Mein Sommer mit Anja - Steffen Schroeder - E-Book

Mein Sommer mit Anja E-Book

Steffen Schroeder

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Beschreibung

Ein heißer Sommer in den Achtzigern. Für Konrad sind alle Sorgen noch fern, vor allem in den großen Ferien. Die verbringt er im Freibad Floriansmühle, immer mit seinem geistig leicht behinderten Freund Holger. Dann liegt eines Tages ein toter Specht unter ihrem Kletterbaum, und daneben steht ein trotziges Mädchen. Anja hat kurze Haare und ist anders als alle Mädchen, die Konrad kennt. Sie ist abgehauen, schläft draußen, in einem Versteck im Park. Eine geheime Freundschaft beginnt. Konrad bringt Anja Essen, hilft ihr, sie treffen sich im Freibad und zu Ausflügen. Als sie ein Zeltlager von Stadtstreichern aufstören und gerade noch davonkommen, begreift Konrad erst, wie eigensinnig und gefährlich Anja wirklich lebt – da ist er längst in sie verliebt. Warum ist Anja von ihrer Familie weg, und was soll daraus werden? Stückweise gibt sie ihre Geschichte preis, doch niemand darf von ihr erfahren, Konrad muss immer mehr lügen, kümmert sich kaum mehr um Holger, bei dem indessen zarte Eifersucht erwacht. Und Konrad muss sich fragen, wohin er selbst eigentlich gehört. Steffen Schroeder erzählt von einem Jungen aus gutbürgerlichen Verhältnissen, einer Freundschaft zu dritt und einem Geheimnis – der Liebe zu einem wilden Mädchen, das mit allen Regeln bricht.

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Steffen Schroeder

Mein Sommer mit Anja

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Ein heißer Sommer in den Achtzigern. Für Konrad sind alle Sorgen noch fern, vor allem in den großen Ferien. Die verbringt er im Freibad Floriansmühle, immer mit seinem geistig leicht behinderten Freund Holger. Dann liegt eines Tages ein toter Specht unter ihrem Kletterbaum, und daneben steht ein trotziges Mädchen. Anja hat kurze Haare und ist anders als alle Mädchen, die Konrad kennt. Sie ist abgehauen, schläft draußen, in einem Versteck im Park. Eine geheime Freundschaft beginnt. Konrad bringt Anja Essen, hilft ihr, sie treffen sich im Freibad und zu Ausflügen. Als sie ein Zeltlager von Stadtstreichern aufstören und gerade noch davonkommen, begreift Konrad erst, wie eigensinnig und gefährlich Anja wirklich lebt – da ist er längst in sie verliebt. Warum ist Anja von ihrer Familie weg, und was soll daraus werden? Stückweise gibt sie ihre Geschichte preis, doch niemand darf von ihr erfahren, Konrad muss immer mehr lügen, kümmert sich kaum mehr um Holger, bei dem indessen zarte Eifersucht erwacht. Und Konrad muss sich fragen, wohin er selbst eigentlich gehört.

 

Steffen Schroeder erzählt von einem Jungen aus gutbürgerlichen Verhältnissen, einer Freundschaft zu dritt und einem Geheimnis – der Liebe zu einem wilden Mädchen, das mit allen Regeln bricht.

Vita

Steffen Schroeder wurde 1974 in München geboren. Nach seiner Schauspielausbildung war er zunächst Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater, dann beim Berliner Ensemble. Er wirkte in Fernsehserien wie «Der Kriminalist», «Bella Block» und «Tatort» sowie in Kinofilmen wie «Der Rote Baron» oder «Keinohrhasen» mit. In der erfolgreichen ZDF-Serie «SOKO Leipzig» spielt er seit 2012 den Polizeioberkommissar Tom Kowalski. Steffen Schroeder lebt mit seiner Familie in Potsdam.

Für U.

Meine Seele bist du, und ich bin die deine,

Zwei Seelen sind wir, und sind doch nur eine.

Nizami, «Leila und Madschnun»

«Vierundvierzig, fünfundvierzig, sechsundvierzig …»

Holger lehnte an der großen Buche, seine Hand über die Augen und gegen die Stirn gepresst, und zählte bis hundert.

Es war ein ungleiches Spiel. Wenn ich ihn suchen musste, fand ich ihn nach wenigen Sekunden, denn fast immer nahm er dasselbe Versteck: Er hockte sich hinter den großen Haselnussstrauch neben dem Schuppen auf dem weitläufigen Grundstück, das sein Wohnhaus umgab. Dort saß er und steckte den Kopf zwischen die Knie, die er zugleich mit seinen Armen umschlang. Ich sah dann gar nicht hin, lief um den Schuppen herum, seinen Namen rufend, und Holger kicherte leise glucksend in sich hinein.

Ich spielte das Spiel immer wieder mit – es machte mir Spaß, ihm eine Freude zu bereiten. Holgers Aufregung, die mit jedem meiner Rufe hörbar anwuchs, indem sein Glucksen immer lauter wurde, erzeugte auch bei mir eine ganz eigentümliche Spannung. So funktionierte das Versteckspiel, das eigentlich gar keines war.

War ich an der Reihe, zog sich das Spiel oft deutlich in die Länge. Meine Verstecke waren immer neu, sorgsam ausgewählt, sodass Holger mich fast nie fand. Nach einer gewissen Zeit geriet er regelmäßig in Panik – was mich ebenfalls reizte. Erst wenn ich spürte, dass er kurz vor dem Verzweifeln war, sein suchendes «Konni?» immer zittriger klang und sich ein wimmernder Unterton hineinmischte, gab ich endlich einen entlarvenden Laut von mir. Wenn Holger mich schließlich fand, war seine Freude überschwänglich: Er fiel mir um den Hals, drückte mich an sich, und ich erlebte jedes Mal aufs Neue das irgendwo wohltuende Gefühl, dass er wirklich Angst um mich gehabt hatte.

Ich weiß nicht mehr, ob ich es aus Langeweile tat oder ob es ein Sich-Ergötzen an diesen echten Emotionen war, dieser, ja, Liebe, die mir entgegenströmte, wenn ich, der Verlorengeglaubte, endlich wiedergefunden war. Auf jeden Fall dehnte ich das Spiel im Lauf der Zeit immer weiter aus, suchte mir Verstecke, in denen mich Holger immer schwerer finden konnte und aus denen heraus ich in eigener Regie bestimmen konnte, wann ich ihn aus der verzweifelten Suche erlösen würde.

«Einundsiebzig, zweiundsiebzig, dreiundsiebzig …» Holger spuckte die Worte an der Buche nun schon laut hervor. Wenn es auf die Hundert zuging, wurde er immer lauter. Ich lief dieses Mal immer noch suchend umher. In meinem Ehrgeiz, unauffindbar zu sein, bahnte ich mir schließlich einen Weg durch Springkraut und Brennnesseln hoch zum Damm des Eisbachs. Natürlich würde Holger dieser verdächtigen Spur heruntergetretenen Unkrauts erst einmal leicht folgen können.

Das Ufer am Eisbach war verwildert. Unten vor dem Damm standen alte Buchen, Eichen, ein paar Ahornbäume. Auf dem Damm oben schossen dünne Ahorntriebe in die Höhe, hier und da kleine Birken, zwischen ihnen wuchsen mächtige Laubbäume. Ich versteckte mich hinter einer alten Weide und starrte in das flaschengrüne Wasser des Bachs, der mit gewohnt kräftiger Strömung vor mir floss.

Holger musste jetzt fertig sein mit dem Zählen. Ob er mir bereits auf den Fersen war? Ich ging in die Knie und lugte vorsichtig hinter dem Stamm hervor, zurück in die Richtung, aus der er kommen musste. Da blieb mein Blick an einem Brombeergebüsch hängen, wenige Meter vor mir. Das Gestrüpp an sich war nicht weiter ungewöhnlich. Ungewöhnlich war das runde Loch am Boden, das mitten in die dornigen Ranken führte. Eine Öffnung, so groß, dass man hindurchschlüpfen konnte. Wie ein dunkles Tor in eine andere Welt, das mich magisch anzog.

Irgendwo in der Ferne hörte ich Holger meinen Namen rufen. Da kniete ich schon auf allen vieren vor dem Loch. Vielleicht ein Wildschweinversteck?

Mein großer Bruder regte sich über die Wildschweine auf, die im Herbst unsere Fußballwiese umpflügten, wenn sie nach etwas zu fressen suchten. Um diese Jahreszeit wagten sie sich für gewöhnlich nicht aus dem Wald heraus. Ich blickte in das holzige Dunkel, lauschte kurz, dann kroch ich hinein. Der Boden war hart, die Dornen hingen über mir.

Nach zwei Metern lichtete sich das Gebüsch. Vor mir lag eine dunkle, lehmige Fläche, nicht viel größer als unsere Speisekammer, auf einer Seite ragte ein schon halb abgestorbener Ahorn aus den Brombeeren, auf der anderen stand eine Eibe. Eines war mir sofort klar und erfüllte mich mit diebischer Vorfreude: Hier würde mich weder Holger noch irgendjemand anders jemals finden.

Plötzlich hörte ich ein hektisches Flattern dicht über mir: Ein Buntspecht landete am Stamm des Ahorns. Majestätisch sah er aus, mit seinem schwarz-weißen Gefieder und dem leuchtend roten Fleck am Hinterkopf. Er saß nur kurz da, dann nahm er mich wahr und flog davon.

Ich legte mich auf den Boden und sah in den wolkenlosen Himmel. Wohlige Ruhe durchströmte mich. Zusammen mit meinem Bruder hatte ich – so lange, bis seine Fußballleidenschaft ihn komplett vereinnahmte – regelmäßig Lager gebaut: kleine Rückzugsorte, die wir für uns hatten. Wobei diese Lager ganz unterschiedlich ausfallen konnten: Manchmal errichteten wir am Ufer des Eisbachs aus trockenen Zweigen, ein paar Brettern und zugeschnitzten Ruten kleine Hütten, ein anderes Mal gruben wir ein tiefes Loch in die Erde, groß wie ein Grab, das wir mit Ästen und Latten bedeckten, und breiteten anschließend zur Tarnung Laub darüber. Im Winter bauten wir aus Schnee große Iglus. In der Regel wurden diese kleinen Behausungen nach einigen Tagen oder höchstens Wochen von anderen Jungs zerstört – eine gegnerische Hütte plattzumachen, das ließ sich kaum einer entgehen.

 

Holger wohnte auf der Straßenseite gegenüber. Er war noch ein Jahr älter als mein Bruder, schon siebzehn, aber kaum größer als ich. Holger hatte dünne schwarze Haare, die sich wie Zuckerwatte anfühlten, und trug eine große silberne Brille mit Doppelsteg, wie ich sie von Helmut Kohl aus der «Tagesschau» kannte.

Ob im Sommer oder Winter, stets lief er mit seinen X-Beinen in schwarzen Cordhosen herum, und darüber trug er ein weißes Polohemd, das nach Weichspüler roch. Wenn er sprach, hörte es sich an, als läge seine Zunge in seinem Mund wie ein lästiger Fremdkörper, den es auszuspucken galt. Und ein bisschen spuckte er auch, oft hingen kleine weiße Spuckefetzen in seinen Mundwinkeln. «Feuchte Aussprache» nannte das mein Bruder und hielt immer etwas Abstand zu Holger. Wie überhaupt die meisten Leute.

 

Holger besuchte eine Sonderschule. Es wäre übertrieben zu sagen, dass wir uns gleich angefreundet hätten, unsere Freundschaft war eher entstanden. Es passierte an einem Nachmittag, kurz nachdem er mit seinen Eltern im Haus gegenüber eingezogen war. Ich spielte oft mit meinem Bruder und Freunden in dem parkartigen Gelände, das Holgers Haus umgab. Und irgendwann hatten wir dort den Neuen entdeckt. Dass er irgendwie anders war, war nicht schwer zu erkennen. Bald hatten wir uns einen Spaß daraus gemacht, dass Holger alles tat, was man ihm sagte. Erbse, ein älterer Kumpel meines Bruders, gab den Ton an. Eigentlich hieß er Robert Erbskorn, aber alle nannten ihn nur Erbse. Ich habe mich immer gefragt, ob Erbse so fies war, weil er versuchte, gegen diesen lächerlich klingenden Spitznamen anzukämpfen. Oder ob wir versuchten, ihn durch diesen Namen harmloser erscheinen zu lassen, als er eigentlich war: ein grobschlächtiger Typ mit reichlich Pickeln im Gesicht, vor dem insgeheim alle Angst hatten.

«Iss den leckeren Regenwurm!», forderte Erbse Holger mit einem Grinsen im Gesicht auf. Dabei hielt er ihm einen mächtig großen Wurm entgegen, der sich um seine kurzen, dicken Finger ringelte. Und Holger tat auch das, nachdem er zuvor bereits Ameisen gegessen und Pfützenwasser getrunken hatte.

Wir lachten und gruselten uns. Gleichzeitig war mir unwohl. Was wir taten, war nicht so richtig gut, das wusste ich. Schnell verlor Erbse die Lust an diesem Spiel.

«Lass abhauen. Und du bleibst hier, Insektenfreund», sagte er zu Holger, der noch tapfer kaute. Holger ignorierte den Befehl beflissen und folgte uns auf Schritt und Tritt.

«Mit dem Freak im Schlepptau kann man nichts anfangen», meinte Erbse schließlich entnervt. Wir fingen an zu laufen. Holger stolperte uns mit seinen schiefen Beinen hinterher.

«Wartet», spuckte er hervor, «wartet auf mich!»

Ich zögerte, sah mich nach ihm um, war unschlüssig. Er tat mir leid und war mir gleichzeitig etwas unheimlich, und ich wollte von den anderen nicht abgehängt werden. Die rannten bereits auf die Straße zu, in der Holger und ich wohnten, als ich mich endlich von ihm abwandte und ebenfalls in den Laufschritt verfiel.

«Konni!», schrie Holger mir flehend hinterher. Ich weiß nicht, wie er auf den Namen kam, denn ich fand diese Koseform höchst unpassend und mochte sie überhaupt nicht. Während ich noch überlegte, was ich ihm antworten könnte, gerieten Holgers Cordknie aneinander, er stolperte und landete in einer der Pfützen, aus denen er gerade noch getrunken hatte. Er jaulte auf, ich blieb erschrocken stehen. Und aus dem Haus, in dem er wohnte, kam eine Frau gelaufen, die aussah wie eine Indianerin aus den Winnetou-Filmen: Sie hatte glänzend schwarze, lange Haare, streng nach hinten zu einer Art Knoten gebunden, trug dunkles Make-up und hatte die Lippen und Lider reichlich grell geschminkt.

«Holger», schrie sie gellend, und mir wurde schlagartig klar, dass sie keine Apachin war: Das Schwarz ihrer Haare war dasselbe wie auf Holgers Haupt. Von meinen Freunden war nichts mehr zu sehen. Während Holger sich wimmernd aufrichtete und ich noch überlegte wegzurennen, war die falsche Squaw schon bei mir und packte mich im Genick.

«Schämt’s ihr euch nicht?», fuhr sie mich an. «Macht hier eure Späße auf Kosten von dem behinderten Bub!»

Ihr Gesicht wurde noch bunter, als es ohnehin schon war.

«Das ist der Konni», sagte Holger, inzwischen wieder wacklig auf seinen Beinen stehend, «der ist mein Freund, Mama!»

Er grinste breit.

Ich schämte mich. Wie ein Freund hatte ich mich nicht gerade verhalten. Trotzdem stimmte ich nickend zu: «Ich hab ihm doch geholfen!» Und gab zu verstehen, dass ich der Einzige in der Runde gewesen war, der zu ihm gehalten hatte.

Sie sah mich misstrauisch an. Dann teilte sie mir mit, was ich sowieso schon wusste, nämlich dass sie Holgers Mutter sei, und begann, seine Brille mit ihrem Taschentuch zu putzen.

«Ich hab Durst», grunzte Holger.

«Kriegst eine Limo im Garten», erwiderte sie fürsorglich, während sie sein Gesicht mit dem Tuch abtupfte, «und dein neuer Freund, der Konni, kann ja mitkommen.»

«Ich heiße Konrad», versuchte ich mich gegen diese Verunglimpfung meines Namens zu wehren, «außerdem … muss ich, glaub ich, nach Hause.»

Sie sah mich mit strengem Indianerblick an und meinte nur: «Ja, das musst du wohl. Aber auf ein Glas Limo hat der Konni schon noch Zeit.»

Holger nickte eifrig, und so beugte ich mich meinem Schicksal. Ich begleitete die beiden hinter das Haus, wo für die Mieter ein paar kleine Gärten angelegt waren, durch grüne Maschendrahtzäune voneinander getrennt. Holger und ich nahmen auf einer Holzbank unter einem Apfelbaum Platz, während die Indianerin aus dem Gartenhäuschen eine Flasche Orangenlimo und Gläser holte.

«Der Holger hat bei der Geburt nicht genug Sauerstoff bekommen», erklärte sie, während sie kühle Limo in mein Glas schenkte, «er wollte nicht gleich heraus in die Welt. Sie mussten ihn mit der Zange holen.»

Holger nickte dazu eifrig und strahlte mich an.

Die Vorstellung, ein Baby mit einer Zange aus dem Mutterleib zu ziehen, schien mir so brutal, dass ich mich wunderte, dass von Holger überhaupt noch so viel übrig geblieben war. Ich nippte verlegen an meiner Limo.

«Soll ich dem Konni meine Bienen zeigen?», fragte er seine Mutter.

«Wenn du magst.» Die Make-up-Kriegerin zuckte mit den Schultern und strich ihm liebevoll die schwarze Zuckerwatte aus der Stirn.

Holger stand auf, lief ins Gartenhäuschen und kehrte mit einem großen Einmachglas zurück. Es war etwa zur Hälfte mit kleinen schwarzen Punkten gefüllt.

Stolz drückte er mir das Glas in die Hand. Auf den ersten Blick dachte ich, es wären dunkle Linsen darin, aber beim näheren Hinsehen erkannte ich: Hunderte und Aberhunderte von Facettenaugen starrten mich an. Das Glas war voller Bienenköpfe.

Ich erschrak, sah auf und blickte in Holgers erwartungsvolle Augen. Die bayerische Indianerin streichelte sein Haar und lächelte mir zu.

«Die stechen den Holger nimmer», sagte er strahlend, und die Indianerin nickte.

 

«Kooonni», riss mich Holgers verzweifelter Ruf aus meinen Gedanken, «wo bist du?»

«Hier!», schrie ich, auf einmal selbst erschrocken, weil ich gar nicht mehr wusste, wie viel Zeit vergangen war. «Hier bin ich!»

Der Stimme nach schien er gar nicht weit weg zu sein, und gerade wollte ich durch die Brombeeren hinauskriechen, als ein kleiner Schatten auf mich fiel: Der Buntspecht war wieder am Stamm des Ahorns gelandet und verschwand lautlos in einem kleinen Loch im gräulich trockenen Holz, um das herum die Rinde abblätterte.

Kaum war ich herausgekrabbelt, fiel mir Holger in die Arme und legte den Kopf auf meine Schulter. Seine Zuckerwattehaare kitzelten an meiner Wange, und durch sein Polohemd spürte ich das Rasen seines Herzschlags.

«Ich hab was», flüsterte ich, «ich hab was gefunden!»

Holger war sofort von meiner Entdeckung begeistert. Die folgenden Tage verbrachten wir damit, unser Lager zu perfektionieren. Mit einer Gartenschere aus dem Kleingarten seiner Eltern entfernten wir alle störenden Brombeerranken, wir klauten Holzblöcke vom Stapel neben dem Schuppen und stellten sie als Stühle auf. Mit trockenem Moos aus dem Wald legten wir einen Teil des Bodens aus und bedeckten den Rest mit frischem Laub. Eine Stelle, an der das Dickicht etwas lichter war und man hinaussehen konnte, stopften wir mit dürren Ästen und trockenem Schilf. Während wir arbeiteten, sang ich Holger die aktuellen Hits von Udo Lindenberg, Nena und Spliff vor, und irgendwann summte Holger immer mit. Den Specht sahen wir täglich. Oft saß er irgendwo am Stamm des Ahorns und pickte an der Rinde.

«Guck mal, unser Hausspecht!», sagte Holger, wenn er ihn entdeckte. Meist flatterte der Vogel dann davon, und Holger sah ihm lange hinterher.

***

Der Tag, an dem alles anfing, begann seltsam. Am Ufer des Eisbachs stand ein Junge, mit dem Rücken zu uns. Er hielt etwas in seinen Händen und schien es genau zu betrachten. Nur ein paar Meter entfernt, geduckt im hohen Springkraut, saßen Holger und ich, wie zwei Apachen auf dem Kriegspfad, kurz bevor sie über den Eindringling in ihrem Gebiet herfallen.

Erst als der Fremde sich zur Seite drehte, erkannten wir im gleißenden Sonnenlicht, was er dort so genau betrachtete: In seinen Händen lag der tote Specht.

«Konni», flüsterte Holger neben mir, «wieso hat er unseren Hausspecht getötet?»

Ich starrte auf den Jungen am Ufer und blieb ihm die Antwort schuldig.

Holger schnaufte schwer.

«Mörder!», entfuhr es ihm auf einmal. Der Fremde hörte es, drehte sich um, und wir waren mindestens so überrascht wie er: Es war ein Mädchen, ein Mädchen mit sehr kurzen, braunen Haaren, kürzer als meine. Ihre ganze Erscheinung war ziemlich burschikos. Eine einzige lange Ponysträhne fiel ihr jetzt in die Stirn, sie strich sie gleich wieder hinters Ohr. Sie mochte in unserem Alter sein, war schlank und von der Sonne gebräunt, ihre hellbraunen Augen hatten fast etwas Exotisches. Sie schaute uns forschend an, mit selbstbewusstem, stolzem Blick, in dem aber auch etwas Erschrockenes lag. Ob sie wohl Angst hatte, ging es mir durch den Kopf – oder war das eher meine eigene Angst? Denn dieses Mädchen, wie sie so dastand und stumm zu uns hersah, war mir unheimlich. Den Specht hielt sie immer noch in beiden Händen, fast wie ein totes Kind. Sein Gefieder glänzte, der Nackenfleck leuchtete rot, die Beinchen standen wie dürre Zweige in die Luft.

Sie sagte kein Wort. Eine kleine Weile standen wir alle da und starrten uns ratlos an. Eigentlich kannte man die Kinder, die einem nachmittags über den Weg liefen, zumindest vom Sehen. Dieses Mädchen war mir noch nie begegnet. Holger blickte mich verunsichert an. Sein Zorn war so schnell verflogen, wie er gekommen war. Wer so behutsam einen toten Vogel hielt, der konnte ihm unmöglich etwas angetan haben, das war klar.

Schließlich durchbrach ich die Stille.

«Wo …», ich musste mich räuspern, «wo hast du ihn gefunden?»

Sie sah mich durchdringend an, mit Augen, in denen ich nicht lesen konnte. Dann wandte sie den Kopf zu dem großen Ahorn und deutete mit dem Finger an den Fuß des Baumstammes.

Ich nickte fachmännisch. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie Spechte sterben. Ob sie einfach, wenn ihre Zeit gekommen ist, vom Baum fallen wie reife Äpfel? Oder fliegen sie an den Fuß des Ahorns – ihres Ahorns – und legen sich ganz bewusst unten am Stamm zum Sterben nieder? Vermutlich wissen das nur die Spechte selbst.

Ich nickte und ging langsam ein paar Schritte auf sie zu, Holger kam mir nach.

Misstrauisch sah sie uns an und drückte die kleine Vogelleiche an ihre Brust. Ich blieb sofort stehen.

«Wir können», begann ich ruhig, «also, wenn du willst … können wir den Buntspecht beerdigen. Ich kenn einen Platz, dahinten am Feldrand. Da haben wir schon mehrere Tiere begraben, stimmt’s, Holger?»

Holger starrte sie mit offenem Mund an. Ein Spuckefaden hing an seiner Unterlippe.

Das Mädchen nickte zögerlich, und so machten wir uns auf den Weg, schweigend, ein eigenartiger kleiner Trauerzug. Wir liefen den Damm entlang, ich vorneweg, Holger hinter mir, dann das Mädchen mit dem Specht. Ein Stück flussaufwärts, vor dem Übungsgolfplatz, gab es eine kleine Brücke, auf der wir den Fluss überquerten. Auf der gegenüberliegenden Seite grenzte ein riesiges Maisfeld an den Damm des Eisbachs. Dahinter lief die Straße zum Aumeister, dem Biergarten am Ende des Englischen Gartens, in dem meine Eltern am Wochenende manchmal mit uns einkehrten.

Die Luft war erfüllt vom honigartigen Duft des blühenden Labkrauts, das den Feldrand mit gelben Tupfern durchsetzte. Am Stumpf des großen Eichenbaums machte ich halt. Bis man den Baum vor zwei Jahren nach einem Blitzschlag gefällt hatte, mochte es der älteste Baum weit und breit gewesen sein. Und auch wenn es jetzt nur noch ein abgestorbener Rest war, so war dies immer noch ein besonderer Ort. Früher mit meinem Bruder und dann mit Holger hatte ich hier mehrere überfahrene Igel und einmal ein Eichhörnchen feierlich bestattet.

Schweigend wühlten wir mit einem Stock als Werkzeug und unseren bloßen Händen ein kleines Loch in die Erde. Holger legte etwas Moos hinein. Dann bettete das Mädchen den Specht vorsichtig darauf.

Sein Auge glänzte noch immer klar. Es wirkte, als würde er mit offenen Augen schlafen. Holger sprach ein Gebet, wie er es immer tat. Wir sahen uns gegenseitig an, dann häuften wir Erde auf den kleinen Leichnam.

«Wie heißt du?», fragte ich, als wir die Erde auf dem Grab festklopften.

«Anja», antwortete sie leise.

Ich hatte mich schon gefragt, ob sie überhaupt sprechen konnte.

«Das ist Holger», sagte ich, auf Holger zeigend, der damit beschäftigt war, ein kleines Holzkreuz aus zwei Ästen zu bauen, «und ich bin –»

«Konni», unterbrach mich Holger und grinste breit.

«Ja … also Konrad, oder Konni.»

Sie nickte. Ihr Blick war auch jetzt ungewöhnlich ernst. Eine Weile herrschte Stille, während Holger mit trockenen Gräsern die Äste verknotete. Als er mit dem Ergebnis zufrieden war, steckte er das kleine Kreuz behutsam in die Erde und meinte: «Holger mag Spechte gern.»

«Ich auch», erwiderte Anja und schenkte ihm ganz unvermittelt ein kleines Lächeln. Ihre hellbraunen Augen glänzten, und ich sah eine kleine Zahnlücke zwischen ihren Vorderzähnen.

Dann schien sie es plötzlich eilig zu haben. Sie verabschiedete sich mit einem kurzen «Ciao» und lief, ohne sich noch einmal umzudrehen, zurück zur Brücke. Wir sahen ihr hinterher. Oben am Damm bog Anja nicht Richtung Straße ab, sondern flussaufwärts, wo keine Häuser mehr kamen, nur, irgendwann, der Übungsgolfplatz. Das wunderte mich.

***

Seit einer Weile wache ich sehr früh morgens auf, völlig unfähig, wieder einzuschlafen. Wenn es nicht gerade regnet, gehe ich laufen. Es ist das Einzige, was ich tun kann, um mich ein wenig zu entspannen. Wenn ich allein durch den Park jogge, habe ich das Gefühl, Stück für Stück wieder die ganze Welt wahrzunehmen. Und damit einhergehend, unweigerlich, auch mich selbst.

Vor zwei Wochen bin ich aus unserem kleinen Reihenhaus ausgezogen, oder vielmehr, meine Frau hat mich rausgeworfen. Nach fünfzehn Jahren Ehe ist sie der Meinung gewesen, es sei Zeit für eine Veränderung, für einen Neuanfang. Und der soll ohne mich stattfinden. Kurz bevor sie mir das ganz unverblümt mitgeteilt hat, haben wir noch eine Glückwunschkarte zur «gläsernen Hochzeit» bekommen. Was für ein bekloppter Ausdruck, dachte ich da noch, und nun erweist er sich im Nachhinein als so treffend. Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht, und nun ist die Zeit dafür anscheinend reif gewesen.

 

Grübelnd sitze ich in meiner kleinen Küche und schlürfe einen Kaffee. Es ist eine unglaublich hässliche Küche mit alten, verranzten Einbauschränken in billigem Eichenfurnier. Ich bin ein Fremder in meiner eigenen Wohnung. Und bisher habe ich weder den Mut gehabt noch die Lust verspürt, sie mir auch nur ein kleines Stück zu eigen zu machen.

Ich ziehe meine Laufsachen an, schließe die Tür hinter mir und jogge die Straße hinunter zum Park. Es ist Mitte August, die morgendliche Kühle lässt bereits das nahende Ende des Sommers erahnen, eines Sommers, der sich von Anfang an wie ein Herbst angefühlt hat: kaum hohe Temperaturen und ständig dieser Regen.

Ich überquere die Straße, laufe vorbei am Obelisken, rüber zum Parkeingang. Der Wildwuchs auf der kleinen Wiese davor ist dank des vielen Regens in die Höhe geschossen. Ausgeblühter Giersch und hohe Brennnesseln säumen den kleinen Trampelpfad. Im Vorbeilaufen reiße ich mir ein paar Brennnesselnüsschen ab, stecke sie in den Mund, und da höre ich ihn. Er sitzt am Stamm einer Buche: Dendrocopos major. Großer Baumschläger. Der deutsche Name Buntspecht klingt im Vergleich doch sehr profan. Ich halte inne und blicke hinauf. Ein junges Männchen. Seine rote Kappe leuchtet. Er trommelt laut, für diese Jahreszeit ungewöhnlich.

Ein lähmendes Gefühl legt sich in meine Brust. Der Specht hält kurz inne, bevor er wieder laut und schnell an den Baum klopft. Ich sehe ihn an, wie er dort sitzt mit seinem wunderschönen Gefieder, der stolzen roten Kappe auf dem Kopf, sein schwarzer Schnabel glänzt im Morgenlicht.

Und plötzlich spüre ich eine unglaubliche Wut in mir.

«Hau ab!», schreit es aus mir heraus, ich klatsche heftig in die Hände, und der Specht flattert davon.

Manchmal, am frühen Morgen, wenn die Sonne noch ganz niedrig am Horizont steht, ziehe ich die Schuhe aus und laufe barfuß über die Wiese. Aber das geht nur, wenn niemand sonst da ist. Denn dann laufe ich zurück in meine Kindheit, laufe über die große Wiese im Freibad neben unserem Haus, und mein Bruder läuft neben mir her.

***

Wir waren die Könige des Freibads. Oder jedenfalls fühlten wir uns so. Das Haus, in dem wir wohnten, gehörte Familie Kaltenbach, den Eigentümern der Floriansmühle. Es war das einzige private Freibad in München. Geöffnet war es erst ab Mitte Mai, wenn die Sonne den Eisbach, der durch das Gelände floss und das Schwimmbecken mit seinem kalten Wasser versorgte, zumindest ein bisschen erwärmt hatte. Jedes Jahr konnten wir es kaum erwarten, bis das Schwimmbad seine Tore öffnete. Von nun an bis über die Sommerferien hinaus war die Floriansmühle unser zweites Zuhause.

Mein Bruder und ich durften ohne Eintrittskarte an der Kasse vorbeischlüpfen. Wir nickten Oma Kaltenbach, die im Kassenhäuschen saß, nur höflich zu, und sie winkte uns durch. Als Mieter hatten wir freien Eintritt. Oma Kaltenbach sah aus wie eine alte Schildkröte, mit faltigem Hals und kleinen, klaren Augen, in denen die Weisheit uralter Wesen schlummerte.

Wir liefen am Kiosk vorbei, über die kleine Brücke am Bach, vorbei an den fünf Bistrotischen, an denen man am Kiosk erstandene Würstchen verzehren konnte oder den von Oma Kaltenbach gebackenen Apfelstrudel. Am letzten Tisch saßen immer ein paar Rentner, oder zumindest hielt ich sie für welche, da sie in meinen Augen sehr alt waren. Braun gebrannt hockten sie da in ihren knappen Badehosen, spielten Schafkopf und tranken dazu Bier oder eine Reblaus. Das Bier war uns lieber, denn sie schenkten uns, wenn wir freundlich fragten, die leeren Flaschen. Auf die Reblaus-Fläschchen gab es dagegen kein Pfand.

Mein Bruder gab den Ton an: «Schau du schon mal bei den Alten vorbei, ich guck, ob’s Bälle gibt», und damit wandte er sich dem Eisbach zu, der neben dem geteerten Weg strömte. Der Bach war nicht gerade besonders klar, aber wenn die Sonne schien, konnte man manchmal bis zum Grund blicken. Mein Bruder starrte konzentriert ins grünliche Nass, und ab und zu kräuselten sich seine von der Sonne hellblond gebleichten Augenbrauen. Dann hechtete er ohne Anlauf ins Wasser, tauchte ab und kam, einen Golfball in der Hand, wieder hoch. Zwei Kilometer bachaufwärts lag der Übungsgolfplatz, laut meinem Bruder lag die Betonung auf Übung: «Viele sind halt noch nicht so weit. Und dann landet der Ball im Bach. Und wer holt ihn wieder raus, mein Lieber? Ich!»

Er zwinkerte mir zu und deutete stolz auf seine nasse Brust. Wenn mein Bruder zehn Bälle zusammenhatte, fuhr er mit seinem BMX-Rad zum Golfplatz und tauschte die Bälle in einen blauen Zehn-Mark-Schein um.

Es gab eine strenge Arbeitsteilung bei uns. Mein Bruder war zwei Jahre älter als ich. Natürlicherweise hatte er das Sagen, oder vielleicht war er auch einfach mutiger. Während mein Bruder ohne Zögern jeden Sprungturm bestieg, sich weit hinten im Freibadgelände, wo keine Erwachsenen mehr waren, unter die Sechzehnjährigen mischte und sogar furchtlos die streng verbotene Mutprobe bestand, in den Strudel am alten Mühlengebäude zu springen, direkt neben dem Schild «Achtung! Lebensgefahr!», hatte ich zwei Sommer zuvor, mit elf Jahren, das Schwimmen überhaupt erst gelernt.

Und das auch nur weil ich einen Großteil der Sommerferien bei meiner Großmutter in Franken verbracht hatte. Meine Großmutter hatte mir in ihrer ruhigen, geduldigen Art und mit Hilfe eines Bademeisters, den sie bei unseren täglichen Schwimmbadbesuchen mit Zigaretten um kleine Übungseinheiten bestach, schließlich die Furcht vorm Wasser genommen. Zuvor hatten sie mich oft gehänselt, ich sei wasserscheu. Ich war mir jedes Mal doof vorgekommen, dieses Wort wurde den Umständen so gar nicht gerecht. Ich liebte es, im Wasser herumzuplantschen, aber sobald ich tiefer hineingeriet und sich der Wasserspiegel meinem Hals näherte, geriet ich in Panik. Der Gedanke, richtig mit dem Kopf unterzutauchen, war mir der reinste Graus.

Meine Mutter hatte eine logische Erklärung dafür, bei der sie immer ratlos mit den Schultern zuckte: «Als Kleinkind ist er mir zweimal ins tiefe Becken gefallen, und ich hab’s nicht gleich gemerkt. Als Mutter von zwei so lebhaften Jungs ist man immer überfordert. Man muss sich ja um alles doppelt kümmern.»