer steiler ansteigendes Gelände. Kahle, zerklüftete Hügel, übersät mit Steinen und durchschnitten von tiefen Rinnen, erhoben sich zu Bergen, deren Gipfel in den Wolken verschwanden. Felsbrocken klammerten sich an die Hänge, imposante Blöcke aus vier Milliarden Jahre altem Gneis. Kenny sah aus den Augenwinkeln zu Fin hinüber und folgte dessen Blick. »Der älteste Stein der Welt«, sagte er. »Diese Platten liegen schon seit der letzten Eiszeit auf unseren Hängen.« Er wies auf den Schatten des Bergs zu ihrer Linken. »Siehst du die Wasserläufe da oben im Fels? Das waren ursprünglich mal Risse an der Vorderseite. Und als das Wasser gefror, hat sich das Eis ausgedehnt und den Fels schließlich zersprengt und in diesen dicken Brocken durchs ganze Tal geschleudert. Muss ein tolles Spektakel gewesen sein. Ich bin trotzdem froh, dass ich damals nicht dabei war.«
Vor ihnen spiegelte sich der blassblaue Himmel auf einem kleinen Loch, sein Wasser vom Wind gekräuselt. Kenny hielt bei einem grün gestrichenen Wellblechschuppen, den er als Imbiss-Station bezeichnete: eine Hütte, in der Angler und ihre Führer, vor dem Wetter geschützt, ihre Sandwiches verzehren konnten. Hier endete die Fahrstraße. Ein Fußweg führte zum Wasser hinunter, ein zweiter verlief über den Berg, wand sich steil zwischen Felsbrocken und Furten nach oben, durch die klares Gebirgswasser floss und die um diese Jahreszeit sonst gut gefüllt waren. Nach der wochenlangen Dürre waren die meisten nun aber zu bloßen Rinnsalen geschrumpft.
Kenny war für einen Mann von seiner Statur gut in Form, und Fin hatte Mühe, mit ihm mitzuhalten, als er auf dem ansteigenden Pfad schnell ausschritt. Der Weg schlängelte sich durch eine Kluft zwischen Bergen und führte unterhalb einer nackten Felswand entlang, die rechts von ihnen lag, bis Kenny den Weg verließ und durch das Bett eines fast ausgetrockneten Bachs stapfte. Danach marschierte er durch hohes Gras und Heide, hielt auf einen Gipfel links von ihnen zu. Mit langen Schritten, sodass er etliche Minuten vor Fin oben ankam.
Erst als Fin ihn eingeholt hatte, wurde ihm klar, welche Höhe sie – erst mit dem Range Rover, dann zu Fuß – erklommen hatten. Der Wind fuhr ihm unter die Jacke und in den Mund, nahm ihm den Atem angesichts dieses steil abfallenden Geländes, vor dem sich ein berückendes Panorama von sonnenübergossenem Land und Wasser auftat. Ein schimmernder Teppich aus Braun, Hellblau, Grün und Lila lag tief unter ihnen ausgebreitet.
»Loch Suaineabhal«, sagte Kenny. Er lächelte Fin breit an. »Hier oben kommt man sich vor wie Gott.« Irgendetwas hoch über dem Loch fing seinen Blick ein. »Oder wie ein Adler.« Fin folgte Kennys Blick. »Wir haben zweiundzwanzig Brutpaare, die im Gebiet zwischen hier und dem North Harris Estate nisten. Die größte Siedlungsdichte von Steinadlern in ganz Europa.«
Sie beobachteten den Vogel, der fast auf gleicher Höhe mit ihnen durch die Thermik glitt, mit einer Flügelspanne von über zwei Metern, der mit seinen an den Flügelenden fingerförmig und am Schwanzende fächerförmig ausgebreiteten Federn auf die geringste Luftbewegung reagierte. Urplötzlich fiel er wie ein aus dem Himmel abgeschossener Pfeil herab, war für einen Moment vor dem Farbenteppich des Geländes am Boden nicht zu sehen und kam unerwartet wieder in Sicht, ein kleines Tier unter sich tragend, das an tödlichen Krallen hing und bereits tot war.
»Schau mal da nach hinten zum Ende des Lochs. Da siehst du ein paar Steingebäude mit Wellblechdächern. Eine Hütte und zwei Schuppen. Da wohnen zwei von unseren Wächtern. Mit Fahrzeugen kann man die gar nicht erreichen. Nur mit dem Boot oder zu Fuß. Und wenn man zu Fuß geht, braucht man einen ganzen Tag. Mit denen musst du dich bekanntmachen.«
»Wer ist das?«
»Studenten. Sie verdienen sich in den Ferien ein bisschen Geld. Ist ein ziemlich hartes Leben, das kann ich dir sagen. Kein fließendes Wasser, keine Elektrizität. Ich weiß, wovon ich spreche, weil ich das auch gemacht hab, als ich an der Landwirtschaftsschule war.« Kenny blickte nach Westen und zeigte auf die vier Gipfel auf der anderen Seite des Tals; einer, der Mealaisbhal, überragte die anderen um Längen: der höchste Berg auf Lewis. »Wir hatten für die andere Seite auch Wächter in einer alten Hütte am Loch Sanndabhan. Das findest du auf der Ranger-Karte. Aber jetzt sind sie weg. Sie wurden vor drei Tagen zusammengeschlagen, als sie Wilderer auf frischer Tat ertappt haben, die nachts an der Mündung des Abhainn Bhreanais Netze auslegten. Und ich finde nirgendwo Ersatz für die Leute.«
»Du hast es hoffentlich der Polizei gemeldet?«
Kenny lachte, sein Brustkorb blähte sich regelrecht vor Belustigung. »Aber sicher. Kommt ja viel dabei raus, wie du weißt!« Seine Jovialität verflog im Nu wieder, als sei ein Schalter umgelegt worden. »Diese Mistkerle sind unerschrocken. Es ist ein einträgliches Geschäft, verstehst du. Für Wildlachs werden auf dem Festland oder in Europa und sogar in Fernost astronomische Preise bezahlt. Teilweise wird der Fisch sogar vor dem Verschiffen geräuchert. Das bringt noch mehr Profit. Die legen ihre Netze in den Flussmündungen aus und fangen Hunderte von Fischen. Die Bestände sind stark zurückgegangen, und das verdirbt uns das Geschäft. Es gibt ein Konsortium von Geschäftsleuten, die Tausende hinblättern würden für die Erlaubnis, in einem unserer Flüsse zu fischen. Aber nicht, wenn keine Fische mehr drin sind!«
Er ging in südlicher Richtung bis zum Rand des Abhangs, und dort sahen sie in der Ferne, hinter dem Rücken des Cracabhal, die große Lodge am Ufer des Loch Tamnabhaig liegen. Kenny sagte über die Schulter zurück: »Wir pflegen die Flüsse und Lochs und sorgen dafür, dass die Fische stromaufwärts an ihre Laichplätze gelangen, und erhalten so die Bestände. Die Wilderer aber fischen wahllos alles ab. In zehn Jahren wird nichts mehr da sein.« Er wandte sich zu Fin um und sagte mit finsterer Entschlossenheit im Blick: »Wir müssen ihnen das Handwerk legen.«
»Hast du eine Ahnung, wer dahintersteckt?«
Kenny schüttelte zornig den Kopf. »Wenn ich das wüsste, gäb’s hier auf der Insel ein paar Leute mit gebrochenen Beinen. Wir müssen sie auf frischer Tat ertappen. Jamie hat den Betrieb des Guts übernommen, als sein Vater im Frühjahr den Schlaganfall hatte, und er ist zu fast allem bereit, was nötig ist, um das zu beenden. Deshalb bist du hier.« Die Missbilligung, mit der er Fin ansah, war deutlich. »Aber du möchtest es vielleicht langsam angehen. Mit einem leichten Ziel beginnen.«
Fin runzelte die Stirn. »Was willst du damit sagen?«
Fast lächelte Kenny wieder. »Whistler«, sagte er.
»John Angus?«
Fin war so perplex, dass Kenny glucksen musste. »Ja. Der große Dummkopf, der er ist.«
Fin hatte Whistler nicht mehr zu Gesicht bekommen, seit er die Insel verlassen hatte. Whistler war der intelligenteste Schüler seines Jahrgangs an der Nicolson gewesen, vielleicht sogar aller Jahrgänge. Mit einem IQ, so weit vom Üblichen entfernt, dass er sich fast nicht feststellen ließ. Whistler wäre an jeder Universität angenommen worden, die er sich ausgesucht hätte. Und trotzdem hatte er es als Einziger von ihnen allen vorgezogen, auf der Insel zu bleiben.
»Whistler macht mit den Wilderern gemeinsame Sache?«
Kennys Glucksen wurde zu einem lauten Lachen. »Herrgott, nein, Mensch! Whistler Macaskill geht es nicht ums Geld. Er wildert seit Jahren. Hirsche, Schneehasen, Lachse, Forellen, du weißt schon. Aber nur für den eigenen Kochtopf. Ich hab ja immer ein Auge zugedrückt. Jamie aber … na ja, der sieht das anders.«
Fin schüttelte den Kopf. »Klingt für mich wie Zeitverschwendung.«
»Kann schon sein. Aber der blöde Hund hat Jamie total verärgert.«
»Was ist denn vorgefallen?«
»Jamie kam vor ein paar Wochen zufällig dazu, als Whistler im Loch Rangabhat gefischt hat. Am helllichten Tag, rotzfrech. Und als Jamie ihn fragt, was er sich eigentlich einbildet, muss er sich unflätig beschimpfen lassen und kriegt von Whistler noch einen Tritt in den Allerwertesten, als er ihn am Weitermachen hindern will.« Kenny grinste. »Hätte ich ja zu gern gesehen.« Das Grinsen verflog. »Zu allem Übel ist Jamie aber auch sein Vermieter und sucht nur nach einem Vorwand, Whistler aus seinem Croft zu ekeln.«
»Dann wird er feststellen, dass Whistler unter die Geltung des Crofter-Schutzgesetzes von 1886 fällt.«
»Nicht, wenn er seine Pacht nicht bezahlt. Und das hat er schon seit Jahren nicht. Sir John hat es ihm wohl durchgehen lassen, aber Jamie hat dadurch die perfekte Rechtfertigung. Und da er auch der Vermieter des Hauses ist, in dem Whistler wohnt …« Kenny sammelte ein Schleimklümpchen im Mund und spie es in den Wind. »Im Grunde, Fin, ist er bloß ein verdammter Störenfried. Er und du, ihr wart doch immer dicke. Könnte nicht schaden, wenn du mal in aller Ruhe mit ihm redest. Dann könnten wir uns wieder der eigentlichen Aufgabe widmen.«
Whistlers Croft lag abseits der Straße unweit des Friedhofs in Ardroil auf einem steil ansteigenden Stück Land. Es führte zu einem restaurierten Blackhouse hinauf, von dem man die gesamte Dünenlandschaft und dahinter den breiten Strand von Uig überblickte. Auf dem unteren Teil des Hangs grasten ein paar Schafe, näher zum Haus hin wurden auf reaktivierten Faulbeeten Kartoffeln angebaut, für die man die Erde streifenweise umgrub und mit Seetang düngte, den man an den Felsen im Wasser gewann und nach oben brachte.
Als Teenager war Fin oft hier gewesen. Um Mr Macaskill zu entgehen, hatten er und Whistler draußen auf dem Hang gesessen, geraucht, über Mädchen geredet und sich um den Ausblick nicht weiter geschert. Erst durch die vielen Jahre, die Fin in der Stadt lebte, hatte er begriffen, wie gut sie es damals gehabt hatten.
Doch das Haus hatte sich verändert. Das alte verrostete Blechdach war verschwunden und mit etwas gedeckt, was wie selbstgemachtes Stroh aussah, an der Schräge auf der Südseite unpassenderweise durch Sonnenkollektoren ergänzt. Zum Schutz vor den starken Stürmen, die vom Atlantik heranwehten, waren Fischernetze über das gesamte Dach gebreitet, beschwert mit Felsbrocken, die jeweils an einem starken Tau hingen. Es war wie ein Schritt in die Vergangenheit.
Reste von drei oder vier ausgeschlachteten alten Fahrzeugen, darunter ein Traktor, lagen herum wie die Kadaver verendeter Tiere. Ein sehr schön fischgrätartig aufgeschichteter Torfstapel trocknete wenige Schritte neben dem Westgiebel des Hauses, und in fünf Meter Höhe rotierten oberhalb die Flügel zweier selbstgebauter Windgeneratoren.
Fin stellte sein Auto am Straßenrand ab und ging zu Fuß den Berg hinauf. Am Haus parkte kein Fahrzeug. Fin klopfte an die Tür, hob, als keine Antwort ertönte, den Riegel und stieß sie auf. Hinter der Tür war es dunkel, die traditionell kleinen Fenster ließen nur wenig Licht herein. Als seine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, blickte Fin auf ein wüstes Durcheinander. Ein altes Sofa und Sessel, schmutzig und so verschlissen, dass das Rosshaar schon durch die Risse in den Bezügen quoll. Ein Tisch, übersät mit Werkzeugen und Holzspänen, die auch ringsherum auf dem Fußboden lagen. Seltsamerweise standen geschnitzte Nachbildungen der Schachfiguren von Lewis dicht an dicht vor einer Wand, einige der Figuren acht- oder zehnmal so groß wie das jeweilige Original.
Reste eines Feuers glommen in dem Kamin, der vor den Giebel auf der anderen Seite gesetzt war, und der charakteristische Wohlgeruch von warmem Torfrauch erfüllte das Haus. In diesen Geruch einzutreten war wie der Fall in das Kaninchenloch.
Fin drehte sich um, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Die Gestalt eines großen, kräftigen Mannes zeichnete sich umrisshaft in der Tür ab, füllte sie beinahe ganz aus. Für einen Moment herrschte ein Patt, dann trat der Mann ins Licht des Fensters, und Fin sah sein Gesicht. Ein großes, breites Gesicht, die Kinnpartie von schwarzen, seit einer Woche nicht rasierten Barthaaren umrahmt. Langes, dunkles Haar, von feinen silbernen Strähnen durchzogen, die wie Schmelzdraht aussahen, waren aus der tief gefurchten Stirn gekämmt. Der Mann trug geflickte ausgewaschene Jeans, an den Knöcheln ausgefranst, und einen dicken dunkelgrauen Wollpullover unter einer gewachsten wasserdichten Jacke. Seine Stiefel waren nass und torfverkrustet. Fin roch ihn schon von dort, wo er stand.
»Ich fress einen Besen, wenn das nicht der verdammte Niseach Fin Macleod ist!« Die Stimme des Mannes erfüllte das Haus. Und zu Fins Verlegenheit stand er mit zwei Schritten schon vor ihm und schloss ihn so fest in die Arme, dass er ihm fast die Luft abdrückte. Das breite Gesicht mit den Bartstoppeln kratzte Fin im Gesicht. Dann trat der andere zurück und musterte ihn, auf Armlänge bei den Schultern gefasst, aus feuchten braunen Augen, aus denen echte Freude sprach, den alten Freund zu sehen. »Mensch, so was! Himmel, Arsch und Zwirn! Wo in Gottes Namen warst du so lange?«
»Fort.«
Whistler lächelte. »Ja, so weit war ich inzwischen auch schon.« Er sah ihn fragend an. »Und, was hast du gemacht?«
Fin zuckte die Achseln. »Nicht viel.«
Whistler bohrte den Zeigefinger wie eine Eisenstange in Fins Brust. »Du warst bei der Polizei. Dachtest du, das weiß ich nicht?«
»Warum fragst du dann?«
»Weil ich es aus erster Quelle hören wollte. Was ist bloß in dich gefahren, Mensch?«
»Keine Ahnung, Whistler. Ich bin irgendwo falsch abgebogen.«
»Das kannst du laut sagen. Du warst doch ein kluger Kopf, Fin Macleod. Du hättest was aus deinem Leben machen können, ganz bestimmt.«
Fin sah sich demonstrativ im Zimmer um. »Nicht so viel, wie du aus deinem. Der Beste der ganzen Schule. Der Klügste seiner Generation, hat es geheißen. Du hättest alles werden können, was du sein möchtest, Whistler. Warum lebst du so?«
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da wäre der Whistler, den er kannte, beleidigt gewesen, hätte unflätig geflucht, sogar die Fäuste erhoben. Nun aber lachte er bloß. »Ich bin genau der, der ich sein möchte. Und das können nicht viele von sich behaupten.« Er hob sich eine Leinentasche von der Schulter und warf sie auf die Couch. »Bei sich daheim ist ein Mann König. Und ich bin ein König unter Königen. Hast du die Sonnenkollektoren auf dem Dach gesehen?« Er wartete die Antwort nicht ab. »Hab ich selbst gebaut. Genauso wie die Windräder. Ich erzeuge den Strom, den ich brauche, selbst. Ich bin Sonnen- und Windkönig. Und Wasserkönig. Ich hab meine eigene Süßwasserquelle. Und zum Glück auch meine Heizung. Der Torf kostet mich genauso wenig wie das andere alles. Es kostet einen nur Arbeit. Schau mal …«
Er ging zur Tür und trat hinaus in den Wind. Fin folgte ihm.
»Ich bau mir auch mein Essen an oder zieh es mir lebend auf.«
»Oder wilderst auf dem Grund des Guts.«
Whistler warf Fin einen hässlichen Blick zu, aus dem das Düstere aber gleich wieder verschwunden war. »Wie alle weiland immer. Ein Mann hat das Recht, von dem Land zu nehmen, das der Herr uns gegeben hat. Und Er hat es uns allen gegeben, Fin. Das letzte Hemd hat keine Taschen, und wie kommt dann mancher darauf, er könnte alles einsacken, solange er lebt?«
»Das Gut wendet Geld, Zeit und Arbeitskraft für die Bewirtschaftung der Fisch- und Wildbestände auf, Whistler. Und es war der Mensch, der Kaninchen und Schneehasen eingeführt hat, um sie zu jagen.«
»Aber wenn ich mir mal einen Fisch hier und mal einen Hirsch dort hole, entsteht kein Schaden. Zur Laichzeit sind viel mehr im Fluss. Und während der Hirschbrunst ist schon mal einer auf dem Berg. Und die Kaninchen«, sagte er lächelnd, »hecken schließlich wie Kaninchen, nicht?« Sein Lächeln verflog. »Ich stehle keinem Menschen etwas, Fin. Ich nehme, was Gott gibt. Und ich bin niemandem etwas schuldig.«
Fin sah ihn aufmerksam an. »Und deine Pacht?« Er sah einen Schatten über Whistlers Gesicht ziehen.
»Das geht seinen Gang«, sagte er und trat wieder ins Haus, schob sich derb an Fins Schulter vorbei, als sei der gar nicht da. Fin wandte sich ebenfalls um und sah, an den Türpfosten gelehnt, ins dunkle Innere des Hauses.
»Womit verdienst du dein Geld, Whistler?«
Whistler kehrte ihm weiter den Rücken zu, aber Fin hörte, dass seine Selbstsicherheit ins Wanken geriet. »Ich komme mit dem, was ich verdiene, über die Runden.«
»Womit denn?«
Sein alter Freund fuhr herum und sah ihn finster an. »Das geht dich nichts an!« Das war er – der Whistler, wie Fin ihn seit jeher kannte. Reizbar und aufbrausend. Doch er lenkte gleich wieder ein, und die Anspannung fiel von ihm ab wie eine Jacke, die man am Ende des Tages auszieht. »Ich sammle Treibholz am Strand, wenn du es unbedingt wissen willst. Schönes, trockenes, ausgebleichtes Holz. Und schnitze die Lewiser Schachfiguren für die Touristen.«
Mit dem Kopf wies er auf die an der Wand aufgereihten großen Holzfiguren. Und lachte wieder.
»Weißt du noch, Fin, wie sie uns in der Schule davon erzählt haben? Dass Malcolm Macleod, der die kleinen Krieger in dieser winzigen Bucht am Ende des Strands von Uig gefunden hatte, sie für Geister oder Elfen hielt und sich vor Angst fast in die Hose gemacht hätte? Der hatte so große Angst, dass er damit gleich zum Pfarrer in Baile na Cille gerannt ist. Stell dir mal vor, was der für eine Angst vor diesen Riesenkerlen gehabt hätte!« Und mit diesen Worten wuchtete Whistler einen Bischof auf den Tisch.
Fin trat näher und sah sich die Figur genauer an. Whistler verfügte offenbar über unerwartete Talente. Sie war bildhauerisch sehr schön ausgeführt und bis ins Detail – die Falten im Mantel des Bischofs, die feinen Linien der Kammstriche im Haar unter der Mitra – genau. Waren die Originale zwischen acht und zehn Zentimeter groß, so variierten Whistlers Figuren in der Größe aber zwischen einem Dreiviertel- und knapp einem Meter. In den Werkstätten der Wikinger in Trondheim, in denen die späteren Funde im, wie man glaubte, 12. Jahrhundert aus Walross-Elfenbein und Walzähnen gefertigt worden waren, hätte Whistler sicher eine Anstellung gefunden. Nur die Arbeitszeiten, dachte Fin, hätten ihm wohl nicht gefallen. Er betrachtete die Figurenreihe an der Wand. »Viele verkaufst du offenbar nicht.«
»Die hab ich auf Bestellung gemacht«, sagte Whistler. »Sir John Wooldridge möchte sie für die Schachgala. Hast du schon davon gehört?«
Fin nickte. »Ich hab gehört, sie wollen die Originalfiguren nach Hause bringen. Alle achtundsiebzig Stück.«
»Ja, für einen Tag! Die sollten das ganze Jahr über in Uig sein. In einer Sonderausstellung, statt in Museen in London und Edinburgh herumzustehen. Dann würden vielleicht Touristen herkommen und sie sich ansehen, und wir könnten hier ein paar Einkünfte erwirtschaften.« Whistler ließ sich in einen Sessel plumpsen, legte die Hand ans Kinn und strich sich über die stoppeligen Wangen. »Die hier wollte Sir John jedenfalls für eine Schachpartie, die auf einem großen Spielfeld am Strand ausgetragen werden soll. Das Gut beteiligt sich an der Finanzierung der Gala. Er erhofft sich davon wohl gute Werbung.«
Fin sah, wie er merkte, schon eine Weile auf den goldenen Ehering an Whistlers Finger. »Ich wusste nicht, dass du verheiratet bist, Whistler.«
Whistler stutzte kurz, nahm die Hand vom Gesicht und besah sich den Ring. Eine seltsame Schwermut zog über ihn hinweg. »Ja. War. Früher einmal.« Fin wartete auf mehr. »Seonag Maclennan. Du hast sie an der Schule bestimmt gekannt. Sie hat mich wegen Kenny Maclean verlassen. Erinnerst du dich an den? Der ist jetzt der Scheißverwalter des Red River Estate.« Fin nickte. »Meine Tochter hat sie auch gleich mitgenommen. Die kleine Anna.« Nach kurzem Schweigen sagte Whistler: »Der Mistkerl hat aber nicht lange was davon gehabt. Seonag hat Brustkrebs bekommen und ist ihm weggestorben.«
Er warf einen verstohlenen Blick in Fins Richtung und sah gleich wieder weg, als fürchte er, Fin könne ein Gefühl darin entdecken.
»Das Dumme ist, dass er dadurch Annas gesetzlicher Vertreter ist. Meiner Tochter. Nichts gegen Kenny. Der ist in Ordnung. Aber sie ist mein Kind und sollte bei mir sein. Wir regeln das vor dem Amtsgericht.«
»Und, wie stehen deine Chancen?«
Whistlers Lächeln hatte einen Zug ins Traurige. »Die gehen gegen null. Ich meine, schau dich hier um«, sagte er achselzuckend, »klar, wenn ich mich mehr zusammenreißen würde, würde das vielleicht ein bisschen Eindruck machen. Aber es gibt noch ein größeres Problem.«
»Welches denn?«
»Anna. Das Mädchen hasst mich. Und dagegen bin ich letztlich machtlos.«
Fin sah den Schmerz in Whistlers Blick und die zusammengebissenen Zähne, aber Whistler überspielte es gleich wieder mit einem Lachen und erhob sich plötzlich aus seinem Sessel, mit einem Mal Schalk im Blick.
»Aber ich hab mich still und leise mit dem Schnitzmesser gerächt.« Er stellte den Bischof zu den anderen Schachfiguren an der Wand zurück, griff nach einer anderen Figur und hob die auf den Tisch. »Der Berserker. Weißt du, was das ist?«
»Die Berserker waren nordische Krieger, die sich vor einem Kampf in solche Raserei versetzt haben, dass sie in einen tranceartigen Zustand gerieten und dann weder Furcht noch Schmerzen empfanden. Die wildesten Krieger bei den Wikingern. Und die Kunsthandwerker des 12. Jahrhunderts haben den Turm wie einen Berserker gestaltet, dem vor Wut die Augen vortreten und der die Zähne in seinen Schild schlägt.« Whistler lächelte vor Entzücken, als er seine Schnitzarbeit ins Licht drehte. »Ich habe mir bei meiner Version ein paar Freiheiten genommen. Schau mal.«
Fin ging um die Figur herum ins Licht, um sie besser sehen zu können, und merkte plötzlich, dass Whistler seinem Berserker das Aussehen von Big Kenny verliehen hatte. Es war unverkennbar dasselbe flächige Gesicht mit dem breiten Schädel und der Narbe auf der linken Wange. Unaufhaltsam kroch ein Lächeln über Fins Gesicht. »Ganz schön raffiniert.«
Whistlers Lachen erfüllte den Raum. »Sicher, das wird niemand mitkriegen. Ich aber schon. Und jetzt du auch. Und vielleicht werde ich ihm den, wenn die Schachgala vorbei ist, als Geschenk anbieten.« Mit einem Mal sah er Fin neugierig an. »Hast du Kinder, Fin?«
»Ich habe einen Sohn von Marsaili Macdonald, was ich aber bis vor einem Jahr nicht wusste. Sie hat ihn Fionnlagh genannt.«
Whistler linste auf Fins linke Hand. »Du bist also nicht verheiratet?«
Fin nickte. »Ich war mal. Ungefähr sechzehn Jahre.«
Whistlers Augen forschten in Fins und spürten, dass er etwas zurückhielt. »Keine Kinder?«
Fin bereitete es jedes Mal größeren Schmerz, darüber zu sprechen. Er seufzte. »Wir hatten einen kleinen Sohn. Er ist gestorben.«
Whistler wandte seinen prüfenden Blick noch eine ganze Weile nicht ab, und Fin merkte, dass er sich wünschte, Whistler würde ihn nochmal in die Arme schließen. Und sei es nur, um den Schmerz zu teilen und so, vielleicht, zu halbieren. Keiner aber machte Anstalten dazu, und dann stellte Whistler seinen Berserker wieder auf den Boden. »Und was führt dich nun nach Uig? Du kommst doch sicher nicht bloß, weil du mich besuchen willst?«
»Ich hab mir einen neuen Job besorgt, Whistler.« Er zögerte nur kurz. »Leiter des Sicherheitsdiensts auf dem Gut.«
In dem Blick, den Whistler ihm zuwarf, lag ein so großer Verratsvorwurf, dass Fin sich fast wand vor Pein. Doch das war sofort wieder vorbei. »Du bist also hier, um mir zu sagen, dass ich rausmuss.«
»Anscheinend hast du den Eigentümer gründlich verärgert.«
»Die Rotznase Jamie Wooldridge ist nicht wie sein Vater, lass dir das gesagt sein. Ich weiß noch, wie sein Vater mit ihm hier raufkam, als er noch ein Kind war. Ein gemeiner Mistkerl war er damals schon.«
»Nur leider betreibt dieser gemeine Mistkerl jetzt das Gut, Whistler. Sein Vater hatte im Frühjahr einen Schlaganfall.«
Davon hörte Whistler offenbar zum ersten Mal, und sein flackernder Blick ging zu den Schachfiguren.
»Du bist bei der Wilderei nicht sein größtes Problem. Aber du hast es zu etwas Persönlichem gemacht. Und er ist dein Vermieter, vergiss das nicht. Du möchtest doch nicht dein Heim verlieren.« Fin holte tief Luft. »Und ich möchte nicht derjenige sein, der dich beim Wildern erwischt.«
Zu Fins Überraschung warf Whistler den Kopf in den Nacken und lachte in ungekünstelter Erheiterung aus vollem Halse. »Mich erwischen? Du, Fin?« Whistler lachte wieder. »In tausend Jahren nicht!«
Der Anleger an der Fischverarbeitungsfabrik in Miabhaig zog unter ihm als grauer Strich vorbei; rote Kleckse, die Motor-Schlauchboote von Seatrek, ankerten in der Bucht. Der Loch Ròg teilte zwar nur ein kurzes Stück mit der tiefen Einbuchtung in dem Landstrich, der Glen Bhaltos hieß, die einspurige Straße aber verlief schnurgerade, flankiert von Grün, Rosa und Braun und nur vom Grau des Gneises durchbrochen, der hier an die Oberfläche drang.
Fin sah, wie der Schatten ihres Helikopters über das Land unter ihnen hinwegzog und ab und zu zwischen den Schatten der Wolken verschwand, die ihm nacheilten und ihn einholten. Das Getöse der Rotoren war ohrenbetäubend. Vor ihnen lagen der goldene Sandstrand von Uig und das schimmernde Türkis der auflaufenden Flut, so trügerisch in seinem Reiz. Denn das Wasser des Nordatlantiks war sogar nach einem langen heißen Sommer kalt.
Gegen Süden erhoben sich dunkel und ahnungsvoll die Berge, warfen ihre Schatten auf das Land, beherrschten den Horizont sogar aus der Luft.
Fin und Gunn saßen auf den engen hinteren Plätzen, Professor Wilson jedoch, mit Kopfhörern auf den Ohren, vorn und plauderte mit dem Piloten. Als sie eine Schleife über den Strand zogen, setzte der Professor die Kopfhörer wieder ab und reichte sie Fin nach hinten durch. Schrie: »Er will wissen, wohin er fliegen soll!«
Fin lotste den Piloten die einzige ihm bekannte Route entlang, dem Verlauf der Straße unter ihnen folgend. Sie überflogen Ardroil und die Kiesgruben, hatten nach einem Linksschwenk die dichtgedrängten Gebäude der Red River Destillery unter sich und orientierten sich an dem Fahrweg, der in südlicher Richtung zur Cracabhal Lodge führte. Ein aus drei Fahrzeugen bestehender Konvoi bahnte sich, von Schlagloch zu Schlagloch hüpfend, den Weg durch die ansteigenden Berge: ein Land Rover der Polizei, ein weißer Van, ein Krankenwagen. Der Bergungstrupp arbeitete sich so nahe wie möglich an die letzte Ruhestätte von Roddys Flugzeug heran. Danach stand den Männern noch ein langer Fußmarsch talaufwärts bevor.
Aus der Luft sah alles so anders aus. Fin erspähte den Loch Raonasgail im Schatten von Tathabal und Tarain und konnte westlich davon den Mealaisbhal ausmachen. Er beugte sich nach vorn und zeigte in die Richtung: »Da rauf, durch das Tal.«
Der Pilot flog eine steile Kurve nach rechts und ging tiefer, und sie sahen, über den weiten Talboden verstreut, die haushohen Felsbrocken, Auswurf urzeitlicher Eisexplosionen, die nun im Wasser lagen, nachdem der kleine Loch über das Ufer getreten und in die Tiefe abgeflossen war. Weiter oben lag hinter der breiten gewundenen Spur, die die Schnecke durch das Moor gezogen hatte, die gärende schwarze Senke, die von dem entleerten Loch geblieben war. Von oben sah es noch unnatürlicher aus, wie die klaffende Wunde, die von dem gezogenen Zahn geblieben war.
Das Flugzeug am Grund der Senke, deutlich sichtbar in seiner letzten Ruhestätte zwischen den Felsen, wirkte widersinnig klein.
Auf der Suche nach einem Platz, auf dem er den Hubschrauber absetzen konnte, kreiste der Pilot über dem Tal und entschied sich schließlich für eine relativ ebene und sichere Stelle oberhalb des Lochs, wo Whistler und Fin auch Schutz vor dem Sturm gefunden hatten. Es war eine weiche Landung in hohem Gras, umgeben von den Hügeln zerfallender alter Bienenkorb-Hütten, und als die Rotoren endlich zum Stillstand gekommen waren, sprangen alle heraus und hatten die klaffende Tiefe des unter ihnen liegenden Tals vor sich.
Inzwischen war es später Nachmittag. Die Sonne stand hoch am Himmel, bereits sacht gen Westen geneigt, sodass die Schatten jetzt in einem anderen Winkel über dem Tal lagen. Sie hatten festes Schuhwerk, Gummistiefel und kräftige Stöcke mitgenommen, und Fin führte die kleine Gruppe auf demselben Weg nach unten, den er und Whistler an jenem Vormittag gegangen waren. Vorsichtig stiegen sie über Steine, die in der Wärme der Sonne getrocknet waren; in der Oberfläche des Torfs am Grund der Senke zeigten sich bereits erste Risse und Spalten.
Hier unten ging kein Lüftchen, und die Mücken umschwärmten sie, setzten sich in ihre Haare und auf ihre Kleider und stachen und stachen wie mit Tausenden von Nadeln, die in ihr Fleisch drangen, nicht unbedingt schmerzhaft, aber doch so lästig, dass es fast nicht auszuhalten war.
»Herrgott nochmal, an Insektenschutzmittel hat wohl niemand gedacht?« Professor Wilson sah Gunn verärgert an, als ob es seine Schuld wäre. Das Gesicht des Professors war rot vor Zorn und Anstrengung, sein ungebärdiger kupferroter Bart stand stachlig nach allen Seiten ab wie Drähte, die sich durch den Schutzmantel des Kabels bohren. Ein wuscheliger Kranz rötlich braunen Haars wuchs an seinem sonst kahlen weißen, mit großen braunen Altersflecken bedeckten Schädel. Er patschte mit den flachen Händen darauf. »Verdammt nochmal!«
Als er mit Fins Hilfe auf die rechte Tragfläche gestiegen war, war die Mückenplage vergessen und der Professor ganz beansprucht von dem Anblick, der sich ihnen bot. Seine Äuglein huschten hin und her, nahmen jedes sichtbare Detail des Flugzeugs auf, bevor er sich Latexhandschuhe überstreifte und die Tür zum Cockpit aufzog. Sogar er, der an die vielfältigen Leichengerüche gewöhnt war, schreckte zurück vor dem Gestank, der sie fast wie ein körperlicher Schlag traf. In dem umschlossenen Raum des Cockpits, das außerdem stundenlang in der Sonne gebraten hatte, war die Verwesung, die siebzehn verlorene Jahre aufzuholen hatte, schneller als sonst fortgeschritten. Der Geruch war wesentlich übler als an dem Vormittag, an dem Fin und Whistler die Tür geöffnet hatten.
»Wir müssen den Leichnam unverzüglich nach Stornoway bringen, sonst verlieren wir, was davon noch übrig ist«, sagte der Professor. »