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Sommer 1928: Anita Berber liegt geschwächt in einem Berliner Krankenhaus. Gerade noch war sie ein Star, verkörperte die neue Zeit, auf der Bühne, in Dutzenden Filmen, lebte und liebte exzessiv. Bis zu den Anfeindungen in Wien, in denen eine dunkle Zukunft aufschien … Anita Berber denkt zurück an ihre geliebte Großmutter Lu, bei der sie aufwuchs. An ihren Weg zum göttlichen Tanz, an den großen Fritz Lang und die ehrgeizige Marlene Dietrich, die bald Anitas Stil kopierte. Während Freunde – wie Otto Dix, der sie malte – sie besuchen, sucht Anita Berber nach dem entscheidenden falschen Schritt auf ihrem Weg. Sie wollte den Tanz zur Kunst, zur Feier des Lebens machen – andere sahen nur den Skandal. Um all das kreisen ihre Gedanken, auch um ihre große, verlorene Liebe. Und um Felix Berber, den berühmten Violinisten, ihren lebenslang vermissten Vater. Nach dem Ersten Weltkrieg wankt alles Feste, die Welt ist ungeahnt frei und gefährlich zugleich. Steffen Schroeder erzählt Anita Berbers aufregendes Leben, das diese Epoche verkörpert – zwischen Selbstbestimmung, größter Freiheit und Risiko. Sie starb mit nur neunundzwanzig Jahren. Ein packendes Panorama mit einer glühenden Heldin.
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Seitenzahl: 372
Veröffentlichungsjahr: 2025
Steffen Schroeder
Roman
Sommer 1928: Anita Berber liegt geschwächt in einem Berliner Krankenhaus. Gerade noch war sie ein Star, verkörperte die neue Zeit, auf der Bühne, in dutzenden Filmen, lebte und liebte exzessiv. Bis zu den Anfeindungen in Wien, in denen eine dunkle Zukunft aufschien … Anita Berber denkt zurück an ihre geliebte Großmutter Lu, bei der sie aufwuchs. An ihren Weg zum göttlichen Tanz, an den großen Fritz Lang und die ehrgeizige Marlene Dietrich, die bald Anitas Stil kopierte. Während Freunde – wie Otto Dix, der sie malte – sie besuchen, sucht Anita Berber nach dem entscheidenden falschen Schritt auf ihrem Weg. Sie wollte den Tanz zur Kunst, zur Feier des Lebens machen – andere sahen nur den Skandal. Um all das kreisen ihre Gedanken, auch um ihre große verlorene Liebe. Und um Felix Berber, den berühmten Violinisten – ihren lebenslang vermissten Vater.
Nach dem Ersten Weltkrieg wankt alles Feste, die Welt ist ungeahnt frei und gefährlich zugleich. Steffen Schroeder erzählt Anita Berbers aufregendes Leben, das diese Epoche verkörpert – zwischen Selbstbestimmung, größter Freiheit und Risiko. Ein packendes Panorama mit einer glühenden Heldin.
Steffen Schroeder, geboren 1974 in München, ist Schauspieler und Schriftsteller. Er war Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater, bevor er Claus Peymann ans Berliner Ensemble folgte. Er spielte in zahlreichen Fernsehserien und Kinofilmen, wie etwa «Der rote Baron». Schroeder engagiert sich für den Weißen Ring und gegen Rechtsextremismus, seit 2017 ist er Botschafter der Organisation Exit-Deutschland. Sein Buch «‹Was alles in einem Menschen sein kann›. Begegnung mit einem Mörder» (2017) löste großes Echo aus. 2020 erschien sein Debütroman «Mein Sommer mit Anja», 2022 der Roman «Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor», der zum großen Erfolg bei Publikum und Presse wurde. Steffen Schroeder lebt mit seiner Familie in Potsdam.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung Die Tänzerin Anita Berber, ca. 1918/ullstein bild
ISBN 978-3-644-02086-3
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde.
Friedrich Nietzsche
Wenn man in den Zwischenwelten unterwegs ist, kommt man leicht abhanden. Man verschwindet irgendwann in einem Spalt, im diffusen Bereich zwischen Licht und Schatten, zwischen Traum und Wirklichkeit. Zwischen Mann und Frau.
Manchmal sei das Leben wie ein Seiltanz über dem Abgrund, hatte Großmutter Lu ihr einmal erklärt, als sie noch ein Kind war. Kleine Schritte müsse man da machen und den Blick – die Großmutter hatte Anita streng angesehen –, den Blick dabei fest in die Ferne richten. Das Ziel, die rettende andere Seite, gelte es anzuvisieren.
Anita hatte gefragt, was das heiße, «anfisieren»?
Einen Punkt fest und klar ins Auge fassen, hatte die Großmutter erklärt, und dann geht man ruhig darauf zu. Man blickt nicht nach links, nicht nach rechts. Und erst recht nicht, nie, hatte die Großmutter betont, nie richtet man den Blick nach unten. Dann kommt man sicher auf der anderen Seite an. Und eigentlich, eigentlich läuft man im Leben ja auch sonst von einem Ort zum anderen, ohne sich dabei über den Boden, der einen trägt, Gedanken zu machen.
Die Welt der Mädchen schien Anita wenig erstrebenswert. Seilspringen, Zöpfe flechten und sonntags mit Puppen spielen, daran lag ihr nichts. Erst recht nicht, nachdem sie einmal ihre Puppe hatte fallen lassen und der porzellanene Kopf zerbrochen war, zersprungen wie eine hohle Nuss. Wie sollte man mit solchem Zeug spielen? Weit mehr liebte sie es, auf Bäume zu klettern, mit der Steinschleuder Spatzen zu schießen und mit den Jungs zu raufen oder am Elbufer Haschen zu spielen. Großmutter Lu ließ sie gewähren, ließ Anita sein, wie sie war. Großmutter Lu nannte sie gar «mein Toni», warum, das hatte sie nie verraten. Für die Großmutter durfte Anita so etwas wie der Mann im Hause sein.
Der Großvater war schon lange tot. Er war aus dem Leben der Großmutter verschwunden, und zwar ganz und gar. Der Großvater tauchte nicht in Lus Erzählungen auf, sein Porträt fehlte auf den Familienfotos, die, in silberne Jugendstilrahmen gefasst, die Kredenz im Wohnzimmer zierten und auf dem Nachtkasten neben dem riesigen Großmutterbett standen. Auch kein Grab von ihm gab es, das man hätte besuchen können.
«Auf die Männer ist kein Verlass. Mach dich nie von einem Mann abhängig!», pflegte Lu zu sagen. Und dann drückte sie Anita an sich und meinte, dass sie froh sei, ihren Toni zu haben. Mehr brauche sie nicht.
Ansonsten war da noch Tante Elsi. Auch sie wohnte bei der Großmutter, auch sie hatte keinen Mann, wenngleich sie vermutlich gern einen gehabt hätte. Die Männer allerdings hatten sich nie für Tante Elsi interessiert, zumindest nicht auf Dauer. Was Anita schon verstehen konnte: Die Tante litt an dem, was Großmutter Lu die «ewige Schwermut» nannte. Meist sprach sie kein Wort. Außer wenn sie getrunken hatte.
Und so konnte Anita bequem der Mann im Hause sein. Morgens las sie der Großmutter aus der Zeitung vor. Sie holte die Kohlen aus dem Keller und öffnete für Lu Konservendosen und Einmachgläser, damit sie ihre rheumatischen Handgelenke schonen konnte. Am Abend spielte sie mit Tante Elsi und der Großmutter bis tief in die Nacht Tarock.
Eine Frau wollte Anita nur sein, wenn sie die Mutter besuchten. Wenn sie mit Großmutter Lu den weiten Weg von Dresden nach Berlin mit der Eisenbahn fuhr, und wenn sie dort abends im berühmten Kabarett Chat Noir direkt Unter den Linden die Mutter singen und tanzen sah.
Das erste Mal hatte sie die Mutter auf der Bühne erlebt, als sie dreizehn Jahre alt war. An jenem Tag hatte Großmutter Lu zu Anita gesagt: «Man ist immer das, was man aus sich macht.» Und dann hatte sie ihrer Enkeltochter gezeigt, wie man aus dem schlaksigen, noch fast knabenhaften Tonikörper mit dem Lausbubengesicht eine junge Dame zauberte. Nachdem die Großmutter sie in ein altes, aber famoses Kleid von Tante Elsi gesteckt hatte, nachdem sie ihre kindlichen Wangen zart mit dunklem Puder eingelegt, die Lippen nachgezogen, Lidstrich aufgetragen und die Wimpern getuscht hatte, erklärte sie zufrieden: «So, Fräulein Berber, nun wird niemand mehr nach Ihrem Alter fragen!»
Mit der Pferdebahn waren sie von ihrer Pension zum Theater gefahren. Die Großmutter hatte sie untergehakt und dem Portier des Chat Noir mit stolzgeschwellter Brust freundlich zugenickt, ehe sie an der Kasse vorbei in den Saal rauschten. Man kannte sich, sie waren angekündigt, und die Großmutter hatte die reservierten Plätze notiert. Der Raum war gesteckt voll. Die Damen trugen elegante Kleider und aufwendige Hochsteckfrisuren, die Herren Smoking, manche auch Uniform, das Haar sorgsam gescheitelt. Ein aufgeregtes Wispern, ein erwartungsvolles Raunen lag in der Luft. Theaterdirektor Rudolph Nelson hatte mit seiner Truppe zuletzt große Erfolge gefeiert, auch im Ausland. Und seitdem der Kaiser in einer Privatvorstellung ganze fünf Mal die Wiederholung des von Nelson komponierten Schlagers «Das Ladenmädel» gefordert hatte, wie man sämtlichen Zeitungen hatte entnehmen können, waren die Vorstellungen schon Wochen im Voraus ausverkauft.
Aufgeregt war Anita gewesen, wie immer, wenn sie die Mutter besuchten. Nur diesmal noch um einiges mehr. Schließlich erlosch das Licht im Saal, die Bühnenscheinwerfer flammten knisternd auf, und der kleine, dicke Herr Nelson, den sie schon von früheren Berlinbesuchen her kannte, betrat die Bühne. Er verbeugte sich vor dem Publikum, ehe er an dem großen Konzertflügel Platz nahm, der links vor dem Bühnenportal stand. Herr Nelson fuhr sich einmal mit der Rechten über die Glatze, als ob es da noch Haare gäbe, die man nach hinten werfen könne, und schon rasten seine kurzen, dicken Finger mit erstaunlicher Geschwindigkeit über die Klaviatur. Noten benötigte er keine, wie Anita erstaunt feststellte.
Der Conférencier Fritz Grünbaum trat auf, ein ungewöhnlich kleiner Mann mit schütterem Haar und einer Nickelbrille auf der Nase. Er trug einen vornehmen Frack, in der Hand hielt er eine schwarze Scheibe, die er nur kurz berührte, und schon verwandelte sie sich in einen Zylinder, während Grünbaum erklärte, dass das sein «Stößer» sei. Er erklärte auch seinen Beruf: «Ein Conférencier ist einer, der dem Publikum möglichst heiter zu erklären versucht, dass es heutzutage nichts zu lachen gibt.»
Er sagte noch viele andere Dinge, die Anita nicht verstand. Aber offenbar war er sehr komisch, denn das Publikum um sie herum schlug sich binnen kurzer Zeit vor Lachen auf die Schenkel, und das fand auch Anita lustig. Schließlich kündigte der Conférencier den berühmten Sänger Jean Moreau an, von dem auch die Großmutter eine Schallplatte besaß. Jean Moreau hatte tiefschwarzes Haar und leuchtend blaue Augen, aber eigentlich war er gar kein Franzose; eigentlich hieß er Giovanni und kam aus Kroatien. Das wusste sie von ihrer Mutter. Eine Zeit lang hatte Anita gedacht, dieser gut aussehende Mann mit dem charmanten Lächeln und der sanften Stimme könne vielleicht einmal ihr Vater sein. Auch weil die Mutter so häufig von ihm erzählt hatte. Aber dann hatte Großmutter Lu gemeint, bei Giovanni sei man nur eine von vielen. Der sei nichts für die Mutter.
Die vielen, die sah Anita jetzt: Sie traten hinter Giovanni auf, ein ganzes Dutzend Damen, «die Girls», wie Herr Nelson sie nannte, alle groß und schlank und mit reizenden Gesichtern. Im Gleichschritt bewegten sie ihre langen Beine im Takt der Musik. Jede Bewegung synchron, wie ein Schwarm Stichlinge im Dresdner Silbersee. Dann mit einem Mal teilte sich der Schwarm, und in seiner Mitte erschien die Mutter. Bezaubernd schön sah sie aus in ihrem weißen, spitzenbesetzten Seidenkleid. Das entging natürlich auch Jean Moreau nicht, der sogleich singend um sie warb. Die Mutter antwortete mit einem Lied, an dessen Ende sie den falschen Franzosen keck abblitzen ließ. Das Publikum lachte, und Anita klatschte stolz in die Hände.
Im weiteren Verlauf des Abends, als die Mutter und Jean Moreau mitsamt den Girls von der Bühne verschwunden waren, erschien eine rot gekleidete Tänzerin im Rampenlicht: Die berühmte Marietta di Rigardo stammte von den Philippinen, ihre scharf geschnittenen Züge und ihre gebräunte Haut verliehen ihr etwas Exotisches. Herr Nelson griff in die Tasten, das Licht der Scheinwerfer spiegelte sich auf seiner Glatze. Marietta di Rigardo tanzte leichtfüßig dahin, sie bewegte sich so anmutig, dass sie mitunter fast zu schweben schien. In einem Moment tänzelte sie geschmeidig wie eine zahme Katze, im nächsten zeigte sie etwas Raubtierhaftes, geradezu bedrohlich wirkte sie. Ihr Körper schien eins mit der Musik, jede ihrer Bewegungen zauberte Bilder vor Anitas inneres Auge, die noch faszinierender waren als der Film, den sie letztens mit der Großmutter im Lichtspielhaus hatte gucken dürfen. Als das Klavierspiel des Herrn Nelson im Crescendo anschwoll, wurden die Bewegungen der Rigardo härter, kantiger, bisweilen machte es den Eindruck, als stünde ihr ganzer Körper unter Strom.
Anita dachte an ihre geliebten Unterrichtsstunden in der neu gegründeten Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus in Hellerau, vor den Toren Dresdens. Seit einigen Monaten war sie Teil der rhythmischen Gymnastikgruppe bei Émile Jaques-Dalcroze, den sie insgeheim verehrte. «Maître Jaques», wie sie ihn nannten, hatte etwas Einfühlsames und zutiefst Melancholisches an sich. Sein dunkles, gewelltes Haar durchzogen ein paar graue Fäden, sein Spitzbart hingegen und auch der Schnurrbart mit den nach oben gezwirbelten Enden waren durch den übermäßigen Gebrauch von Nussextrakt viel zu schwarz.
«Das Phänomen des Rhythmus ist Ausdruck innerster Not und geheimster Sehnsucht», pflegte Maître Jaques mit hauchender Stimme zu sagen und sah die Mädchen mit verklärtem Blick hinter seinem Zwicker an.
Worauf eines der jüngeren Mädchen einmal gefragt hatte: Was das sei, Sehnsucht?
«Sehnsucht ist das in deinem Herzen, was fliegen will», hatte Maître Jaques geantwortet. Dabei hatten die schwarzen Zwirbel seines Schnurrbarts leicht gezittert, wie Anita beobachten konnte.
«Der Rhythmus allein gibt geformtes Leben», sprach er. Und auch wenn das schwer zu fassen war, tief im Inneren hatte sie gewusst, dass Maître Jaques recht hatte.
Aber was sie hier an diesem Abend auf der Bühne erlebte, das war etwas ganz anderes als Rhythmische Gymnastik, etwas anderes als «das Gehopse», wie Großmutter Lu es nannte. Davon würde sie Maître Jaques erzählen müssen. Von der Welt, die sich ihr an diesem Abend erschloss.
Der Körper bot Ausdrucksmöglichkeiten, die unendlich waren. Schließlich gab es doch so viele Dinge, die man nicht in Worte fassen konnte, bei deren Wirkmacht die Stimme versagte. Aber tanzen, dachte sie, tanzen konnte man alles.
Nach der Vorstellung fuhren sie alle zusammen mit dem Vierspänner des Herrn Nelson ins Café des Westens. Wer als Künstler etwas auf sich hielt, wohnte wie der Theaterdirektor und auch die Mutter im «Neuen Westen» Berlins – am Rande der Stadt, wo der Kurfürstendamm sich nach einigen Hundert Metern zwischen Brachflächen, märkischen Kiefern und Feldern verlor. Im Café des Westens, das Anita von vorherigen Besuchen kannte, verkehrten all die Freunde und Kollegen der Mutter. Auch jetzt herrschte trotz der späten Stunde reger Betrieb. Der «rote Richard», wie der rot gelockte, bucklige Zeitungskellner genannt wurde, eilte noch immer zwischen den Tischen und dem Zeitungsständer hin und her und versorgte seine Stammgäste mit Informationen. Der rote Richard kannte jeden. Vor allem aber kannte er den Inhalt aller Journale und Zeitungen, egal ob Morgen-, Mittags- oder Abendausgabe; sein Wissen schien unbegrenzt. Wann hatte er die nur alle gelesen? Dieser Mann, dachte Anita, musste klüger sein als der alte Universitätsprofessor, der Großmutter Lu sonntags besuchte und reden konnte wie ein Buch. Der rote Richard wusste genau, für welchen Künstler welche Kritik von Belang war, wo welcher Schriftsteller die von ihm verfassten Artikel oder eine bestimmte Rezension fand. Je nach Art und Zahlungsfähigkeit seiner Kundschaft verkaufte er die Druck-Erzeugnisse oder verlieh sie gegen ein Trinkgeld. Damit die verliehenen Journale auch wieder den Weg zurück in seine Sammlung fanden, hatte er die Titelseiten mit einem Stempel versehen: «Gestohlen im Café des Westens!»
Kaum hatte der rote Richard Herrn Nelson entdeckt, eilte er herbei und legte ihm die jüngste Kritik zu dem neuen Kabarett vor, das von Herrn Nelsons ehemaligem Geschäftspartner gegründet worden war, der nun sein schärfster Konkurrent war, Roland von Berlin hieß es. Während Herr Nelson sich in die Zeitung vertiefte, wanderte Anitas Blick durch den Raum. Nachts wirkte der Gastraum etwas vornehmer als tagsüber. Dass die hohe Stuckdecke rußgeschwärzt war und Fehlstellen hatte, fiel nun weniger auf, genau wie die ausgeblichenen Farben der an den Wänden hängenden Gobelins. Die Luft war zu jeder Zeit rauchgeschwängert. Die Mutter unterhielt sich angeregt mit zwei Tänzerinnen, die Großmutter plauderte mit dem Conférencier, der immer witzig zu sein schien, zumindest musste die Großmutter ständig lachen. Am Tisch hinter Anita saßen ein paar greise Männer und debattierten heftig. Mit ihren langen, zotteligen Bärten sahen sie aus wie eine Gruppe streitender Nikoläuse. Auf der Ottomane in der Ecke, gleich neben dem Glasgehäuse der Eingangstür, dort, wo tagsüber manchmal eine ältere Dame saß, die mit Vorliebe Opernarien vor sich hinsang, hockten zwei Männer im schummrigen Licht. Sie sahen fast aus wie Frauen – hatten rot geschminkte Lippen, um die herum sich aber ihr dunkler Bartschatten abzeichnete.
Auch wenn dieser Ort an sich nichts Besonderes war, verströmte er eine eigenartige, geheimnisvolle Gemütlichkeit. Was zum einen am zuvorkommenden Personal lag: Jetzt trat der Kellner Anton an ihren Tisch und nahm die Getränkewünsche entgegen. Bleich sah er aus, wie immer; was nicht verwunderlich war, denn der Kellner Anton schien nie zu schlafen. Ob Tag, ob Nacht – stets hetzte er fliegenden Schrittes über die knarzenden, abgetretenen Holzdielen und bediente seine Kundschaft mit zuvorkommender Höflichkeit. Auch jetzt vergaß er nicht, Anita lustig zuzuzwinkern. Noch mehr als am Personal aber lag der Zauber dieses Etablissements an seiner ungewöhnlichen Kundschaft. Im Café des Westens konnte man sein, wie man wollte, hier herrschte Freiheit. Was bedeutete, dass es für Anita immer etwas zu staunen und zu entdecken gab. Hier sah man Gestalten, wie sie einem sonst auf der Straße selten begegneten. Selbst die Dresdner Künstlerfreunde von Großmutter Lu, die meist exaltierter sprachen, deren Bewegungen extrovertierter waren und die stets lauter lachten als andere Menschen, wirkten im Vergleich zum hiesigen Publikum geradezu bieder. Nicht umsonst hatten die Leute diesen Ort auch «Café Größenwahn» getauft. Unter den Stammgästen herrschte eine ungewöhnliche Solidarität – die wohlhabenderen, erfolgreichen Künstler unterstützten die minderbemittelten. Mehrmals tauchte im Verlauf des Abends die eine oder andere Gestalt bei ihnen am Tisch auf und bat Herrn Nelson, ob er ihm nicht etwas borgen könne. Auf diese Weise gab der Theaterdirektor im Verlauf des Abends eine erstaunliche Summe aus der Hand. «Man muss die Kunst fördern, solange man kann», erklärte er schulterzuckend.
Zwischen all den Künstlern gab es auch Tische mit ganz gewöhnlichen Leuten. Theaterbesucher, die nach der Vorstellung hierherkamen, um Berühmtheiten zu beobachten und ihre Neugierde zu stillen. Man erkannte sie auf den ersten Blick, so auffällig, wie sie sich um Unauffälligkeit bemühten. Die Damen in ihren biederen Abendkleidern lächelten wie scheue Rehe, die Herren an ihrer Seite, das Einglas in die Augenhöhle geklemmt, musterten den Raum mit strenger Miene und rümpften hie und da missbilligend die Nase. Mitunter vergaßen sie auch ihre Scham und gafften um sich, als stünden sie vor dem Affenhaus des Zoologischen Gartens.
Wenn Anita langweilig wurde oder sie verlegen war, wie jetzt, studierte sie die Zeichnungen und Inschriften auf der Tischplatte. Die weißen Marmorplatten der kleinen runden Tische waren mit Grafitzeichnungen und Karikaturen bekritzelt und mit Gedichten beschrieben. Gastwirt Pauly hatte es den Kellnern verboten, irgendetwas davon zu entfernen, hatte die Mutter einmal erzählt. Schließlich verkehrten hier die namhaftesten Dichter, Schriftsteller, Maler und sonstige Künstler. Hatte Herr Pauly auf einem der Tische etwas Herausragendes entdeckt, ließ er selbigen mit einer Glasplatte schützen, um das Werk so für die Nachwelt zu erhalten.
Herr Nelson legte nun die Zeitung beiseite und nickte zufrieden. Offenbar war die neue Revue seines Konkurrenten ein Reinfall. Hinter ihm schob sich bereits der Oberkellner, Herr Hahn, durch die Tischreihen und servierte von seinem riesigen Tablett die tiefen weißen Teller aus angeschlagenem Steingut, in denen das Gulasch dampfte. Es war das beste Gulasch, das Anita je gegessen hatte. Und so war sie froh, dass Herr Hahn sein Tablett wie immer ganz selbstverständlich herbeitrug, ohne dass irgendwer danach hätte rufen müssen.
Am Tisch gegenüber saß eine etwa vierzigjährige Frau mit offenem, dunklem Haar, das noch nicht einmal bis zu den Schultern reichte. Herr Nelson lud auch sie großzügig zum Essen ein, was sie dankend annahm. Sie stellte sich Anita als Prinz Jussuf von Theben vor. Anita musste unwillkürlich grinsen, aber ihr Gegenüber verzog keine Miene und begann stattdessen eine intensive Unterhaltung mit einem deutlich jüngeren Mann, der eine russisch anmutende Kappe trug. Anita verstand nichts davon, offenbar ging es in dem Gespräch um gelbe Kühe und blaue Reiter.
Herr Nelson hatte inzwischen begonnen, sein Gulasch zu essen. In erstaunlicher Geschwindigkeit führten seine kurzen, dicken Finger den Löffel zum Mund, und man konnte sich gar nicht mehr vorstellen, dass es dieselben Hände waren, die vorhin noch derart filigran und gefühlvoll auf dem Klavier gespielt hatten. Anita hingegen brachte, obwohl sie den ganzen Abend nichts gegessen hatte, kaum einen Bissen herunter. Offenbar bemerkte Herr Nelson ihren Blick, denn er hielt inne, sah Anita nachdenklich an und begann zu erzählen: Er habe, begann er, als junger Mann auf Druck der Eltern erst einmal Kaufmann werden müssen, das solle sie sich mal vorstellen! Mehrere Jahre habe er sich in der Baumwollbranche umtun müssen. Angewidert verzog er den Mund. «Baumwolle besteht aus den Samenhaaren einer Gattung der Malvengewächse, und wer will denn damit schon zu tun haben?» Bei der Erinnerung lachte er auf und schüttelte den Kopf, so absurd schien ihm dieser Gedanke jetzt.
Anita wunderte sich. «Mutter erzählte mir, sie seien bereits mit sechs Jahren als Pianist aufgetreten und hätten vor vollen Konzertsälen gespielt?»
«Das entspricht durchaus der Wahrheit», erwiderte Herr Nelson. «Das Klavierspiel ging mir von Anfang an leicht von der Hand. Als ich fünf Jahre alt war, bemerkten meine Eltern, dass ich mühelos mit Chopin und Liszt zurechtkam – ich hatte beim Klavierunterricht der älteren Brüder zugesehen und einfach alles nachgespielt, es schien mir das Selbstverständlichste überhaupt. Aber meine Familie war aufs Äußerste beeindruckt. Experten wurden gerufen, man beschloss, dass ich ein Wunderkind sei.» Herr Nelson grinste. «Der Klavierlehrer bot an, mich kostenlos zu unterrichten. Und bereits ein Jahr später hatte ich mein erstes öffentliches Konzert. Das Dasein als Wunderkind war eine feine Sache, ich durfte ans Klavier, so viel ich wollte, und der ungeliebte Schulunterricht wurde zur Nebensache. Bis mein Vater in finanzielle Schwierigkeiten geriet. Eines Tages erschienen zwei schreckliche Grobiane in unserem Haus, warfen ein paar miefende Decken auf das geliebte Piano, trugen es mithilfe von Seilen die Treppe hinunter und verluden es gemeinsam mit einigen anderen Dingen auf einen Wagen. Ich habe es nie wiedergesehen.»
Er machte eine Pause und fuhr mit einem eigenartigen Lächeln fort: «Ich wurde der schlechteste Baumwollhandel-Kaufmannslehrling, den man sich vorstellen kann. Mein Chef hat mich nur so lange behalten, weil er mein Klavierspiel auf den Betriebsfeiern liebte. Aber irgendwann hat auch das nicht mehr gereicht. Deshalb sage ich dir: Wenn man einmal seine Bestimmung entdeckt hat, sollte man sich nicht mehr vom Weg abbringen lassen, auch wenn dieser Weg mitunter steinig ist.»
Ein Offizier mit grau meliertem Haar, einer jener bürgerlichen Zaungäste, trat jetzt an ihren Tisch und räusperte sich.
«Ein höchst vergnüglicher Abend, man dankt!», sagte er zu Herrn Nelson und gratulierte, dass es erneut gelungen sei, die begabtesten Künstler im Chat Noir zu versammeln. Er verneigte sich steif, und mit Blick auf Anita fuhr er fort, dass vor allem die tänzerischen Darbietungen herausragend gewesen seien. Anita errötete ob der offensichtlichen Verwechslung, aber Herr Nelson nickte zustimmend und meinte, dass er das Glück habe, von den größten Nachwuchstalenten unterstützt zu werden. Der Offizier schlug die Hacken zusammen und wandte sich zum Gehen, dann entdeckte er das geschminkte Männerpaar auf dem Plüschsofa in der Ecke: «Aber schräge Vögel gibt es in dieser Künstlerbude.» Der Offizier schüttelte sich und sah Herrn Nelson mit aufgerissenen Augen an.
Herr Nelson zog fragend die Brauen hoch. «Ach, wissen Sie», entgegnete er gelassen, «warum sollen nicht auch solche Vögel piepen?»
Als der Offizier verschwunden war, schob Herr Nelson seinen leeren Teller beiseite. Anita konnte vor Aufregung noch immer nichts essen. Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und gestand ihm, dass es ihr sehnlichster Wunsch sei, Tänzerin zu werden.
Sie hatte befürchtet, Herr Nelson werde sie auslachen, aber zu ihrem großen Erstaunen entgegnete er: «Das freut mich. Das habe ich mir bereits gedacht. Aber ein junger Mensch muss seine Bestimmung selbst entdecken, deswegen habe ich nichts gesagt.»
Herr Nelson erhob sein Glas.
«Kunst bringt Gunst», sagte er und prostete ihr zu, «auch wenn noch alles ungewiss in den Sternen ruht.»
Obwohl es Probeschwester Elsa verboten ist, alleine Krankenbesuche zu tätigen, und obwohl die Oberin hier in Bethanien streng darauf achtet, dass sämtliche Regeln insbesondere bei gefallenen Mädchen, zu denen sie Anita unzweifelhaft zählt, genauestens befolgt werden, taucht Elsa hin und wieder ohne Begleitung einer älteren Schwester hier auf. Die hübsche Probediakonisse, fast noch ein Kind, an deren Haube vorn noch der breite Streifen fehlt, sieht regelmäßig und voller Mitgefühl nach ihr. Wie ein Engel steht sie, ungerufen, plötzlich an Anitas Bett. Manchmal stellt Elsa schüchtern Fragen zum Tanz und zur Musik und lauscht ihren Erzählungen. Offenkundig weiß Elsa genau, wer Anita ist, was man hier nicht von allen sagen kann. Und das, obwohl es schon ein paar Jahre her ist, dass sie in einem Film hier in Berlin zu sehen war. Ein Walzer von Strauß hatte er geheißen, in Wien gedreht, ihrer zweiten Schicksalsstadt, als könnte es nicht anders sein. Damals, 1925. Vor drei Jahren. Sind drei Jahre eine lange Zeit, oder eine kurze? Sie hatte darin natürlich nicht Walzer getanzt. Sondern Astarte, die Mondgöttin. Als könnte auch das nicht anders sein.
Heute, als der Schmerz in Anitas Leib tobte, in ihrer Lunge loderte und wütete wie nie zuvor, hat Elsa an ihrem Bett gesessen und ihre Hand gehalten. Als Anita fiebernd stöhnte und meinte, dass sie Angst habe, dass der Schmerz unerträglich werde, hatte diese junge Frau mit einer beeindruckenden Ruhe und Zuversicht geantwortet: «Versuchen Sie, sich dem Schmerz hinzugeben. Sie brauchen keine Angst zu haben. Es gibt keinen unerträglichen Schmerz.»
Anita wollte widersprechen, aber sie war zu kraftlos.
«Glauben Sie mir», hat Elsa selbstbestimmt gesagt, «ich habe sämtliche Formen des Schmerzes gesehen. Der Schmerz kann furchtbar sein, ja entsetzlich, aber unerträglich ist er nie. Wenn er es wirklich wird, spüren Sie ihn nicht mehr. Das zumindest kann ich Ihnen versprechen.»
Morgens um fünf erhält sie ihre kalte Abreibung. Die Berührung tut gut, auch wenn es nur ein rauer Lappen ist, mit dem Schwester Elsa ihr Brust und Rücken schrubbt. Das ist der Vorteil, wenn die Tuberkulose bereits so fortgeschritten ist: Während die anderen Patienten sich selbst abreiben müssen, werden die Schwächsten von Schwester Elsa umsorgt.
Anita schließt die Augen. Für einen Moment darf man sich fühlen wie ein Kind, ein krankes, das von der Mutter gepflegt wird. Wenn Schwester Elsa fertig ist, erhebt sie sich und wäscht den Lappen im Waschbecken aus, ehe sie ihn zurück an den Haken hinter Anitas Bett hängt. Sie greift nach dem Taghemd und zieht es Anita über den Kopf. Dann setzt sie sich wie jeden Morgen kurz zu ihr und streicht ihr mit ihrer kleinen, unglaublich zarten Hand über den Rücken. Das müsste sie nicht tun. Das macht sonst keine. Aber diese kleine Berührung gibt erstaunlich viel Kraft. Mehr als jede Abreibung. Und vielleicht weiß Elsa das, obwohl sie so jung ist und nur Probeschwester und noch unglaublich viel lernen muss, wie Schwester Margret immer betont, die sie meist begleitet. Schwester Margret, reichlich betagt, müsste eigentlich längst zum Kreis der Feierabend-Schwestern gehören.
Dann schüttelt Elsa das Kopfkissen auf und bettet sie sanft, wobei Anita sich ein wenig dichter an ihr festhält, als nötig wäre. Aber so kann sie Elsas Wärme spüren und ihren zarten Duft riechen, nach Seife, frischem Heu und Unschuld.
Die Tür knarzt.
«Grüß Gott!», keucht Schwester Margret und betritt den Raum, die Post vom gestrigen Tage unter dem Arm. Die Briefe müssen ja alle erst geöffnet und überprüft werden. Nicht jeder Inhalt sei den Kranken dienlich, meint die Oberin. Bei dreihundertfünfzig Patienten dauert das natürlich seine Zeit.
Es sind immer dieselben, die Post bekommen, und unter denjenigen erhalten wiederum einige wenige den Großteil der Briefe. Anita gehört nicht dazu. Heute allerdings macht Schwester Margret auch an ihrem Bett halt. Sie hält eine leicht geknickte Karte in der Hand und rümpft die Nase: «Ein Gruß von Ihrer Frau Mutter», sagt sie und legt die Karte auf dem weiß lackierten Beistelltischchen ab.
Ihre Worte bringen Leben in Anita. Mühevoll setzt sie sich wieder auf und greift mit zittrigen Fingern nach der Karte, während Schwester Margret jetzt zu den beiden Fenstern schlurft, deren Flügel hinter den Vorhängen offen stehen. Sie reißt die schweren grauen Leinenvorhänge mit einem kräftigen Ruck beiseite, der Himmel dahinter schwarz und wolkenverhangen, nicht ein Stern ist zu sehen. «Mehr Frischluft», brummt sie in Elsas Richtung und geht aus dem Zimmer.
Das Leben in München sei anstrengend, schreibt die Mutter, was gäbe sie drum, selbst so eine Liegekur haben zu dürfen. Ob das nicht etwas Angenehmes sei, sich den lieben langen Tag mal richtig zu erholen? Zugegeben, der Erfolg in der Bonbonniere in München sei phänomenal, das Publikum liebe sie, es gäbe minutenlange Ovationen und reichlich Blumenbouquets. Das entschädige ein wenig für diese ansonsten spießige, kleingeistige Stadt. Gestern habe sie ein vornehmer Herr gefragt, ob es wahr sei? Ob sie tatsächlich die Mutter der Berber sei? Er sei völlig überrascht gewesen und habe gemeint, sie sähe so jung aus, er hätte sie glatt für die Schwester gehalten! Nun, das habe sie erfreut.
Sie fragt, ob Anitas Haut jetzt noch bleicher sei? Ob sie auch so schön aussehe wie die Schwindsüchtigen auf den Abbildungen, weiße Haut mit kirschroten Lippen? Jedenfalls, die Schwindsucht hätten ja schon viele überstanden. Anita solle sich mal schön erholen, und in drei Wochen käme sie aus München zurück, dann könne Anita mit zu ihr in die Wohnung in der Zähringerstraße ziehen, wie früher.
Mit Grüßen aus Bayern, Lucie.
Sie dreht die Karte um. Auf der Vorderseite ist ein Foto der Mutter, als Münchner Kindl verkleidet, einen Bierkrug im Arm. «Lustiges München», steht darunter, «auf geht’s in der Bonbonniere!»
Sie lässt die Hand sinken und versucht, den großen Kloß, der sich in ihrem Hals gebildet hat, hinunterzuschlucken. Das klappt nicht ganz, sie bekommt einen Hustenanfall. Ganz unerwartet streicht ihr eine Hand über den Kopf, sie blickt nach oben und sieht in Elsas schüchtern lächelndes Gesicht.
«In einer Stunde gibt es Frühstück. Ich komme heute Abend wieder», verspricht Elsa, dann geht sie hinaus. Im Hof beginnen die Kühe im Stall zu muhen, die wollen auch versorgt sein.
Es ist lange her, dass sie in der Zähringerstraße wohnte. Sechzehn Jahre alt war sie, als sie mit der Großmutter und Tante Elsi nach Berlin zog, in die geräumige Sechszimmerwohnung unweit des Kurfürstendamms. Auch die Mutter wohnte damals bei ihnen, und so waren sie alle vereint und Anita glücklich gewesen. Anfangs zumindest. Als sie noch gedacht hatte, auch der Mutter sehnlichster Wunsch sei es, endlich mit ihrer Tochter zusammen zu sein.
Aber die Mutter hatte ganz andere Bestrebungen. Die Mutter war Diseuse, und der Schwarze Kater – das Chat Noir hatte man nun, da Krieg war und der Franzose der Feind, kurzerhand eingedeutscht –, dieser Schwarze Kater also, das war ihr Leben.
Das konnte Anita durchaus verstehen. Auch sie liebte die Musik und den Tanz. Sie verstand nur nicht, warum das eine das andere ausschloss. Warum man nicht neben dem Kabarett auch noch seine Tochter lieben konnte.
Anfangs versuchte sie ihrer Mutter zu beweisen, dass dies sehr wohl möglich sei. Und dass sie beide aus ein und demselben Holz geschnitzt seien. Wann immer die Großmutter ihre Hilfe im Haushalt entbehren konnte, verfolgte sie die Bühnenproben im Schwarzen Kater. Ihre Schule hatte Anita in Dresden mit vierzehn Jahren abgeschlossen, auch das leidige Töchterbildungsinstitut in Weimar, das sie anschließend noch ein Jahr hatte besuchen müssen, lag nun hinter ihr. Abends besuchte sie die Vorstellungen der Mutter, der Portier winkte sie durch, und sie durfte das Bühnengeschehen gemeinsam mit dem Regieassistenten verfolgen.
Danach ging man neuerdings ins Romanische Café an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. In der Regel verbot die Mutter Anita allerdings mitzugehen, es sei denn, Herr Nelson war da und bestand darauf. An einem solchen Abend hatte Herr Nelson Anita freundlich gemustert und zu ihrer Mutter gemeint, ob es nicht an der Zeit sei, aus dem jungen Ding eine Chanteuse zu machen, das Zeug dazu hätte sie ja wohl?
«Das wird man sehen», hatte die Mutter mit kühlem Lächeln erwidert und eilig das Thema gewechselt. Von dem Tag an hatte die Mutter sie mit noch mehr Kälte gestraft.
Als Anita der Großmutter ihr Leid klagte, suchte Lu, sie zu trösten: Die Mutter tue sich mit Gefühlen schwer, das sei schon immer so gewesen. Das solle sie nicht so ernst nehmen.
Aber wie konnte man die Herzlosigkeit der Mutter nicht ernst nehmen? Und wie konnte man den Schmerz darüber ignorieren?
Tante Elsi meinte, es sei kein Wunder, dass kein Mann es mit ihrer Mutter aushalte. Anita hasste es, wenn sie so über ihre Mutter sprach. Ausgerechnet Elsi, für die sich nie einer interessiert hatte. Aber an jenem Abend hatte der Wein ihre Zunge gelöst, und die Tante fing an zu plaudern, verkündete, dass die Mutter schon immer sehr aufbrausend gewesen sei und dass ihre Gedanken stets nur um ihr eigenes Wohl gekreist seien, schon als sie beide noch Kinder waren. Tante Elsi goss sich Wein nach.
«Deine Mutter konnte noch nie teilen», erklärte sie mit glasigem Blick, «am wenigsten die Liebe. Dabei ist die Liebe doch bekanntlich das einzige Gut, das zunimmt, wenn man es teilt. Heißt es zumindest.» Die Tante griff nach dem geschliffenen Kristallglas und trank in großen Zügen. «Kein Wunder, dass dein Vater sie verlassen hat. Ständig hat sie ihm Szenen gemacht. Sie war eifersüchtig auf seine Kolleginnen, auf seine Schülerinnen. Und sogar auf seine Violine. Dein Vater hat herrlich gespielt, das muss man sagen.» Sie hielt einen Moment inne, mit offenem Mund, den Blick schräg an die Decke gerichtet, ganz so als lausche sie, als höre sie ihn noch irgendwo spielen.
«Ein großer Musiker wie dein Vater, der liebt an erster Stelle sein Instrument, das muss man wissen. Ich vermute, mit den Eifersüchteleien auf die Frauen hätte er vielleicht umgehen können, aber bei der Violine war Schluss.»
Die Tante strich mit einem feuchten Finger über den Glasrand, sodass ein heller, durchdringender Ton entstand.
«Und natürlich hätte sie nicht auf ihn schießen dürfen.»
«Sie hat auf ihn geschossen?»
Die Tante nahm den Finger vom Glas, der Ton verklang.
«Sie hat ja nicht getroffen, Liebes», winkte sie ab. «Deine Mutter kann doch gar nicht schießen.»
Sie hob das Glas an und stürzte den letzten Schluck hinunter.
«Singen, das kann sie. Das ist aber auch alles.»
Wenn Tante Elsi getrunken hatte, wurde sie entweder lustig oder gehässig. Meistens erst lustig, dann gehässig. Und zuletzt traurig. Anita griff nach der Flasche und schenkte ihr nach.
«Aber warum hat sie denn überhaupt geschossen?»
«Die Eifersucht, Liebes. Sie war ja auf alles und jede eifersüchtig. Überall hat sie den Betrug gerochen. Aber wenn man selbst nicht zur Liebe fähig ist, ist diese Sorge vielleicht berechtigt. Deinen Vater hat das natürlich äußerst betroffen gemacht. Das hat schreckliche Erinnerungen in ihm hochgebracht, Erinnerungen, die er nie hatte verwinden können.»
«Was für Erinnerungen?»
«Weißt du das denn nicht, Liebes? Als dein Vater noch ein Knabe war, dreizehn Jahre alt, da ist seine Mutter abgehauen, durchgebrannt. Mit ein paar Musikern aus dem Kreis um Franz Liszt. Deswegen spielt dein Vater so ungern Liszt. Er spielt eigentlich überhaupt kein Liszt.»
Tante Elsi griff nach dem Glas und hielt sich daran fest, so schien es.
«Auf jeden Fall hat sie ihren Mann in Weimar sitzengelassen. Das hat dein Großvater aber nicht ausgehalten.»
Sie trank einen Schluck.
«Er hat sich erschossen, vor den Augen deines Vaters. Wie gesagt, da war dein Vater dreizehn Jahre alt.
Deshalb wuchs er bei seinem Onkel auf. Jedenfalls», sie nahm erneut einen Schluck, «mit der Pistole, da hat er keinen Spaß verstanden. Das hätte sie wissen müssen, deine Mutter. Aber sie hat eben nur an sich gedacht.»
Während Tante Elsi sich den restlichen Abend ganz dem Wein hingab und kein Wort mehr sagte, hatte Anita sich ihrem Vater erstmals verbunden gefühlt.
Der Mond, fast noch kreisrund, scheint hell durch die weit geöffneten Fenster der Tuberkulose-Baracke im Hof des Berliner Bethanien-Krankenhauses. Sie erwacht. Vom Licht der Mondin geweckt zu werden, ist das Schönste, was es gibt.
Sie hört den gleichförmig rasselnden Atem ihrer Mitpatientinnen, unterbrochen hie und da durch kleine Aussetzer, denen ein Husten folgt. Seit ein paar Tagen gehört sie nun zu den Dauerbewohnerinnen der «Hustenburg», wie die Baracke intern genannt wird. Der Großteil der Schwindsüchtigen wird tagsüber in die Frischluft-Liegehalle gebracht, die an der Ostseite angrenzt. Nur bei hoffnungslosen Fällen sparen sich die Diakonissen den Aufwand. Seitdem Anita nun offenbar zu Letzteren zählt, lässt sich auch der alte Arzt nicht mehr blicken. Nur Doktor Köstler, ein junger Assistenzarzt, kommt dann und wann vorbei und begutachtet sie sachlich mit medizinischer Neugier, leichte Verwunderung in der Stirn. Als staune er jedes Mal neu, dass sie überhaupt noch lebe.
Eines Nachts, das weiß sie, werden Schwester Dorothee und Schwester Agnes kommen, zwei Diakonissen von kräftiger Gestalt, und tags darauf wird es heißen, sie sei abgereist. Der ganz normale Lauf der Dinge. Solange noch Elsa kommt, ist alles gut. Die alte Schwester Margret dagegen wirkt abgestumpft, ganz im Gegensatz zu Elsa. Vielleicht, weil Schwester Margret bereits «alles gesehen hat», wie sie gerne betont, «wirklich alles!»
Auch Henris Besuche sind selten geworden. Noch vor Kurzem hatte er gejammert, das Tanzen sei ihm ohne Anita gar nicht möglich, ja, er könne ohne sie nicht leben. Als er die letzten beiden Male bei ihr war, trug er einen Mundschutz. Er habe sich verkühlt, hat er verlegen gemeint, und wolle sie nicht noch zusätzlich gefährden. Aber Henri hat noch nie lügen können, noch nicht einmal versteckt hinter dem Stofftuch. Vermutlich hat Henri Angst, sich zu infizieren.
Sie muss an die Worte Arthur Schnitzlers denken, der in Wien einmal zu ihr gesagt hatte: Wenn der Tod sich nähert, stirbt auch die Liebe. In jedem Fall spürt sie, dass jetzt, wo sie von Tag zu Tag schwächer wird und die Krankheit unaufhaltsam fortschreitet, sich auch ihr Ehemann zunehmend entzieht. Ja, es scheint, als sei innerhalb der letzten Besuche ein Wandel in Henri vonstattengegangen: Die Sehnsucht nach dem Leben scheint in ihn, der früher einmal so selbstlos mit ihr hatte sterben wollen, mit einem Mal zurückzukehren. Was Anita ihm nicht verübeln kann.
Ihr Blick fällt auf das Schild mit dem Hausspruch Bethaniens, das neben der Zimmertür hängt und im Schein des Mondlichts hell erstrahlt: Lasset uns Ihn lieben, denn Er hat uns zuerst geliebet!
Das klingt ein wenig alttestamentarisch nach Zahn um Zahn, wenn auch auf die Liebe gemünzt. In jedem Fall entspricht es nicht ihrer Auffassung von Liebe. Da kommt ihr die große Astarte in den Sinn, die mächtigste aller Göttinnen, die ihr zum Ruhm verholfen hat. Mit Astarte hat alles angefangen. Die Astarte müsste sie tanzen, das würde sie gesunden lassen.
Ihr Atem rasselt, ein stechender Schmerz wütet in ihrer Brust. Von dort strahlt er aus, tief in die Glieder und Eingeweide. Und ihr Rücken – bereits seit Tagen ist ihr, als habe sie das Kreuz eines alten Weibes.
Seit einer Ewigkeit schläft und dämmert sie nun in dieser eigenartigen Sitzhaltung dahin. Sie meint förmlich zu spüren, wie ihre Muskeln schwinden. Wie ihre Beweglichkeit jeden Tag abnimmt, wie ihre sämtlichen Glieder steif werden, in diesem endlosen Kauern.
Eine Hitzewelle fährt durch sie hindurch. Mit dünnen, kraftlosen Fingern zieht sie mühevoll die Decke beiseite. Ihre langen Beine, nach denen sich die Männer einst verzehrt haben – ein Bild des Jammers. Ihr ganzer Körper ausgemergelt, abgemagert, im Schein des kalten Mondlichts. Das liegt nur am Mondlicht, sucht sie sich zu beruhigen, das lässt einen dünner erscheinen, als man ist.
Wenn sie es nur bis zum nächsten Vollmond schaffen würde. Wenn sie sich bis dahin noch Ruhe und Erholung gönnen würde, dann würde sie wieder auferstehen. Wie Phönix aus der Asche.
«Du hast es schon so weit geschafft», flüstert sie in die Stille hinein. «Den ganzen weiten Weg von Damaskus bis nach Berlin. So kurz vor dem Ziel macht man nicht schlapp.»
Und sie schon gar nicht. Bis zum nächsten Vollmond ruhen, dann die Astarte tanzen, und die Kraft würde in ihren Körper zurückkehren. Sie versucht, die Göttin beim Namen zu rufen, aber was da aus ihrem Mund ertönt, ist nur ein heiseres Krächzen und mündet in einen derart heftigen Hustenanfall, dass sie das Gefühl hat, in einzelne Stücke zerspringen zu müssen. Sie greift nach dem Blauen Heinrich, der neben ihrem Kissen bereitliegt, öffnet den Sprungdeckel und spuckt hinein. Dann verschließt sie den blauen Glasflakon und legt ihn auf den Nachttisch, neben ihre geliebte Sammlung an Marienfiguren, die Henri dort für sie aufgestellt hat:
Maria mit erhobenen, gefalteten Händen.
Maria mit gesenkten, offenen Händen.
Maria mit dem Jesuskind auf dem Arm.
Maria mit gesenktem Blick, beide Hände auf der Brust ruhend, und zwischen ihren Händen ein rotes Herz, aus dem ein goldenes Kreuz emporwächst.
Der blaue Umhang, der auf Kopf und Schultern dieser letzten Marienfigur ruht, soll vermutlich das Himmelszelt verkörpern. Reichlich angeschlagen ist er, kein Wunder, diese kleine Kunstharzfigur ist Anitas ältestes und liebstes Stück und begleitet sie seit ihrer Kindheit.
Von Astarte hingegen gibt es keine Statuetten, keine Bilder. Vor Aberhundert Jahren haben die Christen versucht, die Göttin auszulöschen. Denn eine derartige weibliche Urkraft, eine Göttin, die nicht nur Jungfrau und Mutter ist, was ja bereits widersprüchlich genug klingt, sondern obendrein auch noch Hure – bei diesem Gedanken muss sie lächeln –, da hatte eine Jungfrau Maria nicht mithalten können.
Ein Anflug von schlechtem Gewissen überkommt sie, liebt sie doch auch die Jungfrau Maria. Mit zittrigen Fingern greift sie nach der Figur im blauen Umhang und hält sie fest in ihrer Hand. Was auf den ersten Blick gar nicht auffällt: Barfuß steht diese Maria auf einem Halbmond. Das hat sie sich wohl von der Astarte abgekupfert, die die Kraft der Mondin in sich trägt. Vielleicht sind die beiden näher verwandt, als die Leute ahnen.
«Astarte», flüstert Anita, «lass mich dich tanzen. Lass mich du werden, ein letztes Mal.»
Die Saaltür öffnet sich mit einem lauten Knarzen, und Schwester Margret tritt ein, deutlich hörbar an ihrem schlurfenden Schritt.
«Licht», befiehlt sie knapp, woraufhin ihre Begleiterin, die junge Probeschwester, an ihr vorbeieilt, zum Waschtisch tritt und dort ein volles Emailletablett abstellt, ehe sie die Wandleuchte einschaltet.
«Und schließen Sie um Gottes willen die Vorhänge! Dieser Mond macht einen ja ganz verrückt!»
Die alte Lisbeth, die ein Bett weiter liegt, stöhnt kurz auf, als Elsa die Vorhänge ratschend zuzieht. Dann dreht sie sich zur Seite und schnarcht weiter.
Schwester Margret tritt an Anitas Bett. Mit einer knappen Handbewegung wirft sie die Decke über ihre Beine.
Anita blickt sie irritiert an.
«Die Nachtruhe hat erst vor einer Stunde begonnen», sagt Schwester Margret. «Sie haben so laut geschrien, das kann so nicht weitergehen.» Prüfend legt sie ihre kalte Hand auf Anitas Stirn. «Der Schmerz also», brummt sie und atmet stöhnend aus, als sei es sie selbst, die in höchster Pein stünde.
«Wir werden Ihnen etwas Linderung verschaffen», fährt sie fort und gibt Elsa einen Wink, woraufhin diese sogleich nach einer Schachtel Pillen auf dem Tablett greift.
«Nein», wird sie von Schwester Margret korrigiert, «bringen Sie mir die Spritze.»
Elsa guckt überrascht, während diese nüchterne Anweisung in Anita wahre Glücksgefühle auslöst. Hat Schwester Margret heute einen guten Tag, fragt sie sich, plötzlich hellwach, oder hat man sie bereits komplett aufgegeben? Doch die Vorfreude auf die lindernde Spritze nimmt ihr jegliche Sorge. Schon geht Schwester Margret mit einem Ächzen vor ihr in die Knie und greift mit ihrer rauen, kalten Hand nach Anitas rechtem Arm. Fachmännisch tastet sie nach ihrer Schlagader.
«Ihre Venen sind ruiniert», brummt sie und schüttelt mal wieder tadelnd den Kopf, angesichts der vielen Einstichmale. Dann folgt das stumme Ritual, das Anita bereits kennen und schätzen gelernt hat. Elsa tritt auf einen Wink heran, legt das schmale, brüchige Lederband um Anitas Oberarm und zieht es fest. Ein kurzer Augenblick der Anspannung. Nur das Röcheln der schlafenden Bettnachbarinnen ist zu hören.
Die Vene schwillt bläulich an. Ein Kopfnicken Schwester Margrets, Elsa lässt das Band los, und die alte Schwester stößt mit der Fingerfertigkeit eines Hütchenspielers die Nadel in Anitas Vene. Jetzt zieht Schwester Margret kurz am Kolben, die klare Flüssigkeit im gläsernen Spritzenkörper wölkt sich rot, dann drückt sie den Kolben langsam abwärts. Ein dankbares Lächeln huscht über Anitas Gesicht, die Schwester beobachtet sie mit kühlem Blick, irgendetwas murmelt sie vor sich hin, woraufhin die hübsche Elsa ihr einen Wattebausch reicht, den sie sogleich mit ihren kalten Fingern auf die Einstichstelle drückt.
Irgendwo aus weiter Ferne vernimmt Anita das Schicksalsmotiv der fünften Symphonie in e-Moll von Tschaikowski. Unscharf erkennt sie noch, wie eine dunkle Gestalt sich an ihrem Bett erhebt und sich mit zwei knappen, dumpfen Schlägen den Staub vom Kleid klopft.
Dann wird Anita vom warmen Licht des Bühnenscheinwerfers erfasst. Bedächtig schreitet sie die Stufen hinab. Sie trägt einen prachtvollen, silbern funkelnden Umhang, ihren Kopf ziert eine über und über mit Pailletten und Perlen bestickte Kappe, aus der, gleich einer Krone, riesige, kostbare Federn emporragen. Mit einem Pas chassé hält sie inne, den Blick unverwandt in die Ferne gerichtet. Sie breitet ihre Arme aus und streift mit gebieterischer Geste ihren Umhang ab: Halb nackt steht sie da, ihr Gesicht, ihr ganzer Körper bleich wie der Mond. Einzig ihre Lippen leuchten rot, genau wie der funkelnde Stein, den sie im Bauchnabel trägt.
Die Musik schwillt an, und Astarte schwebt über die Bühne.