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In "Der Fels der Ehrenlegion" entfaltet Berthold Auerbach mit feinem Gespür für die Nuancen menschlicher Beziehungen eine bewegende Erzählung über Loyalität, Ehre und persönliche Integrität. Der Roman, der in einem historischen Kontext verwurzelt ist, reflektiert die gesellschaftlichen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts und erweist sich durch Auerbachs prägnanten und poetischen Stil als ein Paradebeispiel für den Realismus jener Zeit. Der Autor nutzt eindringliche Beschreibungen und komplexe Charakterisierungen, um das Spannungsfeld zwischen individuellem Streben und kollektiven Werten kunstvoll zu beleuchten. Berthold Auerbach, als bedeutender deutscher Schriftsteller und Humanist, erlebte selbst die gesellschaftlichen Herausforderungen seiner Zeit, geprägt von den Folgen der politischen und sozialen Revolutionen. Geboren in einem jüdischen Elternhaus, thematisierte er oft Fragen der Identität und Toleranz. Erfahrungen aus seinem Leben und seiner Umgebung flossen unweigerlich in seine Werke ein, was "Der Fels der Ehrenlegion" zu einer reflektierten Auseinandersetzung mit seinen Überzeugungen und der menschlichen Natur macht. Dieses Buch ist eine tiefgründige Lektüre für alle, die sich für die Wechselwirkungen von Ethik und Sozialverhalten interessieren. Auerbachs subtile Erzählweise lädt den Leser ein, über die moralischen Entscheidungen der Charaktere nachzudenken, und verspricht, sowohl das Herz als auch den Verstand zu berühren. Es ist eine empfehlenswerte Lektüre für Historiker, Literaturliebhaber und alle, die an den philosophischen Fragen des Lebens interessiert sind.
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Auf dem Bahnhofe einer mitteldeutschen Gebirgslandschaft hielt ein schöner mit zwei Schimmeln bespannter offener Wagen im Schatten einer großen, mit frischem Frühlingsgrün belaubten Buche. In die gelblichen damastenen Kissen zurückgelehnt saß eine jugendliche, in Grau gekleidete Frauengestalt; sie hatte die Arme übereinander gelegt, und ihre großen dunklen Augen waren nach dem Gebirge gerichtet, das in schön geschwungener Wellenlinie sich darstellte.
Jetzt warf sie den Kopf zurück, auf dem eine Art modischen Tirolerhutes mit durcheinander wehenden grünen Hahnenfedern saß; sie erhob sich, nahm eine große in grau Leinen gebundene Mappe aus der Seitentasche des Wagens und begann zu zeichnen, bald rasch in die Landschaft hinausschauend, bald den Blick streng auf das Papier geheftet. Ihre Züge nahmen einen tiefernsten Ausdruck an, das längliche Gesicht, etwas bräunlich angehaucht, von nicht mehr erster Jugendfrische, durchzog sich mit einer leichten Röthe. Sie preßte den schöngeschnittenen Mund, auf dessen Oberlippe sich ein leichter Flaum zeigte, wie in Aerger zusammen; ihre Arbeit schien sie nicht zu befriedigen; sie setzte mehrmals ab, schüttelte den Kopf, ja sie schlug sogar einmal das Buch zu. Vor sich hinnickend, wie sich selber Muth zusprechend, öffnete sie es wieder und arbeitete weiter; allgemach gewannen ihre Mienen einen beruhigten, ja fast zufriedenen Ausdruck.
Durch Anlage der Eisenbahn war ein neuer Standpunkt zur Betrachtung der landschaftlichen Schönheit gewonnen, dessen man vielleicht nie inne geworden wäre; denn das ist nach allen Seiten hin ein auszeichnender Charakter unserer Zeit, daß uns Alles in neue Gesichtswinkel gerückt wird.
Die Zeichnerin wurde immer heftiger in ihrer Arbeit. Trotz des nur mildwarmen Frühlingstages schien es ihr heiß zu werden. Sie nahm rasch den Hut vom Kopfe und legte ihn neben sich. Das dunkle Haar, über der Stirn schlicht angelegt, war in zwei starken Flechten im Nacken aufgesteckt, die Stirn, nicht besonders groß, ließ zumal beim Ernste eine durch die Mitte sich hinziehende Falte wahrnehmen, deren Spur auch bei ruhigem Verhalten noch zu erkennen war. Das ganze Antlitz zeigte deutlich, daß der Ernst des Lebens seine Merkmale darauf zurückgelassen.
Durch den Lerchensang in der Luft und Finkenschlag in dem Baume tönte aus der Ferne ein langgezogener, schriller Ton der Locomotive. Die Zeichnerin machte noch rasch einige Striche, schlug das Buch zu, verbarg es wieder, setzte den Hut auf, und die Arme übereinander schlagend schien sie wieder ruhig warten zu wollen.
Ein Diener in brauner Livree trat zu dem Kutscher, der die Pferde am Lenkriemen hielt, er lüpfte den Hut mit der schwarzen Cocarde und sagte zu der Dame - er nannte sie „Fräulein“ - der Zug sei bereits signalisirt. Er öffnete den Schlag und machte eine Bewegung, als wollte er der Dame aus dem Wagen helfen. Diese aber sagte, ohne den Diener anzusehen, in die Luft hineinstarrend: „Ich steige nicht aus, bringen Sie Fräulein von Korneck hierher.“ Im Ton ihrer Stimme lag ein herrischer, vielleicht auch verdrossener Ausdruck.
Louise Merz, dies ist der Name der Wagenbesitzerin, erwartete eine Jugendfreundin, zu der sie jene Intimität des Pensionats hatte, die sich nur selten fortführt, die aber hier mit ständiger Beflissenheit erhalten wurde: Es war, als ob die Erwartete bereits die Unruhe verursachte, die sie immer mit sich brachte; denn Louise stand auf und setzte sich wieder, sie schien zu überlegen, ob sie nicht doch die Freundin beim Aussteigen begrüßen solle; aber als sie jetzt bemerkte, daß die Beamten des Bahnhofes, die auf den Perron getreten waren, nach ihr schauten, ja sogar Anderen sie zeigten und nach ihr hindeuteten, hielt sie sich wieder ruhig. Die Leute sollten nicht sehen, daß sie eine Freundin von so beweglichem Wesen hatte, die sich gewiß sehr erregt benehmen und Aufsehen erregen wird. Die ganze Umgegend sollte wissen, daß Louise Merz mit dem Leben abgeschlossen und eine matronenhafte Haltung habe.
Die Pferde mußten im Zügel gehalten werden, da jetzt der Zug so nahe heranbrauste. Ein weißes Tuch wehte aus einem Wagen zweiter Classe. Jetzt hielt der Zug an. Eine Frauengestalt reichte dem Diener behutsam ein Wickelkind aus dem Wagen heraus und legte es ihm auf den Arm, dann stieg sie aus; sie war von schlanker Gestalt, hellfarbig gekleidet; sie grüßte nochmals an den Wagen zurück und grüßte nach der wartenden Freundin unter dem Baume. In ihren Bewegungen war eine behende Lebhaftigkeit und sie schaute in die Luft, in die Gesichter der Menschen, als wollte sie ständig fragen, ob es nichts zu lachen gebe. Schachteln und Handtaschen wurden schnell auf den Boden gestellt. Die Angekommene nahm dem Diener das Eingewickelte ab, es schien ein junges Kind zu sein; sie hielt es behutsam und eilte damit zu der Freundin. Die Diener gingen mit dem Gepäck hinterdrein, auch der Bahnhofs-Inspector trug eine Tasche, er kannte die Angekommene, deren Vater einst sein Hauptmann gewesen war.
Als sie bei der Freundin am Wagen stand, rief sie mit heller Stimme: „Louise, was sagst Du dazu, daß ich ein Kind mitbringe?“
Noch ehe die Staunende antworten konnte, wickelte sie die Kissen auseinander und aus denselben sprang ein braun und weißgefleckter Wachtelhund, schüttelte die langen Ohren, wie wenn er aus dem Wasser käme, sprang hin und her und schaute auf seine Herrin, die ihn aber keines Blickes würdigte, sondern unter dem Gelächter der Umstehenden, bald zu dem Inspector, bald zu Louise gewendet, rief: „Ist dies nicht ein artiges Kind unter zehn Jahren? Die reglementstarren Herren Bahnbeamten wollten mir nicht erlauben, meinen wohlerzogenen Freund Scheck mit in den Wagen zu nehmen. Nun denn! Die Tyrannei macht die Menschen klug! Ich habe Scheck als Kind maskirt, und habe damit die lustigsten Abenteuer erlebt. Die Mode, daß man jetzt nur kinderlose Miether in den Häusern haben will, dehnt sich auch auf die Eisenbahnen aus. An mehreren Wagen, wo ich mit dem vermeintlichen Kinde einsteigen wollte, hat man mir sehr menschenfreundlich zugerufen: ‚Hier ist kein Platz mehr!‘ und als ich endlich zornig eingestiegen war, wollten die Frauen das verschleierte Kind sehen, und ein noch sehr acceptabler Wittwer, dem ich gestehen mußte, daß ich keinen Mann hätte, machte mir einen halben Heirathsantrag. Herr Inspector,“ wendete sie sich zu diesem, der übermäßig lachte, „Herr Inspector, ich hoffe, Sie sind kein Philister, daß ich Strafe zu zahlen habe.“ Und als jetzt der Hund, der wissen mochte, daß von ihm die Rede sei, an seiner Herrin emporsprang, sagte sie zu ihm gewendet: „Ja, du warst sehr artig; du hast Menschenverstand.“
Die Bahnbeamten und alle Reisenden, die hier ausgestiegen waren, standen umher und lachten, ja die Kellner aus der Restauration kamen herbei und die Köchin erschien unter der Küchenthür, blickte nach der Gruppe und betrachtete ihren Anzug, der ihr nicht erlaubte, sich von ihrem Reiche zu entfernen. Der Hund schien etwas davon zu ahnen, daß dort ein gutes Herz für ihn sei, denn er verschwand plötzlich.
Mitten in der Heiterkeit der Umstehenden schaute Louise verdrossen drein. Sie bat, daß man fortzukommen eile. Dieser übermüthige Scherz der Freundin war ihr unbehaglich. Kisten, Schachteln und Handtaschen wurden aufgepackt, und als man eben abfahren wollte, fehlte Scheck. Auf wiederholtes Rufen kam er aus der Küche, er leckte sich noch die Lefzen ab, schaute noch einmal zurück zu seiner Wohlthäterin und wurde in den Wagen zu seiner Herrin gesetzt. Die Diener mußten sich offenbar Mühe geben, um nicht fort und fort zu lachen.
Der Wagen rollte auf der Landstraße dahin, die auf dem Bahnhofe Zurückbleibenden schauten ihm lange nach. Der Inspector erzählte den mit den Menschen in der Umgegend minder Bekannten, wer die beiden Damen seien. Der Wirth und die Wirthin gaben Ergänzungen, aber sie wußten doch nicht Alles.
Die Meinungen sind getheilt, die Einen behaupten, Louise sei erst fünfzehn, die Anderen, sie sei schon achtzehn Jahre alt gewesen, als ihr Vater, der reiche Fabrikant Merz, vor zehn Jahren zum ersten Mal zum Abgeordneten gewählt, mit seinem einzigen Kinde nach der Hauptstadt übersiedelte. Als unabhängiger, erfahrungsreicher und gebildeter Mann war Herr Merz ein angesehenes Mitglied der freisinnigen Mehrheit, die ein Ministerium ihres Charakters hatte. Dieses Ministerium war freilich noch nicht streng verfassungsmäßig aus der Mehrheit des Hauses hervorgegangen, vielmehr aus der Wahl des Fürsten, aber es herrschte doch eine eigenthümlich gehobene Stimmung, da man sich einer Regierung erfreute, die mit der allgemeinen Richtung wesentlich übereinstimmte.