Der Fall Erdogan - Sevim Dagdelen - E-Book

Der Fall Erdogan E-Book

Sevim Dagdelen

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Beschreibung

Wann tritt die EU der Turkei bei? Der EU-Türkei-Deal in Sachen Flüchtlingspolitik macht es deutlich: Die oft beschworenen europäischen und demokratischen Werte spielen keine Rolle mehr. Die Causa Böhmermann, der Bürgerkrieg im Osten des Landes, Verstöße gegen die Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei, Repressalien gegen ausländische Medienvertreter – das Land am Bosporus ist plötzlich mitten im Fokus. Aber was eigentlich treibt Präsident Erdogan an? Wie sollten die politischen Antworten aussehen? Und wie steht es um die Verteidigung der Grundrechte? Sevim Dagdelen beleuchtet die dortigen Machtverhältnisse, die verschiedenen Akteure und auch ihren Einfluss auf Deutschland. Sie hat mit dem verurteilten Journalisten Can Dündar gesprochen, mit dem kurdischen Politiker Selahattin Demirtas und vielen anderen. Erdogans Arm greift nach Europa – wer wissen will, was das für uns bedeutet, muss die Hintergründe und Konflikte in der Türkei verstehen.

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Ebook Edition

Sevim Dagdelen

Der Fall Erdogan

Wie uns Merkel an einen Autokraten verkauft

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www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489658-4

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2016

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Titel
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
1 Der EU-Türkei-Deal
2 Schauprozesse
3 Botschaften und Botschafter
4 Der Fall Böhmermann und die Folgen
5 Krieg gegen die Kurden
6 Der Putschversuch
7 Erdogans Staatsputsch
8 Der Pakt mit dem islamistischen Terrorismus
9 Miteinander in der NATO
10 Die ökonomische Achse Berlin-Ankara
11 Der Fall Fazil Say
12 Islamisierung und Sunnitisierung
13 Muslimbrüder versus Gülen
14 Gezi-Park
15 »Ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht«
16 Erdogans Parteien in Europa
17 Erdogans Netz in Deutschland
18 Staatliche Religionsbehörde in Aktion
19 Was tun gegen Erdogan?
Anmerkungen

Vorwort

von Can Dündar

In den türkischen Schulbüchern heißt es über das Ende des Ersten Weltkrieges: »Die osmanischen Soldaten kämpften heldenhaft an allen Fronten, doch als die Deutschen besiegt waren, galten auch wir als besiegt.«

Wenn ich mir die Zeitläufte heute, ein Jahrhundert später, anschaue, scheint mir eine Revanche für 1918 im Gange zu sein. Im Krieg um Demokratie und Menschenrechte wird, da die Türkei besiegt ist, schließlich auch Deutschland, das von Anfang an vor jeder ihrer Unrechtshandlungen die Augen verschloss, als besiegt gelten.

Diesen Verlauf scheint Kanzlerin Merkel gespürt zu haben, als sie bei ihrem wer weiß wievielten Besuch in Istanbul zum Treffen mit Erdogan auf dem vergoldeten Thron saß. Nervosität und Anspannung standen ihr ins Gesicht geschrieben. Doch was man ihrer Miene ablesen konnte, hörte man von ihren Lippen nicht.

Als die Türkei zum weltweit größten Gefängnis für Journalisten gemacht und die Pressefreiheit mit Füßen getreten wurde,als Akademikerinnen und Akademiker, Schriftsteller und Künstler verhaftet wurden, weil sie Unterschriften für den Frieden gesammelt hatten,als Städte im Südosten durch Panzerbeschuss zerstört wurden,als die Immunität von Abgeordneten aufgehoben wurde,als eine Hexenjagd auf Oppositionelle eingeleitet wurde,

… da war Merkel stets darauf bedacht, kein einziges Wort zu sagen, das Ankara betrüben könnte, und sich kein einziges Mal mit der Opposition zu treffen. Sie schwieg auch,

als der türkische Staatspräsident, ermutigt durch ihre Unterstützung, »Bluttests« von Abgeordneten im Deutschen Bundestag forderte;als ihren eigenen Staatssekretären und Abgeordneten die Erlaubnis zum Besuch der auf dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik stationierten deutschen Soldaten verweigert wurde;als der deutsche Botschafter in Ankara nachgerade zur Persona non grata erklärt wurde, weil er Unrechtmäßigkeiten bei Gerichten beobachtet hatte.

Zu alldem schwieg Merkel und erlaubte obendrein, dass von diesen zigtausend Beleidigungsprozessen, die Erdogan anstrengte, einer auch in ihrem eigenen Land eröffnet wurde, um Ankara glücklich zu machen.

Während wir uns vom Westen Unterstützung im Kampf für die Demokratie erhofften, tat der Westen das Gegenteil und importierte seinerseits die Autokratie aus der Türkei. Weswegen? Um eines schmutzigen Abkommens wegen, das Flüchtlinge vom europäischen Kontinent fernhalten soll. Womöglich hat dieses Abkommen tatsächlich Millionen von Flüchtlingen daran gehindert, nach Europa zu gelangen, doch weder brachte es den Türken Visafreiheit, noch taugte es zum Schutz Europas vor der aufbrandenden Nationalismuswelle.

Die in Ankara tolerierte autokratische Regierungsform bereitet sich auch zur Machtübernahme in europäischen Hauptstädten vor. Die EU-Skepsis im Osten und die Islamophobie im Westen schaukeln sich – zwei Messern gleich, scharf geschliffen, indem man sie aneinander wetzt – gegenseitig hoch und versperren der Welt den Weg in die Zukunft. Europa, ein Synonym für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat, entfremdet sich den eigenen Werten, je mehr es sich angesichts terroristischer Bedrohung an eine Sicherheitspolitik klammert.

Doch so wenig die Türkei allein aus Erdogan besteht, so ist Deutschland nicht allein Merkel. Wie es in der Türkei Menschen gibt, die sich ungeachtet aller Bedrohungen für Demokratie einsetzen, gibt es auch in Deutschland Menschen, die beharrlich für Frieden, Demokratie und Freiheit einstehen und nicht bereit sind, um kurzfristiger Interessen willen die universellen Werte der Menschlichkeit aufzugeben.

Eine von ihnen ist Sevim Dagdelen.

Eine Politikerin, die unseren Kampf unterstützt, die zu unseren Verhandlungen anreiste, die weiß, dass die Lösung nicht in einer Interessengemeinschaft mit den Regierungen liegt, sondern in der internationalen Solidarität der Völker. Sie ist eine von denen, die herausragende Beiträge dazu leisten können, dass die erhoffte Brücke zwischen Deutschland und der Türkei aus demokratischen, friedlichen und freiheitlichen Steinen erbaut werden kann.

Was sie in diesem Buch schreibt, ist wegweisend für beide Länder.

Folgendes dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren: Wir sind nicht in Deutsche und Türken getrennt. Wir sind gespalten in Türken und Deutsche, die an Demokratie, Freiheit, Frieden, Recht und Gerechtigkeit, Arbeit und Engagement, Menschenrechte und Gleichberechtigung von Mann und Frau glauben, auf der einen Seite – und Türken und Deutsche, die nicht daran glauben, auf der anderen.

Wenn dieses Mal Letztere besiegt werden, gelten Erstere als Sieger.

(aus dem Türkischen von Sabine Adatepe)

Einleitung

Dies ist weder ein Türkei-Buch, noch geht es um die Machenschaften des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan oder den Schiffbruch der deutschen Bundesregierung mit ihrer Türkei-Politik allein. Im Mittelpunkt steht vielmehr das deutsch-türkische Verhältnis. Ein Verhältnis, das von einer zunehmenden Unterwürfigkeit insbesondere der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihres Außenministers Frank-Walter Steinmeier gegenüber einer autokratisch regierten Türkei im Allgemeinen und ihrem Präsidenten Erdogan im Besonderen geprägt ist.

Angesichts der Unterwerfung der deutschen Bundesregierung aus Christ- und Sozialdemokraten unter die düsteren Prämissen der Politik Erdogans ist gerade im vergangenen Jahr das Thema Türkei von einem Metier für außenpolitische Spezialisten zu einem Gegenstand geworden, der uns alle angeht. Ein zyprischer Freund erzählte mir jüngst einen Witz, mit dem man versucht, sich das Verhalten Merkels im Ausland zu erklären. Es habe den Anschein, als ginge es der Kanzlerin nicht um einen Beitritt der Türkei zur EU, sondern ganz im Gegenteil um einen Beitritt der EU zur Türkei. Und in der Tat kann man sich dieses Eindrucks nicht erwehren, auch wenn die EU alles andere als ein Hort der Freiheit, Demokratie und des Rechts ist. Denn gerade die Bundeskanzlerin ist dem türkischen Staatspräsidenten in einer ungeahnten Weise entgegengekommen.

In meinem Buch versuche ich, nur einige wenige ihrer Ver­biegungen und Verbeugungen – von der Resolution zum Völker­mord an den Armeniern über die Bedrohung von Bundestagsabgeordneten bis zur Affäre um den Satiriker Jan Böhmermann – schlaglichtartig zu beleuchten. Aber schwerer als das persönliche Versagen wiegt die Ausrichtung der deutschen Politik auf Erdogans Türkei bei der Flüchtlingsabwehr, auf die geopolitische und geostrategische Lage des Landes am Bosporus im Rahmen der NATO sowie auf die Bedeutung der Türkei für den deutschen Kapitalexport und profitable Anlagemöglichkeiten. Diese dreifache Fixierung, so meine These, führt fast schon naturgesetzlich zur Blindheit der Bundesregierung gegenüber den schlimmsten Menschenrechtsverletzungen gerade auch in Folge des Putschversuchs und der anschließenden Welle von Massenentlassungen, Massenverhaftungen und Folterungen. Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier ermutigen den türkischen Präsidenten Erdogan nicht nur zu immer neuen Untaten in seinem Land, sondern gefährden durch ihre Allianz mit dem Autokraten auch die Sicherheit und Freiheit der deutschen Bevölkerung.

Die Bundesregierung selbst bekennt einem Bericht der Tagesschau am 16. August 2016 zufolge in ihrer Antwort auf meine Kleine Anfrage, dass sich die »Türkei zur zentralen Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen der Region des Nahen und Mittleren Ostens entwickelt« hat. Allein, sie weigert sich, daraus irgendwelche Schlussfolgerungen für ihren Umgang mit Erdogans Türkei zu ziehen. Steinmeiers Auswärtigem Amt wäre es sogar lieber gewesen, derartig offenherzige Einschätzungen des Innenministeriums hätten grundgesetzwidrig weder die Bundestagsabgeordneten noch die Öffentlichkeit erreicht. Ein Skandal im Skandal. Es wäre aber zudem naiv, sich den regional beschränkten Blickwinkel der Bundesregierung zu eigen zu machen. Denn es geht Erdogan nicht nur um den Nahen Osten. Es geht ihm auch um Europa und um Deutschland. Hier agiert sein engmaschiges Einflussnetz bisher weitgehend ungestört von deutschen Behörden. Es mutet geradezu grotesk an, wenn die Kanzlerin meint, dem mit Loyalitätsappellen an die »türkeistämmigen« Migrantinnen und Migranten in Deutschland begegnen zu können, während der Einfluss Erdogans auch aufgrund ihrer Kotaupolitik hierzulande weiter wächst. In der bereits angeführten Antwort der Bundesregierung heißt es ferner: »Die zahlreichen Solidaritätsbekundungen und Unterstützungshandlungen für die ägyptische MB (Muslimbruderschaft, Anm. der Tagesschau-Redaktion), die Hamas und Gruppen der bewaffneten islamistischen Opposition in Syrien durch die Regierungspartei AKP und Staatspräsident Erdogan unterstreichen deren ideologische Affinität zu den Muslimbrüdern.« Das heißt, dass die Bundesregierung, die den türkischen Staatspräsidenten Erdogan zum Partner hat und weiterhin haben will, sehr wohl weiß, dass er den islamistischen Terror fördert.

Genau von diesem fortgesetzten Skandal handelt dieses Buch. Die Krone setzt diesem Vorgehen die türkische Invasion in Syrien auf. Formal geht es wieder einmal bei Erdogan gegen den IS, in Wirklichkeit aber gegen die syrischen Kurden. Mit brutaler Gewalt und einem neuerlichen Völkerrechtsbruch setzt er seine geopolitischen Interessen in Syrien durch. Islamistische Mörderbanden bahnen ihm dabei den Weg für sein Konzept einer türkischen Pufferzone jenseits der Grenze in Syrien. Die USA zeigten sich hinsichtlich dieser türkischen Interventionszone lange zurückhaltend, bis US-Vizepräsident Joe Biden bei seinem Türkei-Besuch nach dem Putschversuch grünes Licht gab und zugleich die syrischen Kurden fallen ließ wie eine heiße Kartoffel. Erdogans Wink, er könne auch auf Russland setzen, wurde offenbar prompt verstanden. Wer aber in der NATO hatte sich Erdogans Idee der Pufferzone in Syrien als erste zu eigen gemacht? Richtig, es war Angela Merkel, denn die Förderung islamistischen Terrors durch die Türkei nahm man sehr wohl zur Kenntnis, wollte sie aber ganz nach dem Vorbild Erdogans für sich instrumentalisieren. Bereits im Oktober 2015 sprach sich die Bundeskanzlerin für die Pufferzone aus, denn die Türkei befinde sich in einer schwierigen geopolitischen Lage. Die Kurden, die in erster Linie daran beteiligt waren, den IS im Norden Syriens zu vertreiben, werden jetzt von Gruppen, die mit Al-Qaida kooperieren, und unter der Drohung der USA, ihre Unterstützung einzustellen, gezwungen, die von ihnen befreiten Gebiete islamistischen Mörderbanden zu überlassen.

Auch das Auswärtige Amt kann daran nichts Anstößiges finden. Offensichtlich bestehe das Interesse der Türkei auch darin, dass im Norden Syriens kein Gebiet unter vollständiger kurdischer Kontrolle entstehe, hieß es dort im August 2016. Dies müsse man zur Kenntnis nehmen. Ankara gehe »zu Recht oder zu Unrecht« davon aus, dass es Verbindungen zwischen der auch von Deutschland als Terrororganisation angesehenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) auf türkischer Seite und Teilen der Kurden auf syrischer Seite gebe. »Wir respektieren das, und wir sind auch der Meinung, dass es das legitime Recht der Türkei ist, gegen diese terroristischen Umtriebe vorzugehen.«

Die Bundesregierung setzt in vielfältiger Weise auf Erdogan als Partner. Aber Erdogan ist kein Partner, erst recht nicht für Verhandlungen. So warnt der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk: »Die Gedankenfreiheit existiert nicht mehr. Wir bewegen uns mit großer Geschwindigkeit von einem Rechtsstaat zu einem Terrorregime.« Es ist wichtig, an einem Dialog festzuhalten, wer aber Erdogan vertraut oder sich gar auf ihn verlässt, der setzt sich wie die Kanzlerin zwangsläufig stets neuen Erpressungen aus. Im Rahmen parlamentarischer Besuchsreisen bin ich ihm mehrfach begegnet, dabei machte er auf mich ganz stark den Eindruck eines brutalen Machtmenschen, der im persönlichen Umgang mit anderen auf Einschüchterung, Lügen und plumpe Machtgesten setzt. Als ich ihn von Angesicht zu Angesicht auf seine Verwicklung in die Islam-Holdings in Deutschland, die Tausende kleiner Anleger ihr mühsam Erspartes kosteten, ansprach, reagierte er unwirsch und versuchte mir Angst zu machen. Schon damals agierte Erdogan wie ein Pate, der einem schlechten Mafiafilm entsprungen zu sein schien.

Im September 2016 kam es zu einem vorerst letzten Höhepunkt der Unterwerfungspolitik gegenüber Erdogan. So distanzierte sich die Bundesregierung, um Besuche von Bundestagsabgeordneten bei Bundeswehrsoldaten auf dem türkischen Luftwaffenstützpunkt in Incirlik zu ermöglichen, von der Armenien-Resolution des deutschen Parlaments. Die türkische Seite jubelte, dass dabei sogar die Wortwahl Ankaras übernommen wurde. Alle anschließenden Dementis, es habe sich nicht um eine Distanzierung gehandelt, blieben unglaubwürdig. Das Verfassungsorgan Bundestag wurde in einer bisher nicht gekannten Art und Weise von der Bundesregierung desavouiert.

Es ist genau dieser moralische Bankrott der Bundeskanzlerin und der Regierung, der sie vorsteht, der nach einer radikalen Wende in der Türkei-Politik schreit. Und dabei geht es nicht nur um die Menschen in der Türkei, sondern um uns alle. Ein geistig-moralischer Beitritt zur Türkei Erdogans muss verhindert werden.

1 Der EU-Türkei-Deal

Nach Auffassung eines Beraters von Recep Tayyip Erdogan sollte die türkische Politik allein dem türkischen Präsidenten vorbehalten bleiben. »Es ist nicht notwendig, dass jemand anderes Politik macht«, sagte Erdogan-Berater Yigit Bulut am 14. Juni 2016 im türkischen Staatssender TRT Haber. Erdogan sei der Mann für die Innen- und die Außenpolitik. »Unsere Aufgabe in diesem Land ist es, den Anführer zu unterstützen«, so Bulut. Und so ist Erdogan auch der Mann für den EU-Türkei-Deal zur Abwehr von Flüchtlingen. Zwar wurde von Seiten der EU mit dem damaligen Ministerpräsidenten Ahmed Davutoglu verhandelt. Im Hintergrund aber zog Erdogan die Fäden.

Dieser EU-Türkei-Deal ist es, der sich als das Instrument des türkischen Präsidenten erweisen sollte, die EU und insbesondere die deutsche Bundesregierung und die deutsche Bundeskanzlerin zu erpressen. Am 18. März 2016 hatten die EU und die Türkei in Brüssel das umstrittene Abkommen abgeschlossen. Die Vereinbarung bestand de facto aus zwei Teilen. Zum einen sagte die Türkei zu, alle »irregulär« über die Ägäis auf die griechischen Inseln wie Lesbos, Chios oder Samos gelangten Menschen, darunter auch die Kriegsflüchtlinge aus Syrien, aufzunehmen. Im Gegenzug sicherte die EU zu, in begrenztem Rahmen syrische Flüchtlinge aus der Türkei in die EU einreisen zu lassen. Ziel war es, die Ankunft von Flüchtlingen zu verhindern. Genau dies veranlasste die EU-Kommission bereits wenige Monate nach Abschluss zu einer regelrechten Jubelmeldung. »In den Wochen vor der Umsetzung der Erklärung sind täglich rund 1 740 Migranten über die Ägäis auf die griechischen Inseln gelangt. Dagegen lag die durchschnittliche Zahl der irregulären Grenzübertritte im Mai bei 47«, erklärte die EU-Kommission im Juni 2016. Gerade die von der Kommission gefeierte Abschottungsstrategie stand im Fokus aller interna­tionalen Menschenrechtsorganisationen, von Amnesty International bis zum UN-Flüchtlingshilfswerk. Denn die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention, die Flüchtlinge u.a. vor einem Zurückschieben in ihre Verfolgerländer schützt, nur für europäische Flüchtlinge ratifiziert. Alle Flüchtlinge aus Afrika wie aus Asien und hier insbesondere aus Syrien, Irak und Afghanistan genießen in der Türkei somit keinen völkerrechtlichen Flüchtlingsschutz.

Teil zwei der Vereinbarung, der der Bevölkerung auch von der Bundesregierung weniger gerne vermittelt wurde, beinhaltet aber, dass der Türkei beschleunigt die Visafreiheit für alle ihre Bürgerinnen und Bürger zugestanden werden solle. Allerdings gibt es hierfür europarechtliche Regelungen, so dass die EU auf 72 Bedingungen zu bestehen hat, die die Türkei erfüllen muss. Darunter ist die Änderung bestehender Antiterrorgesetze in der Türkei, da diese dazu missbraucht werden können, um gegen Regierungskritiker vorzugehen. Der türkische Präsident hatte mehrfach gedroht, den Deal platzen zu lassen, wenn nicht die Visafreiheit umgehend gewährt werden würde. Die angemahnte Änderung der grundrechtsfeindlichen Antiterrorgesetze wies Erdogan brüsk zurück. So verwundert es nicht, dass gerade die deutsche Bundeskanzlerin in einer fast schon unheimlichen Art darauf drängt, hier doch noch zum Abschluss zu kommen, hängt doch ihre gesamte Flüchtlingspolitik daran, dass dieser Deal hält, und damit auch am Wohlwollen des türkischen Präsidenten.

Angela Merkel war sich deshalb nicht zu fein, für dieses Abkommen sämtliche europäischen Partner vor den Kopf zu stoßen. So waren diese nicht amüsiert, zu erfahren, dass die Blaupause für die Vereinbarung im deutschen Kanzleramt verfasst worden war und dann praktisch dem Ministerpräsidenten Davutoglu in die Tasche gesteckt wurde. Davutoglu wiederum bestand – auch um in der Türkei den Anschein von stolzer türkischer Souveränität zu wahren – auf einem Treffen in der türkischen EU-Vertretung in Brüssel, um sich dort mit der Kanzlerin und dem niederländischen Premier, der quasi als Anstandswauwau geladen war, über ein Papier zu einigen, das ihm die Deutschen längst diktiert hatten. Das Bild des Treffens aus der türkischen Botschaft darf denn fast schon als Sittengemälde der unkomfortablen Situation der Kanzlerin gelten. Sie musste sich in einen abgewetzten, schmutzigbraunen, zu niedrigen Ledersessel im Vorraum der Botschaft zwängen, während ihr Gegenüber Davutoglu sein schmierigstes Lächeln aufgesetzt hatte und sich über die Pressefotos freute. Dies war für Angela Merkel der Beginn einer kühlkalkulierten Unterwerfung. Den Weg wird sie in der Folge konsequent weiter beschreiten.

Die EU-Kommission wiederum ist in dieser so entscheidenden Frage nicht mehr als eine Unterabteilung des Auswärtigen Amtes in Berlin. Dieser Eindruck jedenfalls drängt sich auf, wenn man sich die Äußerungen des zuständigen EU-Innenkommissars Dimitris Avramopoulos anschaut. Selbst nachdem der türkische Staatspräsident und seine AKP-Regierung den deutschen EU-Botschafter Hansjörg Haber im Juni 2016 wegen seiner Kritik an der Umsetzung des EU-Türkei-Deals regelrecht zum Rücktritt genötigt hatten, erklärte Avramopoulos lapidar: »Der Weggang des EU-Botschafters hat keinen Einfluss auf unsere zweiseitigen Beziehungen.«

Auch den Visa-Deal treibt der Grieche voran, als wäre er Ministerialdirektor bei Außenamtschef Frank-Walter Steinmeier. Wesentliche Bedingungen wie eine unabhängige Justiz und die Sicherung der Grenzen sieht er bereits erfüllt. Ankara müsse zwar noch verbliebene Bedingungen erfüllen. »Wir bleiben … bereit zu helfen«, so sein Versprechen. Die enge Abstimmung mit Angela Merkel wird auch dadurch erleichtert, dass Avramopoulos aus derselben Parteienfamilie kommt. Er gilt als konservatives Urgestein, absolvierte seinen Militärdienst im NATO-Hauptquartier in Brüssel und war unter Ministerpräsident Andonis Samaras von der Nea Dimokratia, der für die griechische Wirtschaftsmisere mitverantwortlich ist, erst Außen- und dann Verteidigungsminister.

Richtig, man mag seinen Ohren kaum trauen. Geht die EU-Kommission wirklich von einer unabhängigen Justiz in der Türkei aus? Ja, genau dies. Jedem denkenden Menschen mag das wie blanker Hohn vorkommen, aber in Brüssel gehen die Uhren anders.

Aber schauen wir auf die Fakten. Im Jahr 2010 hatte sich Erdogans AKP mit einem auch von der EU als Ausweis der Demokratisierung hochgejubelten Verfassungsreferendum (alleine die Oppositionspartei CHP und die alevitischen sowie linken Verbände hatten dagegen Front gemacht) den kompletten Zugriff auf die Justiz gesichert. Schauprozesse gegen Kritiker Erdogans wie im Fall des Komponisten Fazil Say oder des Journalisten Can Dündar, bei dem sogar die Öffentlichkeit ausgeschlossen und der Staatspräsident sowie der Geheimdienst MIT als Nebenkläger zugelassen wurden, sind an der Tagesordnung. Wer, wie die EU-Kommission, behauptet, das Kriterium einer unabhängigen Justiz in der Türkei für die Visafreiheit sei erfüllt, der ist entweder völlig naiv und ahnungslos oder aber bereit, jedes Verbrechen des türkischen Staatspräsidenten durchzuwinken. In der Frage der angeblichen Sicherung der Grenzen ist es noch schlimmer. Denn Erdogan spielte und spielt im syrischen Bürgerkrieg eine äußerst zwielichtige Rolle, um es vorsichtig auszudrücken. Zu dieser Rolle gehört, dass Erdogan die türkische Grenze zu den Teilen Syriens offen ließ, die von der Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) gehalten werden. So konnte sich der IS mit Nachschub an Kämpfern und Waffen über die Türkei versorgen. Eine sichere Grenze sieht jedenfalls anders aus. Aber auch von deutschen Offiziellen wie Innenminister Thomas de Maizière wurde das türkische Märchen, die Grenze sei mit ihren tausend Kilometern zu lang, zu unübersichtlich und deshalb nicht kon­trol­lier­bar, gerne nacherzählt, etwa im Interview in den Tagesthemen der ARD am 13. Januar 2016. Dabei hat Ankara bewiesen, dass es anders geht, denn die Grenze zu den von den kurdischen Selbstverteidigungskräften gehaltenen Gebieten im Norden Syriens ist dicht. Nicht einmal humanitäre Hilfe lässt die türkische Regierung hier durch. Zahlreiche verletzte kurdische Kämpfer verbluteten hier, weil Erdogan für sie die Grenze geschlossen hielt, während in türkischen Krankenhäusern Kämpfer des IS auf Staatskosten versorgt wurden. Fakt ist, die Grenze zum IS war gerade einmal neunzig Kilometer lang bis zum Einmarsch der Türkei im Norden Syriens. Wenn Erdogan vorgab, seine über 600 000 Sicherheitskräfte seien nicht in der Lage, ausgerechnet dieses Stück zu kontrollieren, dann streute er der EU-Kommission Sand in die Augen, und die schlief gern darüber ein.

Einer, der bei derlei Geschichten gerne im Hintergrund bleibt, aber als Drahtzieher für den EU-Türkei-Deal gilt, ist Uwe Corsepius. Er gehört zu den 89 Personen, gegen die Russland ein Einreiseverbot verhängt hat. Corsepius kennt die Brüsseler Bürokratie gut. Er war von 2011 bis 2016 Generalsekretär des Ministerrates. Der Posten ist öffentlich weithin unbekannt, aber einer der wichtigsten der EU. Seit Sommer 2015 ist Corsepius Leiter der Europaabteilung des Bundeskanzleramtes. Er gilt als glühender Transatlantiker. Früher hat er zudem für den Internationalen Währungsfonds gearbeitet. Am 15. Juni 2016 berichtete das Nachrichtenmagazin Politico, dass Corsepius in einer Nachricht an einen britischen Diplomaten die jüngsten Drohungen Erdogans als »lautes Getöse« bezeichnet hat. Der Merkel-Berater wies darauf hin, dass es im ureigenen Interesse Erdogans liege, die Beziehung zur EU aufrechtzuerhalten. In Berlin sei man außerdem zu dem Schluss gekommen, dass Erdogan genauso auf Europa angewiesen sei wie Europa auf die Türkei. Gerade die Visafreiheit, so Corsepius, sei ein wichtiges strategisches Ziel für die Türkei. Berlin warte nun darauf, dass sich die Gemüter beruhigten, heißt es in der Nachricht weiter. »Wir können die Kontrolle über die Situation behalten«, so Corsepius. Und in der Tat, bereits wenige Tage zuvor hatte die britische Zeitung The Telegraph berichtet, dass seitens der Bundesregierung mit der türkischen Führung darüber gesprochen bzw. verhandelt wurde, die Visaliberalisierung der EU mit der Türkei vom ursprünglich geplanten 1. Juni auf den Herbst 2016 zu verschieben, um dieses konfliktträchtige Thema auf die Zeit nach dem 23. Juni – also nach der Abstimmung der Briten über den EU-Verbleib – zu verschieben.

Merkel ist der EU-Türkei-Deal zu wichtig, um ihn an der Frage der Visafreiheit und den rechtlichen Rahmenbedingungen scheitern zu lassen. Bereits jetzt hat sie sich gemeinsam mit der Kommission über wichtige Vorbedingungen hinweggesetzt. Nach der Abstimmung in Großbritannien über den Austritt aus der EU legt sie erst richtig los. Dahingehend muss man auch die Aussagen ihres Chefberaters Corsepius lesen. Und wie wir sehen werden, setzt Merkel dabei nichts weniger als die Grundrechte in Deutschland aufs Spiel.

Corsepius hatte es angedeutet: Auch die Türkei kann nicht ohne den Deal. Was aber ist eigentlich für den türkischen Staatspräsidenten so wertvoll an diesem Pakt aus der Feder des Bundeskanzleramtes? Hier liegen die Dinge denkbar einfach, aber sie werden gerade von der Bundesregierung geflissentlich übersehen. Für Erdogan ist der Deal so immens wichtig, weil er die Visafreiheit, die er sich dann ja auf die Fahnen schreiben könnte, als Faustpfand in seiner Kampagne für ein autoritäres Präsidialsystem mit ihm an der Spitze einsetzen will. Dazu kommt – und dies erscheint fast als noch wichtiger –, dass er über den Deal ein Instrument zur Erpressung von EU und Bundesregierung in die Hand bekommen hat.

Und dieses Instrument setzt er permanent ein. Zu viel Kritik an der Türkei? Erdogan droht offen oder verdeckt damit, die Flüchtlinge wieder durchzulassen. So geschehen im April 2016 anlässlich eines Berichts des Europaparlaments zu Demokratiedefiziten in der Türkei. Dieser Report sei eine Provokation, so der türkische Staatschef – und brachte umgehend die Reduzierung der Flüchtlingszahlen ins Spiel. »Die Europäische Union braucht die Türkei mehr, als die Türkei die Europäische Union braucht«, so Erdogan – er beurteilt damit die Beziehungsgewichte ganz anders als Merkels Chefberater Corsepius. Und genau darin liegt auch das große, vielleicht bewusste Missverständnis der deutschen Regierungspolitik. Sie denkt in den Kategorien der wechselseitigen Abhängigkeiten, während Erdogan eher so agiert wie ein Mafiapate. Er setzt darauf, dass am Ende die EU und die Bundesregierung schon nachgeben werden. Und gerade das Verhalten der Bundeskanzlerin sollte ihn in dieser Annahme bestätigen. In einer Zeit, in der die Beziehungen zwischen Ankara und Brüssel auf einem guten Weg seien, sei es deshalb »provokativ, einen solchen Bericht zu veröffentlichen«, so die Erpressungslyrik des türkischen Präsidenten. In der Logik der Bereitschaft zum Äußersten liegt es denn auch, wenn Erdogan von Zeit zu Zeit seine Berater mit dem dezenten Hinweis loslässt, er könne den Deal jederzeit platzen lassen. Im Hinblick auf eine Entscheidung zur Visafreiheit des Europäischen Parlaments schrieb Erdogans Berater Burhan Kuzu im Kurznachrichtendienst Twitter, das Europäische Parlament stehe vor einer wichtigen Entscheidung. »Wenn es die falsche Entscheidung trifft, schicken wir die Flüchtlinge los«, so seine unmissverständliche Drohung.

Schon vor Abschluss des Flüchtlingsdeals im März 2016 hatte Erdogan beständig gedroht, um den Abschluss der Sache zu beschleunigen. So brüstete er sich damit, die Tore nach Europa komplett öffnen zu können. Eines Tages könne es sein, dass die Türkei »das Tor aufmacht und ihnen gute Reise wünscht … Was haben wir bisher gemacht? Wir haben die Flüchtlinge an den Grenzen aufgehalten und zurück in unsere Flüchtlingscamps gebracht.« Irgendwann könne die Türkei allerdings die Geduld verlieren. »Niemand soll glauben, dass unsere Flugzeuge und Busse umsonst da seien.« Angesichts einer derartigen Sprache, die sich wenig um grundlegende Regeln der Diplomatie schert, wirken die Reaktionen der Kanzlerin und ihrer Berater geradezu rührend. Immer wieder wurde beschwichtigt. Auf eine Erpressung, auf einen Schlag ins Gesicht antwortete man mit neuen Angeboten und wiegelte ab.

Und hier liegt das Grundproblem, das den EU-Türkei-Deal nicht nur zur Gefahr für die Menschenrechte der Flüchtlinge, sondern auch für die Grundrechte aller Unionsbürgerinnen und -bürger macht. Jeder neue Besuch Merkels, jede neue Geste im Hinblick auf den Abschluss oder das Halten des Paktes war für Erdogan Ermutigung. Zugleich konnte er so sein Image zu Hause massiv aufbessern. Jetzt war er es, der nicht nur die Visafreiheit für siebzig Millionen Türkinnen und Türken durchsetzen würde, sondern er war plötzlich der Macher auf der internationalen Bühne. Jahrelang war aus Sicht Ankaras die Türkei von der EU ungerecht behandelt worden. Jahrelang war ihr ungerechtfertigt der EU-Beitritt vorenthalten worden, doch jetzt verbeugten sich dieselben Akteure aus den europäischen Hauptstädten vor dem Prunksessel des Sultans. Und gerade nachdem sich die vom Ministerpräsidenten Davutoglu noch als Außenminister verfolgte Politik der angeblichen Problemfreiheit mit den Nachbarstaaten der AKP-Türkei als eine Nur-Probleme-Politik entpuppt hatte, brauchte die Regierung Balsam für die geschundenen Seelen der beleidigten Nationalisten. Der Deal war die Chance für Erdogan, diesen Balsam aufzutragen. Und es war die Gelegenheit, die nationalistischen Stimmen für sich zu mobilisieren.

Bereits im Herbst 2015 war ihm die Kanzlerin zur Hilfe gekommen. Erdogan sollte ihre Flüchtlingslösung befördern. Dafür reiste sie – undiplomatisch bis hin zur indirekten Wahleinmischung – kurz vor den Parlamentswahlen in die Türkei und heiligte Erdogans Wahlpirouetten, mit denen er betrügerisch versuchte, die absolute Mehrheit nach der Wahlschlappe im Juni 2015 für sich zurückzuerobern. Es war dieser Moment, in dem das neue Duo infernale Merkel–Erdogan seine Geburtsstunde erlebte. Es war dieser Augenblick, in dem eine neue Achse Berlin–Ankara rund um die Flüchtlingsfrage geschmiedet wurde. Die Türkei wurde zum besten Verbündeten Deutschlands in Europa. Für diese Entente war man bereit, die Beziehungen zu anderen EU-Mitgliedstaaten aufs Spiel zu setzen.

Wo war eigentlich in diesen Stunden Frank-Walter Steinmeier, der deutsche Außenminister von der SPD? Steinmeier machte wie seine gesamte Partei schlicht alles mit, was die Kanzlerin und ihr Corsepius abschlossen. Während so auf der Brücke des Auswärtigen Amtes Freizeitkleidung Pflicht wurde, ballte man im Maschinenraum des Amtes die Fäuste in der Tasche ob der Willfährigkeit. Während die Führung buckelte, ging man unten aufrecht. Einer derjenigen, die aufrecht gingen, war der deutsche Botschafter in Ankara, Martin Erdmann, der sich 2016 fast jede Woche von den Türken einbestellen lassen musste, ohne dass in Berlin auch nur darüber geredet wurde.

Der Deal war Berlin im Übrigen so wichtig, dass man bewusst Paris brüskierte. Monate später konnte sich der Rechtsaußen und ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy, stellvertretend für den düpierten François Hollande, beschweren: »Niemals hätte ich akzeptiert, dass Angela Merkel allein mit Recep Tayyip Erdogan verhandelt. Das war ein schreckliches Symbol für Europa.« Es wäre verfehlt, die neue Achse Berlin–Ankara mit der einstigen Sonderbeziehung des deutschen Kaiserreiches zum Osmanischen Reich gleichsetzen zu wollen. Und doch treten erschreckende historische Parallelen zutage.

Auf jeden Fall ließ der Deal die früheren Zeiten vergessen, in denen die Kanzlerin noch einen EU-Beitritt der Türkei rundheraus abgelehnt und stattdessen auf eine privilegierte Partnerschaft gesetzt hatte. Das innenpolitische Kalkül war, dass der Erfolg bei der Flüchtlingsabwehr, der aus Sicht Merkels nur mit Erdogan zu bewerkstelligen war, das Missbehagen angesichts der unkonditionierten Visafreiheit und über beschleunigte Beitrittsverhandlungen trotz massiver Rückschritte der Türkei in puncto Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte schon aufwiegen würde. Damit aber sind sich Merkel und Erdogan in gewisser Weise ähnlich geworden. Beide sind Hasardeure des eigenen Machterhalts. Gerade dies war die ideale Voraussetzung, einen Pakt zum gegenseitigen Vorteil schließen zu wollen. Koste es, was es wolle.

Selbst nach dem Putschversuch und Erdogans Gegenputsch hält die Bundesregierung eisern an ihrem Fahrplan fest, der den Flüchtlingsdeal eng mit der Visafreiheit koppelt. Während die österreichische Regierung vor dem Hintergrund der massiven Menschenrechtsverletzungen in der Türkei die Beitrittsverhandlungen abbrechen will, demonstriert das Bundeskanzleramt weiterhin Nibelungentreue.

2 Schauprozesse

Can Dündar ist mit Leib und Seele Journalist, und bis August 2016 war er Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet. Auf Deutsch heißt das Die Republik – und dieser Name ist Programm. Demokrat durch und durch, war es nur eine Frage der Zeit, wann er mit der Politik der islamistischen AKP in Konflikt geraten musste. In meinem politischen Leben habe ich nur wenige Menschen kennengelernt, die derart unerschrocken und unbeugsam ihre Überzeugungen verteidigen und für ihre Überzeugungen einstehen. Ich bin stolz, in Dündar einen Freund gefunden zu haben, der auch bei unterschiedlichen Ansichten fähig ist, einen Dialog zu führen, der die eigene Weltsicht bereichert.

Dündar lebt, was er schreibt, und schreibt, was er lebt. Aufklärung ist ihm Leben und Verpflichtung. Ich übertreibe nicht, wenn ich feststelle, dass gerade er es ist, der als Einzelner die bisher größte Herausforderung für den wachsenden Machtanspruch Erdogans darstellt. Und dies wegen eines einzigen Berichts über die Machenschaften der Gewährsmänner des türkischen Staatschefs.

Lange hatte man Dündar in Europa regelrecht übersehen. Nun reiht sich ein Journalistenpreis an den anderen. Doch während Dündar im Sommer 2016 international mit Preisen überschüttet wird, geht die Justizkampagne gegen seine Zeitung in der Türkei munter weiter. Ein Prozess folgt auf den anderen. Verleumdungsklagen türkischer Regierungsstellen gehören mittlerweile zum Alltag der Zeitung. Ziel ist es, Cumhuriyet zu zerschlagen oder sie wie andere Oppositionsblätter von den türkischen Behörden übernehmen zu lassen. An Can Dündar sind die Schmutz- und Drohkampagnen der letzten Monate nicht spurlos vorübergegangen. Im Sommer hat er sich erst einmal eine Auszeit genommen und lässt seine Arbeit in der Zeitung ruhen. Dabei ist er nicht der Einzige, der zum Ziel auf die Person gerichteter Zersetzungskampagnen des Erdogan-Regimes wurde.