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Eine exhumierte Leiche, ein Giftmord und ein geschiedener Arzt bilden das Gerüst für Ricarda Huchs 1917 erschienenen und später verfilmten Kriminalroman. Der Arzt Deruga steht vor Gericht. Er soll seine von ihm geschiedene Frau mit Curare ermordet haben. Als Alleinerbe des Opfers ist er natürlich verdächtig. Aber der Fall ist längst nicht so klar, wie er sich zunächst darstellen mag. Vor Gericht wird die Wahrheit Schicht für Schicht freigelegt. Und es scheint, als sei das Urteil der Gesellschaft gegen den Arzt vorschnell getroffen. Marcel Reich-Ranicki schrieb, dass "Der Fall Deruga" zu den literarisch beachtlichen Büchern gehörte, die ihn in seiner Jugend beeindruckt hätten. [Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 3. Februar 2008] 1938 veröffentlichte die UFA eine Verfilmung des Romans. Franz Peter Wirth verfilmte den Roman unter dem Titel "… und nichts als die Wahrheit" im Jahr 1958 mit O. W. Fischer und Marianne Koch. "Der Roman ist bis heute lesenswert. ... Die Autorin gestaltet den Prozess als eine Folge von literarischen Kabinettstücken, mit glänzenden Personenbeschreibungen, sehr unterhaltsam." [Jürg Scheuzger, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag 07.12.2014] Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 301
Ricarda Huch
Der Fall Deruga
Kriminalroman
Ricarda Huch
Der Fall Deruga
Kriminalroman
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Verlag Ullstein & Co, Berlin/Wien, 1917 1. Auflage, ISBN 978-3-962815-47-9
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Inhaltsverzeichnis
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
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Ihr Jürgen Schulze, Verleger, js@null-papier.de
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Wer ist der Anwalt, der mit Justizrat Fein hereingekommen ist?« fragte eine Dame im Zuschauerraum ihren Mann, »und warum hat der Angeklagte zwei Anwälte? Fein ist allerdings wohl nur ein Schaustück.«
»Wenn der Betreffende ein Anwalt wäre, liebes Kind, würde er einen Talar tragen«, antwortete der Gefragte vorwurfsvoll. »Aber wer es ist, kann ich dir auch nicht sagen.« Ein vor dem Ehepaar sitzender Herr drehte sich um und erklärte, der fragliche Herr sei der Angeklagte Dr. Deruga.
»Ist das möglich?« rief die Dame lebhaft, »wissen Sie das bestimmt?«
Der alte Herr lachte vergnügt. »So bestimmt wie ich weiß, dass ich der Musikinstrumentenmacher Reichardt vom Katzentritt bin; der Herr Doktor wohnt nämlich bei mir.«
Die Dame machte große Augen. »Lässt man denn einen Mörder frei herumlaufen?« fragte sie. »Ich dachte, er wäre im Gefängnis. Ist es Ihnen nicht unheimlich, einen solchen Menschen in Ihrer Wohnung zu haben?«
»Ja, sehen Sie, gnädige Frau«, sagte der alte Mann, »der Herr Justizrat Fein hat ihn bei mir eingeführt, weil er mich schon lange kennt und seinen Klienten gut versorgt wissen wollte, und wenn der Herr Justizrat so viel Vertrauen in mich setzt, dass er seine Geigen und Flöten von mir reparieren und sein Töchterchen Unterricht im Zitherspielen bei mir nehmen lässt, so schickt es sich, dass ich auch wieder Vertrauen zu ihm habe. Und er hat mir seinen Klienten wärmstens empfohlen, der sich bis jetzt als ein lieber, gutartiger Mensch gezeigt hat, wenn auch etwas wunderlich.«
»Du darfst nicht vergessen, liebes Kind«, sagte der Ehemann, »dass ein Angeklagter noch kein Verurteilter ist.«
»Sehr richtig, sehr richtig«, sagte der Musikinstrumentenmacher und wollte eben allerlei merkwürdige Fälle von Justizirrtümern erzählen, als das Erscheinen der Geschworenen seine Aufmerksamkeit ablenkte.
Sie finde es doch ungehörig, flüsterte die junge Dame ihrem Manne zu, dass ein des Mordes Verdächtiger sich so frei bewegen dürfe, noch dazu einer, der so aussehe, als ob er zu jedem Verbrechen fähig wäre.
»Man soll sich hüten, nach dem Äußeren zu urteilen, liebes Kind«, sagte der Ehemann. »Aber abgesehen davon würde ich auch diesem Menschen nicht über den Weg trauen. Es ist merkwürdig, wie leichtgläubig und wie ungeschickt im Auslegen von Physiognomien1 das Volk ist.«
Die meisten Zuschauer hatten denselben ungünstigen Eindruck von Dr. Deruga empfangen, der durch Nachlässigkeit in Kleidung und Haltung und mit seinen neugierig belustigten Blicken, die den Saal durchwanderten, der Majestät und Furchtbarkeit des Ortes zu spotten schien.
»Ich dachte, er hätte schwarzes, krauses Haar und Feueraugen«, bemerkte die junge Frau tadelnd gegen ihren Mann.
»Aber, Kindchen«, entgegnete dieser, »wir haben doch auch nicht alle blaue Augen und blondes Haar.«
»Er stammt aus Oberitalien«, mischte sich ein Herr ein, »wo der germanische Einschlag sich bemerkbar macht.«
Ein anderer fügte hinzu, er vertrete doch einen durchaus italienischen Typus, nämlich den der verschlagenen, heimtückischen, rachsüchtigen Welschen,2 wie er seit dem frühen Mittelalter in der Vorstellung der Deutschen gelebt habe.
Unterdessen war ein Gerichtsdiener an den Angeklagten herangetreten und hatte ihn aufgefordert, sich auf der Anklagebank niederzulassen, was er folgsam tat, um sein Gespräch mit dem Justizrat Fein von dort aus fortzusetzen.
»Sehen Sie, da kommt der Jäger vor dem Herrn, Dr. Bernburger«, sagte der Justizrat, auf einen jungen Anwalt blickend, der eben den Zuschauerraum betrat. »Den hat die Baronin Truschkowitz auf Ihre Spuren geheftet, und eine gute Spürnase hat er, wie Sie sehen. Er ist Ihr gefährlichster Feind, der Staatsanwalt ist nur ein Popanz.«
Deruga betrachtete Dr. Bernburger, der angelegentlichst in seine Papiere vertieft schien.
»Ich glaube, er ist Ihnen ebenso gefährlich wie mir«, sagte er dann mit freundlichem Spott, die große, bequeme Gestalt des Justizrats betrachtend. »Eigentlich gefiele mir der Bernburger ganz gut, wenn er nicht ein so gemeiner Charakter wäre.«
Der Justizrat wendete sich um und sagte, den Arm auf das Geländer stützend, das die Anklagebank abschloss: »Bringen Sie mich jetzt nicht zum Lachen, Sie verzweifelter Italiener! Wir haben alle Ursache, uns ein Beispiel an seinen Geiermanieren zu nehmen.«
»Er hat wirklich etwas von einem Raubvogel«, sagte Deruga, »ein feiner Kopf, so möchte ich aussehen. Sehe ich ihm nicht ähnlich?«
»Benehmen Sie sich ähnlich«, sagte der Justizrat, »und halten Sie Ihre Gedanken zusammen! Mensch, Ihre Sache ist nicht so sicher, wie Sie glauben. Der Bernburger hat zweifellos Material im Hinterhalt, mit dem er uns überrumpeln will; also passen Sie auf!«
»Aber ja«, sagte Deruga ein wenig ungeduldig. »Ihren Kopf behalten Sie auf alle Fälle, und an meinem braucht Ihnen nicht mehr zu liegen als mir.«
Jetzt flogen die Türen im Hintergrunde des Saales auf, und der Vorsitzende des Gerichts, Oberlandesgerichtsrat Dr. Zeunemann, trat ein, dem die beiden Beisitzer und der Staatsanwalt folgten. Der Luftzug hob den Talar des rasch Vorwärtsschreitenden, sodass seine stramme und stattliche Gestalt sichtbar wurde. Er grüßte mit einer Gebärde, die weder herablassend noch vertraulich war und eine angemessene Mischung von Ehrerbietung und Zuversicht einflößte. Seine Persönlichkeit erfüllte den bänglich feierlichen Raum mit einer gewissen Heiterkeit, insofern man die Empfindung bekam, es werde sich hier nichts ereignen, was nicht durchaus in der Ordnung wäre. Er rieb, nachdem er sich gesetzt hatte, seine schönen, breiten, weißen Hände leicht aneinander und ging dann an das Geschäft, indem er die Auswahl der Geschworenen besorgte. Es ging glatt und flott voran, jeder fühlte sich von einer wohltätigen Macht an seinen Platz geschoben.
»Meine Herren Geschworenen«, begann er, »es handelt sich heute um einen etwas verwickelten Fall, dessen Vorgeschichte ich Ihnen kurz zusammenfassend vorführen will.
Am 2. Oktober starb hier in München, infolge eines Krebsleidens, wie man annahm, Frau Mingo Swieter, geschiedene Frau Deruga. Sie hatte nach ihrer vor siebzehn Jahren erfolgten Scheidung von Deruga ihren Mädchennamen wiederangenommen. In ihrem Testament, das Anfang November eröffnet wurde, hatte sie ihren geschiedenen Gatten, Dr. Deruga, zum alleinigen Erben ihres auf etwa vierhunderttausend Mark sich belaufenden Vermögens ernannt, mit Beiseitesetzung ihrer Verwandten, von denen die Gutsbesitzersgattin Baronin Truschkowitz, eine Cousine, die nächste war. Auf das Betreiben der Baronin Truschkowitz und auf gewisse zureichende Verdachtsgründe hin, die Ihnen bekannt sind, veranlasste das Gericht die Exhumierung der Leiche, und es wurde festgestellt, dass die verstorbene Frau Swieter nicht infolge ihrer Krankheit, sondern eines furchtbaren Giftes, des Curare, gestorben war.
Als dem seit siebzehn Jahren in Prag ansässigen Dr. Deruga das Gerücht von einem gegen ihn im Umlauf befindlichen Verdacht zu Ohren kam, reiste er hierher, um zu erfahren, wer seine Verleumder, wie er sie nannte, wären, und sie zu verklagen. Es wurde ihm mitgeteilt, dass das Gericht bereits den Beschluss gefasst habe, die Anklage auf Mord gegen ihn zu erheben, und dass er seine Anklage bis zur Beendigung des Prozesses verschieben müsse. Unter diesen besonderen Umständen, da der Angeklagte sich gewissermaßen selbst gestellt hatte, wurde angenommen, dass Fluchtverdacht nicht vorliege, und von einer Verhaftung einstweilen abgesehen. Verdächtig machte den Angeklagten von vornherein, dass er sich in bedeutenden finanziellen Schwierigkeiten befand. Ferner belastete ihn die Tatsache, dass er am Abend des 1. Oktober vergangenen Jahres eine Fahrkarte nach München löste und erst am Nachmittag des 3. Oktober nach Prag in seine Wohnung zurückkehrte. Einen genügenden Alibibeweis vermochte der Angeklagte nicht zu erbringen.
Dies sind also die Hauptgründe, die das Gericht bewogen haben, die Anklage auf Totschlag zu erheben. Es wird angenommen, dass Deruga seine geschiedene Frau aufsuchte, um Geld von ihr zu erbitten, beziehungsweise zu erpressen, und dass er sie bei dieser Gelegenheit, irgendwie gereizt, vielleicht durch eine Weigerung, tötete. Allerdings scheint der Umstand, dass Deruga Gift bei sich gehabt haben muss, für einen überlegten Plan zu sprechen. Allein das Gericht hat der Möglichkeit Raum gegeben, der verzweifelte Spieler habe damit sich selbst vernichten wollen, wenn sein letzter Versuch misslänge, und nur in einem unvorgesehenen Augenblick der Erregung davon Gebrauch gemacht.«
Während des letzten Satzes hatte der Staatsanwalt vergebens versucht, durch Verdrehungen seines hageren Körpers und Deutungen seines knotigen Zeigefingers die Aufmerksamkeit des Vorsitzenden auf sich zu lenken. »Verzeihung«, sagte er, indem er seinem langen, weißen Gesicht einen süßlichen Ausdruck zu geben suchte, »ich möchte gleich an dieser Stelle betonen, dass ich persönlich dieser Möglichkeit nicht Raum gebe. Warum hätte der Mann es denn so eilig mit dem Selbstmorde gehabt? Er amüsierte sich viel zu gut im Leben, um es so Hals über Kopf wegzuwerfen.
Ferner möchte ich darauf hinweisen, dass der Angeklagte auf das erstmalige Befragen des Untersuchungsrichters die abscheuliche Untat eingestand, oder, besser gesagt, sich ihrer rühmte, um sie mit ebenso großer Dreistigkeit hernach zu leugnen.«
»Jawohl, jawohl, wir kommen darauf zurück«, sagte der Vorsitzende mit einer Handbewegung gegen den Staatsanwalt, wie wenn ein Kapellmeister etwa einen vorlauten Bläser beschwichtigt. »Ich will zunächst den Angeklagten vernehmen.«
»Sie müssen aufstehen«, flüsterte der Justizrat seinem Klienten zu, der mit schläfriger Miene den Saal und das Publikum betrachtete.
»Aufstehen, ich?« entgegnete dieser erstaunt und beinahe entrüstet. »Nun also auch das. Stehen wir auf«, fuhr er fort, erhob sich langsam und heftete einen scharf durchdringenden Blick auf den Präsidenten; man hätte meinen können, er sei ein Examinator und Dr. Zeunemann ein zu prüfender Kandidat.
»Sie heißen Sigismondo Enea Deruga«, begann der Vorsitzende das Verhör, die beiden klangvollen Vornamen durch eine ganz geringe Dosis von Pathos hervorhebend, die genügte, die Zuhörer zum Lachen zu bringen. Deruga warf einen stechenden Blick in die Runde. »Ist es hier etwa ein Verbrechen, nicht Johann Schulze oder Karl Müller zu heißen?« sagte er.
»Beantworten Sie bitte schlechtweg meine Fragen«, sagte Dr. Zeunemann kühl. »Sie heißen Sigismondo Enea Deruga, sind in Bologna geboren und sechsundvierzig Jahre alt. Stimmt das?«
»Jawohl.«
»Sie haben in Bologna, Padua und Wien Medizin studiert und sich erst in Linz, dann in Wien niedergelassen, nachdem Sie dort das Heimatrecht erworben hatten. Stimmt das?«
»Es wäre wirklich eine Schande«, sagte Deruga, »wenn Sie nach vier Monaten nicht einmal das richtig herausgebracht hätten.«
»Ich erinnere Sie nochmals, Angeklagter«, sagte der Vorsitzende, den das sich erhebende Gelächter ein wenig ärgerte, »dass Sie sich an die kurze und klare Beantwortung der an Sie gerichteten Fragen zu halten haben. Es ist Ihre Schuld, dass sich die Voruntersuchung so lange hingezogen hat. Ich ergreife die Gelegenheit, Ihnen einen ernstlichen Vorhalt zu machen. Sie befolgen augenscheinlich den Grundsatz, das Gericht durch Ungehörigkeiten und Wunderlichkeiten hinzuhalten und irrezuführen. Sie verschlimmern dadurch Ihre Lage, ohne Ihren Zweck zu erreichen. Die Untersuchung nimmt ihren sicheren Gang trotz aller Steine, die Sie auf ihren Weg werfen. Sie stehen unter einer schweren Anklage und täten besser, anstatt die gegen Sie zeugenden Momente durch ungebärdiges und zügelloses Betragen zu verstärken, den Gerichtshof und die Herren Geschworenen durch Aufrichtigkeit in ihrer dornigen Arbeit zu unterstützen und für sich einzunehmen. Sie befinden sich in einem Lande, wo die Justiz ihres verantwortungsvollen Amtes mit unerschütterlicher Unbestechlichkeit und Unparteilichkeit waltet. Der Höchste und der Niedrigste findet bei uns nicht mehr und nicht weniger als Gerechtigkeit. Wir erwarten dagegen vom Höchsten wie vom Niedrigsten diejenige Ehrfurcht, die einer so heiligen und würdigen Institution zukommt. Der Gebildete sollte sie uns freiwillig darbringen; aber im Notfall wissen wir sie zu erzwingen.«
»Ja, ja«, sagte Deruga gutmütig, »nur zu, ich werde schon antworten.«
Dr. Zeunemann hielt es für besser, es dabei bewenden zu lassen, und fuhr fort: »Sie verheirateten sich im Jahre 18.. mit Mingo Swieter aus Lübeck, erzielten aus dieser Ehe ein Kind, eine Tochter, die vierjährig starb, und kurz darauf, vor jetzt siebzehn Jahren, wurde die Ehe geschieden. Als Grund ist böswillige Verlassung von seiten der Frau angegeben, und zwar hat Frau Swieter das Wiener Klima vorgeschützt, welches sie nicht vertragen könne. In Wirklichkeit sollen Ihr unverträglicher Charakter und Ihr unberechenbares Temperament, das zu Gewalttaten neigt, Ihre Frau zu diesem Schritt veranlasst haben.«
Da Dr. Zeunemann bei diesen Worten fragend zu Dr. Deruga hinübersah, sagte dieser: »Es wird das beste sein, wenn Sie sich schlechtweg an die in den Akten befindlichen Angaben halten.«
Der Vorsitzende unterdrückte eine Anwandlung zu lachen und fuhr gelassen fort: »Bald nach erfolgter Scheidung zogen Sie von Wien nach Prag und übten dort Ihre Praxis aus, während Frau Swieter sich in München niederließ, wo sie einen Teil ihrer Jugendjahre verlebt hatte. Auf weitere Daten werden wir gelegentlich zurückkommen. Erzählen Sie uns jetzt, was Sie am 1. Oktober des vorigen Jahres getan haben.«
»Da ich kein Tagebuch führe«, sagte Dr. Deruga laut, »noch meine täglichen Verrichtungen durch einen Kinematografen oder ein Grammophon aufnehmen lasse, ist es mir leider unmöglich, Ihnen den Verlauf des Tages mit mathematischer Genauigkeit wiederzugeben. Ich werde eben gefrühstückt, einige Patienten besucht, zu Mittag gegessen und hernach eine Stunde im Café gesessen haben. Dann werde ich in der Sprechstunde mehrere Exemplare der mir sehr unsympathischen Gattung Mensch untersucht haben. Gegen Abend ging ich aus, um eine mir befreundete, hochanständige Dame zu besuchen. In der Nähe des Bahnhofs begegnete ich einem Kollegen, der mich fragte, ob ich auch in den ärztlichen Verein ginge. Ich sagte, ich könne leider nicht, da ich verreisen müsse. Worauf er mich bis zum Bahnhof begleitete. Ich nahm aufs Geratewohl eine Karte nach München, weil ich ja sonst meine Lüge hätte zugestehen müssen, und auch weil mir eingefallen war, dass auf diese Weise die mir befreundete Dame sicher wäre, nicht kompromittiert zu werden.«
»Weigern Sie sich nach wie vor«, fragte Dr. Zeunemann, »den Namen dieser hochanständigen Dame zu nennen?«
»Ich habe ja schon gesagt, dass mir daran liegt, sie nicht zu kompromittieren«, antwortete Deruga.
»Ich gebe Ihnen zu bedenken, Herr Deruga«, sagte Dr. Zeunemann warnend, »dass Ihre Ritterlichkeit auf sehr wackeligen Füßen steht. Sollte eine Dame zulassen, dass sich ein Freund um ihretwillen in solche Gefahr begibt? Da möchte man schon lieber annehmen, dass diese Dame gar nicht existiert. Die ganze Geschichte, die Sie vorbringen, entbehrt der Wahrscheinlichkeit. Dass Sie eine Dame besuchten und Tage und Nächte bei ihr zubrachten, wäre an sich bei Ihrer Lebensführung nicht unglaublich. Auch das mag hingehen, dass Sie den Wunsch hatten, sie nicht zu kompromittieren, aber das Mittel, das Sie zu diesem Zweck gewählt haben wollen, kann man nur als ungeeignet und lächerlich bezeichnen. Jemand, der sich in so schlechter finanzieller Lage befindet wie Sie, gibt nicht zweiunddreißig Mark für eine Fahrkarte aus, die er nicht braucht.«
»Einunddreißig Mark fünfundsiebzig Pfennig«, verbesserte Deruga.
»Die Karte von Prag nach München kostet zweiunddreißig Mark«, sagte Dr. Zeunemann scharf.
»Der umgekehrte Weg ist fünfundzwanzig Pfennige billiger«, beharrte Deruga.
»Lassen wir den Wortstreit«, sagte Dr. Zeunemann. »Man wirft auch einunddreißig Mark und fünfundsiebzig Pfennige nicht fort, wenn man in Geldverlegenheiten ist.«
»Ein verständiger Deutscher wohl nicht«, entgegnete Deruga, »aber ich habe größere Dummheiten in meinem Leben gemacht als diese. Übrigens war ich nicht in Geldverlegenheit, ich hatte nur Schulden.«
Der Staatsanwalt rang die Hände und wendete die Blicke nach oben, wie wenn er den Himmel zum Zeugen einer solchen Verwilderung anrufen wollte. Dann bat er um das Wort und fragte, wie es zugehe, dass der Angeklagte genug Geld für eine so unvorhergesehene Reise bei sich gehabt hätte.
Statt der Antwort griff Deruga in seine Westentasche, zog eine Handvoll Geld hervor und zählte: »Sechzig, dreiundsechzig, siebzig, vierundsiebzig Mark. Sie sehen, ich könnte auf der Stelle nach Prag reisen, wenn ich es nicht vorzöge, in Ihrer angenehmen Vaterstadt zu bleiben.«
»Warum bezahlten Sie Ihre Schulden nicht, wenn Sie Geld hatten?« rief der Staatsanwalt, dessen Stimme, wenn er sich aufregte, einen kreischenden Ton annahm.
»O, dazu reichte es bei weitem nicht«, lachte Deruga. »Ich hatte nur so viel, um meine täglichen Bedürfnisse zu befriedigen.«
Der Vorsitzende erklärte diese Zwischenfragen durch eine Handbewegung für beendet. »Sie bleiben also dabei, Angeklagter«, fragte er, »dass Sie zum Schein eine Fahrkarte nach München lösten. Was brachte Sie gerade auf München?«
»Das ist eine schwierige Frage«, sagte Deruga. »Hätte ich eine Karte nach Frankfurt oder Wien genommen, könnten Sie sie ebenso gut stellen. Vielleicht ist ein Psychoanalytiker anwesend und könnte uns interessante Aufschlüsse über die Gedankenassoziation geben, und ob sie gefühlsbetont war oder nicht. Meine Spezialität sind Nasen-, Hals- und Rachenkrankheiten.«
»Was taten Sie, nachdem Sie die Karte gelöst hatten?« fragte der Vorsitzende weiter.
»Ich stellte mich an die Barriere«, erzählte Deruga, »ging, als sie geöffnet wurde, an den Zug, stieg aber nicht ein, sondern ging mittels einer vorher gelösten Perronkarte zurück. Dann suchte ich die schon öfters genannte Dame auf, bei der ich bis zum Nachmittag des 3. Oktober blieb.«
»Die Unwahrscheinlichkeiten häufen sich«, sagte Dr. Zeunemann. »Welcher Arzt wird ohne zwingende Gründe anderthalb Tage von seiner Praxis wegbleiben?«
»Ich bin der Ansicht«, sagte Deruga, »dass nicht ich für die Praxis da bin, sondern dass die Praxis für mich da ist.«
»Ein bedenklicher Grundsatz für einen Arzt«, meinte Dr. Zeunemann.
»Warum?« antwortete Deruga leichthin. »Die meisten Patienten können sehr gut ein paar Tage warten, die übrigen brauchten überhaupt nicht zu kommen. Wichtige Fälle hatte ich damals nicht.«
»Ihre Patienten waren allerdings nicht verwöhnt«, sagte Dr. Zeunemann. »In den letzten Jahren hatten Sie sogar eine Anzahl verloren, weil sie nachlässig und unaufmerksam in der Führung Ihrer Praxis waren. Immerhin war es selbst an Ihnen auffallend, dass Sie außer der Zeit, ohne Abmeldung, zwei Tage abwesend waren. Sie kamen nach Ihrer eigenen Aussage, die von Ihrer Haushälterin bestätigt wurde, am 3. Oktober kurz vor vier Uhr wieder in Ihrer Wohnung an. Beiläufig sei bemerkt, dass der von hier kommende Schnellzug um drei Uhr zwanzig Minuten in Prag eintrifft. Ihre Sprechstunde war noch nicht vorüber, und es warteten zwei geduldige Patienten, die sich von Ihrer Hausdame mit der Aussicht auf Ihr baldiges Erscheinen hatten vertrösten lassen. Sie weigerten sich aber, diese gutmütigen Herrschaften, die einiger Rücksicht wohl wert gewesen wären, anzunehmen, weil Sie, so sagten Sie zu Ihrer Haushälterin, müde wären und sich zu Bett legen wollten. Ihr Aufenthalt bei der in ihrer Tugend so heiklen Dame muss also sehr anstrengend gewesen sein.«
»Ich finde Frauen immer anstrengend«, sagte Deruga, »besonders wenn sie dumm sind.«
»Nehmen wir also an«, sagte der Vorsitzende, während der Staatsanwalt die Hände rang und seine unter diabolisch geschwänzten Brauen fast verschwindenden Augen zum Himmel richtete, »dass die Ihnen befreundete Dame ebenso dumm wie tugendhaft ist! Gehen wir nun zu einem anderen wichtigen Punkt über! Wollen Sie erzählen, wann und wie Sie von dem Inhalt des Testamentes in Kenntnis gesetzt wurden, durch welches die verstorbene Frau Swieter Sie zum Erben ihres Vermögens einsetzte!«
»Anfang November«, sagte Deruga, »das Datum habe ich mir nicht gemerkt, durch die zuständige Behörde.«
»Sie sollen«, sagte Dr. Zeunemann, »Ihr Erstaunen und Ihre Freude lebhaft geäußert haben. Ich bemerke«, wiederholte er mit Nachdruck gegen die Geschworenen, »dass andere Personen dies bezeugen: Erstaunen und Freude.«
»O, edler Richter, wack’rer Mann«, sagte Deruga lächelnd.
»Bitte Zwischenbemerkungen zu unterlassen«, sagte der Vorsitzende. »Es ist bereits halb zwölf Uhr, und ich möchte bis zur Mittagspause mit Ihrem Verhör zu einem vorläufigen Ende kommen. Erzählen Sie uns bitte, wann und wie Ihnen zuerst etwas von dem gegen Sie erhobenen Verdacht zu Ohren kam!«
»Durch einen sehr anständigen Menschen«, begann Deruga, »sehr anständig und achtungswert, obgleich er nur ein roher italienischer Weinhändler ist. Der Mann heißt Tommaso Verzielli und kam vor fünfzehn Jahren als ein armer Teufel zu mir, nachdem er eine fünfjährige Gefängnisstrafe verbüßt hatte. Er hatte nämlich einen Polizisten niedergestochen, der eine arme alte Frau verhaften wollte, weil sie in einem Bäckerladen ein Brot genommen hatte. Er war sehr verzagt und wollte nach Italien zurück, denn unter Deutschen, sagte er, würde er doch nicht aus dem Gefängnis herauskommen, weil er fortwährend Dinge mit ansehen müsste, wobei ihm das Blut zu Kopfe stiege. Ich sagte, das würde in Italien nicht anders sein, und redete ihm zu, er sollte die Menschen sich untereinander zerreißen lassen, sie wären einander wert, und es wäre um keinen schade. Er solle heiraten und nur noch für Frau und Kinder arbeiten und sorgen, und außerdem gab ich ihm den Rat, einen Handel mit italienischen Weinen und anderen Lebensmitteln anzufangen, und schoss ihm ein kleines Kapital dazu vor. Das hat er mir längst zurückgestellt, denn durch Fleiß und Intelligenz brachte er sich schnell in die Höhe, aber er widmet mir immer noch eine Dankbarkeit, als ob ich ihm täglich neu das Leben schenkte.
Dieser Verzielli also kam Mitte November am späten Abend in voller Aufregung zu mir gelaufen und erzählte mir, der italienische Konsul, Cavaliere Faramengo, ein guter alter Herr, aber etwas schwachsinnig, sei bei ihm gewesen — Verzielli hat nämlich jetzt ein sehr feines Restaurant — und habe sich unter der Hand nach mir erkundigt und als tiefstes Geheimnis verraten, dass ich als Mörder meiner geschiedenen Frau verhaftet werden sollte. Der gute Mensch war außer sich und bot mir sein ganzes Vermögen an, wenn ich nach Amerika fliehen wollte. ›Deruga und fliehen? Da kennst du Deruga schlecht, guter Freund‹, sagte ich und lief sofort, trotz Verziellis Flehen, zum italienischen Konsul. Der arme alte Herr hat fast einen Schlaganfall bekommen, so heftig stellte ich ihn zur Rede, und da ich von ihm keine genügende Auskunft bekam, reiste ich hierher, um den Ursprung des infamen Gerüchtes kennenzulernen.«
»Es musste Ihnen mitgeteilt werden«, fiel Dr. Zeunemann ein, »dass das Gericht bereits beschlossen hätte, die Anklage auf Mord gegen Sie zu erheben, und dass Sie eine etwaige Beleidigungsklage bis zur Beendigung des Prozesses zu verschieben hätten. Wenn Ihr erstes Auftreten, wie ich nicht unterlassen will zu bemerken, den Schein der Schuldlosigkeit erwecken konnte, so belastete Sie hingegen Ihr Verhalten dem Untersuchungsrichter gegenüber in bedenklicherweise. So haben Sie zuerst auf die Frage, wo Sie vom 1. bis 3. Oktober gewesen wären, die Antwort verweigert. Dann haben Sie erzählt, Sie wären in der Absicht, sich das Leben zu nehmen, fortgefahren, an einem beliebigen Haltepunkt ausgestiegen und dann aufs Geratewohl querfeldein gegangen, bis Sie in eine ganz einsame Gegend gekommen wären. An einem Flusse hätten Sie lange gelegen und mit sich gekämpft, bis Sie darüber eingeschlafen wären. Nach vielen Stunden festen Schlafes wären Sie ernüchtert aufgewacht, hätten sich noch eine Weile herumgetrieben und wären dann heimgefahren. Schließlich tauchte die Geschichte von der geheimnisvollen Dame auf. Der Born der Fantasie sprudelt sehr ergiebig bei Ihnen.«
»Nicht so wie Sie meinen«, sagte Deruga. »Ich wollte nur den Untersuchungsrichter ärgern und kann wohl sagen, dass mir das gelungen ist. Er hat beinah Nervenkrämpfe bekommen.«
Dr. Zeunemann ließ eine Pause verstreichen, bis das Gelächter im Publikum verstummt war, und sagte dann: »Es wundert mich, dass ein Mann in Ihrer Lage, in Ihrem Alter und von Ihrem Verstande sich so kindisch benehmen mag — oder so töricht, denn vielleicht waren Ihre verschiedenen Angaben auch nur ein Verfahren, darauf zugeschnitten, unsicher zu machen und irrezuführen.«
»Sind Sie schon einmal von einem täppischen Untersuchungsrichter ausgefragt worden?« fragte Deruga. »Nein, wahrscheinlich nicht. Also können Sie nicht wissen, wie Sie sich in solcher Lage benehmen würden. Allerdings vermutlich vernünftiger als ich. Sie haben eine beneidenswerte Konstitution. Sie sind so recht ein Musterbeispiel, wie der gesunde Mensch sein soll. Alle Erschütterungen durch hässliche Eindrücke, Fragen, Zweifel und Leidenschaften werden bei Ihnen durch eine tadellose Verdauung geregelt, sodass Sie sich immer im stabilen Gleichgewicht befinden; ich dagegen bin unendlich reizbar.«
Dr. Zeunemann hatte versucht, den Angeklagten zu unterbrechen, aber ohne genügenden Nachdruck. »Sie haben wohl auch mehr Ursache unruhig zu sein als ich«, sagte er jetzt mit leichter Ironie. »Vielleicht würden Sie sich wohler fühlen, wenn Sie es einmal mit vollkommener Offenheit versuchten, anstatt sich und uns durch Ihre Winkelzüge zu reizen.«
»Sie, Herr Präsident, will ich nicht ärgern, darauf können Sie sich verlassen«, sagte Deruga mit einem freundlich beschwichtigenden Tone, wie man ihn etwa einem Kinde gegenüber anschlägt.
*
»Warten Sie im Vorsaal des ersten Stockes auf mich«, flüsterte Justizrat Fein seinem Klienten zu, als gleich darauf die Sitzung aufgehoben wurde. Von dort aus gingen sie zusammen durch ein rückwärtiges Portal in die Anlagen, die auf eine stille Straße ohne Geschäftsverkehr führten. Vor einem mit Gesträuch bewachsenen Hange blieb der Justizrat stehen, stocherte mit der Spitze seines Regenschirmes in der alten, feucht-verklebten Blätterdecke und sagte: »Da muss es bald Schneeglöckchen und Krokus geben; ich will ihnen den Weg ein wenig frei machen.«
»Kommen Sie, kommen Sie«, sagte Deruga, den Justizrat am Arm ziehend. »Die finden ihren Weg ohne Sie. Sagen Sie, kann ich heute Nachmittag während der Sitzung nicht lesen oder noch lieber schlafen? Das Zeug langweilt mich unbeschreiblich, Sie könnten mir ja einen Stoß geben, wenn ich mich betätigen muss.«
»Machen Sie keine Dummheiten«, sagte der Justizrat; »heute Nachmittag wird wahrscheinlich der Hofrat von Mäulchen vernommen, der sehr schlecht für Sie aussagen wird. Sie müssen also aufpassen, ob Sie ihm nicht Ihrerseits etwas am Zeuge flicken können.«
»Am Zeuge flicken!« rief Deruga aus. »Umbringen möchte ich ihn. Ich hasse diesen Menschen, vielmehr diesen rosa Wachsguss über einer Kloake.«
»Hören Sie, Deruga«, sagte der Justizrat. »Ich verstehe Sie öfters nicht, doch das am wenigsten, wie Sie einem Menschen Geld schuldig bleiben mochten, den Sie hassten. Sie hätten doch das Geld auch von anderer Seite haben können, zum Beispiel von dem guten Verzielli.«
»Wahrscheinlich hätte es Ihr Ehrgefühl verletzt, einem verhassten Menschen Geld zu schulden«, sagte Deruga. »Sehen Sie, bei mir ist das anders. Mir machte es Vergnügen zu sehen, was für Angst er um seine Taler hatte, und wie er sich quälte, die Angst nicht merken zu lassen, sondern den Anschein zu wahren, als wäre es ihm ganz gleichgültig. Denn er will erstens für unermesslich reich und zweitens für sehr weitherzig in Geldsachen gelten. Hätte ich Geld im Überfluss gehabt, würde ich ihn wahrscheinlich doch nicht ausbezahlt haben, um ihn zappeln zu sehen.«
»Ich glaube, Sie können fürchterlich hassen«, sagte der Justizrat nachdenklich, indem er den Doktor nicht ohne Bewunderung von der Seite betrachtete.
Dieser lachte herzhaft und ausgiebig wie ein Kind. »Das kann ich allerdings«, sagte er. »Ich möchte manchmal einem ein Messer im Herzen herumdrehen, nur weil mir seine Mundwinkel nicht gefallen. Ich will mich aber heute Nachmittag Ihnen zuliebe zusammennehmen, so gut ich kann.«
»Ja, darum bitte ich«, sagte der Justizrat, »ich fühle mich doch etwas verantwortlich für Sie.«
*
Hofrat von Mäulchen erschien in gewählter Kleidung, in einen angenehmen, mondänen Duft getaucht, mit dem leichten und sicheren Gang dessen, den allgemeine Beliebtheit trägt, im Schwurgerichtssaale. Die Eidesformel, die der Präsident ihm vorsprach, wiederholte er mit liebenswürdiger Gefälligkeit und einem leicht fragenden Ausklang, so, als wolle er sich bei jedem Satz vergewissern, ob es dem Vorsitzenden und dem lieben Gott so auch recht wäre.
»Der Angeklagte«, begann Dr. Zeunemann das Verhör, als alle Förmlichkeiten abgetan waren, »ist Ihnen seit Mai 19.., also seit fünf Jahren, sechstausend Mark schuldig. Wollen Sie, bitte, erzählen, wie Sie den Angeklagten kennenlernten, und wie es kam, dass er das Geld von Ihnen borgte!«
»Beides ist schnell getan«, sagte der Hofrat. »Ich lernte Deruga im ärztlichen Verein kennen, außerdem hat er mich gelegentlich einer kleinen Wucherung in der Nase behandelt. Kollegen empfahlen ihn mir, weil er eine besonders leichte Hand habe, was meine eigene Erfahrung bestätigt hat. Es handelte sich bei mir allerdings um einen sehr einfachen Fall, aber auch darin kann man ja seine Fähigkeiten beweisen. Gewisse kleine Originalitäten und Wunderlichkeiten hatte er an sich, zum Beispiel erinnere ich mich, dass er mich immer in der Erwartung hielt, als käme etwas außerordentlich Schmerzhaftes, was doch gar nicht der Fall war. Ich habe sagen hören, dass er nach Belieben, sagen wir nach Laune, die Patienten ganz schmerzlos oder sehr grob behandelte. Aber das gehört eigentlich nicht hierher, und so weit meine persönliche Erfahrung reicht, kann ich ihn als Arzt nur loben. Als ich nun gelegentlich eine Bemerkung über die schäbige Ausstattung seines Wartezimmers machte, sagte er mir, er habe kein Geld, um sich so einzurichten, wie er möchte, worauf ich ihm, einem augenblicklichen Gefühl folgend, so viel anbot, wie er brauchte. Ich bin vielleicht kein sehr besonnener Rechner«, schaltete der Hofrat mit einem Lächeln ein, »aber in diesem Falle, einem Kollegen und tüchtigen Arzt gegenüber, glaubte ich gar nichts zu riskieren.«
»Hat der Angeklagte das Geld für eine neue Einrichtung verwendet?« fragte der Vorsitzende.
»Darüber kann ich aus eigener Anschauung nichts sagen«, antwortete der Hofrat. »Es wurde mir später einmal zugetragen, geschwatzt wird ja viel, die Sessel seines Wartezimmers würden immer schäbiger; begreiflicherweise habe ich es aber vermieden, ihn aufzusuchen und mich darüber zu unterrichten.«
»Wollen Sie sich dazu äußern?« wendete sich der Vorsitzende gegen Deruga. »Haben Sie sich für das geliehene Geld Ihr Wartezimmer neu eingerichtet?«
»Gehört das hierher?« fragte Deruga. »Ich glaubte immer, man könne sein Geld verwenden, wie man wolle, einerlei, ob es geliehen oder gestohlen ist.«
»Sie verweigern also die Antwort?«
»Soviel ich mich erinnere«, sagte Deruga mürrisch, »habe ich Instrumente, moderne Apparate, einen Operationsstuhl und dergleichen dafür gekauft.«
»Sie haben«, setzte der Präsident die Zeugenvernehmung fort, »im Laufe der nächsten Jahre den Angeklagten niemals gemahnt?«
»Bewahre«, erwiderte der Hofrat. »Einen Kollegen! Überhaupt würde ich das ohne genügende Gründe niemals tun. Ich hatte das Geld eigentlich schon verloren gegeben, denn das Gerede ging, als betriebe Deruga seine Praxis nur nachlässig und führe ein sehr ungeregeltes Leben. Ich habe übrigens, wie ich gleich vorausschicken will, der Wahrheit dieses Geredes nicht nachgeforscht und bitte, keine Schlüsse daraus zu ziehen.«
»So gehen wir ohne weiteres zu dem Anlass über«, sagte Dr. Zeunemann, »der Sie bewog, das Geld zurückzufordern. Wollen Sie den Vorgang im Zusammenhang erzählen!«
»Im September vorigen Jahres«, berichtete der Hofrat, »traf ich mit Deruga in dem schon erwähnten ärztlichen Verein zusammen, nachdem ich ihn fast ein Jahr lang nicht gesehen und das Geld sozusagen vergessen hatte. Er rief mir über den Tisch hinüber in ziemlich formloser Weise zu, er wolle eine Patientin, von der er glaube, dass sie ein Unterleibsleiden habe, zu mir schicken, ich solle sie untersuchen und nötigenfalls behandeln, aber umsonst, zahlen könne sie nicht. Mehr über seine Art und Weise als über die Sache selbst verstimmt, erwiderte ich, wie ich gern glauben will, ein wenig kühl, ich sei mit Arbeit sehr überhäuft, die Kranke könne ja zu dem in Betracht kommenden Kassenarzt gehen. Darauf wurde Deruga kreideweiß im Gesicht und überhäufte mich mit einem Schwall von Beleidigungen, wie, dass ich es nur auf Geldmacherei abgesehen hätte, der Arzt für Kommerzienrätinnen und fürstliche Kokotten wäre und dergleichen mehr, was ich nicht wiederholen will. Ich möchte bemerken, dass ich glaube, wie ungerecht seine Beschuldigungen auch waren und wie unpassend auch die Form war, wie er sie erhob, er machte sie bona fide. Er hatte die Meinung, ich sei gemütlos und strebte nur nach klingendem Erfolg und äußerem Glanz, vielleicht weil ihm infolge einer gewissen volkstümlichen oder zigeunerhaften Veranlagung der Sinn für geregeltes bürgerliches Leben mit seinen traditionellen Begriffen von Anstand und Ehre überhaupt abgeht. In jenem Augenblick vermochte ich mich zu dieser objektiven Ansicht nicht zu erheben, sondern, ich gestehe es, ich fühlte mich verletzt und im Innersten empört.«
»Beinah wäre der rosa Wachsguss geschmolzen«, flüsterte Deruga dem Justizrat zu.
»Ohne mein entrüstetes Gefühl zu zügeln oder es nur zu wollen, antwortete ich heftig, er habe am wenigsten Ursache, mir derartige Vorwürfe zu machen, da ich ihm bereitwillig ausgeholfen und den Verlust nicht nachgetragen hätte. Ich hätte ihn damals für zahlungsfähig gehalten, sagte er boshaft, sonst würde ich ihm nichts geborgt haben. Allerdings, sagte ich, hätte ich einen Kollegen für so ehrenhaft gehalten, dass er seine Schulden bezahlte, und da er mich nun selbst herausfordere, solle er es auch tun. Der Streit wurde dann durch mehrere Kollegen, die sich ins Mittel legten, geschlichtet. Bevor wir uns trennten, sagte ich zu Deruga, er solle das, was ich vorhin in heftiger Aufwallung gesagt hätte, nicht so auffassen, als wolle ich ihn drängen. Erlauben Sie mir bitte, festzustellen, dass ich der ganzen Sache aus freien Stücken niemals in der Öffentlichkeit Erwähnung getan haben würde!«
»Darf ich bitten«, sagte Justizrat Fein, sich an den Zeugen wendend, »Sie sind nachher mit keinem Wort und mit keiner Andeutung auf die Geldangelegenheit zurückgekommen?«
»Nein, durchaus nicht«, antwortete der Hofrat. »Es tat mir im Gegenteil leid, dass ich mir in der Erregung die Mahnung hatte entschlüpfen lassen.«
»Also«, sagte der Justizrat, »war die Lage für Dr. Deruga nicht im mindesten verändert, und es liegt kein Grund zu der Behauptung vor, er habe sich durchaus Geld verschaffen müssen, um die fällige Schuld zu bezahlen.«
»Ich bitte sehr«, rief der Staatsanwalt, »durch den Vorfall im ärztlichen Verein war das Schuldverhältnis einer ganzen Reihe von Kollegen bekannt geworden; das ist denn doch eine erhebliche Veränderung der Lage. So viel Ehrgefühl dürfen wir doch bei einem jeden gebildeten Manne voraussetzen, dass ihm das nicht gleichgültig war.«
»Nehmen wir, bitte, Dr. Deruga wie er ist, und nicht, wie er nach der Meinung anderer sein sollte. Da es ihm nichts ausmachte, dem Hofrat von Mäulchen Geld schuldig zu bleiben, für den er augenscheinlich keine besondere Vorliebe hatte, lag ihm wahrscheinlich sehr wenig daran, dass ein paar andere Kollegen, mit denen er, wie es scheint, ganz gut stand, davon wussten. Jedenfalls, wenn er früher so dickfellig in diesem Punkt war, wird er nicht plötzlich so empfindlich geworden sein, dass er ein Verbrechen beging, um sich aus der Klemme zu ziehen.«
Die gemächliche Grandezza, mit der der Justizrat dastand, die Wucht seiner massigen Gestalt und seines großgeformten, ruhigen Gesichtes überzeugten noch wirksamer als seine Worte und brachten seinen zappeligen Gegner außer Fassung.
»Ja, wenn der Mensch immer so folgerichtig wäre!« sagte er heftig. »Dafür, dass Männer lieber Verbrechen begehen, als einen Fleck auf ihrer sogenannten bürgerlichen Ehre dulden, finden sich viele Beispiele.«
Dr. Zeunemann hob Ruhe gebietend seine Hand.
»Eine verbrecherische Handlung wird dem Angeklagten zunächst noch gar nicht zugemutet«, sagte er. »Wenn er seine geschiedene Frau um Geld anging, so war das höchstens taktlos, und es ist umso weniger auffallend, als wir aus vielen Zeugnissen wissen, dass er diese Hilfsquelle öfters in Betracht zog. Halten Sie«, wendete er sich an den Hofrat, »die Schuld für ein Motiv, das stark genug gewesen wäre, den Angeklagten zu veranlassen, sich auf irgendeine ungewöhnliche oder bedenkliche, etwa sogar verbrecherische Weise in den Besitz von Geld zu setzen?«
»Ich muss sehr bitten«, wehrte der Hofrat ab, »mir die Antwort zu erlassen. Ich schrecke umso mehr davor zurück, ein Urteil darüber zu äußern, als ich nicht in der Lage war, mir eines zu bilden. Ich bin mit der Psyche Derugas nicht vertraut, könnte mich nur in Fantasien ergehen, aber selbstverständlich bin ich eher geneigt, Gutes als Schlechtes von einem Kollegen zu denken.«
»Sie waren«, fuhr der Vorsitzende fort, »derjenige Kollege, dem der Angeklagte am 1. Oktober zwischen sechs und sieben Uhr in der Nähe des Bahnhofs begegnete, und der ihn fragte, ob er in den ärztlichen Verein wolle?«
»Jawohl«, sagte der Hofrat. »Ich stellte die Frage, weil ich mich nach dem, was kürzlich vorgefallen war, kollegial zu ihm verhalten wollte. Seine Antwort, er wolle verreisen, erregte mir keinerlei Zweifel, da wir ja in der Nähe des Bahnhofs waren und Deruga ein Paket trug. Dasselbe fiel mir auf, weil es größer war, als Herren unserer Gesellschaftskreise solche zu tragen pflegen.«
Der Vorsitzende wandte sich an Deruga mit der Frage, ob er zugebe, ein Paket getragen zu haben, und was darin gewesen sei.
»Ich erlaubte mir allerdings«, sagte Deruga, »als ein armer Teufel, der sich nicht erdreistet, zu den Gesellschaftskreisen des Herrn von Mäulchen gehören zu wollen, ein Paket zu tragen. Darin wird Wäsche und dergleichen gewesen sein, was man für die Nacht braucht.«
Der Staatsanwalt schnellte von seinem Sitz auf und bat, dass festgestellt werde, ob Deruga, als er am 3. Oktober in seine Wohnung zurückkehrte, ein Paket bei sich gehabt habe.
»Die Haushälterin wird gleich vernommen werden«, sagte der Vorsitzende. »Der Angeklagte antwortete Ihnen, Herr Hofrat, er wolle verreisen, und Sie begleiteten ihn bis zum Bahnhof. Können Sie sonst etwas Sachdienliches mitteilen?«
»Nein, durchaus nicht«, beteuerte der Hofrat. »Gerüchte und Schwätzereien zu wiederholen werden Sie mir erlassen, da dergleichen ja mehr oder weniger über jeden Menschen in Umlauf ist und in ernsten Fällen nicht in Betracht gezogen werden sollte.«
»Vielleicht könnten Sie doch sagen«, fragte der Vorsitzende, »was für einen Ruf Dr.