Der Federmörder - James Patterson - E-Book
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Der Federmörder E-Book

James Patterson

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Beschreibung

Gejagt vom FBI und dem LAPD für neunzehn Morde in zehn Bundesstaaten. Und niemandem, dem er trauen kann – nicht mal sich selbst!

Als Michael Fitzgerald wegen eines Wasserrohrbruchs in seine Wohnung zurückkehrt, findet er in der Badewanne die Leiche einer jungen Frau. Michael hat keine Ahnung, wer die Tote ist und wie sie in sein Bad kommt. Geschockt ruft er die Polizei, aber diese glaubt ihm nicht. Denn es finden sich gegenteilige Beweise in der Wohnung des Mordopfers wie Fotos der beiden. Michael sieht nur eine Chance, um nicht in der Todeszelle zu landen: Er muss seine Unschuld beweisen! Er flieht, gejagt von der Polizei und dem FBI, die ihn bald für zahlreiche Morde verantwortlich glauben, bei denen stets eine Vogelfeder zurückgelassen wird. Die Feder einer Ammer, wie Michael sie als Kind sammelte …

Actiongeladen, pulsbeschleunigend und unvorhersehbar – der Stand-alone Thriller der beiden SPIEGEL-Bestsellerautoren ist Nervenkitzel pur!

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Seitenzahl: 591

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BUCH

Als Michael Fitzgerald wegen eines Wasserrohrbruchs in seine Wohnung zurückkehrt, findet er in der Badewanne die Leiche einer jungen Frau. Michael hat keine Ahnung, wer die Tote ist und wie sie in sein Bad kommt. Geschockt ruft er die Polizei, aber diese glaubt ihm nicht. Finden sich doch gegenteilige Beweise in der Wohnung des Mordopfers wie Fotos der beiden. Michael wird verhaftet, kann aber fliehen. Er sieht nur eine Chance, um nicht in der Todeszelle zu landen: Er muss seine Unschuld beweisen! Gejagt von der Polizei und dem FBI, die ihn bald für zahlreiche Morde verantwortlich glauben, bei denen stets eine Vogelfeder zurückgelassen wird. Die Feder einer Ammer, wie Michael sie als Kind sammelte …

JAMESPATTERSON

James Patterson, geboren 1947, war Kreativdirektor bei einer großen amerikanischen Werbeagentur. Seine Thriller um den Kriminalpsychologen Alex Cross machten ihn zu einem der erfolgreichsten Bestsellerautoren der Welt. Auch die Romane seiner packenden Thrillerserie um den »Women’s Murder Club« erreichen regelmäßig die Spitzenplätze der internationalen Bestsellerlisten. James Patterson lebt mit seiner Familie in Palm Beach und Westchester County, N. Y..

J. D. BARKER

J. D. Barker hat bereits einen preisgekrönten Horrorroman veröffentlicht, für den er hochgelobt wurde. Mit seiner spektakulären SPIEGEL-Bestseller-Trilogie um Detective Sam Porter und den perfiden Four Monkey Killer knüpft er nahtlos an diesen Erfolg an und begeistert unzählige Leser*innen. Barker lebt in Englewood, Florida, und in Pittsburgh, Pennsylvania.

JAMESPATTERSONJ. D. BARKER

DERFEDERMÖRDER

THRILLER

Deutsch von Leena Flegler

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Coast-to-Coast Murders« bei Little, Brown and Company, a division of Hachette Book Group, New York

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Copyright der Originalausgabe © 2020 by James Patterson

This edition arranged with Kaplan/DeFiore Rights through Paul & Peter Fritz AG.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Susanne Rehlein

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de

Umschlagmotiv: © plainpicture/Anja Weber-Decker

JA · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-27665-2V002

www.blanvalet.de

TEIL 1

LOSANGELES, KALIFORNIEN

Was ist der Geist, wenn nicht hauchdünnes Glas?

DR. BARTONFITZGERALD

KAPITEL 1

Michael

Wo bist du, wenn dein Leben zu Ende geht?

Ich war beim Einkaufen und drückte auf eine Mango.

Inzwischen war es sechzehn Minuten her, dass die Frau aus der Wohnung unter mir angerufen hatte.

Ich hatte meinen Einkaufskorb neben dem Obst stehen lassen und war keuchend und schwitzend die zehn Blocks vom Supermarkt zurück nach Hause in den nichtssagenden senfgelben Wohnsilo im Wilshire Village gerannt, wo ich den Postboten antraf, der die Pfütze vor der Briefkastenwand anstarrte. Wasser plätscherte die Treppe herunter und flutete den Eingangsbereich.

Ich rannte an ihm vorbei und versuchte, auf der Treppe nicht auszurutschen.

Gerade als ich meine Wohnungstür erreicht hatte, klingelte mein Handy erneut. Wieder die Nachbarin.

»Ich sehe es, Mrs. Dowell – da muss ein Rohr geplatzt sein oder so«, sagte ich. Das war mir drüben an der Ostküste im Winter mal passiert. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass das in Kalifornien auch vorkommen konnte.

Das Wasser strömte unter meiner Wohnungstür hindurch auf den Flur und sammelte sich auf dem Treppenabsatz.

»Michael, es tropft bei mir aus der Decke«, sagte Mrs. Dowell. »Die Bilder, die Möbel … Haben Sie den Hausmeister angerufen?«

Ich nestelte an meinem Schlüsselbund, fand den richtigen Schlüssel und schob ihn ins Schloss. »Ich dachte, Sie hätten ihn schon angerufen?«

»Warum sollte ich den Hausmeister anrufen? Es ist Ihre Wohnung!«

Weil er dann schon vor einer halben Stunde hier gewesen wäre und das Wasser abgedreht hätte! »Ich rufe ihn an, sobald wir aufgelegt haben, Mrs. Dowell, versprochen.«

Ich schob die Tür auf und tastete nach dem Lichtschalter, besann mich dann aber. Der ganze Boden war mit Wasser bedeckt.

Mrs. Dowell seufzte. »Und wer zahlt mir den Schaden?«

Das Echtholzparkett glitzerte im Licht der untergehenden Sonne. Vom Schlafzimmer im hinteren Teil ergoss sich ein Bächlein in Richtung Wohnzimmer, Flur und zur Wohnungstür hinaus. Ich hörte es spritzen und gluckern.

»Ich glaube, das kommt aus dem Bad …«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, gab Mrs. Dowell zurück.

»Ich zahle das. Egal, was kaputt ist. Machen Sie sich keine Sorgen.«

»Meine Bilder sind unbezahlbar!«

Ich habe deine Bilder gesehen – wir gehen zusammen auf den Flohmarkt und holen dir ein paar neue!

Das Schlafzimmer war das einzige Zimmer der Wohnung mit Teppichboden, und über den watete ich jetzt und hinterließ Fußabdrücke.

Im dahinterliegenden Bad schoss Wasser aus dem Wasserhahn im Handwaschbecken. Aus dem Hahn in der Wanne ebenfalls. Sowohl Waschbecken als auch Wanne liefen über.

»Mrs. Dowell, ich lege jetzt auf, damit ich den Hausmeister anrufen kann. Ich melde mich wieder.«

Ich warf einen Blick zurück ins Schlafzimmer. Ich hatte das Wasser nicht aufgedreht, also hatte es jemand anderes getan.

Das Zimmer war leer.

Ich wandte mich zum Waschbecken um und drehte den Wasserhahn zu.

Im Waschbecken lag ein Handtuch, das den Überlauf blockierte.

An diesem Punkt hätte ich losrennen und fluchtartig die Wohnung verlassen müssen. Ich wünschte, ich hätte es getan, denn was als Nächstes passierte, war noch viel schlimmer als die Vorstellung, dass ein Fremder in meine Wohnung eingedrungen war.

Ich machte ein paar Schritte vom Waschbecken zur Badewanne und blickte in das überlaufende Wasser, blickte durch die sich kräuselnde Oberfläche auf das hinab, was darunterlag und nur vom Dämmerlicht draußen erhellt wurde. Ich blickte hinab auf ein bildschönes Gesicht, das zu mir hochsah. Die grünen Augen waren weit aufgerissen, die Lippen leicht geöffnet, und das blonde Haar dümpelte sanft im Wasser.

Ich ertappte mich dabei, wie ich die nackte, leblose Frau in meiner Wanne sekundenlang anstarrte. Makellose Haut, die Andeutung von Sommersprossen auf der Nase.

Irgendwann drehte ich den Wasserhahn zu. Nicht dass ich mich noch daran erinnern könnte. Ich weiß nur noch, dass ich mich auf den Wannenrand setzte und nicht mehr atmen konnte.

KAPITEL 2

Michael

In meiner Hand fing mein Handy an zu vibrieren. Schon wieder Mrs. Dowell.

Ich drückte den Anruf weg und tippte stattdessen eine Nummer ein.

Allerdings nicht die des Hausmeisters.

Sie ging nach dem dritten Klingeln ran. »Eine Zahl zwischen eins und fünf.«

»Meg, nicht jetzt. Es ist etwas passiert …«

»Nein, nein, nein, Michael, du kennst die Regeln! Erst eine Zahl.«

Ich schüttelte den Kopf. »Meg, das hier ist wirklich …«

»Hast du eine Ahnung, wie oft ich dich in der letzten Woche angerufen habe? Du bist nie rangegangen. Du hast nicht zurückgerufen. Du hast dir nicht einmal die Mühe gemacht und kurz geschrieben: Hey, bin noch am Leben, aber beschäftigt. Neunzehn Mal! Geht man so mit seiner Schwester um? Am Dienstag ist Dr. Barts Beerdigung, und du findest, ausgerechnet diese Woche bietet sich super an, um abzutauchen? No bueno, großer Bruder. Dr. Rose sitzt mir im Nacken. ›Wo ist dein Bruder? Kommt er? Hast du schon mit ihm gesprochen? Er kommt doch, oder?‹ Schlimm genug, dass du nicht mit ihr sprichst, aber mich kannst du nicht einfach ignorieren! Ich weiß, du willst dafür nicht herkommen, aber du musst, Michael. Dr. Barts Beerdigung kriege ich ohne dich nicht hin, das geht einfach nicht. Ich weiß, ihr seid nicht miteinander ausgekommen, zumindest nicht immer – okay, nie – , aber wenn du nicht herkommst, wirst du dir das nie verzeihen. So etwas verfolgt dich für den Rest deines Lebens. Komm wenigstens um meinetwillen und wegen Dr. Rose. Ich weiß, sie kann unerträglich sein, aber sie hat uns großgezogen. Und sie ist am Boden zerstört. Sie ist kurz davor durchzudrehen. Was soll sie denn denken, wenn du nicht kommst? Und du weißt, wie die Leute an der Uni reden, ihre Kollegen … Das braucht sie jetzt echt nicht …«

»Megan!«

»Sag einfach, dass du kommst, und ich höre sofort auf. Ich spreche es nie wieder an. Lass meinetwegen meinen Geburtstag ausfallen. Meine nächsten zehn Geburtstage. Aber komm, das hier ist zu wichtig, um …«

»Drei. Die Zahl, an die du gedacht hast, war die Drei.«

»Woher weißt du das immer?«

»Meg, du musst mir jetzt ganz genau zuhören. Hier ist etwas passiert.«

»Geht es dir gut?«

Das ausdruckslose Gesicht der Frau starrte aus der Wanne zu mir empor, das Wasser verzerrte leicht ihr Gesicht, und ihre blasse Haut schien zu glänzen. Sie sah so ruhig und friedlich aus. Sie hatte die schönsten grünen Augen, die ich je gesehen hatte. Eine einsame Luftblase stieg von ihren Lippen nach oben und zerplatzte an der Wasseroberfläche.

Mir ging es nicht gut. Mir ging es überhaupt nicht gut.

»Da liegt eine Frau in meiner Wanne.«

»Du klingst, als wäre das ganz furchtbar schlimm«, erwiderte Megan.

»Meine ganze Wohnung ist überflutet, und Mrs. Dowell … Keine Ahnung, wer …« Aus meinem Mund kam nur unzusammenhängendes Zeug. Mein Herz hämmerte mir hart gegen die Rippen.

»Jetzt mal tief einatmen, Michael.«

Ich tat wie geheißen. Zwei Mal. »Sie ist tot, Meg.«

Megan antwortete nicht.

»Ich … Ich weiß nicht, wer das ist …«

Meine Schwester sagte immer noch nichts.

»Meg?«

»Du verarschst mich, oder? Wie damals, als du mir erzählt hast, du hättest diesen Typ an der Tankstelle in Kansas City überfahren, weil er ein New-Kids-On-The-Block-T-Shirt anhatte. Oder als du mal erzählt hast, im Führerhäuschen deines Trucks hätte sich eine Nutte schlafen gelegt, und du hättest beschlossen, sie dürfte einfach liegen bleiben und ausschlafen. Oder diese Sache mit dem Tramper in Nevada, den du angeblich bis Utah, Colorado und Missouri mitgenommen hast? Es ist jetzt wirklich nicht der richtige Moment für Späße, Michael. Ich muss Dr. Rose endlich Bescheid sagen, ob du kommst oder nicht.«

»Ich … kann dir nicht mal sagen, wie sie gestorben ist. Man sieht ihr nichts an. Es sieht alles okay aus, sie sieht aus, als würde sie schlafen, nur dass sie nicht schläft – nicht unter Wasser! Sie atmet nicht! Ich will sie nicht anfassen. Ich weiß, ich darf sie nicht anfassen, und hab’s auch nicht getan …«

»Scheiße … War das dein Ernst? Hast du die Polizei angerufen?«

»Ich hab dich angerufen.«

»Du musst die Polizei rufen! Sofort! Leg jetzt sofort auf und ruf die Polizei!«

Das habe ich gemacht.

KAPITEL 3

Michael

»Kann ich mir eine andere Hose anziehen?«

Ich saß auf dem Sofa in meinem kleinen Wohnzimmer.

Detective Garrett Dobbs sah von seinem Handy auf. »Was?«

»Meine Hose und Unterhose sind nass geworden, als ich mich auf den Badewannenrand gesetzt habe. Könnte ich mich vielleicht umziehen?«

»Nein. Später. Ich will, dass Sie mir noch mal alles von A bis Z erzählen. Fangen Sie damit an, wie Sie am Nachmittag aus der Wohnung gegangen sind«, sagte Dobbs.

Der Detective war Mitte, Ende dreißig. Seine braunen Haare waren an den Seiten raspelkurz, oben auf dem Kopf ein bisschen länger. Er trug ein schwarzes Sweatshirt, Jeans und schwarze Boots. Die Dienstmarke baumelte an einer Metallkette um seinen Hals. Er gab sich nicht die geringste Mühe, die Waffe an seinem Gürtel zu verbergen. Sie war schwarz und wirkte schwerer, als sie vermutlich war.

Irgendwie kam er mir vage bekannt vor, aber ich konnte ihn erst nicht einordnen. Dann fiel es mir wieder ein. »Sie haben Football gespielt, oder? Für Syracuse? Runningback, wenn ich mich richtig erinnere.«

Er starrte noch einen Moment lang auf sein Handy. Als er aufblickte, war sein Gesicht ausdruckslos. »Sind Sie aus New York? Hier in L.A. trifft man nicht allzu viele Orange-Fans.«

»Ich war an der Cornell.«

Er nickte. »Big Red?«

»Nicht so richtig … Ich hab abgebrochen.«

»Soweit ich weiß, braucht man keinen Abschluss, um Fan zu sein.«

»Da kennen Sie meine Eltern nicht. Man braucht einen Abschluss für alles.«

»Find ich schlimm.«

»Sie waren echt schnell. Habe Sie schon bei den Profis gesehen.«

Ein zweiter Detective, der sich mir nicht vorgestellt hatte, mischte sich ein. »Dobbs hat die vierzig Yards in vier Komma zwei sieben Sekunden geschafft – wie Deion Sanders. Schnellster Mann von Syracuse – bis er sich die Achillessehne gerissen hat. Danach war er nur noch so schnell wie wir anderen auch.«

Dobbs ließ das Handy sinken. »Ich hab sie mir zweimal gerissen. Als Junior und noch mal als Senior. Für die NFL-Talentscouts war ich ein Mängelexemplar. Sind einfach an mir vorbeimarschiert, als wäre ich unsichtbar. Aber was davor war …«

»Was davor war, spielt für künftige Ergebnisse eben keine Rolle«, fiel der andere ihm ins Wort. »Das sagt er jedes Mal.«

»Ich habe auf dem Klemmbrett des einen gesehen, was neben meinem Namen stand«, sagte Dobbs. »Wenn man so etwas über sich selbst liest, prägt sich das ein. Der Trainer hat mich das Senior Year auf der Bank sitzen lassen, damit ich mein Stipendium behalten konnte, aber wir wussten alle, dass Football für mich nichts mehr war. Sie haben ein gutes Gedächtnis. Ich habe seit 2001 nicht mehr gespielt. Himmel, das sind jetzt siebzehn Jahre.«

»Manche Sachen bleiben wohl einfach hängen.«

Mein Blick wanderte zu dem Spurentechniker. Durch die offene Schlafzimmertür sah ich, wie er mit Latexhandschuhen eine Damenhandtasche hinter dem Bett hervorzog. Vorsichtig legte er sie auf meinen zerknitterten blauen Bettüberwurf. Er griff erneut hinters Bett, zog ein kurzes schwarzes Kleid, einen Slip, den dazu passenden BH und ein Paar schwarze Pumps hervor und legte eins nach dem anderen neben die Handtasche. Ein zweiter Spurentechniker setzte kleine nummerierte Schildchen daneben – 4, 5, 6, 7, 8 und 9. Ich fragte mich, welche drei Dinge sie zuvor nummeriert hatten. Ein dritter Techniker fotografierte die Gegenstände aus unterschiedlichen Winkeln.

Dobbs beobachtete mich, wie ich seine Kollegen beobachtete, und tippte eine Notiz in sein Handy. »Sie meinten, Sie kannten sie nicht?«

»Nein.«

Er neigte leicht den Kopf zur Seite. »Sieht aber ganz danach aus, als hätten Sie sie gekannt.«

»Ich kenne sie nicht. Ich habe keine Ahnung, wer sie ist.«

Er nickte in Richtung der Wohnungstür. »Da waren keine Einbruchspuren. Sie haben ausgesagt, die Tür war verschlossen, als Sie nach Hause gekommen sind, stimmt’s?«

»Ja, stimmt.«

»Das Zylinderschloss, das Schloss im Knauf oder beide?«

»Nur das Zylinderschloss. Das andere benutze ich nicht.«

Zwei weitere Spurentechniker wischten mit großen gelben Schwämmen den Boden und wrangen sie über weißen Eimern aus. Ein Eimer war in klobigen schwarzen Buchstaben und Ziffern mit der Aktennummer des Falls beschriftet, mit meinem Namen, meiner Adresse und einer 2. Das Gleiche – nur mit einer 3 dahinter – stand auf dem zweiten Eimer. Ich stellte mir vor, wie ein Spurentechniker in irgendeinem Labor unter dem Mikroskop auf Objektträgern Tropfen um Tropfen untersuchte.

»Hey, Dobbs? Wir haben einen Namen.« Wilkins war das Portemonnaie durchgegangen und hielt einen Führerschein hoch. »Alyssa Tepper. Zweiundzwanzig, wohnhaft in Burbank.«

Dobbs nickte mir zu. »Alyssa Tepper. Sagt Ihnen das was?«

Ich schüttelte den Kopf.

Wilkins pfiff durch die Zähne. »Schau sich das einer an!« Er hielt eine Baseball-Sammelkarte hoch. »Das ist eine 36er Joe DiMaggio von World Wide Gum!«

Dobbs ging auf ihn zu. »Ist die wertvoll?«

»In gutem Zustand kann die bis zu neunzigtausend bringen. Allerdings ist die Rückseite kaputt – da fehlt das halbe Deckpapier. Links ist die Ecke leicht eingerissen. Immer noch einiges wert, aber nicht annähernd so viel.« Er legte sie neben die anderen Gegenstände aus der Handtasche aufs Bett.

Diese Baseballkarte kannte ich.

Dobbs beugte sich vor, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern.

Wilkins nickte, nahm sein Handy heraus und wählte eine Nummer.

KAPITEL 4

Michael

Sie hatten einen Schlüssel in ihrer Tasche gefunden. Er passte in das Zylinderschloss in meiner Tür.

Das war vor zwei Stunden gewesen.

Als unser Hausmeister endlich auftauchte, ließen die Officers ihn nicht herein. Vom Flur aus versuchte er, Blickkontakt aufzunehmen. Ich drehte mich weg.

Das Wasser war inzwischen aufgewischt worden. Mittlerweile befanden sich an die zwölf Leute in meiner Wohnung.

Dobbs war im Schlafzimmer oder im Bad. Ich wusste es nicht, weil die Türen zu waren.

Als die Schlafzimmertür endlich aufging, schoben zwei Frauen vom Rechtsmedizinischen Institut eine Rollbahre mit einem schwarzen Plastiksack heraus.

Dobbs sah ihnen noch kurz nach, ehe er sich neben mich aufs Sofa setzte. »Ist Ihre Hose immer noch nass?«

»Klamm. Ist aber okay. Alles gut.«

Er warf mir eine Jeans zu, eine Unterhose, Socken und ein getragenes Big-Red-Sweatshirt. Die hatte er aus meinem Koffer auf dem Schlafzimmerboden gezogen. Ein Spurentechniker stand mit einer großen, transparenten Plastiktüte neben ihm.

»Ziehen Sie sich um«, sagte Dobbs. »Ihre Sachen kommen in die Tüte. Haben Sie etwas in den Hosentaschen?«

»Nein, hab ich Ihnen doch schon zweimal gesagt. Außerdem hat einer der Streifenpolizisten mich abgetastet, bevor Sie gekommen sind.«

Er sah an mir hinab. »Ziehen Sie die Taschen auf links. Nur um sicherzugehen.«

Frustriert kam ich seinem Befehl nach. Ich wusste ja, er machte nur seinen Job.

Dobbs schien mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Er nickte in Richtung des Spurentechnikers.

Der Mann mit dem Asservatenbeutel machte einen Schritt auf mich zu und hielt den Beutel auf.

Ich runzelte die Stirn. »Hier?«

»Wenn Ihnen das unangenehm ist, können wir auch auf den Flur oder in die Küche gehen. Bad und Schlafzimmer sind tabu.«

Mir fiel der Hausmeister draußen auf dem Flur wieder ein. Wahrscheinlich hatten sich dort inzwischen auch Mrs. Dowell und weiß der Himmel wer eingefunden. Ich drehte mich von Dobbs weg und zog mich aus. Alles landete in dem Plastikbeutel, und dann zog ich die Sachen an, die Dobbs mir gebracht hatte.

Der Spurentechniker versiegelte den Beutel und schrieb mit Edding meinen Namen und die 47 darauf. Die Schuhe neben meinem Bett waren mit 8 und 9 nummeriert worden, was bedeutete, dass es eine Menge weiterer Beweisstücke gegeben haben muss, von denen ich nichts wusste.

Durch die Schlafzimmertür erhaschte ich einen Blick auf aufgezogene Schubladen, die abgezogene Matratze und Sachen, die aus meinem Schrank geräumt und an der Wand entlang aufgetürmt worden waren: Sportsachen, Fotoalben und diverse Schachteln und Kisten, die ich seit meinem Einzug nicht ausgepackt hatte.

Wilkins ertappte mich beim Gucken und machte die Tür zu.

Dobbs bat mich, noch mal auf der Couch Platz zu nehmen. »War irgendwer hier, als Sie gegangen sind?«

Wir waren das schon ein Dutzend Mal durchgegangen, nicht nur mit ihm, sondern auch mit seinen Kollegen. Er macht nur seine Arbeit, beschwichtigte ich mich wieder, holte tief Luft und fing noch mal von vorne an. »Ich bin gestern spät heimgekommen und habe deshalb bis kurz nach zwei geschlafen.«

»Und wo waren Sie gestern?«

»Bei der Arbeit.«

Dobbs warf einen Blick auf sein Handy. »Sie sind Fernfahrer, haben Sie gesagt.«

Ich nickte. »Für Nadler Distribution. Die sitzen außerhalb von Wilshire. Ich lade hier in Kalifornien Wein auf und fahre ihn an die Ostküste. Dort lade ich Craftbier auf und bringe es her.«

»Wie oft fahren sie rüber?«

»Dreimal im Monat.«

»Wann sind Sie gestern Abend angekommen?«

»Um kurz nach Mitternacht war ich auf dem Hof. Bis ich mit dem Abladen und dem ganzen Papierkram fertig war, war es fast drei. Ungefähr um halb vier war ich zu Hause.«

»Und zwischen Lager und Ihrer Wohnung haben Sie nirgends haltgemacht? Kein Snack auf die Hand, Zigaretten aus einem Kiosk, keine Bar, nichts?« Dobbs hatte wieder sein Handy in der Hand, wollte wohl vergleichen, was ich jetzt sagen würde und was ich bei den letzten Malen gesagt hatte.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich hatte unterwegs gegessen. Ich rauche nicht, und Bars interessieren mich nicht. Ich war müde. Mir tat alles weh – ist ganz normal, wenn man eine Woche lang im Führerhaus eines Lkws schlafen muss. Ich wollte nur noch duschen und in mein Bett. Bin auf direktem Weg nach Hause.«

»Allein?«

»Allein.« Ich nickte.

»Hat irgendwer Sie gesehen? Gibt es jemanden, der all das bestätigen könnte?«

»Bei Nadler dürften sie Ankunft, Abladen und so weiter aufgezeichnet haben. Da hängen Kameras.«

»Das überprüfen wir«, sagte Dobbs. »Aber das meine ich nicht. Kann jemand bestätigen, dass Sie allein nach Hause gekommen sind?«

»Um halb vier Uhr nachts?«

Er nickte.

Ich sah auf meine Hände hinab. »Nein. Um die Uhrzeit ist es hier ziemlich still.«

Dobbs tippte etwas in sein Handy. »Noch mal zurück … Wie sind Sie nach Hause gekommen? Wo haben Sie geparkt?«

»Ich bin gelaufen. Ist ja nicht weit. Nach so einer Ochsentour muss ich mir die Beine vertreten.«

»Sie sind gelaufen«, wiederholte er.

»Ja.«

»Ich brauche die genaue Strecke.«

Ich beschrieb sie ihm. Garantiert würde er die Überwachungskameras überprüfen.

Er sah zur Wohnungstür. »Sie haben hier keine Alarmanlage. Machen Sie sich gar keine Sorgen um Ihr Hab und Gut? Wenn Sie doch immer so lange unterwegs sind?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich besitze nicht viel.«

»Wie lange wohnen Sie schon hier?«

»Ungefähr zwei Jahre.«

»Sie haben nirgends Bilder aufgehängt. Das meiste steckt immer noch in Umzugskisten. Kaum Mobiliar. Ein paar wenige Küchenutensilien. Zahnbürste, Rasierer … alles ziemlich unpersönlich«, stellte Dobbs fest.

»Wie gesagt, ich bin oft unterwegs.«

»Das Gebäude hat auch keine Sicherheitsanlage. Keine Kameras. Sie kommen mit Ihrem Schlüssel durch die Eingangstür, das wird nirgends gespeichert oder aufgezeichnet.«

»Hier ist es privat – ich mag das so. Es kommt einem manchmal so vor, als würde alles, was die Leute machen, unter die Lupe genommen, aufgezeichnet und an zig Stellen abgespeichert.«

Wieder ein Blick auf sein Handy. »Wenn wir Ihre Social-Media-Accounts checken, stoßen wir da auf Alyssa Tepper?«

»Ich habe keine Social-Media-Accounts. Wie gesagt: Keine Ahnung, wer sie ist. Sie haben mein Handy. Gehen Sie die Kontakte durch, mir egal.«

Dobbs sah mich flüchtig an. »Ja, wir haben Ihr Handy.« Er sah wieder in seine Notizen. »Sie sind ungefähr um halb vier nach Hause gekommen, haben geduscht und sich dann schlafen gelegt. Sonst noch was? Kein Kontakt mit wem auch immer?«

»Ich war müde.«

»Ja, das haben Sie erwähnt. Was ist dann passiert?«

»Ich habe bis heute Nachmittag um zwei geschlafen. Bin aufgestanden, hab geduscht, um wach zu werden. Hab was gegessen und bin ins Kino.«

»Welcher Film?«

»Der neue Marvel-Film.«

»Wir brauchen die Eintrittskarte.«

»Die Eintrittskarte?«

»Ja. Die Kinokarte. Die Platzkarte.«

»Die hab ich weggeworfen.«

Dobbs tippte erneut etwas in sein Handy. »Rufen Sie bitte Ihr Kreditkartenkonto auf und zeigen mir den Kauf.«

»Ich habe bar bezahlt.«

»Sie haben bar bezahlt«, wiederholte Dobbs leise. »Erzählen Sie mir von dem Film.«

Ich runzelte die Stirn. »Ich hab eine tote Frau in meiner Wanne gefunden, und Sie wollen, dass ich Ihnen von dem Film erzähle?«

Er lächelte. »Nicht Szene für Szene, nur die grobe Handlung. Ich mag Marvels.«

Ich kniff die Augen zu und rieb mir die Schläfen. Er macht nur seine Arbeit. Er macht nur seine Arbeit.

Ich erzählte ihm, woran ich mich noch erinnern konnte.

Als ich fertig war, fragte er: »Können Sie mir noch was anderes aus dem Film erzählen, was ich nicht schon der Vorschau entnommen habe? Den Trailer haben wir alle gesehen.«

Um ganz ehrlich zu sein, war ich eingeschlafen, kurz nachdem der Film losgegangen war. Ich hatte weite Teile verpennt. Ich war nur ins Kino gegangen, um vor die Tür zu kommen, um zu entspannen und ein bisschen runterzufahren. Wenn man eine Woche allein hinterm Steuer eines Lkws verbringt, ist es manchmal ganz nett, einfach raus und unter Leute zu kommen. In Parks, Bibliotheken – egal. Was immer gegen die Einsamkeit hilft. Manchmal ist es eben das Kino. Ich erklärte es ihm.

Dobbs überflog seine Notizen. »Dann hatten Sie fast zehn Stunden geschlafen, waren gerade zwei Stunden zuvor aufgestanden, und Ihnen sind schon wieder die Augen zugefallen. So ungefähr?«

Ich nickte.

»Jemand, der Sie dort gesehen hätte? Jemand, der Sie kennt?«

»Nein.«

Er seufzte. »Wann war der Film vorbei?«

»Um zehn vor sechs. Ich habe auf die Uhr geguckt, als ich raus bin.«

»Und wo sind Sie als Nächstes hin?«

»Zum Big Six Market, Ecke Sixth und Rampart.«

»Da sind Sie zu Fuß hin?«, hakte Dobbs nach.

»Ja.«

»Und dort hat die Nachbarin Sie angerufen?«

»Mrs. Dowell meinte, irgendwoher käme Wasser, also habe ich alles stehen und liegen lassen und bin sofort zurück. Da habe ich sie gefunden …«

»… und den Notruf gewählt.«

»Genau.«

»Nachdem Sie erst mit Ihrer Schwester gesprochen haben.«

»Ja, die hab ich zuerst angerufen.«

Er hatte mich deshalb schon zuvor in die Zange genommen.

»Ich will, dass Sie jetzt genau nachdenken, bevor Sie mir diese Frage ein letztes Mal beantworten«, sagte er. »Haben Sie das verstanden?«

Ich nickte.

Er sah mir direkt in die Augen. »Sicher, dass Sie Miss Tepper nicht kennen?«

Ich hielt seinem Blick stand und zögerte nicht mit der Antwort. »Ich bin mir sicher.«

Dobbs schüttelte den Kopf, wandte sich wieder seinem Handy zu und scrollte durch seine Notizen. Nach fast einer Minute Stille richtete er sich auf. »Aufstehen. Wir machen eine kleine Spritztour.«

KAPITEL 5

Michael

Detective Garrett Dobbs wies mich an, hinten in den weißen Ford einzusteigen, der zwischen zwei LAPD-Transportern in der Parkverbotszone vor meinem Haus stand.

Auch wenn es inzwischen fast ein Uhr nachts war, waren erstaunlich viele Nachbarn auf den Beinen. Überall standen Wohnungstüren offen. Harvey Wilfong, der zwei Türen weiter wohnte, hatte sogar einen Gartenstuhl auf den Flur gestellt und sich mit einem Sixpack Bier dort postiert. Ich lächelte sie alle betreten an; die meisten sahen weg. Mrs. Dowell blickte mir zwar direkt ins Gesicht, aber dermaßen enttäuscht, dass ich mich dabei ertappte, wie ich die Augen niederschlug.

Der Ford war nicht als Polizeifahrzeug gekennzeichnet. Zwischen Vordersitzen und Rückbank war kein Gitter. Ein uralter Panasonic-Laptop war mit dem Armaturenbrett verkabelt. Fast-Food-Tüten lagen im Fußraum. Die Rückbank war mit irgendeiner schwarzen Folie überzogen. Zwischen den Sitzen ragten zwei Metallösen empor, die unter Garantie dafür gedacht waren, Handschellen daran zu befestigen. Detective Dobbs hatte mir keine angelegt; er hatte mir auch nicht meine Rechte verlesen. Als wir meine Wohnung verlassen hatten, hatte ich mit beidem gerechnet.

»Wer ist Megan?«, fragte Wilkins und rutschte auf den Beifahrersitz. Er hielt mein Handy hoch, das in einem Asservatenbeutel steckte.

»Meine Schwester.«

»Sie hat Sie ungefähr ein Dutzend Mal angerufen.«

»Kann ich zurückrufen? Und Bescheid geben, was hier passiert?«

Wilkins warf den Beutel beiseite und schnallte sich an. »Nein.«

»Bin ich verhaftet?«

Bevor Wilkins antworten konnte, stieg Dobbs ein und ließ den Motor an. Er manövrierte den Wagen zwischen den Transportern heraus und fuhr in Richtung Rampart. An der Sixth bogen wir ab und fuhren am Park vorbei.

»Wo fahren wir hin?«

Dobbs sah mich im Rückspiegel an. »Sagen Sie es uns. Erkennen Sie die Strecke nicht wieder?«

Ich zuckte mit den Schultern. »MacArthur Park ist mir natürlich bekannt.«

Rund zwanzig Minuten fuhren wir die 110 entlang. Für die Uhrzeit war überraschend viel los. Kurz hinter der 101-Überführung setzte Dobbs den Blinker.

»Chinatown?«

»Schau an, er erinnert sich wieder«, sagte Wilkins.

»Was soll denn in Chinatown sein?«

Keiner der beiden antwortete.

Dobbs bog noch ein paarmal ab – einmal rechts, einmal links, dann noch zweimal rechts. Er wusste genau, wo er hinwollte – fuhr weder nach Karte noch nach GPS. Auf der Cleveland entdeckte ich zwei LAPD-Streifenwagen und einen Transporter, wie sie auch vor meinem Wohnblock gestanden hatten.

Dobbs fuhr hinter ihnen an den Straßenrand, schaltete auf Parken und sah erneut in den Rückspiegel. »Wo sind wir hier, Mr. Kepler?«

Ich runzelte die Stirn. Ich hatte keine Ahnung. In Chinatown war ich bestimmt ein Jahr lang nicht mehr gewesen.

Irgendwer in einem weißen Spurentechnik-Overall stieg aus dem Transporter aus, der direkt neben uns parkte, und betrat durch die offene Haustür das Gebäude zu unserer Rechten. Hinter der Tür war eine schmale Treppe zu sehen. Links und rechts davon befanden sich ein Waschsalon und eine Pizzeria.

»Michael?«

Wieder Dobbs.

»Ich … Ich war hier noch nie«, sagte ich.

Wilkins zog seine Brieftasche aus der Gesäßtasche, nahm eine Dollarnote heraus und drückte sie Dobbs in die Hand. »Drinnen verdoppeln?«

Dobbs nahm den Geldschein entgegen. »Die Wette gilt.«

Ich beugte mich nach vorn. »Was soll das?«

Beide Männer stiegen aus.

Dobbs zog die hintere Tür für mich auf. »Möchten Sie vielleicht vorausgehen?«

Ich sah ihn bloß verwirrt an.

Er verdrehte die Augen. »Okay. Kommen Sie, wir gehen rein.«

KAPITEL 6

Michael

Dobbs ging vorneweg.

Ich folgte ihm die schmale Treppe hoch, Wilkins ging dicht hinter mir. Die altmodische Blümchentapete löste sich stellenweise von den Wänden oder war abgerissen worden. Die Holzstufen und das Geländer waren mit so vielen Schichten Lack überzogen, dass man das Ornament entlang des Handlaufs kaum noch erkennen konnte. Das einst hochglänzende Weiß der Stufen war mit Schrammen und Schmutz übersät. Die abgestandene Luft roch nach Käse und den Reinigungschemikalien aus den Läden im Erdgeschoss.

Am oberen Treppenabsatz gingen von einem Flur sechs Türen ab. Vor der offenen Tür hinten links saß ein übergewichtiger Cop mit einem halb aufgegessenen Burrito in der Hand. Er nickte Dobbs und Wilkins zu und zeigte auf die Tür.

»Da rein«, nuschelte er und spuckte dabei Rindfleischfetzchen.

»Sie sind ein Ferkel, Horton«, sagte Dobbs und ging an ihm vorbei in die Wohnung.

Ich war auf dem Flur stehen geblieben.

Wilkins schob mich vorwärts.

Ein Mann in einem weißen Hemd, Kakihose und einer gelockerten blauen Krawatte trat auf Dobbs zu. Er hatte eine Halbglatze und sah aus wie Mitte fünfzig. Er hielt ein Klemmbrett in der Hand und wies damit in das Zimmer in seinem Rücken. »Wir haben alles so gelassen. Viel länger kann ich meine Leute allerdings nicht warten lassen – wir müssen das allmählich aufnehmen. Sobald wir hier fertig sind, hab ich noch einen downtown.«

»Es dauert nicht lange«, sagte Dobbs. »Ian, das ist der Mann, von dem ich dir erzählt habe – Michael Kepler.«

Automatisch streckte ich die Hand aus. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Der Mann starrte mich lediglich an.

Dobbs drehte sich zu mir um. »Ian Dantzler leitet hier in L.A. drei Tatort-Ermittlerteams. Ist jetzt seit zweiundzwanzig Jahren beim LAPD.«

»Dreiundzwanzig«, korrigierte ihn Dantzler.

Wilkins legte mir eine Hand auf die Schulter und sah Dantzler an. »Unser Mr. Kepler hier behauptet, er habe das Opfer in seiner Wanne vorgefunden, nachdem er im Kino war. Hat keine Ahnung, wer sie ist. Hat sie im ganzen Leben noch nie gesehen. Wir dachten, wir bringen ihn mal vorbei und schauen, was passiert.«

Ich hatte kaum mitbekommen, was er gesagt hatte. Mein Blick war an einem gerahmten Foto hängen geblieben, das im Flur auf einem Tischchen neben einer Schüssel mit mehreren Schlüsseln und Münzgeld stand. Ein Holzrahmen mit kirschroten Flecken. Darin war ein Foto von mir und einer sehr lebendigen Alyssa Tepper vor Eingangstor 4 des Yankee-Stadions in der Bronx. Ich hatte damals noch längere Haare gehabt; die Frisur hatte ich schon länger nicht mehr. Händchenhaltend lächelten wir in die Kamera.

»Das ist ihre Wohnung«, flüsterte ich.

»Gleich kommt’s«, sagte Wilkins und verstärkte den Griff um meine Schulter.

»Ich … verstehe das nicht … Ich hab sie noch nie gesehen!«

»Verdammt.« Wilkins ließ meine Schulter los, zog seine Brieftasche heraus und drückte Dobbs zwei weitere Scheine in die Hand.

Dobbs steckte das Geld ein, ohne mich aus den Augen zu lassen. Seine Lippen waren zu einem schiefen Grinsen gefroren. »Wollen Sie ernsthaft behaupten, das wären nicht Sie?«

Ich spürte, wie ich rot wurde. Meine Wangen wurden erst warm, dann heiß. »Das ist ein Fake … muss ein Fake sein. Photoshop oder so. Irgendein blöder Scherz oder so.«

Zwischen dem Tischchen und der Eingangstür standen mehrere Paar Sneakers. Zwei davon gehörten allem Anschein nach einer Frau; das dritte erkannte ich wieder. Nike Air VaporMax LTRs, Größe 44. Der rechte Schuh hatte über dem Zeh einen dunklen Fleck, wo ich Kaffee draufgekleckert hatte. Bis ich es geschafft hatte, den Fleck abzuschrubben, war er schon zu tief eingezogen. Ich hatte die Schuhe irgendwo in meinem Schrank vermutet.

Dobbs hatte mitbekommen, wie ich für den Bruchteil einer Sekunde die Schuhe angesehen hatte. »Wenn wir da DNA-Proben nehmen, haben wir eine Übereinstimmung, oder?«

Darauf antwortete ich nicht.

»Ihr Gehirn muss gerade unter Garantie eine Million Sachen verarbeiten«, sagte Dobbs. »Sie sind ziemlich still – und das ist womöglich auch besser so. Trotzdem möchte ich, dass Sie noch eine weitere Sache bedenken, möglicherweise die wichtigste, die Sie in Ihrem ganzen Leben bedacht haben: Wenn Sie uns jetzt die Wahrheit sagen, wenn Sie mit uns zusammenarbeiten, kommen Sie glimpflicher davon, als wenn Sie weiter abstreiten, mit Alyssa Teppers Tod etwas zu tun zu haben. Im L. A. County arbeiten einige der härtesten Staatsanwälte im ganzen Land. Die sind verbittert, zornig, haben die schlechte Presse satt, der sie ständig ausgesetzt sind, und wenn die einen Fall vorgelegt bekommen, der dermaßen kristallklar zu sein scheint, dann lassen sie sich nicht lange bitten. Die werden ein Exempel an Ihnen statuieren. In Kalifornien steht auf Kapitalverbrechen immer noch die Todesstrafe, insofern könnten Sie sich durchaus im Todestrakt wiederfinden. Und selbst wenn die Sie leben lassen – immerhin ist die letzte Vollstreckung mehr als zehn Jahre her – , hätten sie kein Problem damit, Sie für den Rest Ihres Lebens in der Todeszelle schmoren zu lassen. Was sind Sie – sechsundzwanzig? Das wäre eine ziemlich lange Zeit. Sie reden mit uns, Sie sagen die Wahrheit, und wahrscheinlich blühen Ihnen bloß zwanzig, dreißig Jahre, vielleicht sogar weniger, wenn Sie den Kopf einziehen und sich aus allem Ärger raushalten. Das wäre doch nicht so verkehrt – Sie wären mit paarundvierzig, fünfzig wieder auf freiem Fuß. Da hätten Sie immer noch genügend Zeit, sich ein neues Leben aufzubauen. Sie können noch eine Zukunft haben, wenn Sie sich dafür entscheiden.« Dobbs drehte sich zu Dantzler um. »Bist du so gut und führst uns durch Miss Teppers Wohnung? Ich glaube, Michael hat ein Recht darauf zu erfahren, was wir noch alles gefunden haben.«

KAPITEL 7

Michael

Es gab noch diverse andere Fotos.

Auf dem Couchtisch stand eins, auf dem Alyssa Tepper und ich uns vor dem Hard Rock Café küssten. In einem Silberrahmen neben dem Sofa stand eins von uns mit dem berühmten Hollywood-Schriftzug im Hintergrund. Dann vier nur von mir, auf denen ich grinste, lächelte, lachte. Bei keinem einzigen konnte ich mir erklären, wie es zustande gekommen sein sollte. In der kleinen Küche klemmte unter einem Pizza-Hut-Magneten eins von mir, wie ich in der offenen Tür meines Lkws stand und Alyssa Tepper in einem weißen Tanktop und Shorts seitlich hinter mir auf dem Fahrersitz saß und mir die Beine um die Brust schlang. Sie hatte sich eine Nadler-Distribution-Basecap schräg auf den Kopf gesetzt, und ich streckte mit einem dämlichen Ausdruck im Gesicht die Zunge raus. Das Foto war zerknickt, ausgebleicht, abgegriffen, als hätte es eine Weile in irgendjemandes Tasche gesteckt und dann erst den Weg neben die To-do-Liste und den Jahreskalender eines hiesigen Maklers gefunden.

Ich starrte das letzte Foto an.

Ich sah mir selbst in die Augen. Erkannte mich wieder und doch irgendwie nicht.

Seit ich nach Los Angeles gezogen war, hatte ich zwei Freundinnen gehabt, aber keine von ihnen je mit an meinen Arbeitsplatz genommen, um ihr meinen Truck zu zeigen. Nicht dass ich mich dafür geschämt hätte – ich liebte meinen Job. Doch bei Nadler wurde Sicherheit großgeschrieben. Aus Versicherungsgründen wurden Betriebsfremde nicht aufs Gelände gelassen. Und wann immer ich den Lkw bestieg, war ich quasi schon auf der Straße.

»Die sieht richtig glücklich aus«, stellte Dobbs fest. »Sie sind ein hübsches Paar.«

»Waren«, stellte Wilkins hinter uns richtig.

Dantzler räusperte sich. »Tja, also … Im Schlafzimmer wäre noch mehr.«

Er führte uns den schmalen Flur entlang – Schlafzimmer links, ein kleines Bad rechts. Vor dem Bad blieb ich stehen. Eine Spurentechnikerin schob Zahnbürsten – eine rosafarbene, eine blaue – , einen Rasierer, eine halb aufgebrauchte Seife und mehrere andere Dinge, die ich von meinem Standpunkt aus nicht sehen konnte, in diverse Tüten. Als sie bemerkte, dass ich sie beobachtete, schürzte sie die Lippen und schob die Tür zu.

»Hier rein«, sagte Dantzler, der schon im Schlafzimmer stand.

Das Zimmer war klein, vielleicht drei auf vier Meter. Ein großes Bett stand in der Ecke gegenüber der Tür, daneben ein zerkratztes, altes Nachtschränkchen. Rechts an der Wand stand eine Kommode. Darauf noch mehr Fotos. Mein Magen krampfte sich zusammen. Das Bett war nicht gemacht, weiße Laken und ein brauner Bettüberwurf lagen am Boden. Auf dem Bett zerknautschte Kissen.

Im hinteren Teil des Zimmers stand ein leeres Stativ. Die Videokamera, die garantiert darauf festgeschraubt gewesen war, lag auf der Kommode, und Kabel führten vom Kamerakorpus zu einem kleinen Flachbildfernseher. Der Bildschirm war angeschaltet, aber leer.

Dantzler sah zu Dobbs. Auf dessen Signal hin drückte er einige Tasten an der Kamera, und ein körniges Bild flackerte auf. Das einzige Licht stammte von ein paar Kerzen auf dem Nachtschränkchen. Eine seitliche Aufnahme des Bettes, darauf die nackte Alyssa Tepper, die mit geschlossenen Augen den Rücken durchdrückte und sich dann langsam auf und ab bewegte. Sie drehte den Kopf zur Seite, sodass ihr das Haar von der Schulter glitt. Im nächsten Moment kamen unter ihr Hände hervor, die über ihren nackten Bauch bis empor zu den Brüsten wanderten und ihre Brustwarzen streiften. Hände, die mir bekannt vorkamen. Arme, die ich kannte. Als ein Arm die Decke beiseite- und dann zu Boden schob, hätte ich mich am liebsten weggedreht. Ich wollte das nicht sehen, konnte aber auch nicht den Blick abwenden. Genau wie alle anderen im Zimmer starrte ich unverwandt den Bildschirm an, meinen Körper, der unter ihr lag, und mein Gesicht, das kurz in die Kamera guckte, bevor es sich lächelnd wieder zu ihr drehte, bevor meine Stimme ihren Namen flüsterte, ich mich aufsetzte und sie im Kerzenlicht an mich zog.

»Schalten Sie das aus«, flüsterte ich.

Wieder sah Dantzler erst zu Dobbs.

Und der nickte erneut.

Der Bildschirm wurde schwarz.

Dantzler zog eine der Schubladen auf und machte einen Schritt zur Seite.

Dobbs schob mich in Richtung Kommode. »Gucken Sie mal.«

In der Schublade lagen mehrere Jeans, Socken, zudem Unterwäsche, ein paar T-Shirts. Einige zusammengelegt, andere nicht. Die Schublade war fast randvoll.

»Ich glaube, so eine Schublade hatten wir an einem bestimmten Punkt alle mal«, sagte Dobbs. »Ein kleines Zuhause abseits von zu Hause. Man ist noch nicht ganz bereit, in den sauren Apfel zu beißen und zusammenzuziehen, weil man seinen Freiraum braucht, aber man verbringt natürlich die eine oder andere Nacht bei ihr. Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist, aber ich habe diesen Moment jedes Mal genossen, wenn ein Mädchen mir bei sich zu Hause ein Eckchen freigeräumt hat. Das beweist, dass sie Vertrauen hat, dass sie einen gern bei sich hat. Ich nehme an, es heißt auch, dass sie die Deckung fallen lässt – und zwar manchmal ein bisschen zu sehr. Erkennen Sie diese Kleidungsstücke wieder, Michael?«

Ich antwortete nicht.

»Wetten, dass?«, sagte Dobbs. »Ich wette, Sie erinnern sich sogar noch an den Tag, an dem sie die Schublade für Sie leer geräumt hat.«

Alle drei Männer sahen mich lauernd an. Auf der Kommode lagen Haargummis und Schmuck: Ohrringe und Ketten in einer Holzschatulle. Mein Blick blieb an einer Kette ganz zuunterst hängen – eine Vogelfeder an einem dünnen Lederband. Eine Ammerfeder.

Ich wandte mich ab.

KAPITEL 8

Michael

Sie brachten mich ins LAPD-Hauptquartier an der First Street.

Diesmal hatte Dobbs mir Handschellen angelegt. Meine Rechte verlas er mir immer noch nicht.

Unterwegs redete keiner von uns.

Im Gebäude führten Dobbs und Wilkins mich am Eingangsschalter vorbei zu den Aufzügen. Wir fuhren in den zweiten Stock und durchquerten ein Großraumbüro, wo trotz der späten Stunde einiges los war. Dutzende Schreibtische, vor denen Leute jeglicher Couleur hockten: Bandenkriminelle, Prostituierte, Männer in Drag-Kostümen, Rentner, ein Mann in einem Viertausend-Dollar-Anzug mit einer blutjungen Begleiterin in einem ebenso teuren Kleid, die zwei uniformierte Beamte anschrien. Sie hatten beide zerzauste Haare; sein rechter Sakkoärmel war eingerissen. Auf den ersten Blick schienen sie Opfer eines Überfalls zu sein, doch dann sah ich, dass beide Handschellen trugen und auf dem Tisch zwischen ihnen und den Cops ein Ziplockbeutel mit bunten Pillen lag.

Im rückwärtigen Teil des Büros wurde ich fotografiert, und mir wurden Fingerabdrücke abgenommen; eine Beamtin rollte meine Finger einen nach dem anderen routiniert über den Scanner.

Als sie mit mir fertig war, packte Dobbs mich am Arm, und Wilkins schubste mich vorwärts. Sie führten mich über einen Flur, weg vom Getöse und tiefer in das Gebäude hinein.

Dobbs öffnete eine Tür mit der Aufschrift VERNEHMUNGSRAUM 7 – BEIROTNICHTBETRETEN! und schob mich hinein. »Machen Sie es sich bequem.«

Dann verschwand er. Mit einem lauten Klacken fiel die Tür ins Schloss, und ich war allein.

Für geschlagene zwei Stunden.

Ich war nie zuvor in einem Vernehmungsraum gewesen, trotzdem fühlte es sich nicht völlig fremd an; in Film und Fernsehen sah man so etwas alle naselang, und augenscheinlich suchte Hollywood nach Vorlagen nicht weiter als bis L.A. Der Raum war nicht groß, vielleicht drei mal drei Meter, mit abgehängter Decke und Neonspots, die nach unten gerichtet waren. Die Betonziegelwände waren mattgrau gestrichen. Ein Metalltisch war sowohl an der Wand als auch am Boden verschraubt, und zwei gepolsterte Stühle standen einem einzelnen dritten gegenüber. Ein großer Spionspiegel hing links an der Wand, in der Ecke eine Kamera. Ich versuchte, es mir auf dem einzelnen Stuhl halbwegs gemütlich zu machen, doch mit im Rücken gefesselten Händen musste ich mich letztlich auf die Tischkante setzen.

Zwei Stunden.

Dobbs kam allein zurück und brachte zwei Becher Kaffee mit. Er schob die Tür mit dem Fuß zu und stellte die Becher auf dem Tisch ab. »Drehen Sie sich um.«

Dann nahm er mir die Handschellen ab und bot mir den Stuhl an.

Ich rieb mir die Handgelenke. »Habe ich nicht das Recht auf einen Anruf?«

»Gleich.«

»Sie haben mir nicht meine Rechte vorgelesen.«

»Ich habe Sie auch nicht verhaftet.« Dobbs schob einen Kaffeebecher auf mich zu. »Setzen Sie sich.«

Behutsam ließ ich mich auf den Stuhl sinken. »Ich muss meine Schwester anrufen. Sie macht sich Sorgen.«

Dobbs schürzte die Lippen, drehte seinen Kaffeebecher gegen den Uhrzeigersinn und nahm einen Schluck. »Haben Sie über das nachgedacht, was ich zu Ihnen gesagt habe?«

Ich sah ihm direkt ins Gesicht. »Ich habe keine Ahnung, wer diese Frau ist. Ich habe sie nie getroffen. Ich war nie in ihrer Wohnung. Und ich habe definitiv nie mit ihr geschlafen. Irgendwer will mir etwas anhängen.«

Dobbs sah auf seinen Kaffee hinab und drehte den Becher erneut langsam herum. »Wir brauchen eine DNA-Probe.«

»Warum sollte ich Ihnen die geben?«

»Warum nicht? Wenn Sie unschuldig sind, spricht doch nichts dagegen, oder?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht bevor ich mit meiner Schwester gesprochen habe. Ich will mein Handy zurück.«

»Ihr Handy gilt derzeit als Asservat. Sie können beantragen, dass Sie es wiederbekommen, aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, das passiert erst, wenn der Fall aufgeklärt ist.« Er schob den Becher noch ein Stück näher auf mich zu. »Nehmen Sie einen Schluck Kaffee. Entspannen Sie sich. Wir reden nur, in Ordnung? Nur wir zwei. Versuchen, das hier aufzudröseln.«

»Okay – nur wir zwei. Wer steht da hinter dem Fenster? Und wer sieht über die Kamera zu?«

Dobbs sah flüchtig zum Spionspiegel. »Da ist keiner, und die Kamera läuft nicht. Das rote Lämpchen ist aus. Hier sind nur wir beide.«

»Na dann.« Ich nahm einen Schluck Kaffee. »Ich weiß aber, wie das hier läuft.«

»Sind Sie schon mal verhaftet worden?«

»Sie haben doch gesagt, ich bin nicht verhaftet.«

Er winkte ab. »Sie wissen, wie es gemeint war.«

»Ich war noch nie bei der Polizei.«

»Wirklich nicht?«

»Nein.«

»Nie Ärger gehabt, was? Vorzeigebürger?«

»Ich gebe mein Bestes.«

»Erzählen Sie mir von Alyssa Tepper.«

Ich nippte erneut an meinem Kaffee. »Ich werde ja wohl keine Frau in meiner eigenen Wohnung umlegen und dann die Polizei dazurufen.«

»Sie sind wie lange unterwegs? Zwei Drittel des Monats? Jeder Mensch hat Bedürfnisse. Hat sie Sie betrogen? Hat sie Sie beim Fremdgehen erwischt? Da kocht einem das Blut, da nehmen die Gefühle überhand, und es passieren schlimme Dinge. Ich hab das schon zigmal erlebt, Michael. Sie können ganz offen mit mir sein.«

»Ich habe von Anfang an die Wahrheit gesagt.«

Dobbs neigte den Kopf leicht zur Seite. »Wirklich?«

»Ja.«

»Sie haben zu mir gesagt, dass Sie Michael Kepler heißen. Und weil wir ja ehrlich miteinander sein wollen, fangen wir doch mal mit Ihrem echten Namen an.«

KAPITEL 9

Michael

»Das ist mein echter Name.«

»Ihre Fingerabdrücke laufen unter Michael Fitzgerald«, erklärte Dobbs. »Wir haben Sie mit Ihrem gewerblichen Führerschein im System.«

»Ich wurde adoptiert, von den Fitzgeralds, aber ich heiße Michael Kepler.«

»Rein rechtlich lautet Ihr Name Michael Fitzgerald.«

»Tja, aber das bin ich nicht. Bin ich nie gewesen.«

»Sie mögen Ihre Eltern nicht, was?«

»Was hat das denn mit der Sache zu tun?«

Dobbs zuckte mit den Schultern. »Ich habe die beiden in der Datenbank aufgerufen, als Ihre Fingerabdrücke einen Treffer gemeldet haben. Die Fitzgeralds sind drüben an der Ostküste eine echte Nummer, stimmt’s? Gut betucht. Beide Seelenklempner. Ich hab die Namen auf Dutzenden Webseiten gefunden. Hauptsächlich Studien – davon verstehe ich natürlich nichts. Aber dass sie auf ihrem Gebiet anerkannt sind, verstehe ich, Dozenten an der Cornell, an der Sie ebenfalls waren.« Er schloss kurz die Augen. »Mein Beileid wegen Ihres Vaters. Ein Aneurysma, ja?«

»Adoptivvater.«

Dobbs drehte erneut seinen Kaffeebecher hin und her. »Die Familie ist auf alle Fälle sehr vermögend.«

»Das haben Sie schon mal gesagt.«

Dobbs legte beide Hände an die Tischkante. »Deshalb haben Sie erst Ihre Schwester angerufen, oder? Damit sie schon mal ein paar Strippen ziehen kann.«

Ich sah ihn verwirrt an. »Ich bin mir nicht sicher, was …«

Es klopfte zweimal.

Im nächsten Moment schwang die Tür auf.

Detective Wilkins kam in Begleitung eines untersetzten Mannes in einem anthrazitgrauen Anzug herein, der so perfekt saß, dass man fast schon damit rechnete, dass der Herrenschneider mit Nadel und Faden hinter ihm her gewieselt käme. Das grau melierte Haar war nach hinten gekämmt, als hätte er vorgehabt auszugehen und nicht um vier Uhr nachts in einen Vernehmungsraum zu marschieren. In seinem stechenden Blick lag die Erfahrung eines Mannes in den Sechzigern, auch wenn Gesicht und Adlernase eher auf Ende vierzig schließen ließen. Er hatte eine schmale Ledertasche dabei, die er zwischen Dobbs und mich auf den Tisch legte, bevor er erst den Detective, dann mich ansah.

»Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie dem werten Beamten und seinen Kollegen nichts erzählt haben?« Eine tiefe Bassstimme. Die manikürten Finger nestelten an den Schließen der Tasche. Er griff hinein, zog ein Notizbuch und einen Füller heraus und drückte die Tasche wieder zu. »Sie müssen nicht antworten.« Er wandte sich an Dobbs und Wilkins: »Gentlemen, könnte ich bitte mit meinem Mandanten unter vier Augen reden?«

Widerwillig stand Dobbs auf. An der Tür klopfte auch er zweimal, drehte sich dann aber noch einmal zu mir um. »Ich weiß, dass Sie es waren, Michael. Und wissen Sie, warum?«

Ich sah ihn stumm an.

»Sie haben nicht ein einziges Mal gefragt, wie sie überhaupt gestorben ist.«

Der Mann im grauen Anzug hob die Hand. »Solche Sticheleien sind nun wirklich nicht nötig, Detective. Sie haben meinen Mandaten schon hinreichend traumatisiert. Raus jetzt, alle beide!«

Ein Officer machte die Tür auf. Junger Typ, kurzes dunkles Haar.

Wilkins grinste schief und wollte anscheinend noch etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. Er schob sich an Dobbs vorbei. Dobbs selbst blieb noch kurz stehen und musterte mich, ging dann aber ebenfalls.

Der Mann im grauen Anzug setzte sich auf Dobbs’ Stuhl, der unter seinem Gewicht ächzte. »Überdosis Propofol.«

»Was?«

»Daran ist das Mädchen in der Wanne gestorben. An einer Überdosis Propofol. Die Nadel ging hier rein.« Er streifte die linke Seite seines Halses. »Wird üblicherweise von Anästhesisten verwendet. Ein Narkotikum.«

»Ich weiß, was Propofol ist.«

Er zog die Stirn kraus. »Das erzählen Sie lieber niemandem. Unwissenheit ist eine Gnade, und die werden Sie brauchen, mein Freund.«

»Wer sind Sie?«

»Philip Wardwell. Unsere Kanzlei hat für Ihren Vater gearbeitet. Nachdem Sie mit Ihrer Schwester gesprochen hatten, hat sie mit Ihrer Mutter telefoniert, die wiederum unsere New Yorker Zweigstelle kontaktiert hat«, erklärte er. »Ich arbeite von Los Angeles aus, also bin ich benachrichtigt worden.«

Ich neigte den Kopf und fuhr mir durchs Haar. »Ich wollte nicht, dass meine Mutter das erfährt. Megan hätte nichts sagen dürfen …«

Wardwell zuckte mit den Schultern. »Tja, hat sie aber, und jetzt bin ich hier. Ich habe vor, Sie bis auf Weiteres von der Arrestzelle fernzuhalten – falls Sie sich bedanken wollen, gern.« Er blätterte in seinem Notizbuch. »Ich habe die vergangene Stunde weitgehend damit verbracht, die Beweisführung der Ermittler durchzusehen. Da liegt einiges vor, allerdings überwiegend Indizien.«

»Überwiegend?«

»Es gibt eine Zeugin, eine von Teppers Nachbarn, eine gewisse Velma Keefe. Die hat Sie zweimal mit Alyssa Tepper gesehen – vor zwei Tagen und schon mal letzte Woche. Sie sagt, sie ist auf der Treppe an Ihnen vorbeigegangen. Sie hat Sie auf einem Foto wiedererkannt.«

»Das ist doch lächerlich! Ich habe Alyssa Tepper gar nicht gekannt. Irgendwer versucht, mir das anzuhängen.«

Er bedachte mich mit einem flüchtigen Blick und wandte sich wieder den Notizen zu. »Ich habe von Ihrem Ausflug in Teppers Wohnung gehört. Wenn wir diese Frau, diese Keefe, in Zweifel ziehen wollten, könnten wir behaupten, dass sie Sie gesehen hätte, als Sie mit der Polizei dort waren. Wegen der Dame mache ich mir keine Sorgen.« Er blätterte um. »Ich habe die Fotos, das Video und die Kleidung gesehen. Die lassen von sämtlichen Gegenständen Proben nehmen. Haben die Ihnen erzählt, was sie bei Ihnen zu Hause gefunden haben? Außer den Sachen, die neben Ihrem Bett lagen? Haben die Ihnen vom Müllschlucker erzählt?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Sie haben einen Müllsack dort rausgezogen – dieselbe Marke wie die unter Ihrer Spüle. Der Sack war voll mit Damenbekleidung in Teppers Größe. Eine der Blusen – violett mit weißen Zierstreifen – scheint dieselbe zu sein, die sie auf einem der Fotos aus ihrer Wohnung trägt.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also sagte ich nichts.

Als ihm dämmerte, dass von mir nichts kommen würde, fuhr Wardwell fort: »Sie haben auch ein Handy gefunden. Anscheinend ein Prepaid-Handy. Darauf sind Anrufe und Nachrichten aus fast drei Monaten gespeichert.«

»Nicht von mir.«

»Indizien, wie gesagt«, kommentierte Wardwell beiläufig. Er packte Notizbuch und Füller wieder in seine Tasche und ließ die Schließe zuschnappen. »Das Handy war abgewischt worden. Keine Fingerabdrücke. Nichts auf den Kleidungsstücken aus dem Müllsack oder auf dem Sack an sich. Sie haben einen Untersuchungsbeschluss beantragt, um Ihr Fahrzeug bei Nadler zu untersuchen. Ich rechne damit, dass der Antrag noch vor Sonnenaufgang durchgeht.«

»Das ist doch verrückt«, murmelte ich. »Und was jetzt?«

Wardwell stand auf und klopfte zweimal an die Tür. »Jetzt holen wir Sie hier raus.«

Die Tür ging auf, und der dunkelhaarige Cop steckte den Kopf herein. »Ja?«

Wardwell packte den Mann am Kragen, zerrte ihn herein und drosch seinen Kopf dreimal gegen die Wand. Der Cop ging zu Boden. Er blutete aus dem Ohr.

KAPITEL 10

Michael

»Scheiße!« Ich sprang von meinem Stuhl auf und wich in die Ecke zurück.

»Nimm seine Waffe«, sagte Wardwell und schob die Fußspitze in den Türspalt.

Ich schüttelte den Kopf. »Nie im Leben!«

Wardwell verdrehte die Augen. »Was bist du – Pfadfinder? Für Gewissensfragen haben wir keine Zeit.«

Er schob seine Tasche in den Türspalt, um den Fuß zu entlasten, und kniete sich neben den bewusstlosen Officer.

»Ist er tot?«

Wardwell fummelte den Lederriemen von der Waffe, zog sie aus dem Holster und stand ächzend auf. Dann steckte er die Pistole hinten in seinen Hosenbund und zog das Sakko darüber zurecht. »Bleib dicht neben mir, und keinen Blickkontakt – mit niemandem außer mit mir! Es muss aussehen, als hätte alles seine Richtigkeit. Dann schöpft niemand Verdacht.«

»Ich gehe nirgendwohin!«

»Mach jetzt, was ich sage, oder ich fange an, Leute abzuknallen. Das ist eine Zweiundzwanziger Glock – fünfzehn Patronen im Magazin, eine in der Kammer. Und ich kann schießen. Ich erwische fünf bis zehn Leute, bevor der Erste auch nur auf mich gezielt hat. Willst du das Ding an deiner Schläfe?« Wardwell nahm seine Tasche hoch und zog die Tür auf, spähte hinaus und sah wieder zu mir. »Los, beweg dich!«

Und ich bewegte mich.

Mir war klar, dass ich es nicht hätte tun dürfen. Ich tat es trotzdem.

Ich trat hinaus auf den Flur und rechnete ehrlich gesagt schon mit einem Dutzend Cops, die auf mich losgehen würden. Eine Detective schlenderte vorbei, war in eine Akte vertieft; die Waffe schlug ihr gegen die Hüfte.

Wardwell legte mir die freie Hand auf den Rücken und bugsierte mich nach links. Am Ende des Flurs bog er rechts ab. »Gut«, sagte er leise, »einfach weitergehen. Da vorne links.«

Wardwell führte mich tiefer in das Gebäude hinein – weg von dem Großraumbüro und weg von Dobbs, Wilkins und der Beamtin, die mir die Fingerabdrücke abgenommen hatte.

»Am Ende des Flurs rechts.«

Wir kamen an einer Reinigungskraft vorbei, die Papierkörbe leerte und in die Musik aus ihren Kopfhörern vertieft war.

Noch zweimal links.

Einmal rechts.

Ein Lastenaufzug.

Wardwell drückte auf einen Knopf. »Fast geschafft.«

Ich wollte mich umdrehen und sehen, ob jemand hinter uns war, doch er packte mich an der Schulter.

»Nicht!«

Die Türen gingen auf.

Wir betraten den Aufzug.

Er drückte auf P2.

Als die Aufzugtüren das nächste Mal aufgingen, waren wir in der Tiefgarage. »Der blaue Ford da drüben rechts.«

Die Etage war vielleicht zu einem Viertel voll. Ich entdeckte einen Ford Escort neben einer Betonsäule. Eine Rostlaube, mindestens fünfzehn, zwanzig Jahre alt. Vorne rechts fehlte die Radkappe. Ausgebleichtes Dunkelblau und übersät mit Dellen, Schrammen und Rostflecken.

Ich spähte zu Wardwell hinüber. Sein Anzug war eindeutig mehr wert als die Karre. »Sind Sie überhaupt Anwalt?«

Er zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und warf ihn mir zu. »Du fährst.«

Das Auto war nicht abgeschlossen.

Ich rutschte auf den Fahrersitz. Das verschlissene beigefarbene Polster war mit Klebeband geflickt.

Wardwell zog die Waffe aus dem Hosenbund, setzte sich auf den Beifahrersitz und zog seine Tasche auf den Schoß. Die Tür quietschte und fiel scheppernd zu. Von seinen Augenbrauen perlte der Schweiß. Unser Tempo hatte dem übergewichtigen Mann einiges abverlangt. »Los, verdammt, wirf die Karre an!«

»Was soll das alles?«

Kurz wirkte er verwirrt. »Dafür hast du mich doch bezahlt.«

Im nächsten Moment spritzte mir etwas entgegen, noch ehe ich den Schuss und das Splittern des Beifahrerfensters auch nur hören konnte. Wardwell ruckte in meine Richtung und kippte dann mit leerem Blick nach vorn.

KAPITEL 11

Michael

Ich weiß nicht, wie lange ich wie erstarrt und mit Herzrasen dasaß. Der Schuss hallte von den Betonwänden wider, verklang und wurde von sich entfernenden Schritten übertönt. Dann wurde es still in der Tiefgarage – abgesehen von meiner Atmung. Abgesehen von meinem flachen Keuchen.

Wardwells leerer Blick schien auf die Pistole in seiner Hand gerichtet zu sein, die immer noch auf seiner Tasche lag – der Finger nur einen Zentimeter vom Abzug entfernt.

Ich fasste mir an die Wange. Meine Finger waren verschmiert. Allerdings nicht mit meinem Blut. Sondern mit dem von Wardwell.

Die Kugel war rechts in seine Stirn eingedrungen und hinten links wieder herausgekommen. Da hatte jemand entweder sauber gezielt, oder ich hatte verdammtes Glück gehabt.

Ich wischte mir die Hand am schmutzigen Fahrersitz ab.

Im selben Moment setzten meine Instinkte ein.

Ich drehte den Schlüssel herum.

Der Motor stotterte und kam dann schwer keuchend in Gang.

Ich schaltete auf Drive und fuhr den Schildern nach, vom zweiten ins erste Untergeschoss und dann in Richtung Tageslicht. Keiner der Officers in den Streifenwagen, die mir entgegenkamen, würdigte mich auch nur eines Blicks.

Wardwell hatte den Parkschein unter die Windschutzscheibe gelegt. Ich angelte seine Geldbörse aus der Innentasche und bezahlte die zwölf Dollar Parkgebühr mit seiner Kreditkarte.

Der Name auf der Karte war nicht Philip Wardwell.

Im selben Moment, als die Schranke hochfuhr, ging hinter mir ein Alarm los, ein Schrillen, das durchs ganze Gebäude hallte. Keine Ahnung, ob jemand den Schuss gehört oder den Officer im Vernehmungsraum gefunden hatte, aber das spielte im Grunde keine Rolle – ich bog nach links auf die North Main Street ab und sah nicht noch mal zurück.

KAPITEL 12

Michael

»Roland Eads«, sagte ich in den Hörer des Münztelefons.

Ich war einmal um den Block gefahren, dann links auf die Fourth in Richtung Sanford und zum Fischmarkt. Niemand war mir gefolgt.

Nach Hause konnte ich nicht zurück, das war klar. Ich kam auch nicht an meinen Lkw ran – dort würden sie als Erstes nachschauen.

Der Fischmarkt von Los Angeles öffnete offiziell um sechs Uhr morgens, allerdings standen die Einkäufer der Restaurants, Touristen und Einheimische immer schon viel früher Schlange.

Was ich brauchte, war eine Menschenmenge.

Einen Ort, an dem ich untertauchen konnte.

Einen Ort, an dem ich den Ford loswurde.

Ich fuhr um das alte Edward Hotel herum und parkte die Karre zwischen einem Müllcontainer und einem Riesenhaufen Müll, der teils von einer blauen Plastikplane abgedeckt war.

Der Motor stotterte noch ein paarmal und erstarb.

Der Tote neben mir war ziemlich groß – zu groß für so ein kleines Auto. Er war während der Fahrt verrutscht und lehnte jetzt zwischen Armaturenbrett und Beifahrersitz. Sein zerschossener Kopf pendelte in meine Richtung.

Ich nahm die Tasche von seinem Schoß, ohne die Waffe zu berühren. In der Tasche lag außer dem Notizbuch und dem Füller eine Kassette. Ich muss eine gefühlte Ewigkeit das handgeschriebene Etikett angestarrt haben, bevor ich die Kassette einsteckte.

Sein Portemonnaie behielt ich ebenfalls.

Ich suchte seine Hosentaschen nach einem Handy ab, fand aber keins.

Mit einer Serviette aus einer McDonald’s-Tüte aus dem Fußraum wischte ich mir das Gesicht sauber und dann Lenkrad, Armaturenbrett, Fahrertür, seine Tasche und alles, was ich zuvor angefasst hatte.

Dann ließ ich ihn dort sitzen.

Ich wollte das nicht, aber ich wusste auch nicht, was ich sonst machen sollte. Was ich sonst machen konnte.

Die Tankstelle an der Fifth hatte rückseitig Toiletten. Ich rannte quer über den Parkplatz, schloss mich dort ein, ließ mich vor der schmutzigen Schüssel auf den Boden sinken und übergab mich erst mal.

Meine Hände zitterten.

Mein Herz raste.

Ich bekam keine Luft mehr.

Ich kotzte ein zweites Mal. Nichts als gelbe Galle. Mein Magen krampfte sich zusammen und wollte noch mehr loswerden, nur dass nichts mehr übrig war.

Ich ließ mich zur Seite sinken und schloss die Augen.

Ich musste mich wieder beruhigen und zwang mich, langsamer zu atmen. Tief ein durch die Nase, aus durch den Mund, genau wie Megan es mir beigebracht hatte. Allmählich verflüchtigte sich das Adrenalin. Mein Herz beruhigte sich. Als ich irgendwann wieder stehen konnte, klappten meine Beine unter der unerwarteten Last fast zusammen. Ich taumelte auf das Waschbecken zu. Die Augen, die mir aus dem Spiegel entgegenstarrten, waren nicht meine, sondern die eines wesentlich älteren und sehr erschöpften Mannes.

Ich streifte das blutige Sweatshirt über den Kopf und schrubbte mir die roten Sprenkel aus Gesicht und Haaren – und die weißen und grauen, auch wenn ich darüber nicht näher nachdenken wollte. Das Wasser kreiste erst rot, dann rosa und irgendwann endlich klar durch den Ausguss. Ich gab mir alle Mühe, auch das Sweatshirt auszuwaschen. Anschließend riss ich das Etikett heraus, drehte das Sweatshirt auf links und zog es wieder an.

Bis ich fertig war, waren zwanzig Minuten vergangen.

An der Stanford entdeckte ich ein Münztelefon und rief per R-Gespräch Megan an.

»Ich kann dich kaum hören«, sagte sie. »Wo steckst du? Wie soll er geheißen haben?«

»Roland Eads«, wiederholte ich. Dann hielt ich mir das freie Ohr zu und versuchte, mich von den Leuten auf dem Bürgersteig wegzudrehen. »Ich bin am Fischmarkt.«

»Ich hab niemanden angerufen«, sagte Megan. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht und die ganze Nacht über versucht, dich zu erreichen, aber sonst habe ich noch mit niemandem gesprochen. Also, nicht hierüber.«

»Dann hast du Dr. Rose nicht Bescheid gesagt?«

»Würde ich nie machen! Zumindest nicht gegen deinen Willen. Himmel, Michael, und du hast diese Frau nie zuvor gesehen? Bist du dir da sicher?«

»Ich weiß nicht, was das alles soll oder wie das passieren konnte, aber irgendwer will mir was anhängen!«

»Aber du warst das? Auf dem Video?«

Zwei Streifenpolizisten gingen an mir vorbei. Ich drehte mich weg. »Wenn du diesen Typen nicht geschickt hast, dann war das jemand anderes.«

»Warum sollte dir jemand einen Mord anhängen?«

»Keine Ahnung.«

Ich zückte Roland Eads’ Brieftasche und ging den Inhalt durch.

Dreiundneunzig Dollar in bar, die Visa-Karte und ein Führerschein, sonst nichts. Der Adresse auf dem Führerschein zufolge hatte der Mann in Needles gewohnt – in einer Kleinstadt in Ostkalifornien an der Grenze zu Nevada. Etwa vier Stunden von hier. Ich kannte Needles von meinen Fahrten. Außer dem Führerschein schob ich alles zurück in die Tasche. »Megan, du musst mir einen riesigen Gefallen tun.«

»Klar, schieß los.«

»Du musst in Dr. Barts Arbeitszimmer nachsehen, ob die Joe-DiMaggio-Baseballkarte noch da ist.«

Megan verstummte.

»Meg?«

»Ich bin noch dran.«

»Würdest du das für mich tun?«