Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor - Steffen Schroeder - E-Book + Hörbuch

Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor Hörbuch

Steffen Schroeder

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Beschreibung

Oktober 1944. Mit sechsundachtzig Jahren steht Max Planck vor der schwersten Aufgabe seines Lebens. Der Nobelpreisträger soll ein «Bekenntnis zum Führer» verfassen. Viel hängt daran, denn Plancks geliebter Sohn Erwin, der am Hitler-Attentat vom 20. Juli beteiligt war, sitzt im Todestrakt von Tegel. Planck denkt zurück an frohe Tage und die dunkle Zeitenwende. Gefährten sind im Exil, vor allem vermisst er Albert Einstein. Der forscht in Amerika und widmet sich vielem, besonders den Frauen, allerdings gar nicht seinem Sohn Eduard, der in der Zürcher Heilanstalt Burghölzli mit seinen inneren Dämonen und dem fernen Vater ringt. Max Planck schreibt mit der Schwiegertochter Nelly Gnadengesuche für Erwin; dieser entdeckt die Weite des Daseins in einer Gefängniszelle. In der Berliner Reichskanzlei träumt Adolf Hitler vor einem Gemälde. Und Eduard Einstein erkennt, was die Welt im Innersten zusammenhält, während sein genialer Vater das Doppelspiel seiner russischen Geliebten nicht einmal ahnt. Steffen Schroeder erzählt von der Freundschaft zwischen Max Planck und Albert Einstein, vom Verhältnis berühmter Väter zu ihren Söhnen, von der Liebe in aufgewühlten Zeiten. Und davon, wie die Musik von Johannes Brahms alles miteinander verbindet.

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Zeit:9 Std. 42 min

Sprecher:Steffen Schroeder
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Steffen Schroeder

Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Oktober 1944. Mit sechsundachtzig Jahren steht Max Planck vor der schwersten Aufgabe seines Lebens. Der Nobelpreisträger soll ein «Bekenntnis zum Führer» verfassen. Viel hängt daran, denn Plancks geliebter Sohn Erwin, der am Hitler-Attentat vom 20. Juli beteiligt war, sitzt im Todestrakt von Tegel. Planck denkt zurück an frohe Tage und die dunkle Zeitenwende. Gefährten sind im Exil, vor allem vermisst er Albert Einstein. Der forscht in Amerika und widmet sich vielem, besonders den Frauen, allerdings gar nicht seinem Sohn Eduard, der in der Zürcher Heilanstalt Burghölzli mit seinen inneren Dämonen und dem fernen Vater ringt. Max Planck schreibt mit der Schwiegertochter Nelly Gnadengesuche für Erwin; dieser entdeckt die Weite des Daseins in einer Gefängniszelle. In der Berliner Reichskanzlei träumt Adolf Hitler vor einem Gemälde. Und Eduard Einstein erkennt, was die Welt im Innersten zusammenhält, während sein genialer Vater das Doppelspiel seiner russischen Geliebten nicht einmal ahnt.

 

Steffen Schroeder erzählt von der Freundschaft zwischen Max Planck und Albert Einstein, vom Verhältnis berühmter Väter zu ihren Söhnen, von der Liebe in aufgewühlten Zeiten. Und davon, wie die Musik von Johannes Brahms alles miteinander verbindet.

Vita

Steffen Schroeder, geboren 1974 in München, ist Schauspieler und Schriftsteller. Er war Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater, bevor er Claus Peymann ans Berliner Ensemble folgte, und spielte in zahlreichen Fernsehserien und Kinofilmen. Schroeder engagiert sich für den Weißen Ring und gegen Rechtsextremismus, seit 2017 ist er Botschafter der Organisation Exit-Deutschland. Sein Buch «Was alles in einem Menschen sein kann. Begegnung mit einem Mörder» (2017) löste großes Echo aus. 2020 erschien sein Debütroman «Mein Sommer mit Anja». Steffen Schroeder, der väterlicherseits mit Max Planck verwandt ist und diesen Roman auf viele bislang der Öffentlichkeit unbekannte Briefe und Dokumente stützt, lebt mit seiner Familie in Potsdam.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg, nach einem Entwurf von Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Nelly Planck, Copyright Steffen Schroeder

ISBN 978-3-644-01356-8

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Wenn Sie die Art und Weise ändern, wie Sie die Dinge betrachten, ändern sich die Dinge, die Sie betrachten.

Max Planck

Das Bekenntnis

6. Oktober 1944, Rogätz

All die Jahre hat er versucht, nicht anzuecken. Hat versucht, in diesen schwierigen Zeiten nicht viel Aufhebens zu machen. Immer in der Hoffnung, dass man ihn und seine Kollegen würde gewähren lassen.

Wissenschaft und Politik, das waren zwei Dinge, die man trennen musste. Wissenschaftler sollten sich aus der Politik heraushalten. Und im Gegenzug sollte die Politik die Wissenschaftler in Ruhe forschen lassen. Der Meinung ist er immer gewesen. Dass mit dem Regierungswechsel ein Unglück über Deutschland hereingebrochen ist, hat er hingegen von Anfang an so empfunden. Sicher, er hat es nicht so düster kommen sehen, wie es sein Sohn von Beginn an prophezeit hat. Erwin hat es wissen müssen.

Sein Blick fällt wieder auf den Brief, der vor ihm auf dem Schreibtisch liegt. Er rückt die Brille zurecht.

Der Präsident der Reichskulturkammer steht als Absender groß im Briefkopf.

Sehr geehrter Herr Geheimrat!

Mit diesem Brief erlaube ich mir, Sie an die Beantwortung meines Schreibens zu erinnern,

beginnt der Text, den er schon Dutzende Male gelesen hat. Für gewöhnlich benötigt er keine Erinnerung. Für gewöhnlich ist er von preußischer Pünktlichkeit. Und selbstverständlich beantwortet er normalerweise jeden Brief sorgsam und ohne viel Zeit verstreichen zu lassen.

Aber auch dieses Erinnerungsschreiben liegt bereits seit über einer Woche hier. Erneut erinnere man ihn, heißt es weiter darin, den bereits früher angeforderten Beitrag zu der Broschüre «Bekenntnis zum Führer» zu liefern.

 

Max Planck sitzt am Schreibtisch des Gästezimmers eines Gutshauses in Rogätz, dem kleinen Dorf in der südlichen Altmark, fern seiner Berliner Heimat. Und weiß nicht mehr weiter. Zum Führer bekennen soll er sich. Dabei hat er das noch nie getan. Ein Freund des Nationalsozialismus ist er von Anfang an nicht gewesen.

Er sieht aus dem Fenster. Vor ihm erstreckt sich der weitläufige Park, der das Gutshaus umgibt. Mächtige Linden und Ahornbäume, rechter Hand die Gutskirche, mit ihrem aus Feld- und Granitsteinen erbauten massigen Turm. Auf der Straße vor dem Torhaus spielen ein paar Kinder. Es ist später Nachmittag, die Sonne steht bereits sehr tief. Auch wenn es heute recht warm ist, macht sich der Herbst allmählich bemerkbar.

 

Erwin sitzt inzwischen im Gefängnis. Gottlob, im Gefängnis!

Dass man dafür einmal dankbar sein würde, hätte er sich auch nie träumen lassen. Aber nach acht Wochen Ravensbrück, nach acht Wochen Konzentrationslager, da ist man als Vater erst einmal in höchstem Maße erleichtert, wenn man erfährt, der Sohn sei in die Justizvollzugsanstalt Tegel verlegt worden. Schließlich hört man so einiges, wie es in den Konzentrationslagern zugehen soll.

Hochverrat wirft man seinem Sohn vor. Beteiligung an den Machenschaften des 20. Juli. Am Versuch, «den Führer seiner verfassungsgemäßen Gewalt zu berauben». Sagen sie.

Ein Haftbefehl liegt immer noch nicht vor. Aber den braucht man in diesem Land schon länger nicht mehr. Leute, die es wissen müssen, haben ihm vorsichtig zu verstehen gegeben, man müsse mit dem Schlimmsten rechnen. Seitdem versucht er, alles in seiner Macht Stehende zu unternehmen, um seinen Sohn zu retten. An das Reichssicherheitshauptamt, zu Händen des Reichsführers Himmler, hat er einen Brief geschrieben. Er könne sich nicht vorstellen, dass Erwin irgendetwas mit den Geschehnissen des 20. Juli zu tun habe. Er sei auf seinen Sohn angewiesen. Sein Leben lang habe er sich bemüht, nur für seine Wissenschaft und seine Ehrenämter da zu sein und eben auf diese Weise dem Vaterland zu dienen. Er bitte darum, sich in seine Lage zu versetzen.

Maria, die Schwester von Erwins Ehefrau Nelly, hat gleichzeitig an eine Freundin geschrieben, die Himmlers Frau kennt. Sie hatten sich beim Roten Kreuz kennengelernt. Frau Himmler möge doch bitte ihren Mann auf das Gesuch von Max Planck aufmerksam machen.

Das Ergebnis war ernüchternd gewesen. Vor drei Wochen erhielt er einen kurzen Antwortbrief von einem Adjutant Schlauch: Die Belastung seines Sohnes Erwin sei so groß, dass eine Entlassung nicht möglich sei.

Drei Wochen ist Erwin nun schon in Tegel. Wenn man seinem letzten Brief Glauben schenken darf, scheint es ihm recht gut zu gehen. Aber vielleicht will er seinen alten Vater nur schonen? Will vermeiden, dass er sich allzu große Sorgen macht?

Bis zum Machtwechsel ist sein Sohn in der Politik tätig gewesen, als Staatssekretär der Reichskanzlei. Die rechte Hand des Kanzlers sozusagen, das ist Erwin gewesen. Unter Schleicher und Papen, den letzten Kanzlern der Weimarer Republik. Und auch schon zuvor, als persönlicher Sekretär von Heinrich Brüning. Bevor Hitler an die Macht gekommen ist, haben sich die Staatslenker in der Reichskanzlei ja quasi die Klinke in die Hand gegeben. Er selbst hat daher anfangs gedacht, auch die Episode Hitler werde nur von kurzer Dauer sein. Aber da hat er sich getäuscht.

 

Er blickt auf das Schreiben vor sich. Ein Bekenntnis zum Führer? Ausgerechnet von ihm? Eigenartig. Noch nicht einmal ein Jahr ist es her, das kommt ihm jetzt in den Sinn, da hat man ihn für seine Verdienste mit der Goethe-Medaille auszeichnen wollen. Dann war die Verleihung allerdings abgesagt worden. Auf Umwegen hat er schließlich erfahren, es gebe Bedenken vonseiten des Reichspropagandaministeriums. «Weil Planck sich bis in die letzte Zeit hinein für den Juden Albert Einstein eingesetzt habe», hat es geheißen. Als «weißen Juden» haben sie ihn, Planck, beschimpft.

Er sieht aus dem Fenster. Die Mauersegler, die den ganzen Sommer hindurch um und über das Gebäude geflogen sind, sind alle verschwunden. Seit ein paar Tagen hat er auch keine Mehlschwalben mehr gesehen. Das Laub des wilden Weins, der die Gutsmauer hochrankt, beginnt sich bereits rot zu färben.

 

Auch sein Freund Albert Einstein hatte das Ausmaß der Katastrophe von Anfang an vorhergesehen und allen verkündet, in seiner unverblümten, direkten Art. Einer Art, die es ihm und seinen Kollegen in der aufgeheizten antisemitischen Stimmung nach Hitlers Regierungsantritt unmöglich gemacht hatte, weiter für Einstein einzustehen. Froh war er gewesen, dass Einstein schließlich selbst den Entschluss gefasst hatte, aus der Akademie auszutreten, er hatte ihn gar darin bestätigt. Denn den Freund eines Tages aus der Akademie ausschließen zu müssen, das hätte er nicht übers Herz gebracht. Gut elf Jahre ist das her. Einstein ist seitdem fort. Nie wieder ist er nach Deutschland zurückgekehrt.

Stattdessen forscht und lehrt er jetzt in Princeton, einem kleinen Universitätsstädtchen an der Ostküste der Vereinigten Staaten von Amerika.

 

Der Termin für die Schlussredaktion ist auf den15. Oktober festgesetzt worden, und ich wäre Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, wenn Sie mir Ihre Entscheidung über Ihre Mitarbeit beziehungsweise Ihren Beitrag in nächster Zeit zugänglich machen würden, heißt es im Brief.

6. Oktober steht auf dem kleinen Drehkalender neben dem Tintenfass vor ihm auf dem Schreibtisch. 23. September lautet das Datum oben auf dem Brief. Allmählich muss er eine Antwort finden. Letzte Woche hat er erfahren, dass sie den Diplomaten Ulrich von Hassell hingerichtet haben. Auch ein Freund von Erwin. Zwei Stunden nachdem er vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt wurde. Schockierend, wie schnell es gehen kann. Vor wenigen Tagen wurde auch Wilhelm Leuschner gehängt, der ehemalige hessische Innenminister. Seit dem 20. Juli finden mehrmals die Woche Hinrichtungen statt. Und augenscheinlich schreckt man vor nichts mehr zurück.

Heil Hitler! steht unter dem Brief, der beharrlich auf eine Antwort wartet.

 

Letztes Jahr, zu seinem fünfundachtzigsten Geburtstag, hat ihm Hitler ein Telegramm mit Glückwünschen geschickt. Völlig überraschend. Pflichtgemäß hat er sich mit einem Zweizeiler dafür bedankt. Es war der erste Kontakt seit einer kurzen persönlichen Begegnung im Mai 1933. Damals stattete er in seiner Eigenschaft als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, wie es so üblich war, dem neuen Reichskanzler einen Antrittsbesuch ab. Auch, um über die jüdischen Kollegen zu sprechen. Hitler war erst wenige Monate im Amt gewesen, und doch hatte er das Land bereits tiefgreifend verändert. Mit dem Ermächtigungsgesetz hatte er die Gewaltenteilung aufgehoben, mit dem wenige Wochen zuvor erlassenen «Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums» wurden Plancks jüdische Freunde und Kollegen aus ihren Ämtern gedrängt.

Selbst die Alte Reichskanzlei hatte plötzlich ganz anders auf ihn gewirkt. Das Gebäude war ihm bestens vertraut. Als oberster Vertreter der deutschen Wissenschaft hatte er in den Jahren zuvor so manche Einladung hierher erhalten. Und auch Erwin hatte er hier häufig besucht, denn schließlich war dies nicht nur der Arbeitsplatz seines Sohnes gewesen, als Staatssekretär hatte Erwin auch eine stattliche Dienstwohnung in dem ehrwürdigen Gebäude bewohnt.

Nun aber leuchtete alles rot. Nicht nur die Reichskanzlei, die ganze Wilhelmstraße versank in einem Meer von Hakenkreuzfahnen. Ein SS-Mann hatte ihn in Bismarcks früheres Arbeitszimmer geleitet, das man jetzt als «Rauchsalon» bezeichnete, und ihm einen Sessel zugewiesen. Dort saß er geduldig wartend und starrte an die dunkle hölzerne Kassettendecke.

Auf den ersten Blick sah alles aus wie früher. Nur über dem Kamin prangte nun ein großer Reichsadler, der ein mit Eichenlaub umkränztes Hakenkreuz in seinen Klauen hielt. Reichlich fehl am Platz wirkte der monströse Vogel in diesem Raum. Geradezu albern sah er aus. Irgendwann hatte er einen Blick auf seine Taschenuhr geworfen: Mit der preußischen Pünktlichkeit war es offenbar vorbei. Er musste an den «alten Herrn» denken, wie sein Sohn den Reichspräsidenten Hindenburg genannt hatte. Nie hätte der Reichspräsident einen Gast auch nur eine Minute warten lassen, er war durch und durch Soldat, Disziplin und Pünktlichkeit sein oberstes Gebot. Damals war er schon lange greis und krank. Und obgleich er sich angestrengt bemüht hatte, sein Amt im Sinne des Volkes weiterzuführen, war er längst nicht mehr voll auf der Höhe, wie Erwin immer wieder betont hatte.

Als sich endlich die andere Tür öffnete und Hitler aus dem Damensalon eintrat, schlug ihm eine Wolke herb-süßlichen Parfums entgegen. Nie zuvor hatte er einen Mann getroffen, der derart viel Parfum verwendete. Mit verkniffenem Gesicht reichte der Führer ihm knapp die Hand, und er spürte instinktiv, dass dieser Besuch sehr anders als vorherige Antrittsbesuche verlaufen würde.

Schon damals war er mit fünfundsiebzig Jahren ein betagter Mann gewesen. Aufgrund seiner Reputation und seiner gesellschaftlichen Stellung war er es gewohnt, dass man ihm zumindest aufmerksam Gehör schenkte.

Nach ein paar einleitenden Worten versuchte Planck vorsichtig, auf die zahlreichen Verdienste seiner jüdischen Kollegen zu verweisen. Legte dar, dass wertvolles Wissen dem Ausland zugutekäme, wenn man seine Kollegen zur Emigration nötige. Ganz bewusst hob er Fritz Haber hervor: Haber, der im Weltkrieg an vorderster Front gekämpft hatte und ein deutscher Patriot war. Haber, ohne dessen Verfahren zur Gewinnung von Ammoniak aus dem Stickstoff der Luft der Krieg von Anfang an verloren gewesen wäre.

Aber der Führer war ihm jäh ins Wort gefallen, hatte nur die schlimmsten Allgemeinplätze vor sich hin geschimpft und ging auf weitere vorsichtige Argumente Plancks nicht mehr ein. Stattdessen redete er sich derart in Rage, dass Planck nichts übrig blieb, als zu verstummen und unverrichteter Dinge wieder von dannen zu ziehen. Wobei der Duft des Führers an ihm haften blieb. Selbst nachdem er sich zu Hause gründlich die Hände gewaschen hatte, hatte er den penetranten Geruch des Parfums Stunden später immer noch wahrnehmen können.

Zutiefst deprimiert berichtete er Werner Heisenberg von seinem Treffen. Und schon damals ahnte er, dass diese Regierung zu einem entsetzlichen Unglück für Deutschland führen werde. Einem Unglück, dem er machtlos gegenüberstand.

«Was jetzt geschieht, ist wie eine Lawine, die den Berg herunterrast, da kann sich kein Einzelner dagegenstellen», meinte er zu Heisenberg. «Man muss warten, bis sie unten angekommen ist. Dem Einzelnen bleibt im Augenblick nur die Wahl, auszuwandern oder das Unglück mitzuerleiden.»

Und dann bekniete er Heisenberg, Erwin Schrödinger und sämtliche nichtjüdischen Kollegen, mit ihm hierzubleiben. Und auszuhalten.

 

Draußen dämmert es bereits. Die spielenden Kinder vor dem Torhaus sind verschwunden. Im Park singt eine einsame Amsel.

Dass man etwas unternehmen muss, hat Erwin in den letzten Jahren immer wieder gesagt. Dass wir Deutschen große Schuld auf uns geladen haben. Schreckliche Dinge, von denen er bei seinen Reisen an die Front erfahren hat. Und zuletzt hatte er gemeint, dass es nicht mehr lange dauern wird. Bis der Spuk vorüber ist. Mit der Dämmerung färbt sich das Weiß des Briefpapiers in ein fades Grau. Die Buchstaben vor seinen alten Augen beginnen zu verschwimmen. Er könnte das elektrische Licht einschalten. Lässt es aber bleiben.

Schließlich nimmt er die Brille ab. Reibt sich die Augen. Ein Revoluzzer ist er nie gewesen. Zumindest nicht freiwillig. Sicher, vor fast einem halben Jahrhundert hat er die Welt der Physik revolutioniert, mit seiner Quantentheorie. Aber es ist alles andere als sein Wunsch gewesen, das bestehende physikalische Denken komplett auf den Kopf zu stellen. Ganz im Gegenteil, lange hatte er sogar gehofft, einen Fehler in seinem Denken als logische Erklärung für seine Experimente zu finden.

Das Leben hält für die Menschen Aufgaben bereit. Und man bekommt nicht immer die, um die man sich beworben, die man sich gewünscht hat. Weiß Gott nicht.

 

Langsam erhebt er sich und tritt aus dem Zimmer. Das Parkett knarzt unter seinem schlurfenden Schritt. Als er die Flügeltür des gegenüberliegenden Salons öffnet, fällt sein Blick auf das Grammofon. Ob er Brahms befragen sollte? Aber Brahms ist zu emotional, Brahms geht direkt ins Herz. Brahms kann man in physikalischen Fragestellungen konsultieren. Wenn man hingegen in einer Herzensangelegenheit einen kühlen Kopf bewahren muss, ist er der falsche Ratgeber.

Resigniert wendet er sich ab.

Schlaraffenforscher

6. Oktober 1944, Zürich

Vor der Tür des Gemeinschaftsraumes von Trakt B kommen sie zum Stehen. Der Wärter sieht durch das in die Tür eingelassene Glasfenster.

«Einstein forscht», meint er schulterzuckend und wirft seinem Begleiter, einem jungen Volontärarzt, der erst vor drei Wochen im Burghölzli seinen Dienst aufgenommen hat, einen süffisanten Blick zu.

«Für gewöhnlich möchte er da nicht gestört werden», erklärt der Wärter. «Also, beim Forschen und beim Klavierspielen, da kann er recht ungemütlich werden …»

Er sieht seinen Begleiter abwartend an. Der junge Arzt wischt sich nervös über die schwitzende Stirn.

 

Drinnen, an einem der großen Tische über Bücher und einen Berg Zeichnungen gebeugt, sitzt eine leicht untersetzte Gestalt und raucht. Und denkt nach. Wenn Kammerer wirklich recht hätte, dann wäre alles möglich. Alles hängt miteinander zusammen.

Liebevoll streicht der Mann mit dem wilden Lockenkopf über das Buch, das vor ihm liegt. Langsam fährt er mit den Fingern die Konturen der auf dem Buchdeckel eingeprägten Buchstaben nach: «Paul Kammerer» prangt dort in goldenen Lettern.

Trudi, die Bibliothekarin im Burghölzli, die sich für etwas Besseres hält, dabei ist sie doch selber nur Patientin, hat es ihm dankenswerterweise ausgehändigt. Für ein paar Zigaretten. Käuflich sind sie ja alle. Der Trudi wird er noch einen Tabakbaum züchten. Er grinst.

Dass Kammerer ein großartiger Forscher war, ein «Faszinosum», das hatte selbst sein Vater, der Allwissende, behauptet. Diese Drecksau.

Drecksau. Drecksau.

Aber dem würde er es schon noch zeigen. Mit Kammerer. Paul Kammerer hatte es geschafft, die unterschiedlichsten Amphibien in Gefangenschaft fortzuzüchten, und das unter künstlich erzeugten widrigen Bedingungen: Er hatte Alpensalamander, die im Laufe der Evolution ihre Fortpflanzung an ein Leben an Land angepasst hatten, zurück ins Wasser gezwungen. Er hatte Blinde das Sehen gelehrt: Grottenolme – eigenartig anmutende, augenlose, blasse Schwanzlurche, die in dunklen Höhlen ihr verborgenes Dasein fristen – hatte er ans Licht geholt. Hatte mit ihnen experimentiert, bis sie, unter der Einwirkung von künstlichem Rotlicht, tatsächlich funktionstüchtige Augen ausgebildet hatten.

Und nicht nur das, Kammerer hatte auch nachgewiesen, dass diese neu erworbenen Mutationen an die folgenden Generationen vererbt wurden. Das einzige Manko war: Wissenschaftliche Neuentdeckungen gehen erst in die Geschichte ein, wenn die entsprechenden Experimente von anderen Wissenschaftlern erfolgreich wiederholt werden.

Aber Salamander sind keine weißen Mäuse. Ihre Nachzucht in Gefangenschaft gelingt selten. Noch seltener unter widrigen Bedingungen, und wenn, dann braucht der Nachwuchs vier Jahre, bis er wiederum selbst geschlechtsreif ist und die nächste Generation gezüchtet werden kann. Diese Mühe konnte oder wollte sich niemand machen. Die Darwinisten hielten Kammerer sowieso für einen Betrüger. Anfangs als aufgehender Stern am Wissenschaftshimmel gesehen, waren er und seine Versuche nach seinem Selbstmord vor einigen Jahren schnell in Vergessenheit geraten.

 

Aber er, genüsslich zieht er an seiner Zigarette, würde Kammerer wieder zum Leben erwecken. Er bläst einen großen Kringel in die Luft, der, sich langsam ausbreitend, höher steigt, bis der wabernde Qualm sich in der Tiefe des Raumes verliert.

Alles hängt miteinander zusammen. Man müsste nur ein paar entsprechende Mutanten züchten. Die vielversprechendsten untereinander kreuzen, und allmählich könnte man sich beispielsweise zu Hühnern hocharbeiten, die Eier mit drei Dottern legen. Oder Kühe mit zwei Eutern. Obstbäume, die kein Blattwerk, sondern nur mehr Früchte tragen. Überhaupt Bäume. Was die alles tragen könnten. Warum nicht gar Schlaraffenbäume züchten? Mit Früchten wie Brotlaibe?

Der Vater, der Allwissende, hatte ihm mal erklärt, Fritz Haber habe Tausenden von Menschen das Leben geschenkt, weil durch den modernen Stickstoffdünger, dessen Herstellung auf Habers Ammoniaksynthese beruhe, das immense Wachstum der Weltbevölkerung überhaupt erst möglich sei. Aber ein richtiges Schlaraffenland, das war dem Haber nicht gelungen. Doch dazu würde er nun antreten.

Und da werde der Vater, die Drecksau, dann schon Augen machen. Im fernen Amerika. Wenn er irgendwann in einer der schreiend bunten amerikanischen Illustrierten lesen würde, was sein Sohn, der junge Einstein, in der kleinen, feinen Schweiz entwickelt hätte. Da würde der dann nicht mehr denken, es sei ein Frevel gewesen, ihn zu zeugen. Da würde der Vater stolz sein. Richtig stolz.

 

«Herr Einstein?»

Ein Mann im weißen Kittel steht in der Tür. Der Mann hüstelt gekünstelt und wedelt den Rauch beiseite.

«Zeit für Ihre Behandlung.»

Neuerdings wird im Burghölzli auch mit Strom behandelt. Er stellt es sich angenehmer vor als die Kaltwasserbehandlungen, die er die letzten Wochen hat über sich ergehen lassen. Erst recht angenehmer als die Insulinschocktherapie. Das will er nie wieder erleben müssen. Da läuft es ihm, schon bei dem Gedanken, jetzt noch kalt über den Rücken.

Franz, sein Arbeitskollege, meint jedoch, die Strombehandlung sei sehr schmerzhaft. Aber was soll man schon auf Franzens Gerede geben? Franz ist verrückt. Trotzdem ist ihm unwohl, als er gehorsam die Zigarette im Aschenbecher ausdrückt und zögernd dem neuen Arzt und dem Wärter folgt.

Fliegeralarm

6. Oktober 1944, Rogätz

Es klopft an der Tür.

«Herein», ruft er mit seiner hellen, etwas brüchigen Stimme.

Fräulein Frieda öffnet und sieht ihn verwundert an.

«Wünschen Sie kein Licht, Herr Geheimrat? So kann doch kein Mensch arbeiten.»

«Da haben Sie recht», stimmt er ihr aus der Dunkelheit zu.

Das Hausmädchen lächelt irritiert.

«Das Abendessen ist fertig, Herr Geheimrat», erwidert sie schließlich und verschwindet.

 

Als er vorsichtig die dunkle Holztreppe hinabsteigt, hält er sich am Handlauf fest. Man muss aufpassen, dass man nicht über die Läufer stolpert. Unten angekommen, fällt sein Blick auf das Ölgemälde, das neben der Garderobe hängt: Ein Porträt des Hausherrn, des Unternehmers Carl Still, der ihm und seiner Ehefrau Marga freundlicherweise seit einem Jahr hier Quartier gewährt.

Zunächst war es eine reine Vorsichtsmaßnahme gewesen. Wegen der ständigen Fliegerangriffe auf Berlin. Anfangs hatten sie es gar nicht für nötig befunden, aber Erwin hatte sie schließlich überredet, das Angebot des befreundeten Still anzunehmen.

Es würde nicht für lange sein, hatte Erwin gemeint. Der Krieg wäre bald vorbei. Zumindest was die Vorsichtsmaßnahme angeht, hat Erwin recht behalten: Anfang des Jahres ist ihr Berliner Zuhause bei einem Bombenangriff komplett zerstört worden. Das Mobiliar, seine geliebte Bibliothek mitsamt seinen Tagebüchern und seiner Korrespondenz sind vollständig verbrannt. Die wenige Habe, die sie nach Rogätz mitgenommen hatten, ist alles, was ihnen geblieben ist.

Das Gutshaus, hoch über der Elbe gelegen, kennt er bereits seit Jahren. Carl Still hat ihn und viele seiner Kollegen schon häufig hierher eingeladen. Mit Max Born, Richard Courant und Albert Einstein war er hier. Born referierte über seine gemeinsame Arbeit mit Robert Oppenheimer an einer Näherung zur Vereinfachung der Schrödingergleichung von Systemen aus mehreren Teilchen. Richard Courant hielt einen Vortrag über die Eigenwerte bei den Differenzialgleichungen der mathematischen Physiker. Anschließend haben sie bis tief in die Nacht debattiert. Still, der selbst kein Wissenschaftler ist, sondern lediglich begeisterter Hobbyphysiker, saß häufig nur staunend dabei. Vermutlich verstand er nicht viel. Aber er versuchte, einige physikalische Erkenntnisse in seinen unternehmerischen Tätigkeiten im Kokereigeschäft umzusetzen, und offenbar mit Erfolg.

Zu später Stunde musizierte man häufig gemeinsam. Dann setzte er sich mit Still an den Flügel, und sie spielten vierhändig. Begleitet von Einstein auf seiner «Lina», wie er seine Violine liebevoll nannte, die auf keiner seiner Reisen fehlen durfte.

Nun sind sie alle fort: Born, Courant, Einstein. Aufgrund ihrer jüdischen Abstammung bereits vor Jahren emigriert. Mit Still hat er bis vor Kurzem noch anregende Gespräche geführt, aber leider musste der gute Still vor ein paar Tagen zurück nach Recklinghausen fahren, wo er sich um sein Unternehmen kümmern muss.

 

«Max, wo bleibst du?»

Marga hat ihn im Flur entdeckt. Offenbar ist sie von ihrem Ausflug zum Gutsverwalter zurückgekehrt. Unter der Hand hat sie Speck und geräucherte Wurst besorgt, die sie nach Berlin schicken wollen. Irgendein Weg wird sich schon finden lassen. Anders als in der Großstadt bekommt man hier mitunter noch einiges auch ohne Lebensmittelmarken.

Kurz darauf nehmen sie gemeinsam mit dem Hausmädchen und Frau Albert, der Küchenhilfe, an dem großen Esstisch im Wohnzimmer Platz. Etwas verloren fühlt man sich, zu viert an einer Tafel, an der locker eine Gesellschaft von fünfzehn Leuten sitzen könnte. Dass das Personal mit ihnen isst, darauf haben sie von Anfang an bestanden. Sonst wäre es noch seltsamer, zu zweit an diesem riesigen Tisch.

«In diesen Zeiten muss man zusammenhalten», hat Marga gemeint, «da kann es nicht schaden, wenn wir alle ein wenig zusammenrücken.»

Jetzt spricht sie das Tischgebet, und anschließend beginnt man zu essen. Kohlsuppe mit weißen Bohnen gibt es, und da Marga beim Gutsverwalter erfolgreich war, sogar mit etwas Speck.

Im selben Moment, als die hölzerne Wanduhr schlägt, ertönt die aufheulende Sirene des Fliegeralarms. Das Hausmädchen und Frau Albert springen erschrocken auf, Max und Marga bleiben sitzen und essen ungerührt weiter.

«Herr Geheimrat», ruft Fräulein Frieda mit gerötetem Gesicht, «die Flieger kommen! Wir müssen in den Keller!»

Max Planck hebt nur kurz den Kopf: «Zuerst esse ich auf.»

 

Als Marga kurz darauf die großen Flügeltüren des Esszimmers öffnet und sie beide auf die Terrasse treten, steht der Mond immer noch recht voll am Himmel. Vor vier Tagen erst war Vollmond, das Mondlicht spiegelt sich in dieser sternenklaren Nacht in der Elbe, die am Fuße des Steilhangs Richtung Hamburg strömt. Windstill ist es, der Fluss vor ihnen schwarz und spiegelglatt. Nur an der Stelle rechter Hand, an der die Ohre in die Elbe mündet, brechen ein paar zarte Wellen die Oberfläche.

Die Verdunkelungsaktionen sind längst auch in der beschaulichen Altmark angekommen, die Fenster überall mit Decken verhängt oder mit Verdunkelungspapier beklebt. Kaum ein Licht ist in der Ferne zu sehen, der Schein des Mondes und der Sterne sorgt für den gespenstisch schönen Ausblick.

Von der Straße her hört man das auf- und abschwellende Jaulen der Luftschutzsirenen. Donnernd ziehen die Fliegerverbände über den wolkenlosen Himmel.

«Bombenwetter», sagt er leise und greift nach Margas Hand.

«Die sind nicht für uns bestimmt», erwidert Marga, «sie fliegen Richtung Berlin.»

Von der Freiheit in verschlossenen Räumen

6. Oktober 1944, Berlin-Tegel

Die Welt ist ein Paradox. Und alles ist möglich.

Dass man ausgerechnet in der Enge dieses winzigen Raumes die Weite der Welt erfassen könne! Dass man, eingesperrt in einer kleinen Gefängniszelle, Freiheit erleben könne, das hätte er nie gedacht. Er sieht seinen Vater vor sich, milde lächelnd. Vater, der immer sagt, man müsse alles für möglich halten, nur dann sei einem der Blick unter die Oberfläche, in die Tiefe des Lebens vergönnt.

Die Möglichkeiten seien schier unbegrenzt. Die Welt sei unbegrenzt.

Dass dem wirklich so ist, hat sich ihm erst in jüngster Zeit so recht erschlossen. Seltsam, denkt Erwin, dass er ausgerechnet an diesem finstersten Ort derart helle Momente erleben darf. Eine eigenartige Ruhe und Gelassenheit erfüllt ihn. Das «Totenhaus» nennen sie diesen Ort. Und wenn man als lebender Toter im vierten Stockwerk des Verwahrhauses I der Justizvollzugsanstalt Tegel in seiner Zelle sitzt, seine Hinrichtung erwartend, dann kann einem nichts mehr passieren.

Denn dass sie ihn zum Tode verurteilen werden, davon muss man wohl ausgehen, wenn man die Sache nüchtern betrachtet. All seine Mitstreiter des 20. Juli sind entweder hingerichtet worden oder warten, wie er, auf ihre Verhandlung vor dem Volksgerichtshof. Das Ergebnis ist in der Regel dasselbe: Wer in Verdacht steht, mit dem Attentat auf den Führer und den Plänen eines darauffolgenden Umsturzes des Systems auch nur annähernd etwas zu tun zu haben, muss mit dem Tod durch den Strang rechnen. Da macht Roland Freisler, der berühmt-berüchtigte Präsident des Volksgerichtshofes, in der Regel keine Ausnahme. Berühmter Vater hin oder her.

Aber eigenartigerweise kann einem dieser unverstellte Ausblick auf den bevorstehenden Tod neue Kräfte verleihen. In den letzten zehn Wochen hat Erwin bereits eine kleine Odyssee hinter sich gebracht: Erst kam er ins Zellengefängnis Lehrter Straße, von dort brachte man ihn regelmäßig zu den meist nächtlichen Verhören in die Gestapo-Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße. Anfang August ist er dann in das Konzentrationslager Ravensbrück verschoben worden, wo er auf einige Bekannte aus dem Widerstand traf. Vor drei Wochen hat man ihn schlussendlich nach Tegel überstellt. Und auch wenn sein Kamerad Helmuth Moltke sagt, dass aus dem Totenhaus niemand lebendig herauskommt, ist das hier, im Vergleich zu den letzten Wochen, eine deutliche Verbesserung.

Auch hier bewohnt er eine Einzelzelle. Kontakt zu Mithäftlingen soll weiterhin streng vermieden werden. Schließlich will die Gestapo noch die ein oder andere Information aus ihnen herausbekommen, Absprachen unter den Gefangenen will man verhindern. Aber hier hat er wenigstens ein bisschen mehr Komfort. Letztens hat er in all der Langeweile seine Zelle mithilfe einer Buchkante ausgemessen, zumindest in etwa. Was man so macht, wenn man nichts machen darf.

Sie mag ungefähr einen Meter achtzig breit sein und zwei Meter achtzig lang. Linker Hand steht ein Klappbett, das aus einem einfachen Brett mit dünner Matratzenauflage besteht, tagsüber muss man es hochklappen. Die dazugehörige Wolldecke stinkt, wenn auch bei Weitem nicht so schlimm wie die Decke in der Zugangszelle, sich mit der zuzudecken hatte er nicht geschafft, obwohl es in der Nacht durchaus frisch wird. An der anderen Wand ein kleiner Tisch mit einem am Boden fest verschraubten Stuhl, auf dem er meistens sitzt. Darüber eine Lampe, die tags und leider auch nachts brennt. Rechts davon ein kleiner Spind für Kleidung sowie zwei Fächer für Zahnputzbecher und Essgeschirr. Daneben steht sein Koffer.

Der Koffer gibt ihm ein in manchen Momenten angenehmes Gefühl von Vergänglichkeit, jede Reise nimmt irgendwann ein Ende. In der gegenüberliegenden Ecke, neben der Tür, steht ein Eimer aus Emaille, der als Toilette dient. Und ein Wasserkrug. An der Stirnseite des Raumes gibt es in zwei Meter Höhe noch ein winziges Fenster. Zu hoch, um hinauszusehen. Aber immerhin kann man sich versichern, dass der Himmel noch da ist.

Unangenehm bleibt, dass man Tag und Nacht Handschellen trägt. Immerhin trägt man sie vorn und wird nachts nicht zusätzlich an die Wand gekettet, wie es in der Lehrter Straße üblich war.

Aber die langen Nächte selbst machen ihm durchaus zu schaffen. Der Nachtverschluss beginnt bereits um achtzehn Uhr, erst morgens um sechs Uhr ist Aufschluss. Dann werden ihm zwecks Körperhygiene und für ein bescheidenes Frühstück die Fesseln kurz abgenommen.

Die einzige Unterbrechung des Zellendaseins ist der mittägliche «Bärentanz», wie sie hier sagen: täglich dreißig Minuten im Freistundenhof im Kreis gehen. Jeder für sich, mit Abstand zu den anderen. Nur wenn Herr Claus Dienst hat, dürfen sie sich dabei leise unterhalten. Herr Claus ist ein «Zwölfender». So nennt man die Beamten, die zuvor mindestens zwölf Jahre als Soldat der Reichswehr gedient haben. Herr Claus ist wie ein Relikt aus alten Zeiten und verfügt noch über die guten preußischen Tugenden.

Eines hat Erwin hier gelernt: Man muss die positiven Dinge sehen. Trotz allen Unglücks. Die Mahlzeiten hier sind zum Beispiel größer, wenn auch kaum besser als im Konzentrationslager. Zumindest hungert man weniger. Das liegt auch an Vater Kunze, wie ihn die Häftlinge nennen. Willi Kunze leitet die Kantine in Tegel und achtet streng darauf, dass das Personal nichts unterschlägt. Dass die Häftlinge auch das Essen bekommen, das ihnen zusteht.

Die Aufseher hier sind, anders als im KZ, normale Beamte, keine SS-Schergen. Natürlich muss man auch hier immer auf der Hut sein. Aber manche Aufseher, wie Herr Claus, sind in erster Linie Menschen. Das war man ja schon gar nicht mehr gewohnt.

Er schmunzelt. Einer hat beim Hofgang heute gesagt, er fühle sich wie «ein Toter auf Urlaub». Es ist eigenartig. Trotz aller Angst, trotz dieses Gefühls, dass jeder Tag der letzte sein könnte, hat auch das etwas Positives: Eigentlich müsste man jeden Tag so leben, in diesem Bewusstsein. Er kann sich nicht entsinnen, sein Leben jemals so bewusst gelebt zu haben wie in den vergangenen Wochen. Nie hat er all die Dinge, die ihm gegeben sind, all das, was er erreicht hat, derart geschätzt. Nie hat er sich über Kleinigkeiten derartig freuen können. Nie hat er eine derart tiefe Demut vor dem Leben verspürt. Eigenartig, dass das dem Menschen erst unter Zwang gelingt. Dass man erst in der Entbehrung den Reichtum entdeckt.

Was ihn allerdings immer wieder aufs Neue und stets am meisten bedrückt, ist die Sorge um die Familie. Wobei das allen hier so geht. Der jüngere Helmuth Moltke, der zwei kleine Söhne hat, teilte ein paarmal in seinen dunklen Momenten diese Ängste mit ihm: Moltkes Angst, seinen Söhnen nie wieder ein Vater sein zu dürfen, sie vaterlos zurücklassen zu müssen in dieser schwierigen Welt, die aus den Fugen zu brechen droht. Seine Angst, dem jüngeren Sohn noch nicht einmal als Erinnerung erhalten bleiben zu können, zu klein ist der Junge mit seinen zwei Jahren bei der Verhaftung des Vaters gewesen. Dazu die Sorge um die geliebte Ehefrau, die sich künftig allein durchs Leben schlagen muss, ohne Mann an ihrer Seite. Stattdessen mit dem schweren Makel der Schande versehen, zumindest in den Augen vieler Deutscher. Nicht zu vergessen die finanziellen Nöte, die den Hinterbliebenen aufgebürdet werden: Das Vermögen der als Verräter Verurteilten fällt in aller Regel dem Staat anheim, nebst eventuell entstandenen Rentenansprüchen.

Was Kinder angeht, hat Erwin etwas leichter zu tragen als sein Kollege. Jahrelang hatten Erwin und Nelly sich nichts sehnlicher gewünscht als Kinder. Aber dieses Geschenk war ihnen nicht vergönnt gewesen, und irgendwann, mit Mitte dreißig, hatte sich Nelly von dem Gedanken verabschiedet. Heute ist er fast froh darum.

Dabei war, ganz unverhofft und völlig anders als gedacht, dann allerdings doch noch ein Kind zu ihnen gekommen, denkt er mit einem Lächeln, ein großes Kind: die damals siebzehnjährige Liesel. Vor fünf Jahren, wenige Monate nach Kriegsbeginn, hatte eine Freundin von Nelly händeringend nach einer Bleibe für ihre kleine Schwester gesucht. Die Mutter konnte sich nicht mehr um sie kümmern, da sie mit Liesels behindertem Geschwisterchen fliehen musste. Und so war Liesel schließlich per Kinderlandverschickung aus dem Rheinland zu ihnen gereist und hatte seitdem bei ihnen gelebt. Es war erstaunlich: In kurzer Zeit waren sie zu einer richtigen Familie zusammengewachsen. Zwar war Nelly in den letzten Jahren durch ihr spätes Medizinstudium, das sie neben ihrer Arbeit als Krankenschwester absolvierte, sehr gefordert gewesen, genau wie er selbst in der Geschäftsleitung der Firma Otto Wolff, und doch hatten sie so viel Zeit wie möglich mit gemeinsamen Unternehmungen verbracht. So hatte sich durchaus noch etwas wie ein spätes elterliches Glück in ihr gemeinsames Leben geschlichen. Diesen Sommer schließlich hatte Liesel, mit kriegsbedingter Verspätung, ihr Abitur machen können, und nun wollte sie wie ihre Ziehmutter Nelly Medizin studieren.

 

Es klopft an seine Zellentür. Unwillkürlich zuckt er zusammen. Seit bestimmt einer Stunde ist er bereits im Nachtverschluss, draußen ist es längst dunkel. Für gewöhnlich öffnet sich die Zellentür um diese Zeit nicht mehr. Aber nun wird der Riegel zur Seite geschoben, ein Schlüssel dreht sich im Schloss, die Tür öffnet sich, und eine große Gestalt erscheint.

«Ich wollte Sie nicht erschrecken», sagt Anstaltspfarrer Poelchau, während er eintritt und die Zellentür sachte hinter sich schließt. «Ich dachte nur, ich übergebe Ihnen noch etwas, bevor ich gehe. Mit besten Grüßen von Ihrer Frau.»

Poelchau zieht einen gefalteten Brief aus dem Ärmel, den er Erwin überreicht.

«Der Besuchsantrag Ihrer Frau ist allerdings abgelehnt worden», fährt der Pfarrer fort, «ebenso der Ihres Herrn Vaters.»

Das war nicht anders zu erwarten gewesen. Besuch erhalten in der Regel nur diejenigen Häftlinge, die dringend Geschäftliches zu besprechen haben. Wenn es denn reichswichtige Geschäfte sind. Darunter wäre er sogar gefallen, mit seiner Tätigkeit bei der Firma Otto Wolff, wo man ja sogar Aufträge für Hermann Göring abwickelte. Aber unter den gegebenen Umständen hat die Firma ihm vor fünf Wochen ein Entlassungsschreiben geschickt.

Vaterlandsverräter sind schädlich für das Geschäftsklima.

«Kann ich sonst noch irgendetwas für Sie tun?»

Wie ein Geschenk scheint ihm dieser Mann. Auf den ersten Blick sieht Harald Poelchau aus wie ein Deutscher aus dem Bilderbuch, mit seiner schlanken, groß gewachsenen Gestalt, dem blonden Haar und den leuchtend blauen Augen. Vielleicht ist sein Aussehen das Geheimnis, warum ihm niemand auf die Schliche kommt, warum er seit Jahren unentdeckt Kassiber an verschiedene Häftlinge aus der Opposition und dem Widerstand übermittelt oder auch mündliche Botschaften überbringen kann. In seiner Wohnung in der Afrikanischen Straße, unweit des Volksparks Rehberge im Wedding, empfängt Poelchau regelmäßig Nelly und einige andere Ehefrauen der inhaftierten Widerständler.

«Wenn ich Ihnen vielleicht mal wieder bei der Gartenarbeit behilflich sein dürfte», erwidert Erwin, «das würde mich sehr freuen!»

Der Pfarrer verfügt über einen kleinen Dienstgarten im vorderen Bereich der Anstalt, nicht weit vom großen Eingangstor gelegen. Üppig bepflanzte Staudenbeete, umrahmt von einer Himbeerhecke und Johannisbeersträuchern. In der Mitte ein großer Apfelbaum, Gravensteiner, dessen gelbe, rot geflammte Früchte bereits reif sein müssten. Poelchau hat das Recht, für die Gartenarbeiten Gefangene zu bestellen. Und ein Arbeitseinsatz im Garten des Pfarrers ist jedem von ihnen eine allzeit willkommene Abwechslung. Hier, im Schatten der Anstaltsmauer vor lästigen Blicken und lauschenden Ohren geschützt, kann man ein offenes Wort wechseln. Hier kann man all den sorgenvollen Gedanken des Gefängnisalltags für ein paar Stunden entfliehen.

«Es gibt durchaus ein paar Dinge zu tun», entgegnet Poelchau gutmütig, «das werde ich gleich morgen beantragen.»

Als er sich verabschieden will, heult draußen die Luftschutzsirene auf. Ein lang gezogener, auf- und abschwellender Ton, der durch Mark und Bein geht. Das ist keine Vorwarnung, das ist Vollalarm, so viel wissen sie beide. Schon hört man hastige Schritte auf dem unteren Flur, Geklimper der Schlüssel, eine Zugangstür fällt ins Schloss.

«Ich muss mich auf den Weg machen.» Poelchau berührt zum Abschied sachte Erwins Schulter, «Gott beschütze Sie.» Er wirft ihm noch einen tröstenden Blick zu, ehe er die Zellentür hinter sich verschließt und mit einem hastigen Knall den Riegel vorschiebt. Kurz darauf hört Erwin Stimmen auf dem Flur, die sich rasch wieder entfernen. Vom Hof kommen Rufe der Aufseher, irgendwo in einem der unteren Stockwerke schreit ein Häftling. Bei vergangenen Fliegeralarmen haben sich die Aufseher die Mühe gemacht, die Gefangenen aus dem obersten Stockwerk auszuquartieren und auf die Zellen im Erdgeschoss zu verteilen. Zu zweit hatte man die restliche Nacht verbracht, was einem das Gefühl von ein wenig Gemeinschaft gab. Zu zweit ließ sich das Gefühl vollkommener Ohnmacht, gefesselt im verschlossenen Raum dem Bombenhagel ausgeliefert zu sein, deutlich besser ertragen. Inzwischen hat man offenbar beschlossen, diesen zusätzlichen Aufwand einzusparen, und so hört er nur das sich entfernende Getrappel der Aufseherschritte auf ihrem Weg in den Bunker.

 

Schnell entfaltet er den Brief, den er noch in Händen hält. Nichts richtet ihn innerlich derart auf wie ein paar Zeilen seiner Frau. Von ihrer Arbeit in der Charité schreibt sie. Dass Liesel sie manchmal begleiten darf. Und dass sie die letzten Tage etwas mehr Schlaf gefunden hat, wegen der wenigen Alarme.

Wenn die Flieger kommen, das sind die Momente, in denen seine Frau ihn am meisten vermisst. Dann gerät sie häufig in Panik, während es ihm gewöhnlich gelingt, ruhig zu bleiben. Vermutlich aufgrund seiner Erfahrungen als junger Soldat im Weltkrieg. Als er gezwungenermaßen lernen musste, auch in gefährlichsten Momenten besonnen zu bleiben, selbst wenn rund um ihn die Kameraden fielen.

«All meine Gedanken umgeben Dich stets», schreibt Nelly. «Du musst es ja merken, wie lieb ich Dich habe. Wie schön wird es, wenn Du erst wieder bei mir sein wirst. Gott behüt’ Dich, und gräme Dich nicht um mich, ich bin ja ganz bei Dir, wenn auch nur in Gedanken.»

Und dann hat sie «Grüße von Vater» unten hinzugefügt. Seinem Vater fühlt er sich aufs Engste verbunden. Schon immer hatten sie ein herzliches Verhältnis, das im Laufe der Jahre, mit den zunehmenden Schicksalsschlägen, die seine Familie ereilten, immer stärker wurde. Den Vater, denkt er, darf er nicht im Stich lassen.

In der Ferne vernimmt er das unheilvoll dröhnende Brummen, das seit Monaten Angst und Schrecken verbreitet. Er legt sich auf den Zellenboden, robbt mühsam unter die Pritsche. Ein lachhafter Schutz, denkt er. Dort draußen sitzen die Menschen in Luftschutzräumen und Bunkern, mit Gasmasken oder mit in Essigwasser getränkten Tüchern vor dem Gesicht, gefüllte Wassereimer und Luftschutztaschen bereitgestellt. Nahezu sämtliche Fenster der Stadt sind verdunkelt, oder zumindest hat man die Lichter in den Zimmern gelöscht, die Straßenbeleuchtung überall ausgeschaltet. Nur hier bei ihnen brennt das Zellenlicht erbarmungslos. Jede Zelle erleuchtet, wie ein in die Dunkelheit gegossener Hinweispfeil.

Der Klang der Motoren schwillt an, dann folgen die ersten Einschläge. Hilfeschreie dringen aus den Stockwerken unter ihm, irgendwo tritt ein Gefangener mit Wucht gegen die Zellentür.

Als in unmittelbarer Nähe eine Kette von fürchterlichen Einschlägen erfolgt, zittert das ganze Haus. Putz rieselt neben ihm herab. «Den Mund offen halten», ermahnt er sich immer wieder. Sonst kann die Druckwelle die Lungen zerreißen.

Plötzlich, ohne vorheriges Rauschen, ein gewaltiger Rums, der das Gebäude erschüttert.

Der Zellenboden scheint zu schwanken, die Lampe über dem Tisch flackert nochmals kurz auf, ehe sie erlischt.

Dunkelheit umhüllt ihn.

Das Zusammenleben der Einzelgänger

6. Oktober 1944, Princeton

Hätte Erwin Planck im Alter von neun Jahren keinen Blinddarmdurchbruch gehabt und hätte sein Leben nicht auch nach der Operation noch wochenlang auf der Kippe gestanden, dann hätte der besorgte Vater sich damals vielleicht nicht abgelenkt, indem er einem seiner Lieblingsstudenten, Moritz Schlick, der bei ihm promovierte, besonders viel Aufmerksamkeit schenkte und mit ihm nicht nur über physische, sondern vielmehr über philosophische Fragen eifrig diskutierte. Vielleicht hätte Max Planck dann nicht dieses Feuer für die Philosophie in seinem Schüler entfacht, verbunden mit der Einsicht, dass die Philosophie mit der Physik sehr vieles verbindet, wenn man denn willens und fähig ist, diese Gemeinsamkeiten zu entdecken. Vielleicht wäre Moritz Schlick dann nicht Jahre später Professor für Naturphilosophie an der Universität Wien geworden, als Nachfolger von Ernst Mach. Und hätte nicht den «Wiener Kreis» ins Leben gerufen, zu dem er jeden Donnerstag in das Mathematische Institut einlud, um Grundlagenprobleme der Mathematik und Naturwissenschaften in Verbindung mit der Philosophie zu diskutieren.

Dann hätte Moritz Schlick auch nie einen Studenten namens Hans Nelböck unterrichtet, dessen Promotion er schließlich begleitete und der im Laufe der Jahre einen krankhaften Wahn entwickelte. Einen Wahn, der schlussendlich in einem maßlosen Hass auf seinen Doktorvater gipfelte, so groß, dass er an einem sonnigen Morgen im Juni 1936 auf der Philosophenstiege der Wiener Fakultät einen Revolver aus seiner Jacketttasche zog und Schlick unter den Worten «So, Hund, du verfluchter, jetzt hast du es!» mit vier Kugeln niederstreckte. Moritz Schlick starb noch am Tatort, bevor der Sanitäter eintraf. Dann hätte der junge Kurt Gödel, ein Mitglied ebenjenes Wiener Kreises, der Schlick äußerst verbunden war, auch keinen Nervenzusammenbruch bekommen.

Kurt Gödel hatte wenige Jahre zuvor mit seiner Doktorarbeit die Mathematik in ihre größte Krise gestürzt – ähnlich wie Planck und Einstein einige Jahre früher die Physik –, indem er mit seinem Unvollständigkeitssatz bewies, dass unsere Erkenntnis Grenzen hat. Dass es immer Fragen geben wird, die offenbleiben, weil sie mit logischen Schlussfolgerungen nicht ergründet werden können. In diesem Moment hatte er die Mathematiker der Hoffnung beraubt, dass jedes Problem theoretisch irgendwann rechnerisch lösbar sei.

Und dann hätten die Nazis den Mord an Schlick nicht für sich instrumentalisieren können, indem sie den ermordeten Philosophen, der Sichtweisen vertreten hatte, die nicht ihren Vorstellungen entsprachen, als den eigentlich Schuldigen hinstellten. Und hätte Kurt Gödel zwei Jahre später, nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, nicht seine Dozentur verloren, während man ihn als Vertreter einer «stark verjudeten Mathematik» denunzierte, wäre er wohl nicht in die USA emigriert.

 

So aber spazieren am 6. Oktober 1944 in Princeton, an der nördlichen Ostküste der Vereinigten Staaten, zwei Männer die Straße entlang und unterhalten sich angeregt auf Deutsch: der Jüngere, Ende dreißig, vornehm gekleidet in Hemd, Anzug und Mantel, auf dem Kopf ein eleganter Hut, das Haar mit Pomade sorgsam nach hinten gekämmt.

Der Ältere könnte sein Vater sein: Er ist bereits fünfundsechzig Jahre alt, trägt eine ausgebeulte, sackartige Hose, die offene Jacke gibt den Blick frei auf einen abgetragenen Pullover, und unter der dunklen Wollmütze auf seinem Kopf ragen wilde weiße Locken hervor. Albert Einstein ist eigentlich vor einem halben Jahr vom Institute for Advanced Study in den Ruhestand versetzt worden. Geändert hat sich seitdem allerdings nicht viel. Noch immer hat er sein Büro in Zimmer 209 des Instituts und sitzt täglich an seinen Studien. Auch wenn er, wie er scherzhaft zu sagen pflegt, das Institut nur noch besucht, «um das Privileg zu haben, mit Gödel zu Fuß nach Hause gehen zu dürfen».