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Was macht den modernen Typus des Spießers aus? Diese Frage steht im Zentrum von Horváths erstem Roman, der während der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre spielt. Scharfsinnig nimmt der Autor sein kleinbürgerliches Personal in den Blick, von der arbeitslos gewordenen Näherin bis zum betrügerischen Automobilverkäufer: Sie alle versuchen in schwierigen Zeiten durchzukommen und haben sich angewöhnt, anpassungsfähig und sich selbst am nächsten zu sein. Horváths Roman ist Spießersatire und brillante Gesellschaftsanalyse in einem. Mit einem Nachwort und Anmerkungen. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.
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Seitenzahl: 275
von Ödön Horváth
Erbaulicher Roman in drei Teilen
Reclam
Die Arbeiten an diesem Band wurden in Zusammenhang mit einem vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF; P 28127 G23) unterstützten Projekt am Franz-Nabl-Institut der Universität Graz durchgeführt.
Der ewige Spießer liegt als Band 14 der historisch-kritischen Wiener Ausgabe sämtlicher Werke Ödön von Horváths, Berlin: de Gruyter, 2009 ff., vor.
2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2023
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962161-6
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-14380-3
www.reclam.de
Der ewige Spießer
Erster Teil. Herr Kobler wird Paneuropäer
Zweiter Teil. Fräulein Pollinger wird praktisch
Dritter Teil. Herr Reithofer wird selbstlos
Zu dieser Ausgabe
Anmerkungen
Literaturhinweise
Nachwort
Ödön von Horváth
Der ewige Spießer
Erbaulicher Roman in drei Teilen
[5]Für Ernst Weiß
Der Spießer ist bekanntlich ein hypochondrischer Egoist, und so trachtet er danach, sich überall feige anzupassen und jede neue Formulierung der Idee zu verfälschen, indem er sie sich aneignet.
Wenn ich mich nicht irre, hat es sich allmählich herumgesprochen, dass wir ausgerechnet zwischen zwei Zeitaltern leben. Auch der alte Typ des Spießers ist es nicht mehr wert, lächerlich gemacht zu werden; wer ihn heute noch verhöhnt, ist bestenfalls ein Spießer der Zukunft. Ich sage »Zukunft«, denn der neue Typ des Spießers ist erst im Werden, er hat sich noch nicht herauskristallisiert.
Es soll nun versucht werden, in Form eines Romans einige Beiträge zur Biologie dieses werdenden Spießers zu liefern. Der Verfasser wagt natürlich nicht zu hoffen, dass er durch diese Seiten ein gesetzmäßiges Weltgeschehen beeinflussen könnte, jedoch immerhin.
Herr Kobler wird Paneuropäer
»Denn solang du dies nicht hast,
Dieses ›Stirb und werde!‹
Bist du noch ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.«
Mitte September 1929 verdiente Herr Alfons Kobler aus der Schellingstraßesechshundert Reichsmark. Es gibt viele Leut, die sich so viel Geld gar nicht vorstellen können.
Auch Herr Kobler hatte noch niemals so viel Geld so ganz auf einmal verdient, aber diesmal war ihm das Glück hold. Es zwinkerte ihm zu, und Herr Kobler hatte plötzlich einen elastischeren Gang. An der Ecke der Schellingstraße kaufte er sich bei der guten alten Frau Stanzinger eine Schachtel Achtpfennigzigaretten, direkt aus Mazedonien. Er liebte nämlich dieselben sehr, weil sie so überaus mild und aromatisch waren.
»Jessas Mariandjosef!« schrie die brave Frau Stanzinger, die, seitdem ihr Fräulein Schwester gestorben war, einsam zwischen ihren Tabakwaren und Rauchutensilien saß und aussah, als würde sie jeden Tag um ein Stückchen kleiner werden – »Seit wann rauchens denn welche zu acht, Herr Kobler? Wo habens denn das viele Geld her? Habens denn wen umbracht, oder haben Sie sich gar mit der Frau Hofopernsänger wieder versöhnt?« »Nein«, sagte der Herr Kobler. »Ich hab bloß endlich den Karren verkauft.«
Dieser Karren war ein ausgeleierter Sechszylinder, ein [8]Kabriolett mit Notsitz. Es hatte bereits vierundachtzigtausend Kilometer hinter sich, drei Dutzend Pannen und zwei lebensgefährliche Verletzungen. Ein Greis.
Trotzdem fand Kobler einen Käufer. Das war ein Käsehändler aus Rosenheim, namens Portschinger, ein begeisterungsfähiger großer dicker Mensch. Der hatte bereits Mitte August dreihundert Reichsmark angezahlt und hatte ihm sein Ehrenwort gegeben, jenen Greis spätestens Mitte September abzuholen und dann auch die restlichen sechshundert Reichsmark sofort in bar mitzubringen. So sehr war er über diesen außerordentlich billigen Gelegenheitskauf Feuer und Flamme.
Und drum hielt er auch sein Ehrenwort. Pünktlich erschien er Mitte September in der Schellingstraße und meldete sich bei Kobler. In seiner Gesellschaft befand sich sein Freund Adam Mauerer, den er sich aus Rosenheim extra mitgebracht hatte, da er ihn als Sachverständigen achtete, weil dieser Adam bereits seit 1925 ein steuerfreies Leichtmotorrad besaß. Der Herr Portschinger hatte nämlich erst seit vorgestern einen Führerschein, und weil er überhaupt kein eingebildeter Mensch war, war er sich auch jetzt darüber klar, dass er noch lange nicht genügend hinter die Geheimnisse des Motors gekommen war.
Der Sachverständige besah sich das Kabriolett ganz genau und war dann auch schlechthin begeistert. »Das ist ein Notsitz!« rief er. »Ein wunderbarer Notsitz! Ein gepolsterter Notsitz! Der absolute Notsitz! Kaufs, du Rindvieh!« Das Rindvieh kaufte es auch sogleich, als wären die restlichen sechshundert Reichsmark Lappalien, und während der Kobler die Scheine auf ihre Echtheit prüfte, verabschiedete es sich von ihm: »Alsdann Herr Kobler, wanns mal nach [9]Rosenheim kommen, besuchens mich mal. Meine Frau wird sich freuen, Sie müssen ihr nachher auch die Geschicht von dem Prälatn erzählen, der wo mit die jungen Madln herumgestreunt is wie ein läufiges Nachtkastl. Meine Frau is nämlich noch liberaler als ich. Heil!«
Hierauf nahmen die beiden Rosenheimer Herren im Kabriolett Platz und fuhren beglückt nach Rosenheim zurück, das heißt: Sie hatten dies vor.
»Der Karren hat an schönen Gang«, meinte der Sachverständige. Sie fuhren über den Bahnhofsplatz. »Es is scho schöner so im eignen Kabriolett als auf der stinkerten Bahn«, meinte der Herr Portschinger. Er strengte sich nicht mehr an, hochdeutsch zu sprechen, denn er war sehr befriedigt.
Sie fuhren über den Marienplatz.
»Schließen Sie doch den Auspuff!« brüllte sie ein Schutzmann an. »Is ja scho zu!« brüllte der Herr Portschinger, und der Sachverständige fügte noch hinzu: Das Kabriolett hätte halt schon eine sehr schöne Aussprache, und nur kein Neid.
Nach fünf Kilometern hatten sie die erste Panne. Sie mussten das linke Vorderrad wechseln. »Das kommt beim besten Kabriolett vor«, meinte der Sachverständige. Nach einer weiteren Stunde fing der Ventilator an zu zwitschern wie eine Lerche, und knapp vor Rosenheim überschlug sich das Kabriolett infolge Achsenbruchs, nachdem kurz vorher sämtliche Bremsen versagt hatten. Die beiden Herren flogen in hohem Bogen heraus, blieben aber wie durch ein sogenanntes Wunder unverletzt, während das Kabriolett einen dampfenden Trümmerhaufen bildete.
»Es is bloß gut, dass uns nix passiert is«, meinte der Sachverständige. Der Portschinger aber lief wütend zum [10]nächsten Rechtsanwalt, jedoch der Rechtsanwalt zuckte nur mit den Schultern. »Der Kauf geht in Ordnung«, sagte er. »Sie hätten eben vor Abschluss genauere Informationen über die Leistungsfähigkeit des Kabrioletts einholen müssen. Beruhigen Sie sich, Herr Portschinger, Sie sind eben betrogen worden, da kann man nichts machen!«
Seinerzeit, als dieser Karren noch fabrikneu war, hatte ihn sich jene Hofopernsängerin gekauft, die wo die Frau Stanzinger in Verdacht hatte, dass sie den Herrn Kobler aushält. Aber das stimmte nicht in dieser Form. Zwar hatte sie den Kobler gleich auf den ersten Blick recht liebgewonnen; dies ist in der Firma »Gebrüder Bär« geschehen, also in eben jenem Laden, wo sie sich den fabrikneuen Karren gekauft hatte.
Der Kobler ging dann bei ihr ein und aus, von Anfang Oktober bis Ende August, aber dieses ganze Verhältnis war in pekuniärer Hinsicht direkt platonisch. Er aß, trank und badete bei ihr, aber niemals hätte er auch nur eine Mark von ihr angenommen. Sie hätte ihm so was auch niemals angeboten, denn sie war eine feine gebildete Dame, eine ehemalige Hofopernsängerin, die seit dem Umsturz nur mehr in Wohltätigkeitskonzerten sang. Sie konnte sich all diese Wohltäterei ungeniert leisten, denn sie nannte u. a. eine schöne Villa mit parkähnlichem Vorgarten ihr eigen, aber sie würdigte es nicht, zehn Zimmer allein bewohnen zu können, denn oft in der Nacht fürchtete sie sich vor ihrem verstorbenen Gatten, einem dänischen Honorarkonsul. [11]Der hatte knapp vor dem Weltkrieg mit seinem vereiterten Blinddarm an die Himmelspforte geklopft und hatte ihr all sein Geld hinterlassen, und das ist sehr viel gewesen. Sie hatte ehrlich um ihn getrauert, und erst 1918, als beginnende Vierzigerin, hatte sie wieder mal Sehnsucht nach irgendeinem Mannsbild empfunden. Und 1927 blickte sie auf ein halbes Jahrhundert zurück.
Der Kobler hingegen befand sich 1929 erst im siebenundzwanzigsten Lenze und war weder auffallend gebildet noch besonders fein. Auch ist er immer schon ziemlich ungeduldig gewesen – drum hielt er es auch bei »Gebrüder Bär« nur knapp den Winter über aus, obwohl der eine Bär immer wieder sagte: »Sie sind ein tüchtiger Verkäufer, lieber Kobler!« Er verstand ja auch was vom Autogeschäft, aber er hatte so seine Schrullen, die ihm auf die Dauer der andere Bär nicht verzeihen konnte. So unternahm er u. a. häufig ausgedehnte Probefahrten mit Damen, die er sich im Geheimen extra dazu hinbestellt hatte. Diese Damen traten dann vor den beiden Bären ungemein selbstsicher auf, so ungefähr, als könnten sie sich aus purer Laune einen ganzen Autobus kaufen. Einmal jedoch erkannte der andere Bär in einer solchen Dame eine Prostituierte, und als dann gegen Abend der Herr Kobler zufrieden von seiner Probefahrt zurückfuhr, erwartete ihn dieser Bär bereits auf der Straße vor dem Laden, riss die Tür auf und roch in die Limousine hinein. »Sie machen da sonderbare Probefahrten, lieber Kobler«, sagte er maliziös. Und der liebe Kobler musste sich dann wohl oder übel selbständig machen. Zwar konnte er sich natürlich keinen Laden mieten und betrieb infolgedessen den Kraftfahrzeughandel in bescheidenen Grenzen, aber er war halt sein eigener Herr. Er hatte jedoch diese [12]höhere soziale Stufe nur erklimmen können, weil er mit jener Hofopernsängerin befreundet war. Darüber ärgerte er sich manchmal sehr.
Recht lange währte ja diese Freundschaft nicht. Sie zerbrach Ende August aus zwei Gründen. Die Hofopernsängerin fing plötzlich an, widerlich rasch zu altern. Dies war der eine Grund. Aber der ausschlaggebende Grund war eine geschäftliche Differenz.
Nämlich die Hofopernsängerin ersuchte den Kobler, ihr kaputtes Kabriolett mit Notsitz möglichst günstig an den Mann zu bringen. Als nun Kobler von dem Herrn Portschinger die ersten dreihundert Reichsmark erhielt, lieferte er der Hofopernsängerin in einer ungezogenen Weise lediglich fünfzig Reichsmark ab, worüber die sich derart aufregte, dass sie ihn sogar anzeigen wollte. Sie unterließ dies aber aus Angst, ihr Name könnte in die Zeitungen geraten, denn dies hätte sie sich nicht leisten dürfen, da sie mit der Frau eines Ministerialrats aus dem Kultusministerium, die sich einbildete singen zu können, befreundet war. Also schrieb sie ihrem Kobler lediglich, dass sie ihn für einen glatten Schurken halte, dass er eine Enttäuschung für sie bedeute und dass sie mit einem derartigen Subjekt als Menschen nichts mehr zu tun haben wolle. Und dann schrieb sie ihm einen zweiten Brief, in dem sie ihm auseinandersetzte, dass man eine Liebe nicht so einfach zerreißen könne wie ein Seidenpapier, denn als Weib bleibe doch immer ein kleines Etwas unauslöschlich in einem drinnen stecken. Der Kobler sagte sich: »Ich bin doch ein guter Mensch«, und telefonierte mit ihr. Sie trafen sich dann zum Abendessen draußen im Ausstellungsrestaurant. »Peter«, sagte die Hofopernsängerin. Sonst sagte sie die erste Viertelstunde über [13]nichts. Kobler hieß zwar nicht Peter, sondern Alfons, aber »Peter klingt besser« hatte die Hofopernsängerin immer schon konstatiert. Auch ihm selbst gefiel es besser, besonders wenn es die Hofopernsängerin aussprach, dann konnte man nämlich direkt meinen, man sei zumindest in Chicago. Für Amerika schwärmte er zwar nicht, aber er achtete es. »Das sind Kofmichs!« pflegte er zu sagen.
Die Musik spielte sehr zart im Ausstellungsrestaurant, und die Hofopernsängerin wurde wieder ganz weich. »Ich will dir alles verzeihen, Darling, behalt nur getrost mein ganzes Kabriolett«, so ungefähr lächelte sie ihm zu. Der Darling aber dachte: »Jetzt fällts mir erst auf, wie alt dass die schon ist.« Er brachte sie dann nach Haus, ging aber nicht mit hinauf. Die Hofopernsängerin warf sich auf das Sofa und stöhnte: »Ich möcht mein Kabriolett zurück!«, und plötzlich fühlte sie, dass ihr verstorbener Gatte hinter ihr steht. »Schau mich nicht so an!« brüllte sie. »Pardon! Du hast Krampfadern«, sagte der ehemalige Honorarkonsul und zog sich zurück in die Ewigkeit.
An der übernächsten Ecke der Schellingstraße wohnte Kobler möbliert im zweiten Stock links bei einer gewissen Frau Perzl, einer Wienerin, die zur Generation der Hofopernsängerin gehörte. Auch sie war Witwe, aber ansonsten konnte man sie schon in gar keiner Weise mit jener vergleichen. Nie kam es unter anderem vor, dass sie sich vor ihrem verstorbenen Gatten gefürchtet hätte, nur ab und zu träumte sie von Ringkämpfern. So hat sich mal solch ein [14]Ringkämpfer vor ihr verbeugt, der hat dem Kobler sehr ähnlich gesehen und hat gesagt: »Es ist gerade 1904. Bitte, halt mir den Daumen, Josephin! Ich will jetzt auf der Stelle Weltmeister werden, du Hur!«
Sie sympathisierte mit dem Kobler, denn sie liebte unter anderem sein angenehmes Organ so sehr, dass er ihr die Miete auch vierzehn Tage und länger schuldig bleiben konnte. Besonders seine Kragenpartie, wenn er ihr den Rücken zuwandte, erregte ihr Gefallen.
Oft klagte sie über Schmerzen. Der Arzt sagte, sie hätte einen Hexenschuss, und ein anderer Arzt sagte, sie hätte eine Wanderniere, und ein dritter Arzt sagte, sie müsse sich vor ihrer eigenen Verdauung hüten. Was ein vierter Arzt sagte, das sagte sie niemandem. Sie ging gern zu den Ärzten, zu den groben und zu den artigen.
Auch ihr Seliger ist ja Mediziner gewesen, ein Frauenarzt in Wien. Er stammte aus einer angesehenen, leichtverblödeten, christlichsozialen Familie und hatte sich im Laufe der Vorkriegsjahre sechs Häuser zusammengeerbt. Eines stand in Prag. Sie hingegen hatte bloß den dritten Teil einer Windmühle bei Brescia in Oberitalien mit in die Ehe gebracht, aber das hatte er ihr nur ein einziges Mal vorgeworfen. Ihre Großmutter war eine gebürtige Mailänderin gewesen.
Der Doktor Perzl ist Anno Domini 1907 ein Opfer seines Berufes geworden. Er hatte sich mit der Leiche einer seiner Patientinnen infiziert. Wie er die nämlich auseinandergeschnitten hatte, um herauszubekommen, was ihr eigentlich gefehlt hätte, hatte er sich selbst einen tiefen Schnitt beigebracht, so unvorsichtig hat er mit dem Seziermesser herumhantiert, weil er halt wieder mal besoffen gewesen [15]ist. Es hat allgemein geheißen, wenn er kein Quartalssäufer gewesen wär, so hätt er eine glänzende Zukunft gehabt.
Ferdinand Perzl, das einzige Kind, hatte die Kadettenschule absolvieren müssen, weil er als Gymnasiast nichts Vernünftiges hatte werden wollen. Er ist dann ein k. u. k. Oberleutnant geworden, und es ist ihm auch gelungen, den Weltkrieg in der Etappe zu verhuren. Aber nachdem Österreich-Ungarn alles verspielt und auch er selbst allmählich alles, was er erben sollte, die sechs Häuser und das Drittel der Windmühle verloren hatte, ist er in sich gegangen und hat nicht mehr herumgehurt, sondern hat bloß zähneknirschend und mit der Faust in der Tasche zugeschaut, wie dies die Valutastarken taten. Er ist in ein Kontor gekommen und hatte seine liederliche Haltung während des großen Völkerringens in seinen Augen ausradiert, ist Antisemit geworden und hat die Kontoristin Frieda Klovac geheiratet, eine Blondine mit zwei linke Füß. Solch kleine Abnormitäten konnten ihn seit seiner Etappenzeit ganz wehmütig stimmen.
Über diese Heiraterei hatte sich jedoch seine Mutter sehr aufgeregt, denn sie hatte ja immer schon gehofft, dass der Nandl mal ein anständiges Mädl aus einem schwerreichen Hause heiraten würde. Eine Angestellte war in ihren Augen keine ganz einwandfreie Persönlichkeit, besonders als Schwiegertochter nicht. Sie titulierte sie also nie anders als »das Mensch«, »die Sau«, »das Mistvieh« und dergleichen.
Und je ärmer sie wurde, umso stärker betonte sie ihre gesellschaftliche Herkunft, mit anderen Worten: je härter sie ihre materielle Niederlage empfand, umso bewusster wurde sie ihrer ideellen Überlegenheit. Diese ideelle Überlegenheit bestand vor allem aus Unwissenheit und aus der [16]natürlichen Beschränktheit des mittleren Bürgertums. Wie alle ihresgleichen hasste sie nicht die uniformierten und zivilen Verbrecher, die sie durch Krieg, Inflation, Deflation und Stabilisierung begaunert hatten, sondern ausschließlich das Proletariat, weil sie ahnte, ohne sich darüber klar werden zu wollen, dass dieser Klasse die Zukunft gehört. Sie wurde neidisch, leugnete es aber ab. Sie fühlte sich zutiefst gekränkt und in ihren heiligsten Gefühlen verletzt, wenn sie sah, dass sich ein Arbeiter ein Glas Bier leisten konnte. Sie wurde schon rabiat, wenn sie nur einen demokratischen Leitartikel las. Es war kaum mit ihr auszuhalten am 1. Mai.
Nur einmal hatte sie acht Jahre lang einen Hausfreund, einen Zeichenlehrer von der Oberrealschule im achten Bezirk. Der ist immer schon etwas nervös gewesen und hat immer schon so seltsame Aussprüche getan, wie: »Na, wer ist denn schon der Tizian? Ein Katzlmacher!« Endlich wurde er eines Tages korrekt verrückt, so wie sichs gehört. Das begann mit einem übertriebenen Reinlichkeitsbedürfnis. Er rasierte sich den ganzen Körper, schnitt sich peinlich die Härchen aus den Nasenlöchern und zog sich täglich zehnmal um, obwohl er nur einen Anzug besaß. Später trug er dann auch beständig ein Staubtuch mit sich herum und staubte alles ab, die Kandelaber, das Pflaster, die Trambahn, den Sockel des Maria-Theresia-Denkmals – und zum Schluss wollte er partout die Luft abstauben. Dann wars aus.
Doch lassen wir nun diese historisch-soziologischen Skizzen und kehren wir zurück in die Gegenwart, und zwar in die Schellingstraße.
Knapp zehn Minuten bevor der Kobler nach Hause kam, läutete ein gewisser Graf Blanquez bei der Frau Perzl. Er sagte ihr, er wolle in Koblers Zimmer auf seinen Freund Kobler warten.
Dieser Graf Blanquez war eine elegante Erscheinung und eine verpatzte Persönlichkeit. Seine Ahnen waren Hugenotten, er selbst wurde im Bayerischen Wald geboren. Erzogen wurde er teils von Piaristen, teils von einem homosexuellen Stabsarzt in einem der verzweifelten Kriegsgefangenenlager Sibiriens. Mit seiner Familie vertrug er sich nicht, weil er vierzehn Geschwister hatte. Trotzdem schien er meist guter Laune zu sein, ein großer Junge, ein treuer Gefährte, jedoch leider ohne Hemmungen. Er liebte Musik, ging aber nie in die Oper, weil ihn jede Oper an die Hugenotten erinnere, und wenn er an die Hugenotten dachte, wurde er melancholisch.
Die Perzl ließ ihn ziemlich unfreundlich hinein, denn er war ihr nicht gerade sympathisch, da sie ihn im Verdacht hatte, dass er sich nur für junge Mädchen interessiert. »Wo hat der nur seine eleganten Krawatten her?« überlegte sie misstrauisch und beobachtete ihn durchs Schlüsselloch. Sie sah, wie er sich aufs Sofa setzte und in der Nase bohrte, das Herausgeholte aufmerksam betrachtete und es dann gelangweilt an die Tischkante schmierte. Dann starrte er Koblers Bett an und lächelte zynisch. Hierauf kramte er in Koblers Schubladen, durchflog dessen Korrespondenz und [18]ärgerte sich, dass er nirgends Zigaretten fand, worauf er sich aus Koblers Schrank ein Taschentuch nahm und sich vor dem Spiegel seine Mitesser ausdrückte. Er war eben, wie bereits gesagt, leider hemmungslos.
Er kämmte sich gerade mit Koblers Kamm, als dieser die Perzl am Schlüsselloch überraschte. »Der Herr Graf sind da«, flüsterte sie. »Aber ich an Ihrer Stell würd ihm das schon verbieten. Denken Sie sich nur, kommt er da gestern nicht herauf mit einem Mensch, legt sich einfach in Ihr Bett damit, gebraucht Ihr Handtuch und ist wieder weg damit! Das geht doch entschieden zu weit, ich tät das dem Herrn Grafen mal sagen!«
»Das ist gar nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen«, meinte Kobler. »Der Graf ist nämlich leicht gekränkt, er könnt das leicht falsch auffassen, und ich muss mich mit ihm vertragen, weil ich oft geschäftlich mit ihm zusammenarbeiten muss. An dem Handtuch ist mir zwar heut schon etwas aufgefallen, wie ich mir das Gesicht abgewischt hab, aber eine Hand wäscht halt die andere.«
Die Perzl zog sich gekränkt in ihre Küche zurück und murmelte was Ungünstiges über die heutigen Kavaliere.
Als der Graf den Kobler erblickte, gurgelte er gerade mit dessen Mundwasser und ließ sich nicht stören. »Ah, servus!« rief er ihm zu. »Verzeih, aber ich hab grad so einen miserablen Geschmack im Mund. Apropos: Ich weiß schon, du hast den Karren verkauft. Man gratuliert!«
»Danke«, sagte Kobler kleinlaut und wartete verärgert, dass man ihn anpumpt. »Woher weiß denn das schon jeder Gauner, dass ich den Portschinger betrogen hab?« fragte er sich verzweifelt.
[19]Er überlegte: »Pump mich nur an, aber dann schlag ich dir auf dein unappetitliches Maul!«
Aber es kam ganz im Gegenteil. Der Graf legte mit einer chevaleresken Geste zehn Reichsmark auf den Tisch. »Mit vielem Dank zurück«, lächelte er verbindlich und gurgelte weiter, als wäre nichts Besonderes passiert. »Du hast es, scheints, vergessen«, bemerkte er dann noch so nebenbei, »dass du mir mal zehn Mark geliehen hast.« Was für ein Tag! dachte Kobler.
»Ich kann es dir heut leicht zurückzahlen«, fuhr der Graf fort, »weil ich heut Nacht eine Erbschaft machen werd. Mein Großonkel, der um zehn Monate jünger ist als ich, liegt nämlich im Sterben. Er hat den Krebs. Der Ärmste leidet fürchterlich, Krebs ist bekanntlich unheilbar, wir wissen ja noch gar nicht, ob das ein Bazillus ist oder eine Wucherung. Er wird die Nacht nicht überleben, das steht fest. Wie er von seinem Leiden erlöst ist, fahr ich nach Zoppot. Nein, nicht durch Polen, oben rum.«
»Gehört Zoppot noch zu Deutschland?« erkundigte sich Kobler.
»Nein, Zoppot liegt im Freistaat Danzig, der direkt dem Völkerbund untergeordnet ist«, belehrte ihn der Graf. »Übrigens, wenn ich du wär, würd ich jetzt auch wegfahren, du kannst deine Sechshundert gar nicht besser anlegen. Wenn du mir folgst, fährst du einfach auf zehn Tag in ein Luxushotel, lernst dort eine reiche Frau kennen, und alles Weitere wird sich dann sehr leger abspielen, du hast ja ein gutes Auftreten. Du kannst für dein ganzes Leben die märchenhaftesten Verbindungen bekommen, garantiert! Du kennst doch den langen Kammerlocher, der wo früher bei den Ulanen war, den Kadettaspiranten, der wo in der Maxim-Bar[20]die Zech geprellt hat? Der ist mit ganzen zweihundert Schilling nach Meran gefahren, hat sich dort in ein Luxushotel einlogiert, hat noch am gleichen Abend eine Ägypterin mit a paar Pyramiden zum Boston engagiert, hat mit ihr geflirtet und hat sie dann heiraten müssen, weil er sie kompromittiert hat. Jetzt gehört ihm halb Ägypten. Und was hat er gehabt? Nix hat er gehabt. Und was ist er gewesen? Pervers ist er gewesen! Lange Seidenstrümpf hat er sich angezogen und hat seine Haxen im Spiegel betrachtet. Ein Narziss!«
»Das muss ich mir noch durch den Kopf gehen lassen, wie ich am besten mein Geld ausgib«, meinte Kobler nachdenklich. »Ich bin kein Narziss«, fügte er hinzu. Die langen Haxen des Kammerlocher, das Luxushotel und die Pyramiden hatten ihn etwas verwirrt. Mechanisch bot er dem Grafen eine Achtpfennigzigarette an. »Das sind Mazedonier«, sagte der Graf. »Ich nehm mir gleich zwei.«
Sie rauchten. »Ich fahr bestimmt nach Zoppot«, wiederholte der Graf. Es schlug elf. »Es ist schon zwölf«, sagte der Graf, denn er war sehr verlogen.
Dann wurde er plötzlich nervös.
»Also ich fahr nach Zoppot«, wiederholte er sich abermals. »Ich werd dort spielen, ich hab nämlich ein Spielsystem, das basiert auf den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Du setzt immer auf die Zahl, die am wahrscheinlichsten herauskommt. Du musst wahrscheinlich gewinnen. Das ist sehr wahrscheinlich. Apropos wahrscheinlich: Gib mir doch deine zehn Mark wieder retour, es ist mir gerade eingefallen, dass ich sie dir lieber morgen retour gib. Ich krieg sonst meine Wäsche nicht raus. Ich hab mir schon zuvor ein Taschentuch von dir borgen müssen.«
Kobler rasierte sich gerade, und die Perzl brachte ihm das neue Handtuch. »Ende gut, alles gut«, triumphierte sie. »Ich bin Ihnen direkt dankbar, dass Sie diesen Grafen endlich energisch hinauskomplimentiert habn! Ich freu mich wirklich sehr, dass ich den Strizzi nimmer zu sehn brauch!«
»Halts Maul, Perzl!« dachte Kobler und setzte ihr spitz auseinander, dass sie den Grafen total verkenne, man müsse es ihm nur manchmal sagen, dass er ein unmöglicher Mensch sei, sonst würd er sich ja mit sich selber nicht mehr auskennen. Im Moment sei er freilich gekränkt, aber hernach danke er einem dafür. – »So und jetzt bringens mir etwas heißes Wasser!« sagte er und schien keinen Widerspruch zu dulden.
Sie brachte es ihm, setzte sich dann auf den kleinsten Stuhl und sah ihm aufmerksam zu. Sich rasierenden Männern hatte sie schon immer vieles verzeihen müssen. Das lag so in ihrem Naturell.
Er hingegen beachtete sie kaum, da er es schon gar nicht mochte, dass sie mit ihrem Rüssel in seinem Privatleben herumwühlte.
»Also einen Großonkel hab ich nie gehabt«, ließ sie sich schüchtern wieder vernehmen, »aber wie mein Stiefbruder gestorben ist ...« Kobler unterbrach sie ungeduldig: »Also das mit dem sterbenden Großonkel war doch nur Stimmungsmache, damit ich ihm leichter was leih! Der Graf ist nämlich sehr raffiniert. Er ist aber auch sehr vergesslich; bedenken Sie, dass er im Krieg verschüttet war. Er ist doch nicht mehr der Jüngste. Heutzutag muss man über Leichen gehen, wenn man was erreichen will. Ich geh aber nicht [22]über Leichen, weil ich nicht kann. So und jetzt bringens mir etwas kaltes Wasser!«
Sie brachte ihm auch das kalte Wasser und betrachtete treuherzig seinen Rücken. »Darf man ein offenes Wort sagen, Herr Kobler?« – Kobler stutzte und fixierte sich selbst im Spiegel. »Offen?« überlegte er. »Offen? Aber dann kündig ich zum ersten Oktober!« Langsam wandte er sich ihr zu. »Bitte!« sagte er offiziell.
»Sie wissens ja jetzt, wie hoch ich den Herrn Grafen einschätz, aber trotzdem hat er vorhin in einem Punkt recht gehabt, nämlich was das Reisen betrifft. Wenn ich jetzt Ihr Geld hätt, ließ ich sofort alles liegen, wies grad liegt, nur naus in die Welt!« »Also das ist der ihr offenes Wort«, dachte Kobler beruhigt und wurde auffallend überlegen: »Sagen Sie, Frau Perzl, warum horchen Sie denn immer, wenn ich Besuch empfange?« »Ich hab doch nicht gehorcht!« protestierte die Perzl und gestikulierte sehr. »Ich war doch grad am Radio, aber ich hab schon kein Ton gehört von dem klassischen Quartett, so laut haben sich die beiden Herren die Meinung gesagt! Könnens mir glauben, ich hätt mich lieber an der Musik erbaut, als Ihr urdanäres Gschimpf mitangehört!« »Schon gut, Frau Perzl, so war es ja nicht gemeint«, trat Kobler den Rückzug an, während sie sich als verfolgte Unschuld sehr gefiel. »Wenn ich an all die fremden Länder denk« sagte sie, »so hebts mich direkt von der Erden weg, so sehr sehn ich mich nach Abbazia.«
Kobler ging auf und ab.
»Was Sie da über die weite Welt reden«, sagte er, »interessiert mich schon sehr. Nämlich ich hab mir schon oft gedacht, dass man das Ausland kennenlernen soll, um seinen Horizont zu erweitern. Besonders für mich als jungen [23]Kaufmann wärs schon sehr arg, wenn ich hier nicht rauskommen tät, denn man muss sich mit den Verkaufsmethoden des Auslands vertraut machen. Also wie zum Beispiel ein Kabriolett mit Notsitz in Polen und wie das gleiche in Griechenland verkauft wird. Das werden zwar oft nur Nuancen sein, aber auf solche Nuancen kommts halt oft an. Es wird ja immer schwerer mit dem Dienst am Kunden. Die Leut werden immer anspruchsvoller und« – er stockte, denn plötzlich durchzuckte es ihn schaurig: Wer garantiert mir, dass ich noch einen Portschinger find?
Niemand garantiert dir, Alfons Kobler, kein Gott und kein Schwein, so ging es in ihm zu. Er starrte bekümmert vor sich hin. »Nichts ist der Kundschaft gut und billig genug«, meinte er traurig und lächelte resigniert.
»Sie werden im Ausland sicher viel lernen, was Sie dann opulent verwerten können«, tröstete ihn die Perzl. »Was Sie nur allein an Kunstschätzen sehn werden! In Paris den Louvre, und im Dogenpalast hängt das Porträt eines alten Dogen, der schaut einen immer an, wo man auch grad steht. Aber besonders Florenz! Und das Forum Romanum in Rom! Überhaupt die Antike!« Doch Kobler wehrte ab: »Also für die Kunst hab ich schon gar nichts übrig! Haltens mich denn für weltfremd? Dafür interessieren sich doch nur die Weiber von den reichen Juden, wie die Frau Autobär, die von der Gotik ganz weg war und sich von einem Belletristen hat bearbeiten lassen!« Die Perzl nickte deprimiert. »Früher war das anders«, sagte sie.
»Bei mir muss alles einen Sinn haben«, konstatierte Kobler. »Habens das ghört, was der Graf über die Ägypterin mit den Pyramiden gewusst hat? Sehens, das hätt einen Sinn!«
Die Perzl wurde immer deprimierter. »Ihnen tät ichs von [24]Herzen gönnen, lieber Herr!« rief sie verzweifelt. »Hätt doch nur auch mein armer Sohn einen Sinn ghabt und hätt sich so eine reiche Ägypterin rausgsucht, statt das Mistvieh von einer Tippmamsell, Gott verzeih ihr die Sünd!«
Sie schluchzte.
»Kennen Sie Zoppot?« fragte Kobler.
»Ich kenn ja nur alles von vor dem Krieg! Mein Mann selig ist viel mit mir rumgefahren. Sogar auf den Vesuv hat er mich nauf. Oh, wie möcht ich mal wieder nauf!«
Sie weinte.
»Beruhigen Sie sich«, sagte Kobler. »Was nicht geht, geht nicht!«
»Damit tröst ich mich auch«, wimmerte die Perzl. Dann nahm sie sich zusammen.
»Pardon, dass ich Sie molestiert hab«, lächelte sie geschmerzt. »Aber wenn ich Sie wär, würd ich morgen direkt nach Barcelona fahren, dort ist doch jetzt grad eine Weltausstellung. Da müssens in gar kein Luxushotel, da könnens solche Ägypterinnen leicht in den Pavillonen kennenlernen, das ist immer so in Weltausstellungen. In der Pariser Weltausstellung hab ich mal meinen Seligen verloren, und schon spricht mich ein eleganter Herr an, und wie ich ihn anschau, macht er seinen Ulster auf und hat nichts darunter an, ich erwähn das nur nebenbei.«
Kobler betrat ein amtliches Reisebüro, denn er wusste, dass einem dort umsonst geantwortet wird. Er wollte sich über Barcelona erkundigen und wie man es am einfachsten [25]erreichen tät. Zoppot hatte er nämlich fallen lassen, da er von der Perzl überzeugt worden war, dass an einem Orte, wo die ganze Welt ausstellt, wahrscheinlich eine bedeutend größere Auswahl Ägypterinnen anzutreffen wäre als in dem luxuriösesten Luxushotel. Außerdem würde er dabei auch die ganzen Luxushotelkosten sparen, und wenn es nichts werden sollte mit den Ägypterinnen (was er zwar nicht befürchtete, aber er rechnete mit jeder Eventualität), so könnte er seine Kenntnisse im Automobilpavillon vervollständigen und das Automobilverkaufswesen der ganzen Welt auf einmal überblicken. »Ich werd das Geschäftliche mit dem Nützlichen verbinden«, sagte er sich.
In dem amtlichen Reisebüro hingen viele Plakate mit Palmen und Eisbergen, und man hatte das Gefühl, als wär man schon nicht mehr in der Schellingstraße.
Fast jeder Beamte schien mehrere Sprachen zu sprechen, und Kobler horchte andächtig. Er stand an dem Schalter »Ausland«.
Vor ihm standen bereits zwei vornehme Damen und ein alter Herr mit einem gepflegten Bart. Die Damen sprachen Russisch, sie waren Emigrantinnen. Auch der Beamte war ein Emigrant. Die Damen nahmen ihn sehr in Anspruch; er musste ihnen sagen, wo gegenwärtig die Sonne scheint, am Lido, in Cannes oder in Deauville. Sie würden zwar auch nach Dalmatien fahren, meinten die Damen, auf die Preise käms ja nicht an, auch wenn es in Dalmatien billiger wäre.
Der alte Herr mit dem gepflegten Bart war ein ungarischer Abgeordneter. Er nannte sich Demokrat und las gerade in seiner ungarischen Zeitung, dass die Demokratie Schiffbruch erleide, und nickte beifällig.
[26]Die eine Dame streifte Kobler mit dem Blick. Sie streifte ihn sehr schön, und Kobler ärgerte sich, dass er kein Emigrant sei, während sich der bärtige Demokrat über MacDonald ärgerte. »Man sollte jeden Demokraten ausrotten«, dachte er.
Endlich gingen die beiden Damen. Der Beamte schien sie sehr gut zu kennen, denn er küsste der einen die Hand. Sie kamen ja auch jede Woche und erkundigten sich nach allerhand Routen. Gefahren sind sie aber noch nirgends hin, denn sie kamen mit ihrem Geld grad nur aus. Sie holten sich also jede Woche bloß die Prospekte, und das genügte ihnen. Mit der, deren Hand der Beamte küsste, paddelte er manchmal am Wochenend.
»Ich möchte endlich nach Hajdúszoboszló mit Schlafwagen«, sagte der mit dem Bart ungeduldig und sah den Kobler kriegerisch an. »Was hat er nur?« dachte Kobler. »Ob das auch ein Demokrat ist?« dachte der Demokrat.
»Nach Hajdúszoboszló kann ich Ihnen leider keine Karte geben«, sagte der Beamte. »Ich hab sie nur bis Budapest hier.« »Skandal«, entrüstete sich der Bart. »Ich werde mich bei meinem guten Freunde, dem königlich ungarischen Handelsminister, beschweren!« »Ich bin Beamter« sagte der Beamte. »Ich tu meine Pflicht und kann nichts dafür. Welche Klasse wollen Sie?«
Der mit dem Bart sah ihn unsagbar wehmütig und gekränkt an. »Erster natürlich«, nickte er traurig. »Armes Ungarn!« fiel es ihm ohne jeden Zusammenhang ein. Da trat ihm Kobler zufällig auf das Hühnerauge. »Was machen Sie da?!« brüllte der Bart. »Verzeihung«, sagte Kobler. »Also das ist sicher ein Demokrat!« zischte der Demokrat auf Ungarisch.
[27]»Bitte, gedulden Sie sich einige Augenblicke, ich muss erst nachfragen lassen, ob es noch Budapester Schlafwagenplätze gibt«, sagte der Beamte und wandte sich dann an Kobler: »Wohin?« »Nach Barcelona«, antwortete dieser, als wär das in der Nachbarschaft. Der Bart horchte auf. »Barcelona«, überlegte er, »war vor Primo di Rivera eine Zentrale der anarchistischen Bewegung. Er ist mir auf das Hühnerauge getreten, und dritter Klasse fährt er auch!«
»Barcelona ist weit«, sagte der Beamte, und Kobler nickte; auch der Bart nickte unwillkürlich und ärgerte sich darüber. »Barcelona ist sehr weit«, sagte der Beamte. »Wie wollen Sie denn fahren? Über die Schweiz oder Italien? Sie fahren zur Weltausstellung? Dann passen Sie auf: Fahren Sie hin durch Italien und retour durch die Schweiz. Preis und Entfernung sind egal, ja. Sie fahren hin und her dreiundneunzig Stunden, D-Zug natürlich. Sie brauchen das Visum nach Frankreich und Spanien. Wird besorgt! Nach Österreich, Italien und Schweiz brauchen Sie kein Visum, wird besorgt! Wenn Sie hier abfahren, sind Sie an der deutschen Grenze um 10.32 und in Innsbruck um 13.05. Ich schreibs Ihnen auf. Ab Innsbruck 13.28. An Brennero