Der Fall Nawalny – Mord im Gulag - John Sweeney - E-Book

Der Fall Nawalny – Mord im Gulag E-Book

John Sweeney

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Beschreibung

Sein Name war für den russischen Präsidenten tabu, bis Putin sich des verhassten Kontrahenten zuletzt doch entledigte: Alexej Nawalny, Putins gefährlichster Gegner. John Sweeney, der seit Jahrzehnten als Investigativjournalist zu den Abgründen der russischen Politik recherchiert und berichtet, kannte Nawalny persönlich. Nun liefert er eine packende Biografie über den Oppositionsführer und Hoffnungsträger, seine Stärken und Schwächen, die Attacken, denen er ausgesetzt war – und offenbart die Ziele und Strategien von Nawalnys mächtigen Gegnern. Temporeich, spannend und hochinformativ beleuchtet Sweeney die Geschichten hinter den Schlagzeilen und kommt zu einem klaren Schluss: Wenn Putin Einhalt geboten werden soll, muss der Westen ihm mit aller Entschiedenheit entgegentreten.

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Held, Opfer, Mensch – die ganze Geschichte des Alexej Nawalny

Sein Name war für den russischen Präsidenten tabu, bis Putin sich des verhassten Kontrahenten zuletzt doch entledigte: Alexej Nawalny, Putins gefährlichster Gegner. Der Journalist John Sweeney, der seit Jahrzehnten zu den Abgründen der russischen Politik recherchiert und berichtet, kannte Nawalny persönlich. Nun liefert er eine packende Biografie über den Oppositionsführer und Hoffnungsträger, seine Stärken und Schwächen, die Attacken, denen er ausgesetzt war – und offenbart die Ziele und Strategien von Nawalnys mächtigen Gegnern. Temporeich, spannend und hochinformativ beleuchtet Sweeney die Geschichten hinter den Schlagzeilen und kommt zu einem klaren Schluss: Wenn Putin Einhalt geboten werden soll, muss der Westen ihm mit aller Entschiedenheit entgegentreten.

Aus dem Buch:

»In Russland ist es schwierig, Fakten zu überprüfen, denn macht man das gründlich, ist man am Ende tot. Wenn Sie mir das nicht glauben, werde ich Sie mal eben tüchtig einnorden: Anna Politkowskaja, Natalja Estemirowa, Boris Nemzow und Alexej Nawalny haben mir gegenüber persönlich die märchenhaften Unwahrheiten des Kreml infrage gestellt. Mittlerweile leben sie alle nicht mehr […]

Der Begriff »Desinformation« wird der Macht des Kreml, Zweifel und Unsicherheit in den frei entwickelten und eher unterdrückten Ländern der Erde zu erzeugen, nicht annähernd gerecht. Wie reagiert man auf das Böse, wenn man nicht weiß, was genau passiert ist? Oder wer was getan hat? Schrödingers Katze ist ein Gedankenexperiment der Quantenphysik, bei dem es darum geht, dass winzige Partikel an zwei Orten gleichzeitig existieren können, bis sie beachtet werden. Stellen Sie sich eine Katze in einer Schachtel vor und gleichzeitig befindet sich darin etwas, dass die Katze töten könnte. Schachtel auf: Die Katze ist sowohl tot als auch lebendig. Der Kreml hat Schrödingers Katze in teuflischer Absicht umfunktioniert, sodass Unwissenheit und Unverständnis zum natürlichen Zustand der Feinde des russischen Dunkelstaats geworden sind. Wladimir Putin hat die größte Nebelmaschine der Geschichte gebaut. In diesem Buch geht es darum, diesen Nebel zu vertreiben.«

John Sweeney, Jahrgang 1958, arbeitete als Reporter für die BBC und ist ein vielfach ausgezeichneter Journalist mit internationalem Profil, der während des russischen Überfalls auf die Ukraine aus Kyjiw (Kiew) berichtete.

Er recherchierte während Kriegen und Wirren in mehr als 80 Ländern und war in zahlreichen Krisengebieten wie Tschetschenien, Nordkorea oder Simbabwe undercover unterwegs.

Seit 30 Jahren verfolgt er als investigativer Journalist hartnäckig die Geschäfte und Verbrechen der Mächtigen Russlands, allen voran Wladimir Putins.

JOHN SWEENEY

DER FALL NAWALNY

MORD IM GULAG

Aus dem Englischen von Eva Schestag, Bernhard Schmid, Karl Heinz Siber, Karsten Singelmann, Gisela Fichtl, Sylvia Bieker, Johanna Wais, Henriette Zeltner-Shane

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Murder in the Gulag: The Life and Death of Alexei Navalny bei Hachette.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 2024

Copyright © John Sweeney 2024

First published in 2024 by HEADLINEPUBLISHINGGROUP

An Hachette UK Company

© der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Ulrike Strerath-Bolz und Jürgen Bolz

Umschlaggestaltung: wilhelm typo grafisch

Umschlagfoto: laif/Peter Rigaud

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-32838-2V001

www.heyne.de

Alarmsirenen im ganzen LandEin Gefühl, als würden allezur Hinrichtung hinausgetriebenDoch es geht nur um eine PersonNormalerweise die am RandDiesmal bist du nicht gemeint;Alles klar.

Victoria Amelina, ukrainische Schriftstellerin und verantwortlich für die Dokumentation von russischen Kriegsverbrechen (1986 – 2023)

Ich habe ihn nicht getötet. Ich habe auf ihn geschossen, die Kugeln und der Sturz haben ihn getötet.

Vincent, Auftragskiller in dem Film Collateral (2004), gespielt von Tom Cruise

Ich verstehe diese Haltung nicht. Zunächst einmal ist sie langweilig. Und zum zweiten, man möge mir vergeben, wenn ich klinge wie ein Angeber, ist es besser, aufrecht stehend zu sterben, als auf den Knien zu überleben.

Alexej Nawalny (1976 – 2024) zur Erklärung, warum er sich von der Macht und Korruption des Kreml nicht einschüchtern ließ

Inhalt

Einleitung

1  Der Junge aus Tschernobyl

2  In den Apfel beißen

3  Hat was von einem Faschisten?

4  Jailhouse-Rocker

5  Ein Russland, zwei Zaren

6  Der Mann, der einen Wald gestohlen hat

7  Schrödingers Bürgermeister

8  Ist dies ein Wurstbrot, was ich vor mir sehe?

9  Die Diebe Russlands

10  Im Kampf gegen den Drachenkönig

11  Der Mann, der von den Toten auferstand

12  Moskau4, Moskau4

13  Der Tempel des schlechten Geschmacks

14  Ein mutiger, aber verhängnisvoller Fehler

15  »Der Koch hat’s gern scharf«

16  Im Schatten des großen Krieges

17  »Sie werden mich auf jeden Fall töten«

18  »Ich komme wieder«

Dank

Liste von ermordeten Putin-Gegnern

Quellen

In diesem Buch habe ich mir die Freiheit genommen, mich an Originalübersetzungen zu versuchen, wenn das Original sich ungeschmeidig anfühlt und meinen Sinn für feingeistiges Hoch-Englisch beleidigt – und weil ich einen Abschluss in Russisch habe und ein professioneller Schriftsteller bin.

Einleitung

Terminator 2 – Tag der Abrechnung war Alexej Nawalnys Lieblingsfilm, und so wurde er zu der schmalzigen Melodie zu Grabe getragen, bei der Arnold Schwarzenegger als Terminator T-800 in einem Stahlwerk auf seinen bösen Schöpfer trifft und dem Hoffnungsträger der Menschheit, John Connor, ein finales »Daumen hoch« gibt. Nawalnys letzter Scherz zielte, natürlich, auf Wladimir Putins Neurose. Um es mit einem von Arnies berühmten Sprüchen zu sagen: »Ich komme wieder.«

Die Frage, die den Killer im Kreml umtreibt, betrifft auch die Zukunft des größten Landes der Erde: Wird das Auslöschen von Nawalnys Mut, Charisma und Ehrlichkeit Russland im Hals stecken bleiben und Putins Sturz nach sich ziehen? Wird Nawalny, das Gesicht halb aus Titan, halb menschlich, ein Cyborg-Auge rot blink-blink-blinkend, eines Tages quer über den Roten Platz auf die hohen roten Mauern der Festung des blutrünstigen Zaren zustapfen? Als ein »Fuck you!« aus dem Jenseits ist das alles ziemlich cool.

Und: passend.

Nawalnys Leben wurde auf jeden Fall ausgelöscht. In Russland ist es schwierig, Fakten zu überprüfen, denn macht man das gründlich, ist man am Ende tot. Wenn Sie mir das nicht glauben, werde ich Sie mal eben tüchtig einnorden: Anna Politkowskaja, Natalja Estemirowa, Boris Nemzow und Alexej Nawalny haben mir gegenüber persönlich die märchenhaften Unwahrheiten des Kreml in Frage gestellt. Mittlerweile leben sie alle nicht mehr. In chronologischer Reihenfolge der Ereignisse bei Nawalny: Giftanschlag, dann angeschossen; noch mal angeschossen; noch mal angeschossen; Giftanschlag, die Zweite; dann ermordet, genaue Methode noch unbekannt. Am Ende dieses Buches finden Sie eine ausführliche Liste der von Putin getöteten Menschen und der jeweils höchstwahrscheinlichen Mordmethode. Übrigens, ich mache mir keine Sorgen, dass mich der psychopathische Präsident verklagen könnte. Er wendet andere Vorgehensweisen an, um sich Genugtuung zu verschaffen.

Aber damit wir uns richtig verstehen: Der Begriff »Desinformation« wird der Macht des Kreml, Zweifel und Unsicherheit in den frei entwickelten und eher unterdrückten Ländern der Erde zu erzeugen, nicht annähernd gerecht. Wie reagiert man auf das Böse, wenn man nicht weiß, was genau passiert ist? Oder wer was getan hat?

Schrödingers Katze ist ein Gedankenexperiment der Quantenphysik, bei dem es darum geht, dass winzige Partikel an zwei Orten gleichzeitig existieren können, bis sie beachtet werden. Stellen Sie sich eine Katze in einer Schachtel vor, und gleichzeitig befindet sich darin etwas, was die Katze töten könnte. Schachtel auf: Die Katze ist sowohl tot als auch lebendig. Der Kreml hat Schrödingers Katze in teuflischer Absicht umfunktioniert, sodass Unwissenheit, Unverständnis, zum natürlichen Zustand für die Feinde des russischen Dunkelstaats geworden sind. Wladimir Putin hat die größte Nebelmaschine der russischen Geschichte gebaut.

In diesem Buch geht es darum, genau diesen Nebel zu vertreiben. Das Buch ist kein Krimi. Putin hasste den Russen, der sich wie kein anderer über ihn lustig machte, er hasste ihn so sehr, dass er zu keiner Zeit je seinen Namen erwähnte. Als ich 2018 Nawalny in Moskau interviewte, witzelte er mir gegenüber, dass er wie »Er, dessen Name nicht genannt werden darf« aus den Harry-Potter-Büchern sei – »ich bin Lord Voldemort«. Putin ließ Nawalny ermorden.

Andererseits ist das hier auch ein Krimi. Denn wie genau hat man Nawalny getötet? Er war ein Mensch mit einer außergewöhnlich robusten Gesundheit, wenn man bedenkt, dass er unzählige Male verprügelt wurde, dass man zwei Mal versucht hat, ihn zu vergiften, und dass er seit seiner Rückkehr 2021 nach Russland mehr als zwei Jahre Folter in Putins Gulag erduldet hat, einschließlich dreihundert Tagen in Isolationshaft. In Nawalnys erster Strafkolonie IK-2 in Pokrow, ungefähr hundert Kilometer von Moskau entfernt, wurde er acht Mal pro Nacht geweckt: Folter durch Schlafentzug.

Nawalny wurde in ein noch übleres Straflager verlegt, das IK-6 im Dorf Melechowo. Er beschrieb die dortige Zelle folgendermaßen: eine knapp sechs Quadratmeter große »Hundehütte aus Beton … Ich habe eine Strandausgabe – sehr heiß und kaum frische Luft. Das Fenster ist winzig, und weil die Wände so dick sind, steht die Luft – nicht mal die Spinnweben bewegen sich. Es gibt keine Belüftung. Nachts liegt man da und fühlt sich wie ein Fisch auf dem Trockenen.«

Seine letzte Unterbringung war IK-3, das als »Polarwolf« bekannte Straflager inmitten eines sehr kalten Gefrierschranks. Irgendwann war dieser gut gelaunte und lustige 47-Jährige auf einem Videolink zu sehen, aufgenommen im IK-3, wie er die diensthabende Richterin auf die Schippe nahm, indem er sie scherzhaft aufforderte, mit einem Teil ihres enorm hohen Gehalts sein Bankkonto aufzustocken. Die Kamera schwenkte auf die IK-3-Gefängniswärter neben ihm, die über den Witz des Häftlings lachten. Am nächsten Tag ist Nawalny tot.

In Russland ist nichts Offizielles wahr. Oder anders gesagt, es bleibt nicht lange wahr. Die Vergiftung des Informationsbrunnens in der westlichen Welt – durch Bots, Counterfacts, Onlinegerüchte und düstere Lügengeschichten auf Social Media angetrieben – ist kein Zufall, sondern einer der erfolgreichsten Exporte des dunklen russischen Staats. Alles, was Putin im Westen unternimmt, übt er erst einmal zu Hause. Seit seinen allerersten Tagen an der Macht hat er die Wahrheit zersetzt – nachdem Boris Jelzin, einst die Hoffnung eines neuen, demokratischen Russlands, ab etwa Sommer 1999 jedoch ein seniler Alkoholiker, von seiner elend korrupten Familie kontrolliert, seinen furchterregenden Geheimdienstchef zum amtierenden Ministerpräsidenten ernannte. Wenige Tage später wurden in Moskau und Südrussland Wohngebäude von »tschetschenischen Terroristen« in die Luft gejagt – so die offizielle Version. Allerdings ist die Beweislage überwältigend, dass die wahren Schuldigen beim Inlandsgeheimdienst FSB – so der neue Name des KGB – zu finden waren. Näheres zu Wladimir Putins Erbsünde an der Macht, und dass er Russland gesprengt hat, lesen Sie in meinem Buch Der Killer im Kreml.

Innerhalb weniger Stunden nach Nawalnys Tod tauchte im Internet eine Vielzahl von Todesursachen auf. Die offizielle Darstellung hieß, er habe irgendeine Form eines natürlichen Todes erlitten, doch als seine 69 Jahre alte Mutter Ljudmila Nawalnaja um den Leichnam ihres Sohnes bat, widersetzten sich die Behörden und eröffneten ein neues Ermittlungsverfahren gegen Oleg Nawalny, Alexejs jüngeren Bruder, der aufgrund erfundener Vorwürfe für dreieinhalb Jahre im Gefängnis gesessen hatte, bevor er 2018 entlassen wurde. Oleg gilt als untergetaucht, doch die Botschaft an Nawalnys Mutter war deutlich genug: Halten Sie den Mund, oder Sie werden den Leichnam Ihres Sohnes nie zu sehen bekommen. Und eventuell sehen Sie auch Ihren anderen Sohn nie wieder.

Um sich von Putins Russland ein Bild zu machen, schauen Sie sich den Film Der Pate an. In der ganzen Welt wurde Nawalnys Tod gedacht, aber noch wichtiger: Hunderte von Menschen wurden in Russland verhaftet, weil sie es wagten, ihres Helden öffentlich zu gedenken. Eine berühmte Ausnahme von der enorm großen Trauer: Wladimir Putin. Als die Nachricht von Nawalnys Tod bekannt wurde, befand er sich in der Stadt Tscheljabinsk am Ural. Normalerweise ein Miesepeter bei offiziellem Zeremoniell, hielt Putin an diesem Tag zwar wie immer Abstand von allen potenziell infektiösen Sterblichen, zeigte sich aber gut aufgelegt, lachte, scherzte und war hocherfreut. Warum auch nicht? Er hatte gerade den Anführer der Gegenseite ermordet.

Dmitri Peskow, Putins PR-Mann, dementierte Behauptungen, dass der russische Staat etwas mit Nawalnys Tod zu tun hätte. Selbstverständlich hatte er das. Peskow ist rothaarig und trägt eine Vokuhilafrisur, er sieht aus wie die Zombieversion eines Trainers von Rotherham United in den 1970er-Jahren. Er nannte die Anschuldigungen von Julija Nawalnaja, Putin hätte ihren Ehemann getötet »haltlos und vulgär«, woraufhin Nawalnaja entgegnete: »Mir ist vollkommen egal, wie der Pressesprecher eines Mörders meine Worte kommentiert.«

Als Junge hatte Nawalny ein Poster von Schwarzenegger an der Wand seines Zimmers. »Der wichtigste Held für mich war und ist immer noch Arnold Schwarzenegger«, erzählte er 2011 in der russischen Ausgabe des Magazins Esquire. Nawalnys Sympathie für den Terminator-2-Cyborg ist auffallend; wie wir alle wissen, war Terminator 1 ein Bösewicht. Wie Terminator 2 war Nawalny ein nerviger Kerl, aber das gehört dazu, wenn man den Mut hat, sich Putin zu widersetzen. Außerdem war er charismatisch, sehr charismatisch. Er war groß, hatte blaue Augen, ein geborener Anführer, dessen Vorliebe für das Absurde ihn davor bewahrte, ein echter Messias zu werden. Er hatte als Anwalt begonnen und vertrat Mandanten, die durch die russische Korruptionsmaschinerie Unrecht erfahren hatten. Auf politischer Ebene startete er als Liberaler in der Partei Jabloko, war aber zunehmend frustriert wegen der mangelnden Zugkraft bei den einfachen Leuten. Danach kam es zu seinem überaus umstrittenen Flirt mit dem rechten Rand des politischen Spektrums. Von 2007 an zeigte er sich drei Jahre in Folge bei dem jährlich stattfindenden, von Rechtsextremisten unterstützten »Russischen Marsch«, allerdings gemeinsam mit einer jüdischen Freundin, die ein riesiges Banner mit einem Davidstern schwenkte. Nawalny stellte zwei kurze Videos her, die widerwärtig rassistischen Inhalts waren, mit Migrationsängsten spielten und implizierten, dass Tschetschenen »Kakerlaken« seien. Die Einzelheiten sind nicht schön. In diesen Videos kam Nawalny ein Stück weit wie ein Faschist rüber. Aber während eines Stipendiums in Yale war einer seiner besten Freunde der spätere erste schwarze Bürgermeister einer britischen Großstadt. Nawalny verteidigte sich in der Sache damit, dass er, um Putins Faschismus wirksam in Frage zu stellen, mit ein paar seltsamen Gesellen spielen musste.

Etwa ab 2011 legte er seinen früheren finsteren Unsinn ab und kam nie wieder darauf zurück – entschuldigte sich aber auch nie dafür – und wurde der populärste Verfechter eines demokratischen Russlands, das den Gestank der putinesken Korruption vertreiben und den Gesetzen der Rechtsstaatlichkeit folgen wollte.

Doch nachdem er die rechtspopulistischen Positionen hinter sich gelassen hatte, geriet er in neuerliche Schwierigkeiten, indem er die ukrainische Bevölkerung gegen sich aufbrachte. 2011 übernahm er zunächst das Geschwätz des Kreml: »Natürlich wäre es großartig, wenn wir mit der Ukraine und Belarus in einem Staat leben würden, aber ich glaube, früher oder später geschieht das sowieso.« Als Russland im Frühjahr 2014 die Krim annektierte, wurde das von vielen Russen begrüßt. Im Oktober 2014 vom Chefredakteur des Senders Echo Moskaus, Alexej Wenediktow, zur Rede gestellt, versuchte Nawalny, sich herauszuwinden.

»Gehört uns die Krim?«, fragte Wenediktow.

»Die Krim gehört den Menschen, die auf der Krim leben«, verklausulierte Nawalny.

»Sie kommen nicht um eine Antwort herum. Gehört uns die Krim? Ist die Krim russisch?«

»Selbstverständlich, die Krim gehört nun de facto zu Russland. Ich glaube, obwohl die Krim unter eklatanter Verletzung aller internationaler Rechtsnormen erobert wurde, dass die Realität trotzdem lautet: Die Krim ist nun Teil der Russischen Föderation. Wir sollten uns da nicht täuschen. Und ich rate den Ukrainern dringend, sich ebenfalls nichts vorzumachen. Die Krim bleibt ein Teil Russlands und wird in absehbarer Zeit nicht wieder zur Ukraine gehören.«

Wenediktow drehte das Messer in Nawalnys Wunde: Falls er im Kreml wäre, würde er die Krim an die Ukraine zurückgeben?

»Ist die Krim ein Wurstbrot oder so, das man nehmen und zurückgeben kann?«

Nawalny war damit für viele Ukrainer nur ein weiterer russischer Imperialist, der ihr Land in die Knie zwingen will. Fairerweise muss man sagen: Nawalnys Ziel war es immer, Putin im Kreml zu entthronen. Für die rechtmäßigen Eigentümer der Ukraine Partei zu ergreifen, hätte Nawalny nicht geholfen, in Russland Stimmen zu gewinnen, falls er überhaupt je zu einer freien Wahl gegen Putin zugelassen worden wäre.

Wurde er nicht. Im Februar 2023, als er wieder in Putins Gulag war, veröffentlichte er folgendes Statement: »Was sind die Grenzen der Ukraine? Es sind die gleichen wie die Russlands, 1991 international anerkannt und festgelegt. Russland hat diese Grenzen damals anerkannt und muss sie auch heute anerkennen. Da gibt es nichts zu diskutieren.«

Im Klartext: Nawalny war der Ansicht, die Krim sei ukrainisch, Punkt. Er forderte Russland auf, die Ukraine zu verlassen, verlangte eine gründliche Untersuchung von Kriegsverbrechen und zudem Reparationszahlungen für die Ausbeutung des ukrainischen Staatsvermögens in Form von Öl- und Gasvorkommen.

»Sind alle Russen grundsätzlich imperialistisch? Das ist Bullshit. Zum Beispiel ist Belarus ebenfalls am Krieg gegen die Ukraine beteiligt. Bedeutet das, dass die Belarussen auch imperialistischer Gesinnung sind? Nein, sie haben bloß auch einen Diktator an der Macht. Es wird in Russland immer Menschen mit imperialistischer Einstellung geben, wie in jedem anderen Land mit den entsprechenden historischen Voraussetzungen dafür, aber diese Menschen sind weit entfernt davon, die Mehrheit zu bilden. Solche Leute sollten in Wahlen besiegt werden, genauso wie Radikale des rechten wie linken Flügels in entwickelten Staaten besiegt werden.«

Es ist extrem schwierig, ein fundiertes Urteil über das Gewicht russischer Meinungsumfragen zu fällen. Meine Meinung dazu lautet: Wenn man im Russland des 21. Jahrhunderts sagt, was man wirklich denkt, springt man wahrscheinlich sehr bald danach aus dem Fenster. Die Meinungsumfragen berichten, Putins »militärische Spezialoperation« – also Russlands Krieg gegen die Ukraine – sei populär. Nawalny sagte, dass das stimmt. Er fuhr fort: »Der wahre Grund für diesen Krieg sind die politischen und wirtschaftlichen Probleme innerhalb Russlands und Putins Verlangen, um jeden Preis an der Macht zu bleiben. Er will in die Geschichte eingehen als ›Der Eroberer-Zar‹.«

Zu wenig, zu spät, meinen viele Ukrainer. »Die russische Demokratie endet, wo die ›ukrainische Frage‹ beginnt«, pflegt man in Kiew zu sagen.

Beim Schreiben dieser Einleitung bin ich mir einer Tatsache sehr wohl bewusst: Es wird meinen ukrainischen Freunden nicht gefallen, dass ich für Nawalny eintrete. Mein Kumpel Vlad Demchenko, der mich am Tag 2 des großen Kriegs wegen des Verdachts, ein russischer Spion zu sein, verhaftete, tobte vor Wut, tobt und wird noch etwas mehr toben. Er kämpft an der Front für die Ukraine und ist ein Held. Er hat zu viele großartige ukrainische Kameraden verloren, um jemandem wie Nawalny auch nur ansatzweise ein »im Zweifel für den Angeklagten« zuzugestehen. Russland ist eine unaufhörliche Monstermaschine, so die allgemeine Ansicht. Im Februar 2022 war ich in Kiew und sah die Folgen des russischen Raketenangriffs auf den Fernsehturm und beobachtete mit eigenen Augen, wie die Leute des städtischen Leichenschauhauses die Leichname eines alten Mannes sowie einer Mutter und ihres fünf Jahre alten Kindes mitnahmen. Es ist mir allzu oft schwergefallen, der allgemeinen Ansicht nicht zuzustimmen.

Doch trotz all seiner Fehler finde ich nicht, dass Nawalny ein Monster war. Ich schreibe dies von London aus, am Abend, bevor ich ein weiteres Mal an meinem kaputten Knie operiert werde, weil ich in Kiew auf Glatteis gestürzt bin, und ich kann nur sagen: Die Tatsache, dass Nawalny in Putins Gulag getötet wurde, erklärt, warum die Ukraine bis zum Letzten kämpft. Von London aus Nawalnys Geschichte zu erzählen, sie ohne jede Beschönigung zu erzählen, hilft der Ukraine.

In dem Film Nawalny, der außergewöhnlichen und 2022 mit einem Oscar prämierten Dokumentation, fragt ihn der Regisseur Daniel Roher: »Als Kind, hattest du da irgendein politisches Bewusstsein? Wart ihr eine politische Familie?«

Nawalny antwortete: »Ja, meine Familie spricht die ganze Zeit über Politik. Nach der Tschernobyl-Katastrophe wurde noch mehr darüber geredet, denn mein Vater und seine Familie stammen aus Tschernobyl, einem kleinen Dorf, ich würde sagen, so zehn Kilometer vom Atomreaktor entfernt. Jeder wusste, es gab eine Explosion eines Atomreaktors, aber in den Nachrichten kam kein Wort davon, und so war auf all diesen Feldern nuklearer und radioaktiver Staub, und die Leute wurden gezwungen, dort Kartoffeln anzupflanzen, nur um Gerüchten vorzubauen und um der Bevölkerung weiszumachen, dass alles gut ist. ›Alles ist in Ordnung! Geht und arbeitet auf den Feldern!‹ Und als Putin das erste Mal auf dem Fernsehbildschirm auftauchte, spürte ich es einfach. Als würde ich fernsehen und einen politischen Drachen beobachten, und er schaut mir in die Augen und lügt mich an.«

Das Monster in diesem Buch ist nicht Nawalny, sondern Russlands Drachenkönig. Nawalnys Vater wurde in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik geboren, und der kleine Alexej verbrachte seine ersten neun Sommer bei der Großmutter im Dorf Salissja, bevor die Atomkatastrophe von Tschernobyl die Behörden zwang, die gesamte Bevölkerung nach Neu Salissja, nahe Borodjanka nördlich von Kiew, umzusiedeln. Im Verlauf des großen Krieges ab 2022 töteten die russischen Besatzer einen seiner Großcousins allein deshalb, weil der den Nachnamen Nawalny trug. Man kann sagen, indem Nawalny dem Kreml auf seine Art die Stirn bot, wurde er seinen ukrainischen Wurzeln gerecht.

Für mich symbolisierte Nawalny die Vorstellung eines Russlands ohne Faschismus, eines freiheitlichen und demokratischen Landes. Von Stauffenberg hat den Versuch gewagt, Hitler zu töten, aber er hat noch etwas getan: Er hielt 1944 die Vorstellung von einem anderen Deutschland aufrecht. Nawalny wagte es, Putin die Stirn zu bieten, und hielt 2024 die Vorstellung von einem anderen Russland aufrecht. Dass von Stauffenberg eine Nazi-Uniform trug, tut nichts zur Sache.

Oder nehmen wir noch mal Terminator 2. Am Ende des Films hören wir Sarah Connor, die Mutter des Menschheitsretters John, sagen, dass es noch Hoffnung gibt, weil eine Maschine lernen konnte, ihren Sohn zu lieben. Dass ein russischer Nationalist wie Nawalny irgendwann Putins Tötungsmaschinerie auffordert, die Ukraine zu verlassen; dass er verlangt, Russland müsse die Grenzen von 1991 respektieren, und die Krim der Ukraine zuspricht, ist keine Kleinigkeit. Der Kreml passt auf, was Kiew sagt, und genauso halten es Russlands nützliche Idioten. Denken wir an Tucker Carlson, einst der meistgesehene Nachrichtenmoderator der US-amerikanischen Privatsender, bis er von Fox News Channel gefeuert wurde. Das Murdoch-Imperium, zu dem Fox News gehört, verbreitete zwar freudig Carlsons Verschwörungstheorie, wonach Joe Biden dank Wahlmaschinen, die gefälschte Ergebnisse lieferten, die Wahl 2020 von Donald Trump gestohlen habe. Doch Murdoch missfiel der Gedanke, dem Unternehmen Dominion Voting Systems, also dem Hersteller der Wahlapparate, nach einem Rechtsstreit womöglich 787,5 Millionen Dollar zahlen zu müssen, und deshalb glauben viele Leute, das wäre der Grund, aus dem Tucker Carlson entlassen wurde.

Am 9. Februar 2024 interviewte Carlson, mittlerweile Freelancer, Wladimir Putin in Moskau. Was man da zu sehen bekam, war eine manchmal surreale, aber meist extrem langweilige Begegnung, in der der russische Präsident dem rechtspopulistischen US-Fernsehstar einen Vortrag über abstruse Schnipsel der russischen Historie hielt, um die uralte Kiste von der Zugehörigkeit der Ukraine zu Russland darzulegen. Putin redete Müll und Carlson ließ ihn gewähren. Carlsons naive Fragen langweilten sogar Putin, der später »keine volle Zufriedenheit« zurückmeldete. »Um ehrlich zu sein, dachte ich, dass er sich aggressiv verhalten und sogenannte scharfe Fragen stellen würde. Darauf war ich nicht nur vorbereitet, ich wollte es, weil es mir die Möglichkeit gegeben hätte, auf die gleiche Weise zu antworten. Aber er wählte eine andere Taktik.«

Putin, immer erpicht darauf, die Schwachstellen des Gegners aufzudecken, sprach sogar Carlsons kläglichen Versuch an, sich mit der Company, also der CIA, zusammenzutun. In einer eigenen Verschwörungstheorie behauptete Putin, die Revolution in der Ukraine 2014 sei inszeniert gewesen.

»Von wem unterstützt?«, fragte Carlson.

»Mit Unterstützung der CIA natürlich.«

Ein übermütiger Putin stichelte dann: »Die Organisation, mit der Sie sich damals zusammentun wollten, soweit ich weiß. Vielleicht sollten wir Gott danken, dass Sie nicht hineingelassen wurden.«

Das klang nicht wie ein Kompliment und war auch nicht so gemeint.

Als ich Putin 2014 in einem Mammut-Museum in Sibirien spontan zu fassen bekam, fragte ich ihn nach dem Abschuss des Passagierflugzeugs MH17. Bei dem Vorfall waren 298 unschuldige Menschen durch eine russische Rakete vom Himmel geschossen worden. Putin log und schob die Schuld auf die Ukrainer, weil die nicht mit den prorussischen Separatisten der Ostukraine verhandelten. Eine Formel, zu der er auch später gegenüber dem französischen Staatspräsidenten Macron griff – nur ein paar Tage vor dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine. Wenige Stunden nach meinem Interview boxte mir ein stummer Schläger in den Magen. Das war auf eine sehr spezielle, seltsam komische Art ein Kompliment des Kreml. Gewalt bedeutet, man wird ernst genommen.

Das Interview von Carlson dauerte zwei Stunden, aber er vergaß, auch nur ein Mal das Schicksal des berühmtesten politischen Gefangenen in Russland zu erwähnen. Ist es möglich, dass sich Putin auf Carlsons mangelndes Interesse an Nawalny verlassen hat und dass es ihn darin bestärkt hat, Nawalny eine Woche später ermorden zu lassen? Ich glaube schon.

Zurück in den USA gab Carlson dem ehemaligen CNN-Star Chris Cuomo ein Interview, bei dem dieser Carlson wegen seiner Unterlassung zur Rede stellte.

Cuomo: »Sie haben ihn nicht nach Nawalny gefragt. Sie sagten, alle Staatsführer töten. Aber hatten Sie nicht das Gefühl, wenn Sie schon losgehen und mit so einer Person zusammensitzen, dass Sie sie für die wichtigen Dinge zur Rechenschaft ziehen müssen? Er könnte jemanden ermordet haben, könnte eine Menge Leute ermordet haben.«

Carlson: »Die Ukrainer sagen, er hat ihn nicht ermordet.«

Cuomo: »In der einen Minute sieht der Kerl noch gut aus. In der nächsten ist er tot.«

Carlson: »Die Regierung der Ukraine sagt Nein, er ist eines natürlichen Todes gestorben.«

Richtig, die Sphinx von Kiew, Kyrylo Budanow, Chef des militärischen Geheimdienstes der Ukraine, wurde nach einem Gespräch mit Journalisten wenige Tage nach Nawalnys Tod wie folgt zitiert: »Ich mag Sie enttäuschen, aber wir wissen, er ist an einem Blutgerinnsel gestorben.« Und er fügte hinzu, das habe sich »mehr oder weniger bestätigt«.

Carlson weiter: »Nun, was geht da wirklich vor sich? Ich kann nicht mal raten. Okay, Nawalny starb mitten während der Münchner Sicherheitskonferenz. Und mitten in der Debatte über Militärhilfen der USA für die Ukraine, und der Präsident der Vereinigten Staaten nutzte seinen Tod kurze Zeit später, um weitere 60 Milliarden zu rechtfertigen. Das sind bloß Fakten. Ich habe nicht mal die blasseste Ahnung. Aber was ich erfahren habe – und ich bin nun wirklich kein Russlandexperte – ist, dass das ein extrem kompliziertes politisches Umfeld ist. Extrem. Also: next level. Das sind die Leute, die das internationale Schachspiel dominieren. Darum ist ihre Politik für mich nicht nachvollziehbar. Was geschieht dort also? Ich war schon in einer Menge Ländern und habe über eine Menge Geschichten berichtet. Und eine Sache, die ich gelernt habe, ist: Man weiß tatsächlich nie wirklich, was vor sich geht.«

Ich habe damit so meine Schwierigkeiten. Ich habe Schwierigkeiten damit, wie jemand, der dermaßen eloquent ist wie Carlson, derart absichtlich ignoriert, dass eine Reihe von Putin-kritischen Menschen zu Tode gekommen sind. Ich habe Schwierigkeiten damit, weil ich weiß, dass Nawalny in dem russischen Gulag gefoltert wurde und dass seine Anwältin sehr schockiert war, als sie sah, dass das Gesicht ihres Mandanten ganz grau war. Aber dass Carlson ein zweistündiger Slot mit dem Mann gegeben wurde, der für die Ermordung so vieler Menschen verantwortlich war, mit dem Mann, der letzten Endes für Nawalnys luftleere Zelle in der Isolationshaft verantwortlich war, dass Carlson sich aber nicht einmal die Mühe machte, seinen Namen zu erwähnen …

Als wäre Tucker Carlson ein Geschöpf Moskaus.

Mittlerweile ist das nur noch schwer vorstellbar, aber Nawalny ist es beinahe gelungen, das Putin-Regime zu stürzen. Sein großer Moment kam 2012, als Putin seinen Sündenbock Dmitri Medwedew – »Al Capones Anwalt« – aus dem Kreml verschob, damit er selbst wieder zurückkehren konnte, und die Verfassung damit in sehr häufig benutztes Toilettenpapier verwandelte. Menschen, die an Nawalnys Vorstellung von einem »anderen Russland« glaubten, einem Russland, das für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stand, gingen zu Hundertausenden auf die Straße. Nawalny nannte Putins politisches Vehikel »Die Partei der Gauner und Diebe«, er nannte Putin einen Dieb – auf Russisch: »Путин – вор«/»Putin vor« – und wurde damit zu einer Art Rockstar. Einmal wurde er von der Polizei verhaftet, der Arm wurde ihm dermaßen auf den Rücken gedreht, dass er vor Schmerz aufschrie, und dann sperrte man ihn in einen Polizeitransporter. Dieses Video wurde millionenfach angeschaut.

2016 interviewte ich Nawalny zum ersten Mal, via Zoom, ich war damals am Baikalsee in Sibirien. Ich hielt Pommes frites in die Luft und wartete, dass sich Möwen darauf stürzten. Der Witz daran war, dass wir uns in dem Beitrag auf Nachforschungen konzentrierten, die Nawalny über den damaligen, sagenhaft korrupten Generalstaatsanwalt Juri Tschaika angestellt hatte – und das russische »Tschaika« bedeutet »Möwe«. Ja, erwischt: BBC Newsnight konnte nicht das Geld aufbringen, damit ich nach Sibirien fliegen konnte, also haben wir stattdessen bei Ebbe in Southend-on-Sea gedreht. Der Unterschied war kaum zu erkennen.

Auf Zoom äußerte sich Nawalny verächtlich über Londongrad als Schleuse für Russlands schmutziges Geld und kritisierte Putin als »Zar der Korruption«. Seine Worte klangen glockenklar, und man wusste, jede Silbe stellte ein potenzielles Todesurteil dar. Es ist keine Überraschung, dass man ihn im Februar 2024 töten ließ; überraschend ist, dass er so lange lebte. Doch sogar während ich dies hier schreibe, trauere ich um ihn und kann nicht ganz glauben, dass diese große Naturgewalt für immer zum Schweigen gebracht wurde.

Nawalny war den meisten westlichen Medienvertretern in Russland gegenüber misstrauisch, beziehungsweise hatte nicht viel Zeit für sie. Natürlich wollte er in den meistbeachteten russischen Medien präsent sein, um alle Leute zu erreichen, aber er wurde aus sämtlichen staatlichen Fernsehkanälen verbannt. Bei einigen unabhängigen Sendern wie TV Rain konnte er zwar auftreten, aber die waren eng verbunden mit der Opposition und hatten nicht viele Zuschauer. War er ständig im West-TV, würde er wie ein altmodischer Dissident wirken, und für den Kreml wäre es ein Leichtes, ihn als Marionette des Westens zu verkaufen. Möglicherweise kam noch ein weiterer Faktor hinzu, denn ich vermute, Nawalny hatte das Gefühl, die in Moskau ansässigen westlichen Medien seien mehr oder weniger kompromittiert, weil sie sich an die Regeln des Kreml hielten. Vielleicht ging es ihm mit mir anders, weil ich so etwas wirklich nicht tat. Ich lebte in London, hatte Putin erstmals im Jahr 2000 in der Zeitung The Observer einen »Kriegsverbrecher« genannt, lange bevor das in Mode kam und nachdem ich undercover in Tschetschenien unterwegs gewesen war. Und ich hatte Putin persönlich wegen des Abschusses der MH17 befragt. Dennoch hatte ich den Eindruck, Nawalny hielt es für Zeitverschwendung, mit mir zu sprechen, und darum freute ich mich, als Roman Borissowitsch, ehemals Boss einer Versicherung in Moskau und einer der ersten Unterstützer von Nawalnys Stiftung für Korruptionsbekämpfung – »The Anti-Corruption Foundation« – mir im März 2024 eine alte E-Mail von Nawalny weiterleitete: »Sweeney ist ein cooler Typ, ich fand es interessant, mit ihm zu reden, und das Thema war gut. Aber kein ›coup d’état‹, nur ein weiterer TV-Beitrag. Du schenkst der Angelegenheit zu viel Aufmerksamkeit, wie die meisten Leute, die nicht oft mit den Medien reden. Ich würde gern von Channel One oder Komsomolskaja Prawda interviewt werden, aber die fragen nicht an. Und die BBC und CNN sind nicht das, was ich will.«

Wie man dem Ton der E-Mail an Borissowitsch entnehmen kann, konnte Nawalny nervig sein, sehr nervig. Persönlich begegneten wir uns im Januar 2018 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, vor dem Nawalnys Anwälte Russland verklagten, weil man ihn daran hinderte, gegen Putin zu demonstrieren.

Nach Nawalnys gerichtlicher Anhörung hatte er fünf Minuten Zeit, um mit mir für das BBC-One-Format Panorama zu sprechen. Der Titel der Sendung über ihn war Taking On Putin. Kameramann Seamas McCracken befestigte gerade die Mikrofone an unseren Revers, und ich erklärte Nawalny, dass Seamas aus Nordirland stamme. Seamas hörte mitten in der Bewegung auf zu arbeiten. Nawalny war sehr amüsiert, während wertvolle Sekunden verstrichen und ich mich entschuldigte und richtigstellte, dass Seamas aus dem Norden Irlands stamme. Erst als Nawalny zufrieden war, dass Seamas zufrieden war, wurde das kurze Interview fortgesetzt.

Was mir in Erinnerung geblieben ist, ist nicht, dass mein irischer Freund für seine Rechte eintrat, sondern dass Nawalny sich über meine peinliche Situation amüsierte. Seamas beschrieb das Zusammentreffen von Nawalny und mir so: »Als würde man zwei große Hunde beobachten, wie sie sich gegenseitig am Hintern schnüffeln.«

Die Dreharbeiten für Taking On Putin 2018 in Moskau waren heftig. Ich war bestürzt über das unmenschliche Verhalten der russischen Geheimpolizei gegenüber dem Team Nawalny. Zwei Mal wurde ich von russischen Medien heimgesucht, zu Unrecht beschuldigt, eine Pilgerstätte für Boris Nemzow entweiht zu haben, den liberalen Frauenschwarm und ehemaligen Stellvertretenden Ministerpräsidenten, der 100 Meter vom Kreml entfernt erschossen wurde. Dann wurde ich zusammen mit Seamas auf einer Polizeiwache festgehalten. Unsere Ausweispapiere tauchten im Internet auf, sodass sie entwertet werden mussten. Und wir wurden rund um die Uhr von Schlägertypen verfolgt und unser lokaler Mitarbeiter wurde zum Terroristen erklärt und musste das Land verlassen. Aber im Vergleich zu Team Nawalny hatten wir es noch leicht. In Moskau wurden Nawalny und seine Unterstützer ununterbrochen angegriffen. Ein Mann wurde mit einem Elektroschocker traktiert, dann niedergestochen und blutend im Schnee liegen gelassen. Einem älteren Mitglied seines Teams wurde mit einer Eisenstange auf den Kopf geschlagen, ein anderer wurde von stummen Gangstern grün und blau geprügelt.

Das alles öffnete mir wie nie zuvor die Augen für die Maschinerie des russischen Faschismus.

Und dennoch, Nawalny ließ sich nicht einschüchtern. Was man bekam, war echt: sarkastisch, amüsiert, amüsant – er versetzte dem kleinen Mann im Kreml mit Worten Boxhiebe. »Ist Russland ein Polizeistaat«, fragte ich ihn. »Absolut«, antwortete er.

Frustriert darüber, dass Putin ihm den demokratischen Weg zu dessen Absetzung blockierte, drehte Nawalny geistreiche YouTube-Videos, die das ungeheure Ausmaß der Korruption in Russland aufzeigten und millionenfach angeschaut wurden. Diese Videos waren sowohl argumentativ stark als auch äußerst unterhaltsam. Die letzten beiden Filme waren herausragend. Der erste war Nawalny, eine oscarprämierte Dokumentation darüber, wie das Team Nawalny die Giftmörder des Kreml ausfindig machte, die Typen, die Nawalny fast umgebracht hatten. Als er sich in Deutschland von dem Anschlag erholte, waren an seiner Seite Christo Grosew, der digitale Sherlock Holmes unserer Zeit, sowie sein treuer Gefährte Leonid Wolkow und seine Chefrechercheurin Maria Pevchikh. Grosew kaufte im Darknet Telefonnummern und Flugpassagierlisten und – schwupps – schon hatten sie einen Treffer. Der Film gipfelt in der verblüffenden Szene, in der Nawalny, der vorgibt, ein hohes Tier des Kreml zu sein, einen der Giftmörder anruft. Der unglückselige Trottel plaudert das Vorgehen bei dem Attentat auf Nawalny aus – die Nähte im Genitalbereich seiner Unterhose waren mit Nowitschok präpariert worden –, während Grosew, der mithört, die Hände vor den Mund schlägt, um nicht über die Dummheit des Geheimpolizisten laut aufzulachen.

Der zweite Film, Putin’s Palace – Ein Palast für Putin, so der deutsche Titel – erschien unmittelbar nachdem Nawalny nach Russland zurückgekehrt war. Der Film wurde auf YouTube 125 Millionen Mal aufgerufen; er schildert in allen Einzelheiten, wie Putins Oligarchen einen geschmacklosen, mit goldenen Toilettenpapierhaltern ausgestatteten Palast am Schwarzen Meer finanzierten und wie der Dieb Putin Russland bis aufs letzte Hemd ausgeraubt hatte.

Für Außenstehende ist das große Rätsel in Nawalnys Leben, warum er, nachdem er sich von einem abscheulichen Mordversuch erholt hatte, nach Russland zurückkehrte und damit Putin herausforderte, ihn zu ermorden. Und genau das tat Putin dann ja auch. Ein Ziel dieses Buchs ist zu erläutern, was Nawalny dazu veranlasste, nach Hause zurückzukehren. Es folgte ein Schauprozess; das einzig Echte daran war der Moment, als Nawalny von seiner gläsernen Anklagebank aus für seine Frau Julija die Hände zu einem Herz formte.

Als Nawalny nach Russland zurückkam, ging er die Wette ein, dass Wladimir Putin nicht wagen würde, den Mann zu ermorden, der auf der schwärzesten aller schwarzen Listen stand. Nawalny verlor die Wette.

Neulich trank ich abends einen Wodka-Martini, geschüttelt, nicht gerührt, mit einem ehemaligen Beamten eines westlichen Geheimdienstes, der zu mir sagte: »Sie müssen sich fragen, warum Nawalny so lange leben durfte. Ich glaube, ein Teil der Antwort ist, dass er von den Oligarchen bei ihren Spielchen benutzt wurde, die sie weit über seinen Kopf hinweg gegeneinander spielten. Sie benutzten ihn, um ihre Feinde zu blamieren, und so war er, zumindest für einige der sehr mächtigen Männer, die Putins Ohr besaßen, lebendig nützlicher als tot. Das war seine Versicherungspolice. Doch irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem er nicht mehr nützlich war.«

Nawalny war so etwas wie ein Gladiator: ein tapferer Krieger, der immer bis zum Äußersten kämpfte, ohne je ganz zu begreifen, dass er nicht viel mehr war als eine Marionette, die von höheren Daseinsformen kontrolliert wurde. Vielleicht ist etwas Wahres dran an der Sichtweise, dass er ein Spielball der Oligarchen war, aber ich glaube nicht, dass das die ganze Geschichte ist.

Meiner Meinung nach wurde Nawalny vor allem getötet wegen der Beschwichtigungspolitik des Westens gegenüber Putin: weil unsere führenden Politiker noch heute und trotz all der Morde an unschuldigen Männern, Frauen und Kindern in der Ukraine Angst haben, dem Monster im Kreml die Stirn zu bieten, die Sanktionen gegen Russland gründlich durchzusetzen, die Ukraine wirkungsvoll mit Waffen auszustatten und Russland vom internationalen Finanzsystem abzuschneiden. Der Westen tut nichts von alledem und läuft Gefahr, nicht nur die Ukraine im Stich zu lassen, sondern auch die eigene Sicherheit zu riskieren.

Dieses Buch ist also drei Bücher in einem: Erstens ein Kriminalroman, der zu verstehen versucht, wie ein nicht ganz makelloser russischer Held, ein Ritter in verbeulter Rüstung, zu Tode kam; zweitens eine Studie über das außergewöhnliche Dahinscheiden des demokratischen Russlands; und drittens eine Analyse des Scheiterns der westlichen Staaten, sich gegen den Psychopathen zu verteidigen, der die russische Demokratie zerstörte. Allein seit der Veröffentlichung meines Buchs Der Killer im Kreml wurden zwei russische Schwergewichte ermordet: Jewgeni Prigoschin, der nach dem gescheiterten Militäraufstand in seinem Privatjet vom Himmel gepustet wurde, und Nawalny.

Proof of Concept, der Beweis der Machbarkeit, sollte es denn eines Beweises bedurft haben. Aber Der Killer im Kreml wurde noch in den guten Zeiten geschrieben, unmittelbar nach der Schlacht um Kiew im Frühsommer 2022, als die russische Armee eher ein Witz war. Das Ganze hat sich leider weiterentwickelt und ist viel, viel finsterer geworden. Obwohl Nawalny in einem Betonhundezwinger eingesperrt war, fürchtete Putin ihn mehr, als dass er ihn hasste. Er fürchtete die realen Folgen seiner Ermordung. Während die russische Tötungsmaschinerie mahlend weiter Richtung Westen rollt, während die Aussicht auf eine zweite Amtszeit von Trump immer wahrscheinlicher wird, während der Westen dabei versagt, der Ukraine ausreichend Wehrmaterial zu liefern, wird Putin von Tag zu Tag stärker. Am Valentinstag des Jahres 2024 beschloss der Drachenkönig, den Mann zu töten, dessen Namen er nicht auszusprechen wagte, und er setzte darauf, dass er damit durchkommen würde.

Alexej Nawalny war demnach ein Kanarienvogel in einem Kohlebergwerk. Ist das Lebens des Kanarienvogels ausgelöscht, dann reicht es nicht zu trauern. Wir müssen handeln und zwar schnell, sonst ist die nächste Beerdigung unsere eigene.

Deshalb ist es so wichtig, Nawalnys Geschichte zu erzählen.

Deshalb versucht dieses Buch, Nawalnys Denken zu verstehen.

Deshalb möchte ich, dass Sie dieses Buch lesen.

Kapitel eins

Der Junge aus Tschernobyl

Kein Alarm, keine Zeitungsmeldung, nichts im Fernsehen: nur der Befehl, auf die Felder zu gehen und Kartoffeln zu pflanzen, um später im Jahr die Ernte zu sichern. Und das war seltsam, denn Salissja, das Heimatdorf von Nawalnys Großmutter väterlicherseits, lag weniger als 30 Kilometer vom Zentrum des größten Atomunfalls der Welt entfernt. Nawalnys Mutter war Russin, doch sein Vater war im Schatten der rot-weißen Kamine des Atomkraftwerks Tschernobyl in der sowjetischen Ukraine aufgewachsen, und Nawalny verbrachte dort die ersten neun Sommer seiner Kindheit. Wladimir Putin bezeichnete das Ende der Sowjetunion einmal als »die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts«. Nawalny wusste schon im Alter von zehn Jahren, dass Putin und alle, die dachten wie er, Idioten sein mussten.

Was im April 1986 als Sicherheitstest im Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl geplant war, war ein übler Scherz. Der RBMK-Reaktor war die sowjetische Antwort auf die hohen Ölpreise. Doch er hatte eine Reihe schrecklicher Konstruktionsfehler. Er konnte seinen Operatoren nicht mitteilen, was in seinem Inneren wirklich geschah. Die Mitarbeiter konnten an einem Ventil drehen, indem sie ein steuerradgroßes Rad bewegten, wussten aber nicht, ob sie die Situation damit entschärften oder gefährlicher machten. Und der von den Konstrukteuren entwickelte Sicherheitstest konnte eine Kettenreaktion einleiten, die den Atomreaktor zum Kochen brachte.

Genau das war 1975, elf Jahre zuvor, im sowjetischen Leningrad – heute St. Petersburg – passiert, als Putin in seiner Heimatstadt seine Karriere beim KGB begann. Aufgrund der sowjetischen Geheimhaltungspolitik wurde das riesige Strahlungsleck vertuscht. Die betroffene Bevölkerung wurde nicht über die Gefahr informiert. In den Medien wurde über den Unfall nicht berichtet. Das Ministerium für mittleren Maschinenbau machte Baumängel, nicht die desaströse Konstruktion für den Unfall verantwortlich. Die Kommission, die den Vorfall untersuchte, sprach mehrere Empfehlungen aus. Keine wurde umgesetzt. Niemand beschwerte sich, weil niemand davon wusste. Willkommen in der Sowjetunion.

Als die Reaktortechniker in Tschernobyl im April 1986 den AZ-5-Knopf betätigten, um die Regelstäbe in den Reaktor einzufahren, dachten sie, sie würden den Test stoppen. In Wirklichkeit setzten sie eine Kettenreaktion in Gang, die den Kernreaktor in die Luft jagte, das Betondach zerstörte und den Kern freilegte. Es wurde tonnenweise entsetzlich verstrahltes Grafit herausgeschleudert. Die Menschen in der angrenzenden Stadt Prypjat sahen eine außergewöhnlich schöne dunkelblaue Lichtfontäne aus dem geborstenen Kernkraftwerk aufsteigen, dann ein orangefarbenes Leuchten, ohne zu ahnen, dass diese ionisierende Strahlung und das massive Kernleck in den darauffolgenden Jahren zu ungefähr 9000 Krebstoten in der Ukraine, in Weißrussland und Russland führen würden.

Jahre später kehrte Nawalny an einem der wenigen Tage, an denen die Behörden es gestatteten, in die leeren Straßen Salissjas in der Sperrzone von Tschernobyl zurück, um sich die verlassenen Klassenzimmer, die überwucherten Spielplätze, auf denen er herumgetollt war, und das verlassene Haus seiner Großmutter anzusehen. Erschüttert besichtigte er, was die Sowjetunion dort alles zerstört hatte.

2019 wurde die fesselnde HBO-Fernsehserie Chernobyl erstmals ausgestrahlt. Sie basiert auf den persönlichen Geschichten von Überlebenden, die die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zusammengetragen hat, und setzt sich eindringlich und schonungslos mit dem auseinander, was tatsächlich schiefgelaufen war. Die Behörden schoben die Schuld auf den Leuteschinder Anatoli Djatlow, den reizbaren, unsympathischen stellvertretenden Chefingenieur des Kernkraftwerks, weil er noch an dem Sicherheitstest festgehalten habe, als die Dinge bereits aus dem Ruder liefen. Djatlow wurde zum Sündenbock gemacht und ins Gefängnis gesteckt. Doch die HBO-Serie legte Beweise vor, dass die Konstruktion des Reaktors und letztlich die Engstirnigkeit des sowjetischen Systems, die Verantwortung trugen, nicht eine Einzelperson, die so schwer versagt hätte. Putins Anhänger hassten Chernobyl und erklärten die Miniserie kurzerhand zu westlicher Propaganda.

Nawalny wusste, dass diese Leute Unsinn erzählten, und äußerte das auch auf YouTube: »Was in Tschernobyl geschah, war wirklich eine ungeheure Katastrophe, und schuld daran war genau die permanente Lügerei, die widerliche, hässliche Lüge von all diesen Leuten, diesen Sowjetbossen, die in Moskau und Kiew saßen. Ich werde ein bisschen emotional, wenn ich darüber spreche, denn in gewisser Weise ist das meine Familiengeschichte. Alle meine Verwandten väterlicherseits stammen aus Tschernobyl. Ich weiß durch meine Verwandten bestens Bescheid und kenne die ganze Geschichte der endlosen Lügen. Das Kernkraftwerk explodierte, trotzdem sagten sie nichts und trieben die Leute hinaus, um … Kartoffeln für die Kolchose zu pflanzen. Dort gruben die Menschen mit eigenen Händen in der Erde, während der radioaktive Staub auf sie herunterrieselte und sie eine enorme Strahlendosis abbekamen.«

Russia 24, einer der wichtigsten russischen Propagandasender holte zum Gegenschlag gegen Chernobyl aus: »Das Einzige, was fehlt, sind die Bären und die Akkordeons!«, sagte der Moderator Stanislaw Natanson und zeigte als Beweis für eine Fälschung auf Bilder von Sturmfenstern aus den 2000er-Jahren, die angeblich zu einem Gebäude im Prypjat des Jahres 1986 gehörten. Das Fernsehpublikum sah die anachronistischen Fenster nur flüchtig. Natanson widersprach vor den Zuschauern von Russia 24 auch der Behauptung, das Sowjetsystem habe keine ehrlichen Stellungnahmen zugelassen: »Der Wissenschaftler Waleri Legassow leitete nicht nur die Reaktion der Regierung auf die Reaktorkatastrophe, sondern übte auch offen Kritik an ihrem Umgang mit der Atomindustrie.«

Stimmt fast. Legassow hatte tatsächlich 1987 für die meistgelesene Zeitung Komsomolskaja Prawda einen kritischen Artikel über die Sicherheitsstandards der sowjetischen Atomindustrie geschrieben. Darin legte er dar, warum die Konstruktion der RBMK-Reaktoren gefährlich war, und forderte, sie zu verbessern, und zwar drastisch. Doch der Artikel wurde nicht veröffentlicht. Erst nachdem sich Legassow 1988 aus Protest gegen die staatliche Vertuschung das Leben genommen hatte, kam der Artikel mit seiner Forderung, alle RBMK-Reaktoren sofort umzubauen, ans Tageslicht.

Die Strahlenverbrennungen in Tschernobyl waren ein Argument für die liberale Demokratie, doch Putin war zu verbohrt, um das zu begreifen. Zum Zeitpunkt der Katastrophe im Jahr 1986 war er ein Kämpfer im Kalten Krieg und arbeitete als untergeordneter KGB-Offizier mit sämtlichen Tricks aus dem Arsenal der Geheimpolizei, um die Macht der Sowjetunion im ostdeutschen Dresden durchzusetzen. Als die Sowjetunion fünf Jahre später auseinanderbrach, glaubte Putin, dass sich die CIA, der MI6 und andere westliche Geheimdienste verschworen hatten, um das Land, in dem er gelebt und dem er zeit seines Lebens gedient hatte, zu zersetzen. Im Betonkopfdenken eines sowjetischen Geheimdienstlers der 1970er gefangen, begriff er nicht, dass die drei Gründe für den Untergang seines Landes nicht westliche Agenten waren, sondern das chronische Versagen der Planwirtschaft im Wettbewerb mit freien Märkten, das katastrophale Scheitern der sowjetischen Armee bei dem Versuch, die Sympathien und Unterstützung der Menschen in Afghanistan zu gewinnen, und das Unvermögen eines Staates, der ein zivil genutztes Kernkraftwerk in eine Atombombe verwandelt hatte. Nawalnys Sicht auf Tschernobyl gründete auf der Einsicht, dass das System falsch und nicht zu retten war. Putin steckte in den Schlacken eines magischen Denkens fest. Das tut er bis heute.

Tschernobyl hat Nawalny gezeichnet wie Voldemort Harry Potter; die Narbe reichte so tief, dass er sie nicht wieder loswurde. Im Alter von zehn Jahren hatte Nawalny erlebt, dass ein Staat, der seine Bevölkerung belügt, etwas Teuflisches ist, dass man in der Politik – und wenn man an der Macht ist – den Menschen die Wahrheit sagen muss. Nachdem er gesehen hatte, was eine schwachsinnige, verlogene Macht seinem Kindheitsidyll angetan hatte, verbrachte er den Rest seines Lebens damit, andere Menschen nicht anzulügen.

Doch die Freunde und Verwandten in diesen ersten Sommerferien seines Lebens in der Ukraine und in der übrigen Zeit in Russland spürten auch, dass dieser Junge etwas Besonderes war: seine Ruhe, seine Furchtlosigkeit, seine Art, Dinge eigenständig zu durchdenken. Er war groß, blond und blauäugig, mit blendendem Aussehen. Doch er war auch sehr anders als seine Landsleute.

Alexej Nawalny wurde am 4. Juni 1976 in der Militärstadt Butyn, 40 Kilometer von Moskau entfernt, geboren. Sein Vater Anatoli war Offizier in der sowjetischen Armee, seine Mutter begleitete ihren Mann zu den verschiedenen Posten, an denen er stationiert war, die meisten davon nicht weit von Moskau entfernt. Seine lebendigsten Kindheitserinnerungen, so erzählte Nawalny immer, stammten aus der Ukraine. »Der Uzh, der nach Prypjat fließt, ein steiler Hang und die Schwalbennester. Und ich versuche immer wieder, diese Schwalbe zu erwischen, stecke meine Hand in das Nest, kann sie aber nicht fangen.«

Vor der Katastrophe von Tschernobyl lebten fast 3000 Menschen in Salissja, es gab eine Kolchose und eine Flachsmühle. Heute ist es eine Geisterstadt. Als Nawalny 2013 für das Amt des Bürgermeisters von Moskau kandidierte, besuchte die Journalistin Irina Guk den Ort: »… geplünderte Häuser, ein Kindergarten-Spielplatz mit verbogenen und verrosteten Spielgeräten, ein mit wildem Wein überwuchertes Supermarktschild. Nur das Denkmal für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Dorfbewohner sah gepflegt aus. Darauf steht mehrmals der Name Nawalny …«

Alexejs Großvater, Iwan Tarasowitsch, war Zimmermann und arbeitete genau wie seine Frau Tatjana Danilowna in der Dorfkolchose. Sie hatten zusätzlich einen eigenen kleinen Hof mit einer Kuh, ein paar Schweinen und einem Dutzend Hühnern. Bis zur Katastrophe von Tschernobyl war es ein ländliches Idyll. Am Anfang reichte die Sperrzone nur zehn Kilometer rund um das Kernkraftwerk, und Salissja lag außerhalb. Erst als man die extreme Gefahr, die von der Strahlung des freiliegenden Reaktorkerns ausging, adäquat verstanden hatte, wurde die Sperrzone auf einen Radius von 30 Kilometern rund um das Kraftwerk ausgedehnt, sodass nun auch Nawalnys Heimatdorf dazugehörte.

Nawalny erzählte der russischen Ausgabe des Magazins Esquire, dass er jeden Sommer bei seiner Großmutter in Salissja verbrachte und dass er sicherlich dort gewesen wäre, hätte der Unfall nicht im April, sondern im Juni 1986 stattgefunden. »Nur um eine Panik zu vermeiden, wurden die Kolchosbauern und ihre Angehörigen zum Kartoffelpflanzen geschickt, und gruben im radioaktiven Staub. Erst später begann man mit der Umsiedlung. Es war eine weltweite Katastrophe, und meine Familie und ich gehörten zu den Opfern.«

Die gesamte Gemeinde zog in eine eigens gebaute neue Gemeinde um, die man Neu-Salissja nannte und die direkt im Norden von Borodjanka lag, nordwestlich von Kiew. Nur eine alte Frau blieb zurück. Rosalia Otroschko, die einzige Bewohnerin des verlassenen Dorfes, führte Irina Guk bei deren Recherche herum: »Die alte Frau wusste ihr Alter nicht mehr und lebte, für moderne Menschen nahezu unvorstellbar, als über Achtzigjährige in einem Holzhaus ohne Licht, Wasser und Heizung. Ihre Erinnerungen an die Nawalnys gehen offensichtlich durcheinander, und wir betreten die Hütte, die sie uns zeigt, ohne große Hoffnung. Später jedoch identifizierten Verwandte das Haus auf den Fotos; sie erkannten die grünen Fensterläden mit den Schnitzereien, die der Großvater des Oppositionspolitikers, Iwan Tarasowitsch, eigenhändig angefertigt hatte.«

Natalja Iljinischna Semenjuk war in ihren Sechzigern, als Guk sie 2012 in Neu-Salissja aufsuchte: »Wir lebten Seite an Seite und versorgten die Kinder gemeinsam. Aljoscha [Alexejs Kosename] kam zu uns, als er vielleicht fünf Monate alt war. Seine Mutter Ljuda studierte damals, und er lebte ungefähr zwei Jahre bei uns. Und später kam er immer den ganzen Sommer über«, erinnerte sie sich.

Die Reporterin beschrieb das ländliche Idyll: Nüsse trocknen im Ofen, Bohnen und Äpfel, die in Schüsseln auf dem Boden glänzen. Semenjuk, eine kleine Frau, beschrieb sich als Zwergin neben Aljoscha. »Wenn er ankam, sprach er einen Monat lang Russisch, dann übernahm er unseren Dialekt« – eine Mischung aus Ukrainisch und Belarussisch. »Der Junge war neugierig, er stellte Fragen und sprach über alles Mögliche. Er half, sich um die Kuh zu kümmern und pflückte Kirschen wie alle Jungen aus dem Dorf, er fischte und schwamm. Mit dem Essen war er nicht mäkelig: Er aß Brot mit Wasser und Zucker, unsere Mohnkuchen und Knödel.«

Semenjuk war sich bewusst, dass Nawalny und seine Eltern, jetzt, da Nawalny ein führendes Mitglied der Opposition war, aufpassen mussten, was sie sagten: »Sie haben Angst, überhaupt zu reden … Luda [Nawalnys Mutter] gestand einmal, sie leben wie auf einem Pulverfass«, Natalja hielt kurz inne. »Die Politik ist ein schmutziges Geschäft.«

Zwölf Jahre und einen großen Krieg später reiste meine Kontaktperson Sascha Alexandrenko im März 2024 für dieses Buch nach Neu-Salissja auf der Suche nach Personen, die sich noch an den jungen Nawalny erinnerten. Ein großes sowjetisches Objekt aus Eisen rühmt die neue Gemeinde und trägt ihren aus roten Metallrohren geschriebenen Namen sowie die Jahreszahl 1986 – ohne jegliche Anspielung auf die dunkle Geschichte, die hinter der Gründung steckt. Nawalnys engste Familie misstraute Journalisten grundsätzlich, aber Sascha fand drei Frauen, die sich sehr gut an ihn erinnerten.

Und zwei, die ein Kriegsverbrechen ansprachen, an das der Name Nawalny sie erinnerte.

Dem Aussehen nach dürfte Galina Denisiwna Ende siebzig, Anfang achtzig sein. Sie trägt eine blaue Kappe auf ihrem ordentlich zurückgekämmten grauen Haar und einen blauen Mantel gegen die Kälte. Sie war Lehrerin in Alt-Salissja: »Ja, ich kannte Nawalnys Familie. Sie sprechen nicht mit Journalisten. Heutzutage ist das viel zu gefährlich, das verstehen Sie sicher. Ich zog 1986 nach Neu-Salissja. Vor der Tschernobyl-Tragödie stand unser Haus gegenüber dem Garten der Familie Nawalny. Sie bauten dort nichts an, besaßen aber ein wenig Grund. Ich kannte Aljoschas Vater, er war der jüngste von drei Brüdern. Wir waren Klassenkameraden des mittleren Bruders Wasil. Ich weiß nicht, wo Alexej geboren ist, aber ich weiß, dass sein Vater, nachdem er in der Armee gedient hatte, in Moskau blieb. An Alexej als kleinen Jungen kann ich mich nicht erinnern, wohl aber an seinen Besuch als Erwachsener. Wir sind noch immer Nachbarn von Alexejs Cousin; wir kennen uns alle untereinander. Ich habe seine Filme über Putin gesehen und seine Entwicklung und seine Karriere verfolgt. Das war wichtig für mich. Offenbar sind in diesem Land [Russland] alle verrückt, und ich warte darauf, dass dieser Wahnsinn aufhört. Ich glaubte wirklich, dass Aljoscha mithilfe der Opposition dort etwas verändern kann. Doch von der Opposition ist jetzt nichts mehr übrig. Sie wurden umgebracht, vergiftet, erschossen.«

Wie haben Sie von Nawalnys Tod erfahren?

»Ich sah gerade fern, als mich meine Kollegin anrief und mir die erschütternde Nachricht überbrachte. Sein Tod versetzte mich in Schmerz und Trauer. Wir sind freundliche Menschen hier, wissen Sie, mit Herz. Wie kann man sich überhaupt Mensch nennen, wenn man kein Mitgefühl hat?«