«Was alles in einem Menschen sein kann» - Steffen Schroeder - E-Book
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Steffen Schroeder

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Beschreibung

An welchen Wendepunkten gelingt oder scheitert ein Leben? Steffen Schroeders Begegnung mit einem Mörder 2013 stehen sich Steffen Schroeder und Micha im Gefängnis Berlin-Tegel zum ersten Mal gegenüber. Ein Gespräch über ihre schwierige Jugend bringt sie einander näher, bei allen Unterschieden: Schroeder wurde Schauspieler, Micha rutschte ins rechte Milieu ab, brachte einen Menschen um. Es beginnt eine besondere Beziehung: Schroeder, bekannt als Kommissar Kowalski in «SOKO Leipzig», wird Vollzugshelfer des lebenslänglich Verurteilten. Er lernt den Gefängnisalltag kennen, erfährt von Rangordnungen, Drogen, Ausbruchsversuchen; über die Jahre dringt er tief in Michas Geschichte ein, erfährt immer wieder Neues, Überraschendes. Für Micha wird er wichtiger und wichtiger, er begleitet ihn bei Freigängen, ist ihm Auge und Ohr für die Welt. Bald sieht Schroeder sich selbst und sein Leben in neuem Licht: Was unterscheidet ihn eigentlich von Micha? Und welche Entscheidungen und Wendepunkte führen überhaupt dazu, dass ein Leben gelingt oder scheitert? Steffen Schroeder schreibt mit viel Gespür für das Menschliche über eine außergewöhnliche Begegnung und stellt dabei existenzielle Fragen nach Schuld, Schicksal und der Verantwortung dem eigenen Leben gegenüber. Der Fernsehkommissar und der Mörder – ein starkes, glänzend erzähltes Buch.

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Steffen Schroeder

«Was alles in einem Menschen sein kann»

Begegnung mit einem Mörder

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Über dieses Buch

An welchen Wendepunkten gelingt oder scheitert ein Leben? Steffen Schroeders Begegnung mit einem Mörder

 

2013 stehen sich Steffen Schroeder und Micha im Gefängnis Berlin-Tegel zum ersten Mal gegenüber. Ein Gespräch über ihre schwierige Jugend bringt sie einander näher, bei allen Unterschieden: Schroeder wurde Schauspieler, Micha rutschte ins rechte Milieu ab, brachte einen Menschen um. Es beginnt eine besondere Beziehung: Schroeder, bekannt als Kommissar Kowalski in «SOKO Leipzig», wird Vollzugshelfer des lebenslänglich Verurteilten. Er lernt den Gefängnisalltag kennen, erfährt von Rangordnungen, Drogen, Ausbruchsversuchen; über die Jahre dringt er tief in Michas Geschichte ein, erfährt immer wieder Neues, Überraschendes. Für Micha wird er wichtiger und wichtiger, er begleitet ihn bei Freigängen, ist ihm Auge und Ohr für die Welt. Bald sieht Schroeder sich selbst und sein Leben in neuem Licht: Was unterscheidet ihn eigentlich von Micha? Und welche Entscheidungen und Wendepunkte führen überhaupt dazu, dass ein Leben gelingt oder scheitert?

Über Steffen Schroeder

Steffen Schroeder wurde 1974 in München geboren. Nach seiner Schauspielausbildung war er zunächst Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater, dann beim Berliner Ensemble. Er wirkte in Fernsehserien wie «Der Kriminalist», «Bella Block» und «Tatort» sowie in Kinofilmen wie «Der Rote Baron» oder «Keinohrhasen» mit. In der erfolgreichen ZDF-Serie «SOKO Leipzig» spielt er seit 2012 den Polizeioberkommissar Tom Kowalski. Steffen Schroeder lebt mit seiner Familie in Potsdam.

Teestunde mit Micha

Ob ich noch irgendetwas dabeihabe – «Schlüssel, Handy, Waffen?», fragt mich der uniformierte Beamte in gelangweiltem Ton, nachdem ich die Panzerglasschleuse passiert habe. Ich verneine, wie schon zuvor auf die gleiche Frage des Pförtners.

Der Beamte beginnt, mich abzutasten.

«Wir kennen Sie ja noch nicht!», nuschelt er halb vorwurfsvoll, halb entschuldigend.

Schließlich lässt er mich durch, eine automatische Tür öffnet sich zum Innenhof. Die Sonne steht schon hoch am Himmel. Der Hof wirkt verwaist. Ich gehe auf den Vorplatz zu, vorbei an einem Schaukasten, in dem von einem lieben Kollegen Abschied genommen wird. Der Justizbeamte auf dem Foto lächelt in die Kamera – viel zu jung verstorben.

Links das Gebäude mit der sozialpädagogischen Abteilung, rechts das sogenannte «Sprechzentrum», in dem Häftlinge Besuch empfangen können. Ich gehe an der Anstaltsküche vorbei, auf die Kirche am Ende des Platzes zu. An sich ein hübscher roter Backsteinbau, wenn man von der beklemmenden Umgebung absieht. Ich warte vor der verschlossenen Pforte. Nach ein paar Minuten öffnet ein Justizbeamter das eiserne Tor: «Sie wollen zu Haus 6?»

Ich bejahe, wedle mit meinem Passierschein. Er lässt mich ein, schließt hinter mir ab, öffnet krachend die nächste Tür. Metall schlägt auf Metall, laut fällt eine Tür nach der anderen wieder ins Schloss, kaum dass wir sie passiert haben. Wir betreten den nächsten Innenhof. Rundherum Backsteinbauten, die Fenster vergittert, Stacheldraht auf den Dächern, an den Fallrohren. Es geht vorbei an Teilanstalt 2, Teilanstalt 3, riesigen Haftgebäuden, und der anschließenden kleinen Gärtnerei, einem der anstaltseigenen Betriebe, zu Haus 6.

Ich bin etwas aufgeregt. Schließlich lerne ich heute den Häftling kennen, den ich zukünftig als ehrenamtlicher Vollzugshelfer betreuen soll, falls wir «miteinander klarkommen». Bisher weiß ich nicht viel über ihn. Er ist in meinem Alter, rechtsextreme Vergangenheit, Drogenkarriere, inzwischen auf Methadon, hieß es. Und er ist zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden, wegen eines Mordes. Lebenslänglich, das heißt in seinem Fall: Er sitzt schon seit vierzehn Jahren und wird wohl auch noch ein paar Jahre sitzen.

Frau Müller, die Sozialarbeiterin, erwartet mich bereits. Sie steht unten am Eingang, an ihrer Seite ein kleiner, lächelnder Asiate, mit Putzzeug bewaffnet, der mich verlegen angrinst. Später werde ich erfahren, dass er auch ein «LLer», ein Lebenslänglicher, ist. Dieser schüchtern wirkende Mann war Auftragsmörder der vietnamesischen Zigarettenmafia. Wie viele Menschen er auf dem Gewissen hat, wird man wohl nie erfahren. Frau Müller erklärt, indem sie auf den immer noch lächelnden Asiaten zeigt, er hätte noch einen Mülleimer zu leeren, wir müssten ihn «nur kurz» begleiten. Also marschieren wir drei gemeinsam zurück, an der Gefängnismauer entlang, vorbei an der Gärtnerei, auf ein graues Gebäude zu.

«Jetzt sehen Sie dafür etwas, das Vollzugshelfer gewöhnlich nicht zu sehen bekommen», meint Frau Müller entschuldigend, während sie die zahlreichen Türen öffnet und hinter uns wieder schließt, bis wir vor unserem Ziel angekommen sind: das Familienbesuchszimmer, der sogenannte «Langzeit-Sprecher». Hier können sich Langzeithäftlinge – gute Führung vorausgesetzt –, nachdem sie die ersten zwei Jahre abgesessen haben, mit Frau und Kindern in «ungezwungener Atmosphäre» einmal im Monat treffen, bis zu drei Stunden lang. Das mit der «ungezwungenen Atmosphäre» mag man so oder so sehen, der Anblick ist jedenfalls ernüchternd: In der Mitte des schmucklosen Raumes ein Tisch und zwei Stühle, Modell 70er Jahre Jugendherberge, ein Regal mit ein paar abgegriffenen Plüschtieren, Bauklötzen und einer Handvoll ausgelesener Kinderbücher. In der Ecke ein großes Ehebett mit abwischfreundlichem Vollplastik-Überzug. Darüber ein großer Alarmknopf.

«Der wurde letztes Jahr mal wieder genutzt», erklärt Frau Müller auf meinen fragenden Blick hin, «ein Häftling hatte seine Ehefrau gewürgt, ging aber noch mal gut.»

Dann ein kleines Bad mit Dusche und WC, und natürlich Gitterfenster. Unser asiatischer Begleiter geht seiner Pflicht nach, leert einen Papierkorb in der Ecke, dann wird sorgfältig wieder abgeschlossen, und wir machen uns auf den Rückweg zu Haus 6.

Dort, beim Pförtner, sitzt ein Mann, der sich nun erhebt, offensichtlich hat er schon auf uns gewartet. Unsicher lächelnd steht er vor mir. Wir werden einander vorgestellt, geben uns die Hand. Frau Müller fragt höflich, ob sie sich noch zu uns setzen soll, was wir beide spontan ablehnen.

«Nicht nötig», sagen wir beinahe gleichzeitig.

Der Konversationsraum ist eine karge kleine Zelle. Ein Tisch am Fenster, zwei Stühle. An der Wand hängen zwei Collagen, offenbar das künstlerische Werk von Inhaftierten: nicht definierbare geometrische Figuren in Blutrot auf dunkelrotem Untergrund.

Einen Alarmknopf gibt es nicht, der sei auch nicht nötig, hatte der Justizbeamte den angehenden Vollzugshelfern vor ein paar Wochen erklärt. Weil der Vollzugshelfer für viele Häftlinge die einzige Verbindung nach draußen wäre, sei keinerlei Gefahr zu erwarten. «Die wissen schon, was sie an Ihnen haben», hatte der Mann erläutert, und sollte ein Häftling einem Vollzugshelfer etwas antun, habe er nicht nur die entsprechenden juristischen Konsequenzen zu erwarten, sondern auch die seiner Mithäftlinge, denn «die haben hier drin noch mal ihre eigene Justiz». Lächelnd hatte er hinzugefügt: «Und das wissen sie auch sehr genau.» Klingt logisch, denke ich – aber handeln Menschen immer logisch, insbesondere solche, die hier drin sind?

Micha sitzt mir nun gegenüber, wir sehen uns schüchtern an. Sein Äußeres hat etwas Furchteinflößendes: stämmige Figur, die Arme großflächig tätowiert, ebenso der Nacken. In seinem T-Shirt-Ausschnitt sind weitere Tattoos zu sehen, auf den Handknöcheln stehen die Worte «Skin» und «Hass», in Großbuchstaben. Selbst auf der Kopfhaut schimmert ein großes, flammenartiges Tattoo unter den kurzen dünnen Haaren. Doch am meisten fallen mir seine Augen auf: die Pupillen nur stecknadelgroß, starrer Blick.

Er sagt, dass er sich freut, mich kennenzulernen, und unter seinem martialischen Äußeren scheint kurz etwas Jungenhaftes auf – oder täusche ich mich? Dann meint er überraschenderweise, dass wir uns schon mal gesehen hätten.

Ich wundere mich kurz. Kennt er mich eventuell aus dem Fernsehen? Dann fällt es mir wieder ein: Bei der Gefängnisführung vor ein paar Wochen, als den künftigen Vollzugshelfern die Anstalt vorgestellt wurde, hatte man uns auch zwei Zellen gezeigt: Die Häftlinge hatten uns einen Blick in ihre Privatsphäre gestattet – es war ein beklemmender Augenblick, in einen Acht-Quadratmeter-Raum zu treten, der die komplette Intimsphäre eines Menschen darstellt. Als ich dann, etwas peinlich berührt, wieder herausgetreten war, hatte Micha mich aus seiner offenen Zelle gegenüber angesehen. Unsere Blicke trafen sich, und es hatte mich kurz durchzuckt: Sein Aussehen hatte mich erschreckt, gleichzeitig fühlte ich mich wie ein «Gefängnistourist».

Jetzt ist die Situation eine andere: Wir sitzen uns gegenüber, und ich spüre, dass dieser Mann, der laut Sozialarbeiterin während der vergangenen vierzehn Jahre Haft Vater, Mutter und Bruder verloren hat, sehr dankbar ist, dass ich hier bin.

Er gießt aus einer mitgebrachten Thermoskanne heißes Wasser in meinen Becher. Ich reiße das Päckchen Instantkaffeepulver auf, das er mir reicht, und schon redet Micha munter drauflos: wie froh er ist, dass Frau Müller ihm so schnell «jemand Neues» besorgt hat, nachdem seine vorherige Vollzugshelferin ins Ausland gegangen war. Was für ein harter Schlag das für ihn war, der ihn erst wütend machte, aber irgendwann hätte er es natürlich verstehen können. Ich bin überrascht, wie unverklemmt und locker dieses Gespräch zwischen zwei völlig Fremden beginnt, die sich unter anderen Umständen wohl nie begegnet wären.

Micha beginnt zu erzählen: wie wichtig es für einen Inhaftierten ist, «mal was über die Welt da draußen» zu erfahren. Zu hören, wie sich alles verändert hat in diesen vierzehn Jahren, mit Handy, Internet, Computern und so. Und er erzählt von seiner ersten Ausführung, die unter schweren Sicherheitsvorkehrungen vor gar nicht langer Zeit stattfand. Das heißt: Mit Hand- und Fußfesseln und in Begleitung zweier Beamter ging es mit dem Taxi zu EXIT, einem Verein für rechtsextreme Aussteiger, quer durch die Stadt. Wie erschöpft und froh er war, nach all den ungewohnten Eindrücken, den Lichtern, dem Lärm und dem Verkehr, am Abend wieder in seiner Zelle zu sein. Er erzählt von der Macht der Gewohnheit, der Eintönigkeit und wie manche «Kollegen» auch gar nicht mehr rauswollen.

Angekündigt worden war mir dieser Mann als «sehr einfach». Nun, wo er vor mir sitzt und redet, stelle ich fest: Ich höre Micha gerne zu. Manchmal frage ich nach, und er antwortet freimütig, mit überraschender Offenheit. Ich hatte alles Mögliche erwartet, aber nicht, dass ich ihm und seiner fremden Welt gespannt zuhören könnte, dass ich von Anbeginn an das Gefühl habe, ein interessantes und intensives Gespräch zu führen.

Schnell stoßen wir auf eigenartige Parallelen: Micha erzählt, dass er vor seiner Inhaftierung auch einmal in Potsdam gewohnt hat. In derselben Straße, nur drei Häuser weiter, in der auch ich anfangs mit meiner Familie lebte, als wir vor zehn Jahren nach Potsdam gezogen waren. Die Telefonzelle, die Micha damals oft benutzte, stand direkt vor unserem Haus.

Und Micha hat einen Sohn, der fast auf den Tag genau so alt ist wie mein Ältester, dreizehn Jahre. Allerdings hat er den Jungen zuletzt als Baby gesehen.

«Und wie kommt es, dass du diese Arbeit machen willst?», fragt er mich plötzlich und sieht mich gespannt an. Pause. Diese naheliegende Frage hatte ich mir selbst nie so direkt gestellt. Ich muss einen Moment nachdenken. Verbrechen und die Abgründe der menschlichen Psyche haben mich schon immer interessiert. Ich habe immer eine große Empathie für die Opfer empfunden, aber auch ein Interesse an den Tätern, den Wunsch, zumindest ein Stück weit zu verstehen, was in ihnen vorgeht. Vereinfachende Begriffe der Boulevardmedien wie «die Bestie von Marzahn» oder «das Monster von Hellersdorf» fand ich immer schwierig. Denn machen wir es uns damit nicht zu einfach? In jeder Diktatur gibt es das Phänomen, dass auch ganz gewöhnliche Menschen zu unfassbarer Brutalität imstande sind. Mein Großvater war bei der SS – ich weiß bis heute nicht, was er getan hat oder auch nicht, in der Familie wurde nicht darüber geredet. Als er noch lebte, traute ich mich nicht zu fragen. Warum tue ich das hier also?

Ich sehe Micha an, und plötzlich kommt die Antwort wie von selbst: «Es gab eine Zeit in meiner Jugend, da lief alles schief. Mein bester Freund hatte mir die Freundin ausgespannt. Ich war so verletzt, dass ich meine Eltern bekniete, die Schule wechseln zu dürfen, bis sie schließlich nachgaben. Das half mir über den Schmerz hinweg, doch leider änderte sich auch alles andere. Auf der neuen Schule eckte ich überall an. Der Klassenlehrer, der gleichzeitig unser Sportlehrer war, sagte offen, ich sei schwul, nur weil ich Fußball nicht mochte. Das verletzte mich, einmal weil es nicht stimmte, und zum andern, weil er es sagte, als litte ich unter einer gefährlichen, ansteckenden Krankheit. Er schreckte auch nicht davor zurück, meiner Mutter diese Diagnose im Elterngespräch zu unterbreiten. Mit den neuen Mitschülern kam ich nicht gut klar. Ich wollte mir deshalb Respekt verschaffen, indem ich den Lehrern gegenüber besonders aufmüpfig und rebellisch war. Der Direktor drohte bald, mich von der Schule zu werfen, der Pfarrer drohte, mich nicht zu konfirmieren. Und zu allem Überfluss bekam ich Probleme mit der Polizei: Durch einen dummen Zufall wurde ich verdächtigt, der Urheber eines Graffitos zu sein, das auf der Hälfte aller Münchner S-Bahnen war. Es ging um viele tausend Mark Sachschaden, und die Beweise sprachen gegen mich. Wäre mein Onkel nicht Rechtsanwalt gewesen, hätten sie mich wohl verurteilt, obwohl ich nicht eine einzige Scheibe beschmiert hatte. Da war ich so sechzehn, ohnehin eine schwierige Phase. In der Zeit sammelte sich eine ziemliche Wut in mir an. Wut auf Lehrer, auf Autoritäten, auf meine Freunde, auf alle, die mich nicht verstanden, mich selbst eingeschlossen. Wut, die immer mehr und immer größer wurde, für die ich kein Ventil fand. Und irgendwann hat sich diese Wut gegen mich gerichtet: Ich fing an, mich selbst zu verletzen.»

Micha schweigt, er sieht mich ruhig an.

Ist das schlau, gleich so etwas Persönliches von sich preiszugeben?, schießt es mir durch den Kopf. Das war nicht geplant. Trotzdem erzähle ich weiter.

«Ich habe damals eine unkontrollierbare Wut gespürt. Später war ich immer froh, dass sich diese Wut nie gegen andere richtete. Denn wäre das passiert, ich weiß nicht, was ich getan hätte. Ich weiß nur, ich hatte es nicht mehr in der Hand.»

Micha schaut mich an, dann sagt er nur: «Ich kenne das.»

Ich habe ein eigenartiges Gefühl: Uns verbindet mehr, als ich gedacht hätte.

 

Einige Wochen zuvor. Eigentlich hatte ich nur nach einem «wohltätigen Zweck meiner Wahl» gesucht, um etwas Geld zu spenden, das ich bei einem Charity-Event verdient hatte. Als Fernsehkommissar lebe ich seit Jahren vom Verbrechen, auch wenn es fiktiv ist, und so sollte dieser Zweck, dachte ich, etwas mit diesem Bereich zu tun haben. Für eine Opferorganisation engagierte ich mich bereits, also hatte ich mich auf der Täterseite umgesehen und war auf einen «Verein für Straffälligenhilfe» gestoßen. Der Verein beschäftigte sich unter anderem mit der Ausbildung und Betreuung von «Vollzugshelfern» – ein Begriff, den ich noch nie gehört hatte. Man erklärte mir, warum es solche Helfer gibt. Denn Menschen verändern sich während einer langjährigen Haft oft sehr. Im Knast herrschen ganz eigene Regeln, die Kommunikation, Sitten und überhaupt vieles betreffen; und wer keinerlei Kontakte mehr zur Außenwelt hat, verlernt die Verhaltensweisen, die draußen üblich sind. Und das geschieht oft: Besonders Menschen mit langen Haftstrafen, ab fünf Jahren bis zu «lebenslänglich», werden meistens nach ein paar Jahren nicht mehr besucht, sie vereinsamen, werden sozial schwierig. Weil aber gerade diese Täter auch diejenigen sind, die wieder gefährlich werden können, wäre es umso wichtiger, ihnen eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft zumindest zu erleichtern. Schließlich werden sie irgendwann entlassen. Erwiesen ist, dass eine Wiedereingliederung erheblich erfolgreicher verläuft, je mehr Kontakt der Häftling zur Außenwelt hat.

Aus diesem Grund gibt es in Deutschland ehrenamtliche Vollzugshelfer: Menschen, die einen Häftling regelmäßig im Gefängnis besuchen, normale Gespräche mit ihm führen, ihn durch die Phase der Lockerung begleiten und ihm nach Möglichkeit auch nach der Entlassung noch eine Weile zur Seite stehen. Da die meisten Strafgefangenen nur ein Besuchsrecht von etwa einer Stunde pro Monat haben, ist die Gefahr der sozialen Isolation groß. Überdies werden den Angehörigen und Freunden von Langzeithäftlingen die Besuche oft nach einigen Jahren zu frustrierend und anstrengend, irgendwann bleiben sie aus. Der Vollzugshelfer dagegen kann den Gefangenen besuchen, sooft er will und tagsüber jederzeit. Allerdings hat bei weitem nicht jeder Häftling, der sich einen Vollzugshelfer wünscht, auch das Glück, einen zu bekommen. Es ist keines der Ehrenämter, um das sich die Leute reißen. Das liegt sicher zum einen an den Menschen, mit denen man zu tun hat. Man kümmert sich lieber um behinderte Mitbürger, um alte Menschen, um Kinder oder um Tiere, als sich mit Betrügern, Räubern, Drogenhändlern, Mördern oder Sexualstraftätern auseinanderzusetzen. Zum anderen sind die Umstände gewöhnungsbedürftig, in der Anstalt herrschen strenge Regeln, an die man sich zu halten hat. Es gibt Leibesvisitationen am Eingang, es kann passieren, dass man im Falle eines Alarms das Gefängnis erst einmal nicht mehr verlassen darf. Schließlich sind da die große Verantwortung, die man übernimmt, und die seelische und emotionale Reibung an dem, um den man sich kümmert. Umso länger ein Gefangener einsitzt, umso einsamer er ist, desto wichtiger wird man selbst als Bezugsperson, gerade für Langzeithäftlinge mit wenig oder keinem Kontakt zur Außenwelt. Wenn dann ein Helfer nach ein paar Monaten sagt: «Du, das wird mir leider doch zu viel. Ich kann nicht mehr kommen», hat man unter Umständen mehr Schaden angerichtet als Nutzen gestiftet.

Wenn ich mich schon tagtäglich mit dem fiktiven Verbrechen beschäftige, dachte ich, sollte ich vielleicht einmal einen echten Täter bei seinem Weg zurück in die Gesellschaft unterstützen. Kaum ausgesprochen, verwarf ich den Gedanken jedoch gleich wieder – war und bin ich mit meiner Arbeit und unseren drei Kindern doch ziemlich ausgelastet. Wie soll ich da solch einer Zusatzpflicht gerecht werden? Schließlich sollen die Besuche alle zwei bis drei Wochen stattfinden, und im Idealfall über mehrere Jahre hinweg.

In den folgenden Tagen musste ich immer wieder an die gefüllten Ordner im Büro des Vereins denken, gefüllt mit Briefen von Gefangenen, die sich eine Bezugsperson wünschen.

Ungefähr zwei Wochen später läutete mein Telefon: «Herr Schroeder, ich musste gerade an Sie denken! Sie haben mich doch letztens besucht und sich für eine Vollzugshelfertätigkeit interessiert», rief mich ein Mitarbeiter des Vereins an. «Morgen findet eine Führung durch die JVA Tegel für angehende Vollzugshelfer statt. Hätten Sie vielleicht Lust, sich das einmal anzusehen?»

Natürlich hatte ich Lust und zufällig am nächsten Tag auch drehfrei. Ich fuhr hin und wurde mit einer kleinen Gruppe den ganzen Vormittag über das riesige Gelände und durch diverse Haftgebäude geführt, mittags gab es Treffen mit zwei Gefangenen, die unsere Fragen beantworteten.

Ich erfuhr auch die Geschichte vom «Engel»: In Tegel, wo jeder von den Insassen einen Spitznamen bekommt, nennt man sie nur so, «den Engel». Zwar heißt sie auch mit Nachnamen so, und doch hat sie sich den Namen redlich verdient. Frau Engel ist jetzt in Rente, eine ehemalige Lehrerin, bereits über siebzig und seit gut zwanzig Jahren ehrenamtliche Vollzugshelferin. Mehrmals die Woche kommt sie nach Tegel und besucht ihre Schützlinge. Sie betreut mindestens eine Handvoll Häftlinge, jeden individuell, sie gibt Deutschunterricht und pflegt noch eine Brieffreundschaft zu einer größeren Anzahl von Häftlingen.

Micha erzählte mir später einmal, dass er als Neuankömmling sehr erstaunt war, als er einmal im Gruppenraum eine offene Damenhandtasche stehen sah. «Die gehört dem Engel. Da geht keiner ran!», sagte damals ein Kollege auf seinen verwunderten Blick hin. Und so ist es bis heute. Frau Engel könnte ihre Tasche mit Handy und Geldbeutel überall im Knast stehenlassen – niemand würde sich daran vergreifen, aus Dankbarkeit und Respekt. So viel Ehrenkodex gibt es auch hier.

Für die zierliche alte Dame gelten Ausnahmeregeln. Wenn sie das Gefängnis betritt, bekommt sie an der Pforte einen internen Schlüssel ausgehändigt, mit dem sie sich, wie die Justizbeamten, ihren Weg zwischen den Hafthäusern «durchschließen» kann. Manchmal bringt sie sogar kleine Geschenke mit, was eigentlich generell streng verboten ist. Aber Frau Engel hat sich über zwei Jahrzehnte das Vertrauen von Justiz und Insassen verdient. Sie wird am Eingang nicht kontrolliert, und wenn sie es für nötig hält, bringt sie eben auch mal eine Kleinigkeit mit. Einmal betreute sie einen Häftling, der nur ein paar Badelatschen besaß, erzählte mir Micha, und dem «hat sie irgendwann ein Paar Schuhe organisiert. Keine Ahnung, wie sie die hier reingekriegt hat. Der hatte richtig Hemmungen, die anzunehmen. Aber nach n paar Tagen war er dann doch sehr glücklich damit».

Als wir nach der Besichtigung von Justizbeamten zum Tor gebracht wurden, kam eine junge Sozialarbeiterin auf mich zu: «Entschuldigen Sie», fragte sie, «haben Sie denn bereits jemanden, den Sie betreuen?»

«Nein», erwiderte ich.

«Ich hätte da wen, bei mir auf der Station, für den ich dringend einen Vollzugshelfer suche. Er ist in Ihrem Alter, ursprünglich aus der rechtsextremen Szene, hat sich aber davon abgewendet. Er war bereits zwei Mal inhaftiert hat jetzt lebenslänglich – wegen eines brutalen Mordes – und sitzt nun schon seit vierzehn Jahren. Wird auch noch ein paar Jahre hierbleiben. Er ist hier im Gefängnis dann auch noch heroinabhängig geworden, nimmt nun aber erfolgreich an einem Substitutionsprogramm teil. Er galt lange als sehr gefährlich, entwickelt sich aber sehr gut, seitdem er substituiert wird. Seine frühere Freundin, sein Bruder und die Eltern sind während seiner Haftzeit verstorben. Er hat niemanden mehr. Hätten Sie Interesse, ihn einmal kennenzulernen?»

Ich kann nicht erklären, warum, denn eigentlich entsprach alles, was sie erzählte, so gar nicht dem Bild eines Menschen, mit dem ich auch nur irgendetwas zu tun haben wollte. Trotzdem antwortete ich aus dem Bauch heraus: «Ja.»

Ich sagte noch, dass ich keinesfalls versprechen könne, dass wirklich alle vierzehn Tage ein Treffen stattfindet, schließlich arbeite ich in Leipzig. Auch ob ich mich jahrelang dazu verpflichten könne, sei schwer abzusehen.

«Kein Problem», meinte sie unkompliziert, «das kann man alles absprechen. Alle drei Wochen reicht auch, und – sowieso vorausgesetzt, Sie kommen miteinander klar – Sie können dem Gefangenen auch sagen, dass Sie sich erst mal nur für ein Jahr verpflichten.»

Dann gab sie mir zufrieden die Hand und rauschte davon.

 

Die meisten Menschen haben in ihrem Leben nie mit einem Gefängnis zu tun. Dem einen oder anderen fallen vielleicht die hohen Mauern oder Wachttürme auf, wenn er dran vorbeifährt. Manch einer denkt vielleicht: «Da sitzt keiner ohne Grund drin!», andere gruselt es ein wenig, aber dann hat man es schnell wieder vergessen.

Als ich meine erste Fernsehhauptrolle bekam, war ich zweiundzwanzig und ging noch zur Schauspielschule. Ich spielte einen jungen Mann, der auf die schiefe Bahn gerät und am Ende im Gefängnis landet. Wir drehten in einem stillgelegten Trakt der Justizvollzugsanstalt Aachen. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein Gefängnis betrat. Das gesamte Team musste an der Pforte den Personalausweis abgeben und wurde erst nach einer Leibesvisitation zu einem Trakt geführt, der inzwischen leer stand und uns als Kulisse diente. Das ständige Krachen von Metall auf Metall der lautstark aufgesperrten und hinter uns wieder verschlossenen vielen Türen auf dem Weg dorthin hat sich mir in die Erinnerung gebrannt. Ein lautes metallisches Donnern, das nicht nur in den langen Fluren, sondern auch nach Drehschluss noch lange in meinem Schädel nachhallte. Wir passierten einen großen Innenhof, gesäumt von alten Haftgebäuden. Gefangene standen in geöffneten, vergitterten Fenstern. Da im Team auch Frauen waren und viele der Insassen schon seit Jahren keine Frau mehr zu Gesicht bekommen hatten – weibliche Justizbeamte waren damals noch eine Seltenheit –, wurde laut gejohlt und gepfiffen.

Ganz oben in einem der Hafthäuser sammelte sich ein Schwarm Tauben vor einem Fenster. Sie flatterten aufgeregt umher, umflogen das Gebäude, stoben auseinander und sammelten sich abermals vor dem Fenster. Ich hielt meine Hand über die Augen und erkannte gegen das gleißende Sonnenlicht: Ganz da oben streckte einer seine dicken, über und über tätowierten Arme durch die Gitterstäbe. Die Tauben kamen angeflogen, setzten sich kurz darauf und fraßen dem Mann mit den riesigen Pranken aus der Hand. Eine Szene, zu kitschig für jeden Film, und doch sehe ich es heute noch vor mir.

In den Drehpausen lief ich durch den gespenstisch leeren Trakt, sah mir die verlassenen Zellen an und studierte die Inschriften an den Wänden. Ich war schockiert, wie winzig klein die Hafträume waren. Eine Kloschüssel stand, vor Blicken durch den Türspion ungeschützt, in der Ecke, und das einzige Fenster war so hoch angebracht, dass man nicht hinaussehen konnte. An einer Wand ließ sich ein Brett rausklappen, auf dem eine vielleicht zehn Zentimeter dicke Schaumstoffauflage lag – das Bett. In manche dieser Matratzen war etwa in der Mitte ein Loch gerissen, man konnte ahnen, wofür.

Wenn ich in meiner Knastkleidung auf dem Weg zum leeren Trakt oder in der Kantine in Blickkontakt mit echten Gefangenen kam, überkam mich immer ein beklemmendes Gefühl. Ich spielte nur den Knacki, konnte kommen und gehen, wie ich wollte, und bekam dafür auch noch Geld. Was mochten die echten Insassen da denken?

Mittags aßen wir in der Knastkantine. Das Personal bestand komplett aus Inhaftierten. Ein sehr freundlicher älterer, fast devot wirkender Mann servierte uns Currywurst mit Pommes. Ein Justizbeamter, der mit am Tisch saß, erzählte, dass dieses «Urgestein» in Kürze entlassen werde. Der Alte war so zurückhaltend und freundlich, ich musste einfach fragen, was er denn verbrochen hatte.

«Wiederholte sexuelle Vergehen an kleinen Jungs», sagte der Beamte und schob sich ein paar Pommes in den Mund, «ist nicht zum ersten Mal hier, hat jetzt sieben Jahre abgesessen.»

Ich war schockiert. Dieser Mann wirkte harmlos und sympathisch, man würde ihm anderswo sofort vertrauen. Er entsprach so gar nicht dem Bild, das die Boulevardmedien von solchen Leuten zeichnen.

Damals fragte ich mich, ob dieser kalte Ort wohl irgendetwas zu seiner Besserung beitragen könnte. Gerade bei einem solchen Vergehen. Seitdem hat mich diese Frage nicht mehr losgelassen.

In allen Bereichen unseres Lebens gibt es rasanten Fortschritt auf jeder Ebene, aber in diesem Bereich, wenn Menschen nicht so funktionieren, wie wir es in unserer Gesellschaft vorgesehen haben, dann fällt uns bis heute nichts Besseres ein, als sie wegzuschließen, gemeinsam mit anderen ihrer Art. Und auf Besserung zu hoffen. Ist das denn eine Lösung? Eine sichere Lösung?

Burger King und der Geschmack von Freiheit

Mai 2013. Ich fühle mich ziemlich gerädert. Bis morgens um sechs hatte ich einen Nachtdreh: Im von riesigen Scheinwerfern erhellten Wald haben wir eine Leiche gesucht und natürlich auch gefunden. Und nun, nach wenigen Stunden Schlaf, lege ich auf dem Heimweg noch einen Zwischenstopp in Tegel ein. Es ist fünfzehn Uhr, Micha hat gerade seine Arbeit in der Malerei beendet, wo er zurzeit Schreibtische lackiert.

Ich frage ihn, wie denn der typische Tagesablauf im Knast so aussieht. Der wichtigste Grundsatz, so wird mir bald klar, lautet: Alles, aber auch alles, was passiert, ist streng geregelt und läuft jeden Tag gleich ab. Kleine Unterschiede gibt es nur zwischen Wochentag und Wochenende beziehungsweise Feiertag.

Werktage beginnen um sechs Uhr früh mit der «Lebendkontrolle». Ein Beamter öffnet die Tür, ruft ‹guten Morgen› und checkt, ob der Angerufene reagiert. Häftlinge wie Micha – der meist schon früher wach ist –, die einen Job in einem der Anstaltsbetriebe haben, können jetzt duschen und sich ein kleines Frühstück zubereiten. Dafür bekommen sie am Vorabend Brot, Butter, Marmelade und Wurst zugeteilt. Um 6:45 Uhr folgt dann das sogenannte Arbeiter-Ausrücken: Alle arbeitenden Häftlinge machen sich auf den Weg in ihren jeweiligen Betrieb innerhalb der Anstalt.

Für die arbeitslosen Insassen, für die die Zellentür gleich nach der Kontrolle wieder zugeht, ist um 7:30 Uhr Aufschluss, dann Frühstück und duschen, pünktlich um 8 Uhr werden sie wieder eingeschlossen. Um 11 Uhr werden die Zellen dann für eine Stunde geöffnet, und die Häftlinge können sich auf dem Flur frei bewegen.

Um 14:45 Uhr kehren die Arbeiter zurück, um 15 Uhr kann sich jeder sein Mittagessen abholen; für die lange Zeit zwischen Frühstück und Mittagessen bekommt man «Impebretter» mit zur Arbeit, so nennt man hier Stullen: Mit Margarine bestrichene Brotscheiben. Um 15:15 Uhr erfolgt dann eine Zählung, und von 15:30 Uhr bis 17:30 Uhr ist die Freistunde, in der man sich auch draußen im Hof aufhalten darf. Um 17:30 Uhr müssen dann alle wieder ins Haus. Nach einer weiteren Zählung dürfen sich die Häftlinge bis 21:30 Uhr frei im Haus bewegen, bis zum sogenannten Nachtverschluss.

Am Wochenende läuft es etwas anders ab: Um 9 Uhr beginnt der Tag mit Lebendkontrolle und Aufschluss für alle, von 12:30 Uhr bis 12:45 Uhr ist Zählung, dann stehen die Zellen offen, bis zum Nachtverschluss bereits um 16:45 Uhr; so spart der Staat am Wochenende Personal. Was zugleich für die Häftlinge heißt, dass sich hier kaum einer über Feiertage freut, denn diese bedeuten vor allem eines: noch mehr Zeit allein auf der Zelle verbringen.

In Michas Teilanstalt leben hundertachtzig Häftlinge. Auf seiner Etage gibt es für achtundzwanzig Männer eine kleine Gemeinschaftsküche, zwei Herde mit je drei Platten. Wer mal keine Lust auf das über die Jahre hinweg sehr eintönige Anstaltsessen hat, kann sich hier selber was kochen. Natürlich auf eigene Kosten. Wenn ein Backofen benutzt wird, kann man nicht mehr gleichzeitig kochen, denn die Herde haben nur einen 220-Volt-Anschluss. Trotzdem klappt es reibungslos, denn einige Häftlinge kochen nie, die übrigen regeln die Kochzeiten unter sich.

Lebensmittel lassen sich einmal im Monat bei einem auf Gefängnisse spezialisierten Händler beziehen. Dazu händigt die Anstalt Einkaufslisten aus. Keine quietschbunten Werbeprospekte mit dem «Knaller der Woche», sondern nüchterne DIN-A4-Seiten in dezentem Amtsgrau. Das Angebot deckt die Grundnahrungsmittel ab, dazu alkoholfreie Getränke, ein paar Süßigkeiten, Obst und Gemüse. Es scheint findige Geschäftsleute zu geben, die von der Institution Gefängnis gut leben können: Alle Preise sind bei diesem Monopolanbieter – der einhundertvierzig, also etwa zwei Drittel aller deutschen Justizvollzugsanstalten beliefert – deutlich höher als außerhalb der Gefängnismauern. Noch dazu hat hier wohl jemand einen Weg gefunden, Waren mit baldigem Verfallsdatum und überreifes Obst zu Spitzenpreisen zu verscherbeln. Die alle paar Wochen erscheinende Knastzeitung ist voll von Beschwerden über den Lieferanten: Beinahe abgelaufene Produkte und gammliges Obst scheinen Standard zu sein. Und eine Reklamation ist nahezu unmöglich. Auf der letzten Seite des grauen Papiers findet sich ein schmales Medienangebot. Erstaunt lese ich, dass die harten Jungs musikalisch zwischen Heino und Helene Fischer wählen können, als DVD des Monats wird Disneys «Rapunzel – neu verföhnt» angepriesen. Natürlich alles zu leicht erhöhten Preisen.

Eine andere Firma hat die Telekommunikation in deutschen Gefängnissen als Geschäftsmodell entdeckt. Aus Sicherheitsgründen dürfen Gefangene kein Handy haben. Damit sie mit Freunden und Familie telefonieren können, hat ein Anbieter Apparate mit Telefonkarten aufgestellt, zu für ihn äußerst lukrativen Konditionen. Nirgendwo in Deutschland ist Telefonieren so teuer wie im Gefängnis. Ein Anruf ins Festnetz kostet neun Cent pro Minute, ins Handynetz sogar siebzig Cent. Üppige Preise, nicht nur wenn man bedenkt, dass ein Vollzeit arbeitender Häftling durchschnittlich zweihundertfünfzig Euro verdient, wovon ihm nur die Hälfte als Hausgeld zur freien Verfügung steht.

«Pfingsten hab ich jedenfalls gut überstanden», erzählt Micha. «Pfingstmontag hab ich mittags mit paar Kumpels was gekocht, den restlichen Tag hab ich Sudokus gelöst. Und nun ist ja erst mal ne Zeitlang Schluss mit Feiertagen.»

Es gibt auch Häftlinge, die sich freiwillig früher «wegschließen» lassen. Gerade die älteren Lebenslänglichen, von denen manche seit über vierzig Jahren sitzen, heben oft schon nach der Mittagszählung die Hand, rufen «ich will weg» – woraufhin sie bis zum nächsten Morgen eingeschlossen werden, erzählt Micha. Anstaltsintern nennt man dieses Verhalten «Hospitalisierungseffekt». Wenn Menschen über Jahrzehnte eingesperrt sind, haben sie meist jegliche Verbindung zu Freunden und Familie verloren. Die Welt außerhalb ihrer Zelle bekommt etwas Fremdes, Bedrohliches, sie haben sich so sehr an Eintönigkeit und Einsamkeit gewöhnt, dass alles andere beängstigend wirkt.

«Es gibt zwei Leute bei uns auf Station, die wollen gar nicht mehr raus. Die sind beide schon Mitte siebzig und sitzen seit vierzig Jahren. Die könnten nen Antrag auf Entlassung stellen, und draußen wären sie. Tun sie aber nich. Sind beide schon Rentner, arbeiten aber halbtags. Können arbeiten, haben ihre Kumpels um sich und sind nicht alleine – und darum geht’s ja auch. Draußen wär dit allet weg.»

«Wahrscheinlich haben die draußen auch keine Familie oder Freunde mehr?», frage ich nach.

«Nee», winkt Micha ab, «nach fünfunddreißig, vierzig Jahren, da hast du keinen mehr. Die Familie will schon lange nichts mehr von denen wissen. Die würden nur auf den Tod warten. Wenn ihnen hier langweilig ist, gehen sie zum Zellennachbarn und spielen ne Runde Schach – könnten sie draußen eben nicht.»

«Machen die noch Ausführungen?»

«Selten, ganz selten. Da ham die Angst vor. Vielleicht mal Klamotten kaufen, wenn’s unbedingt sein muss. Als die frei waren, da gab’s noch die DDR. 1974 – musste mal überlegen – da kommt doch keiner klar mit. Die leben hier. Die lassen sich auch regelmäßig früher wegschließen. Der eine meint, draußen würde er allein in irgendeiner Wohnung sitzen und hätte nichts, er wär ein ganz bedeutungsloser Mensch. Dazu dann noch das Gerede: Der is n Mörder, der hatte lebenslänglich.»

«Und die sitzen beide wegen Mord?»

«Ja, beide. Also, der eine hat in den siebziger Jahren jemanden erschossen, der andere hat seine Frau umgebracht.»

«Aber wenn sie gewollt hätten, wären sie schon längst draußen?»

«Natürlich. Das Gesetz sagt ja, nach fünfzehn Jahren hat jeder Lebenslängliche die Chance rauszukommen. Es sei denn, es gilt die besondere Schwere der Schuld, dann geht es länger. Aber nach spätestens fünfundzwanzig Jahren sollte jeder Lebenslängliche rauskommen können – theoretisch. Bloß, als Lebenslänglicher wird man ja nicht offiziell entlassen, sondern begnadigt. Und das muss jeder selbst beantragen. Und wenn ich das nicht tue, ist die Sache erledigt.»

«Das heißt, wer keine Begnadigung beantragt, bleibt einfach im Knast?»

«Ja. Lebenslänglich, das heißt bis zum körperlichen Verfall. Bis man tot is.»

Auf dem Weg nach Hause muss ich immer wieder an diese Worte denken: «Ich will weg!»

Jeder Mensch, der im Gefängnis landet, wird Tag für Tag diesen Gedanken haben: Weg von hier! Und dann, schleichend, scheint sich nach Jahrzehnten etwas zu verändern. «Weg» ist nicht mehr die Welt da draußen, nach der man sich sehnt, sondern auf einmal sehnt man sich weg aus jeder Freiheit, zurück in den kleinen Kosmos der Zelle.

 

Zwei Wochen später. Kürzlich las ich in der Zeitung über einen Mann, der mehrere Jahre im Knast saß, aber – wie sich nun herausstellte – unschuldig war. Eine Arbeitskollegin hatte ihn beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben. Nachdem er fünf Jahre im Gefängnis war, tauchten neue, ihn entlastende Beweise auf, und schließlich gestand das angebliche Opfer ein, ihn aus Eifersucht fälschlich beschuldigt zu haben.

Sicherlich kommt so etwas selten vor. Überrascht war ich aber von der Höhe der Entschädigung: Ganze fünfundzwanzig Euro Schadensersatz erhält der Mann pro Hafttag. Kein anderes Land in Europa zahlt Opfern von Fehlurteilen so wenig wie Deutschland. Für einen Menschen, dessen berufliche Laufbahn zerstört, dessen finanzielle Situation in der Regel ruiniert ist, bei dem das Privatleben, die Ehe, das Verhältnis zu den Kindern meist für immer geschädigt ist, ist das weniger als ein Tropfen auf den heißen Stein.

Bei meinem nächsten Besuch frage ich Micha, was er darüber denkt. Wie viele Unschuldige sitzen seiner Meinung nach in Tegel?

«Gibt schon n paar, denk ich», antwortet er, «nicht viele, aber einigen kauf ich das wirklich ab. Ich hab zum Beispiel einen Kollegen, der soll seine Eltern umgebracht haben. Er hat lebenslänglich, sitzt auch schon ewig, zehn Jahre oder so. Die Leichen der Eltern wurden nie gefunden. Soll angeblich auf hoher See passiert sein, wo er sie dann auch entsorgt hat. War aber ein reiner Indizienprozess. Er hat wohl mal zu seinem Vater gesagt, er würd ihn am liebsten umbringen, was jemand bezeugen konnte. Aber so richtig klar ist die Sache nicht. Er behauptet jedenfalls, nichts mit dem Verschwinden seiner Eltern zu tun zu haben. Bloß: Wenn du lebenslänglich hast, haste nur dann eine Chance auf Lockerung, wenn du deine Tat eingestehst und Reue zeigst. Das heißt, solange der Typ nichts zugibt, wird der hier bleiben, bestimmt an die fünfundzwanzig Jahre. Ich werd hellhörig, wenn einer nach zehn Jahren immer noch behauptet, er war’s nicht. Würde er die Tat eingestehen, gäb’s doch Erleichterungen, und er hätte bessere Chancen, irgendwann wieder rauszumarschieren. Ich vermute, es gibt ne Dunkelziffer an Unschuldigen von paar wenigen Prozent. Die meisten hier haben gestanden; vielleicht gibt es auch ein paar wenige, die schließlich was gestehen, das sie nicht gemacht haben. Nur um früher wieder rauszukommen.

Aber wir hatten hier zum Beispiel auch einen, Hermann hieß der, der saß neununddreißig Jahre ein, dann ist er an Krebs gestorben, hier im Knast. Er hatte lebenslänglich wegen eines Raubmords. Noch aufm Sterbebett hat er behauptet, er sei unschuldig. Hermann hätte rausgekonnt, wenn er gewollt hätte. Er hätte nur ein Gnadengesuch stellen müssen. Das hat er aber nie gemacht.

‹N Unschuldigen kann man nicht begnadigen, den kann man nur freisprechen!›, das war immer sein Satz. Ein Gnadengesuch hätte für ihn bedeutet, seine Schuld einzugestehen.

‹Dann wär ick für meine beiden Kinder n Killer›, sagte er, dabei hatten die Kinder schon seit Jahrzehnten den Kontakt zu ihm abgebrochen. Aber er hat es nie gemacht und blieb hier drin, bis er gestorben ist.

‹Ick will keene Begnadigung, ick will Gerechtigkeit!›, hat er immer gesagt.

Er hatte zwar n Alibi, angeblich war er zur Tatzeit bei seiner Mutter, das hat der Richter ihm aber nicht abgekauft. DNA-Test und so was gab’s Anfang der Siebziger noch nicht. Er hat immer dafür gekämpft, dass sein Fall noch mal neu aufgerollt wird – ist aber nie passiert. Ich vermute, dass er wirklich unschuldig war, anders kann ich mir das nicht erklären.»

Die durchschnittliche Haftzeit der lebenslangen Freiheitsstrafe liegt in Deutschland bei etwa zwanzig Jahren und kann von Fall zu Fall stark abweichen: Der am längsten Inhaftierte in Deutschland sitzt seit nunmehr vierundfünfzig Jahren in Haft, trotz Gnadengesuch.

 

Eine Stadt in Berlin. Fliegen war schon immer ein Inbegriff von Freiheit. Manchmal scheint es mir wie eine Farce: Direkt hinter dem Flughafen Berlin-Tegel, nur durch ein kleines Wäldchen mit dem darin liegenden Flughafensee getrennt, liegt die größte geschlossene Justizvollzugsanstalt Deutschlands, die JVA Tegel, die gleichzeitig auch eine der ältesten ist. Unter der harmlos klingenden Adresse Seidelstraße 39 leben hier bis zu eintausendfünfhundert Männer, knapp siebenhundert Angestellte und Beamte arbeiten hier. Planet Tegel – so wird dieser Ort von den Häftlingen genannt. Und wer ihn betritt, versteht, warum: Man landet in einer anderen Welt, abgeschirmt und nahezu komplett autark.

Das imposante zentrale Eingangstor, das Tor 1, besteht aus einer großen LKW-Einfahrt und zwei Pforten, eine für Besucher, die andere für Personal. Der ganze Eingangsbereich, aus rotem Backstein erbaut, erinnert zusammen mit den Resten alter Schienen im Boden unweigerlich an ein Konzentrationslager. Vor langer Zeit verkehrte hier eine Straßenbahn, die an manchen Tagen einen speziellen Waggon mit sich führte, der vergittert und von innen nicht zu öffnen war. In ihm wurden Häftlinge durch die Stadt ins Gefängnis transportiert. Hinter dem Tor erstreckt sich ein riesiges Areal, rund siebzehn Fußballfelder groß, umgeben von einer knapp anderthalb Kilometer langen, fünf Meter hohen Mauer, die mit dreizehn Wachtürmen bestückt ist. Am Ende des weiträumigen Vorplatzes steht eine markante, doppeltürmige Kirche, in den mit ihr verbundenen Gebäuden sind ein evangelisches und ein katholisches Pfarrhaus sowie Teile der Verwaltung untergebracht.

Insgesamt gibt es sechs Haftgebäude, die sogenannten Teilanstalten, von denen manche so alt sind wie das Gefängnis selbst, knapp hundertzwanzig Jahre, andere stammen aus den achtziger Jahren, dazu kommt das kürzlich errichtete Haus für Sicherheitsverwahrte. An diesen Häusern kann man die Geschichte der Gefängnisarchitektur ablesen – die drei alten Haftgebäude, die kreuzförmigen «Sterne», sind nach dem panoptischen, dem «allsichtigen» Prinzip bzw. dem Vorbild amerikanischer Gefängnisse errichtet. Im Zentrum eines jeden vierstöckigen Gebäudes liegt eine gläserne Kanzel, von den Häftlingen «Aquarium» genannt, von der aus man alle vier Etagen und sämtliche Flure überblicken kann. Über dem Erdgeschossflur gibt es keine Zwischendecken, die Stockwerke sind offen, aber in jeder Etage ist über die gesamte Länge ein Stahlnetz gespannt, um Selbstmorde und dergleichen zu verhindern. Auf jeder Seite gehen von den langen Gängen die fünf bis sechs Quadratmeter großen Zellen ab.

In diesen Gebäuden herrscht ohrenbetäubender Lärm, es hallt extrem von den Gesprächen, Schreien, vom Schlagen der metallischen Türen. Eines der alten Haftgebäude, die Teilanstalt 1, musste vor ein paar Jahren geschlossen werden: Der Bundesgerichtshof urteilte, dass die Zellen des Baus von 1898 mit ihren fünf Quadratmetern «menschenunwürdig» seien. Seitdem steht das Gebäude leer.

Die beiden anderen, die nur wenig größere Zellen haben, sind den moderneren Haftgebäuden an Ausstattung und Komfort deutlich unterlegen: Hier teilen sich dreihundertsiebzig Inhaftierte zwölf Duschen. Früher kamen hierher Kurzstrafer (unter fünf Jahre) bzw. Langstrafer, die sich nicht gut führten. Langstrafer, die sich beanstandungslos verhalten, oder Lebenslängliche konnten sich Hoffnung machen, in die Teilanstalten 5 oder 6 zu kommen. Inzwischen ist diese Regelung aufgeweicht, die Häftlinge werden oft einfach dahin verlegt, wo gerade Platz ist.

Micha sitzt seit einigen Jahren in der Teilanstalt 6. Sie stammt aus den frühen Achtzigern und sieht aus wie ein riesiges, vergittertes Hochhaus. Die Gefangenen sind hier im sogenannten Wohngruppenvollzug untergebracht, eine Neuerung aus den Siebzigern. Jede Etage ist in sich geschlossen, dadurch ist der Lärmpegel deutlich geringer; die Zellen werden tagsüber längere Zeit geöffnet, es gibt einen kleinen Gemeinschaftsraum und eine – wirklich sehr kleine – Gemeinschaftsküche. Die Zellen haben etwa acht Quadratmeter sowie ein winziges, abgetrenntes Klo und Waschbecken mit Warmwasser – eine große Errungenschaft. In den Häusern 1 bis 3 gibt es beides nicht. Noch vor nicht allzu langer Zeit war es üblich, dass man zu zweit eine Zelle teilte, mit freistehendem Klosett in der Ecke.

In den übrigen Gebäuden auf dem Gelände sind die zwölf anstaltseigenen Betriebe untergebracht, Bäckerei, Großküche, Tischlerei, Malerei, Polsterei, Schlosserei, Druckerei, Buchbinderei, Schuhmacherei, sogar ein Bauhof und eine Gärtnerei. Zum einen arbeiten die Insassen hier, zum anderen bilden die meisten Betriebe auch aus. Wobei es um den Arbeitsmarkt hier drin ähnlich steht wie draußen: Es gibt weit mehr Arbeitswillige als Arbeitsplätze.

Dazu gibt es noch eine Schule, in der siebzig bis achtzig Schüler ihren Real- oder Hauptschulabschluss, ein paar wenige auch das Abitur nachholen. Zu den Prüfungen kommen in der Regel externe Kräfte in die Haftanstalt, manchmal findet die Prüfung aber auch draußen statt; dann werden die Schüler unter strenger Bewachung, teilweise mit Hand- und Fußfesseln, zu einer Schule gefahren.

Zwischen den Haftgebäuden liegen mehrere Freihöfe, in denen die Häftlinge die ihnen gesetzlich zustehende Zeit an der frischen Luft verbringen können, täglich mindestens eine Stunde. Ein Angebot, das nicht jeder nutzt. Daneben befinden sich auf dem Gelände noch etwas Brachland, zwei Sozialtherapeutische Anstalten (Sotha), in einer der beiden sind ausschließlich Sexualstraftäter untergebracht, und ein Fußballplatz. Einmal im Jahr findet in dieser kleinen Stadt sogar ein Stadtlauf, der «Tegeler Marathon», statt: Dafür wird mit Flatterbändern eine Route abgesperrt, die Beamten sichern die Strecke, und die Gefangenen laufen anstatt der kleinen Runde im Freihof ausnahmsweise eine große, die mehrmals über das ganze Gelände führt, bis sie zwanzig Kilometer erlaufen haben.

 

Es gibt auch Tiere auf Planet Tegel. Ein paar Katzen leben hier, die Bediensteten und Insassen füttern sie (manche Hafthäuser haben sogar eine Katzenklappe an der Außentür), und auf den beiden winzigen Teichen, nicht viel größer als eine Pfütze, brütet je ein Entenpaar. Die Tiere allerdings, die hier so richtig zu Hause sind – das sind die Krähen: Rabenkrähen, Nebelkrähen, Saatkrähen, Elstern – alle sind sie hier vertreten. Das ganze Jahr über und zu jeder Tageszeit ist ihr Krächzen zu hören. Sie sitzen auf den Mauern, den Wachtürmen, zanken sich im Freihof, stöbern im Müll und brüten in den Pappeln, die gleich hinter den Außenmauern des Gefängnisses stehen.

«Morgens machen die richtig Krach», sagt Micha, «die schlafen auf dem Dach von Haus 5, was meinste, was da los ist, morgens um halb sechs!» Micha beobachtet sie manchmal stundenlang, weil sie so intelligent sind: «Die verstecken ihr Futter. Aber manchmal legen sie, wenn sie beobachtet werden, falsche Verstecke an. Dann graben sie rum, tun, als ob sie was verbergen, aber in Wirklichkeit verstecken sie es ganz woanders. Wir ham schon jut jelacht über die.»

Was die Krähen so lieben, an Planet Tegel? Vermutlich, dass es hier immer etwas zu fressen gibt: Die meisten Häftlinge schmeißen Sachen, die sie nicht mehr brauchen, einfach aus dem Fenster. Während unserer Gespräche segelt vor dem vergitterten Fenster mal eine leere Tüte Milch, mal ein halbes Brötchen durch die Luft. Die Krähen holen sich, was essbar ist, den Rest räumen am nächsten Morgen die Gefangenen weg, die als Hausarbeiter beschäftigt sind. Mythologisch gesehen, galt die Krähe von jeher als Mittler zwischen den Welten, zwischen den Lebenden und den Toten, zwischen Licht und Schatten. Die Schamanen sagen, die Krähe fordere einen auf, sich seine Schattenseiten anzusehen. Vielleicht ist das der tiefere Grund, warum so viele schwarze Vögel hier auf Planet Tegel leben, ich weiß es nicht. Und über all dies hinweg donnern die Flugzeuge, fliegen die Berliner in den Urlaub, manchmal zum Greifen nah.

«Je nach Wetter und Wind hört man das ziemlich dolle. Vom letzten Flugzeug kurz nach 23 Uhr, dem Postflugzeug, wach ich immer noch mal kurz auf. Am Anfang musste ich mich erst mal dran jewöhnen. Früher hab ich immer geguckt, wenn eins gestartet ist, und hab gedacht: Da würd ick jetzt gern drinne sitzen! Aber nach ner Weile guckt man nicht mehr. Mein Kumpel hatte n richtig guten Feldstecher, mit dem konnte man den Piloten sehen. Und wenn die Blätter von den Bäumen sind, im Herbst, dann kann ich von meinem Fenster bis zum Flughafensee gucken, kann sehen, wie das Wasser glitzert. Dit mag ick.»

 

Juni 2013. «Und? Was gibt’s Neues?», frage ich Micha, nachdem wir uns begrüßt haben.

«Hier passiert ja nicht viel», meint er, «na ja: Vorige Woche war n Fluchtversuch.»

«Erzähl mal!»

«Aber auch doof, der Typ. Ist über den Zaun in den Hof von Haus 1, das leer steht, und wollte hinten über die Mauer. Aber er hat nen Klingeldraht erwischt. Dann war Alarm, und die ham ihn sofort wieder eingefangen.»

Klingeldraht werden die feinen Drähte genannt, die überall an den Mauern der Haftanstalt entlanglaufen und die bei Berührung sofort Alarm auslösen.

«Aber weil er nichts kaputt gemacht hatte, mussten sie keine Polizei holen, die haben das hier intern geregelt.»

Ein Fluchtversuch ist nach deutschem Recht, anders als beispielsweise in den USA, nicht strafbar. Man respektiert den «natürlichen Drang eines Menschen nach Freiheit», weshalb man bereits im 19. Jahrhundert beschloss, dass ein Gefangener aufgrund eines Ausbruchs nicht erneut bestraft werden soll. Nur wenn bei der Flucht Gewalt angewendet wird, wenn Menschen verletzt oder als Geisel genommen werden, hat er strafrechtliche Folgen. Auch bei Sachschäden wird Anzeige erstattet.

Manche Leute denken, dann könnten die Gefangenen ja ständig versuchen zu fliehen, aber ganz so einfach ist die Sache auch wieder nicht: Denn «nicht strafbar» heißt noch lange nicht, dass es keine Konsequenzen gibt. Im Knast hat jedes Handeln Konsequenzen, im Schlechten wie im Guten: Wer sich immer an die Regeln hält, die Ziele erfüllt, die sein Vollzugsplan ein- bis zweimal pro Jahr neu festlegt, der bekommt entsprechende Hafterleichterungen, etwa Ausführungen oder die begehrten Langzeitsprecher, um mit der Frau oder Freundin zwei Stunden ungestört zu sein. Und schließlich wird man bei guter Führung schneller gelockert: Man wird Freigänger, bekommt irgendwann Urlaub draußen. Nach einem Fluchtversuch rücken all diese Dinge erst mal in weite Ferne.

«Dann hat für ihn das Ganze rechtlich also keine Konsequenzen?», frage ich Micha.

«Rechtlich nicht, aber es gibt halt Disziplinarmaßnahmen. Erst mal fünf Tage Keller, und dann kommt man auf die ‹Station für Absonderung›, bestimmt für ein halbes Jahr.»

«Das musst du mir erklären. Was ist das?»

«Absonderung … Kein Kontakt zu anderen. Ne Zelle ohne Fernsehen, ohne alles. Da kommen Leute hin, die dauernd Schlägereien haben, oder eben Typen, die flüchten.»

«Da kann man tagsüber nicht auf dem Flur rumspazieren?»