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Wie kommen die Kobolde ins Museum? Erik traut seinen Augen nicht. Doch als er und seine Schwester Ariane einen Notruf aus dem Zauberwald empfangen, ist klar: Hier stimmt etwas nicht! Die Weltengrenze ist zerbrochen! Der Elfenkönig Leandro muss sofort handeln, um die Gefahr zu bannen. Aber dafür braucht er die Hilfe von Ariane und Erik. Auf dem Rücken des Drachen Obligo reisen die beiden Kinder in den Zauberwald – einem neuen Abenteuer entgegen!
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Seitenzahl: 188
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Für Tatjana. Wieder und immer.
Inhalt
Ein unnatürliches Wesen
Kobolde in der Kreidezeit
Elfenfeuer
Agentur für Heldentaten
Drachenwache
Das Geheimnis der Wasserhexe
Hasenjagd
Die Reise des Königs
Vollkommener Frieden
Die Zukunft des Zauberwaldes
Falsche Fährte
Die Wolkenweise
Ein unnatürliches Wesen
Der Wind fegte pfeifend über die schneebedeckte Hochebene und warf sich wütend gegen das Einzige, was sich ihm in den Weg stellte. Doch die kleine Hexe bewegte sich nicht. Sie zog nicht einmal den Schal höher, um ihre Wangen vor den nadelspitzen Eiskristallen zu schützen. Knietief stand sie im Schnee und spürte die Kälte trotzdem nicht. Ein stärkeres Gefühl hatte sich in ihr ausgebreitet: Furcht.
Das passierte nicht oft. Yvelle zitterte weder vor Wölfen noch vor Greifen. Sie wusste, welche Beeren und Pilze und Schlangen giftig waren und wie man sie mied. Nur Pechvögel fielen Lawinen zum Opfer oder wurden von den reißenden Fluten eines Sturzbaches mitgerissen. Yvelle kannte den Zauberwald, seine Bewohner und seine Gefahren. Mit Umsicht, Wissen und Verstand gab es keinen Grund, den Wald zu fürchten. Doch dies hier … stimmte nicht.
Mit brennenden Augen starrte Yvelle das Wesen an, das vor ihr auf einem gefrorenen Schlehenzweig hockte.
Äußerlich sah es aus wie ein Vogel. Ein Rotkehlchen, Erithacus rubecula. Doch musste ihm etwas Grausames widerfahren sein. Vielleicht hatte ein Adler das arme Tierchen gejagt und es verletzt? Nur konnte Yvelle keinen Kratzer erkennen. Der Vogel war eine Kugel aus Federn mit dünnen Beinchen, winzigen Äuglein und einem kleinen Schnabel. Sein Kleid war hellgrau bis auf die orangerote Zeichnung, die am Kopf anfing und sich über die Brust zog.
„Guten Tag“, sagte Yvelle zaghaft.
Das Rotkehlchen kippte den Kopf leicht zur Seite und blinzelte. Yvelle erschauderte. Hilfe suchend blickte sie sich um. Ihr war gar nicht aufgefallen, wie weit sie sich vom Dorf entfernt hatte. Hinter ihr ragten schon die spitzzackigen Wände des Quellengebirges auf. Im Frühling würden hier aus kleinen Höhlen und tiefen Spalten kristallklare Wasserfälle sprudeln. Jetzt, im Winter, waren sie zu Eis erstarrt und glitzerten im letzten trüben Sonnenlicht wie diamantene Rauschbärte. Nur vereinzelt lugten lose Felsen und vereiste Äste und Büsche aus dem Schnee. Kein lebendiges Wesen weit und breit.
„Auch dir einen guten Tag“, brummte plötzlich eine tiefe Stimme.
Yvelle drehte sich um und erblickte einen gewaltigen blauschwarzen Schädel, der hinter einem der Eisfälle auftauchte wie hinter einem Vorhang. Ein Schwarzbär! Erleichtert seufzte Yvelle auf. Sie war nicht mehr allein mit dieser Kreatur.
„Bist du gekommen, mich zu besuchen, Hexe?“, dröhnte er.
Yvelle warf einen Blick auf den Schneehang über der Bärenhöhle. Laute Geräusche konnten Lawinen auslösen. Sie legte einen Finger auf die Lippen und bedeutete dem Bären, näher zu kommen.
„Hallo, Marius“, sagte sie leise, als der Bär auf sie zutrottete. Der Wind zerzauste sein dichtes Fell und übersäte es mit Eiskristallen. Die gewaltigen Pranken sanken tief im Schnee ein, während der Kopf des Bären hin und her schlingerte und er die kurzsichtigen Augen zusammenkniff. Als er seinen Namen hörte, stutzte er. Dann erkannte er die Hexe.
„Yvelle! Jiiipiiieee!“
Das riesige Tier schüttelte sich vor Freude und rannte auf Yvelle zu. Die kleine Hexe schloss die Augen in Erwartung des Aufpralls. Als Marius ein Bärenkind gewesen war, hatte sie oft mit ihm im Wald gespielt. Damals war er nicht größer gewesen als ein Wolf. Inzwischen jedoch war er kolossal. Diese Tatsache hatte er aber offenbar noch nicht kapiert. Ausgelassen warf er sich auf Yvelle und drückte sie in einer Umarmung zu Boden, die ihr die Luft aus den Lungen presste.
„Ewig nicht gesehen!“, jauchzte Marius. „Ganz ewig. Aber jetzt bist du da und wir können spielen!“
Er wälzte sich von Yvelle herunter, rappelte sich wieder auf und setzte sich vor sie. Yvelles Körper hatte einen tiefen Abdruck im Schnee hinterlassen. Ihr Blätterhut war ein paar Schritte weit geflogen.Schnee war in ihren Kragen gerieselt und hing in ihren blonden Locken. Sie kämpfte sich aus dem Loch auf die Beine, unterdrückte ein Niesen und klopfte die Flocken von ihrem Gewand. Marius beobachtete sie erwartungsvoll.
„Heb mich hoch, heb mich hoch!“, bettelte der Bär ungeduldig.
Die Hexe traute ihren Ohren nicht. „Ist dir entgangen, dass du sogar im Sitzen ein ganzes Stück größer bist als ich?“, bemerkte sie spitz.
Der Bär lachte vergnügt. „Bin ganz schön gewachsen, was?“
Yvelle nickte. „Ich kann nicht mal deinen Arm hochheben.“
Traurig schaute der Bär an seinem gewaltigen Körper hinunter. Yvelle bemerkte, dass das Rotkehlchen den Bären ebenfalls betrachtete.
„Schade“, murmelte Marius enttäuscht. Doch sofort hellte sich seine Miene auf. „Ich kann dich tragen. Komm, kletter auf meinen Rücken.“
Yvelle legte wieder einen Finger auf die Lippen, schüttelte den Kopf und deutete auf das Rotkehlchen, das sie beide beäugte. Marius wandte den riesigen Schädel dem Schlehenbusch zu und entdeckte den Vogel.
„Oh, hab dich nicht gesehen“, sagte er. „Schönen guten Tag, Kollege.“
Das Rotkehlchen drehte den Kopf auf die andere Seite.
„Wie unhöflich!“, knurrte der Bär. „Ich sagte: Guten Tag!“
Erschrocken hüpfte der Vogel auf einen höher gelegenen Ast.
Der Bär wandte sich an Yvelle. „Was ist denn mit dem nicht in Ordnung? Hat er was gegen Bären?“
Da warf das Vögelchen den kleinen Kopf zurück, öffnete den Schnabel und fing an zu singen. „Zib-zib-ziiiiib, zib-zib-ziiiiib!“
Marius quietschte entsetzt, sprang hoch und landete auf dem Rücken im Schnee. Auch Yvelle wich erschrocken vor dem Rotkehlchen zurück.
„W-w-was tut er denn da?“, kreischte Marius.
„Er zwitschert“, sagte Yvelle bebend. „Das hat er vorhin schon getan.“
„Aber warum denn bloß?“
Yvelle schlang die Arme um den fröstelnden Körper und trat ganz nahe an den Bären heran, um in seinem Fell Deckung zu suchen. Erst dann sprach sie aus, was sie schon die ganze Zeit befürchtet hatte.
„Ich denke, er kann nicht sprechen“, flüsterte sie.
Marius riss die Augen weit auf und starrte die Hexe an. Aus den Augenwinkeln betrachtete er den Vogel. „Wie kann das sein?“, flüsterte Marius.
Yvelle zuckte die Schultern.
„Denkst du …“, wisperte Marius. „Denkst du, er will uns fressen?“
„Er ist ziemlich klein, findest du nicht?“, sagte Yvelle.
„Trotzdem“, beharrte Marius und musterte das Tier misstrauisch. „Er hat was Böses, Verschlagenes an sich. Vielleicht ist er verflucht? Kann sein, dass er einen Elfen geärgert hat …“
„Möglich“, sagte Yvelle, ohne es zu glauben. Die Elfen hatten gewiss die Macht, einem Vogel die Stimme zu nehmen. Doch sie waren nicht grausam. „Aber ich fürchte, er versteht uns auch nicht.“
„Meine Güte“, sagte der Bär. „Wie gruselig. Ein Vogel, der nicht sprechen kann. Mir wird ganz schwummrig.“ Er blickte sich um. „Ist er allein? Womöglich hat er Verstärkung mitgebracht?“
„Ich war hier, um Schlehen zu sammeln“, sagte Yvelle und deutete auf die blauen gefrorenen Beeren auf dem Strauch und in ihrem Korb. „Plötzlich war er da. Wahrscheinlich hat er es auch auf die Beeren abgesehen. Hier gibt es weit und breit nichts anderes zu fressen für ihn.“
„Er frisst Bären?“, quiekte Marius. „Aber du –“
„Beeren“, sagte Yvelle geduldig. „Die blauen Kugeln an dem Strauch.“
„Hoffentlich weiß er das auch.“
Yvelle spürte, dass die Entdeckung dieses Vogels wichtig war. Sie musste so schnell wie möglich der Hexenversammlung davon erzählen.
„Ich werde ihn fangen“, beschloss sie und sah sich auf der Schneefläche um. Die Sonne war bereits hinter den Gipfeln verschwunden und hatte den Himmel leer zurückgelassen. Nicht ein einziges Wolkenwesen war zu sehen. Nicht mehr lange und es würde stockdunkel sein. Dabei war der Abstieg ins Tal schon bei Tageslicht riskant.
„Einfangen?“, keuchte Marius. „Bist du verrückt? Hilf mir lieber, ihn zu verjagen. So eine Bestie will ich nicht vor meiner Höhle haben. Komm, wir bewerfen ihn mit Eiszapfen.“
Yvelle schüttelte den Kopf. Sie stapfte zu ihrem Hut, hob ihn auf und drehte ihn um. „Das könnte gehen“, murmelte sie und zog die Strohbänder heraus. „Jetzt brauche ich noch Zweige.“
Marius beobachtete verwirrt, wie die kleine Hexe Zweige von den Büschen brach und sie dann aneinanderband.
„Willst ihn mit einem Wurf erledigen, was?“, meinte er anerkennend.
Yvelle runzelte die Stirn. Sie befestigte die Zweige an ihrem Hut.
„Fertig“, sagte sie. „Jetzt müssen wir ihn nur noch erwischen.“
Marius rümpfte die Nase. „Was soll das sein?“
„Darin werde ich den Vogel fangen und ihn ins Dorf bringen.“
Langsam ging sie zu ihrem Korb. Sie beachtete das Rotkehlchen nicht weiter. Ohne Hast pflückte sie die letzten Beeren von dem Busch.
„Sei bloß vorsichtig!“, rief Marius aus sicherer Entfernung.
„Zib-zib-ziiib“, machte das Rotkehlchen und schlug mit den Flügeln.
„Er greift an!“, brüllte Marius.
Yvelle legte die blauen Beeren in ihren Hut und klappte das Geflecht aus Zweigen an einer Seite zurück. Sie nahm die Schnur, die sie daran befestigt hatte, und entfernte sich einige Schritte.
„Und jetzt?“, fragte Marius atemlos.
„Wir warten.“
Das Rotkehlchen beäugte die Beeren. Es hüpfte ein paarmal auf seinem Ast auf und ab und drehte dann das Köpfchen.
„Alle anderen Büsche sind leer gepflückt“, sagte Yvelle leise.
Offenbar hatte das Vögelchen gerade dasselbe festgestellt. Zögernd hüpfte es auf einen Ast weiter unten und blickte sich erneut um. Dann flog es hinunter zu den Beeren. Zaghaft streckte es den Schnabel aus, musste aber weiter hüpfen, um die Schlehen erreichen zu können. In dem Moment zog Yvelle an der Schnur und die Falle klappte zu.
„Siiiiieg!“, brüllte Marius. „Wir haben ihn erwischt!“
„Zib-zib-zib-zib“, schimpfte das Rotkehlchen und hüpfte aufgeregt in seinem Gefängnis herum.
Yvelle befestigte die Zweige auch auf der anderen Seite mit Schnüren an ihrem Hut. Nun traute sich der Bär näher heran und beäugte den Vogel. „Ja, jetzt spuckst du keine großen Töne mehr, was?“, sagte er. „Du bist unser Gefangener. Also mach keine Mätzchen, kapiert?“
„Ich muss ihn sofort ins Dorf bringen“, sagte Yvelle.
„Aber … es ist dunkel“, stellte Marius unbehaglich fest. „Du könntest in meiner Höhle –“
„Nein, es ist dringend.“
Sehnsüchtig wandte sich der Bär zu seiner Behausung hinter dem Vorhang aus Eis um. Eigentlich sollte er Winterruhe halten. Er überlegte.
„Na schön“, brummte er. „Steig auf. Ich trage dich nach Hause.“
Yvelle zögerte. Keine der anderen Hexen wusste von ihrer Freundschaft mit dem Bären. Es war Gesetz unter den Hexen, dass sie sich aus den Angelegenheiten der Waldbewohner heraushielten. Hexen blieben unter sich. Aber auf dem Rücken des Bären würde Yvelle nicht nur schneller ankommen. Sie hätte auch einen Begleiter in der Dunkelheit und müsste nicht alleine durch den Schnee stapfen. Er konnte sie ja vor dem Dorf absetzen.
„Danke“, sagte sie und kletterte mit dem Käfig auf seinen Rücken.
„Warum ist der Kerl denn so wichtig?“, fragte Marius, als er sich schwerfällig in Bewegung setzte. „Könnt ihr ihn heilen?“
Yvelle vergrub ihre Beine im dichten Fell des Bären und genoss die Wärme. Sie durchzog ihren Körper und taute ihre Füße und Hände schmerzhaft auf. Zum ersten Mal merkte die Hexe, wie müde sie war.
„Ich glaube nicht, dass der Vogel krank ist“, sagte sie, während Marius bedächtig den schneebedeckten Berghang hinunterrutschte. Unten im Tal lag schwärzer als die Nacht der Zauberwald vor ihnen. Auf der anderen Seite streckte sich ein Hügel dem Mond entgegen. An seiner Spitze flammten in diesem Augenblick nacheinander die Lagerfeuer und Kerzen in den Hütten der Hexen auf. Kleine Feuerkreise voller Wärme und Sicherheit. Zu Hause.
„Was hat er denn dann?“, fragte Marius.
„Zik-zik-zik“, machte das Rotkehlchen verstört.
„Ich glaube“, sagte Yvelle matt, „er stammt nicht aus unserer Welt. Es könnte sein, dass dieser Vogel aus der Menschenwelt kommt.“
Marius erstarrte mitten in der Bewegung und warf den Schädel herum. „Aus der Menschenwelt?“, brüllte er.
Seine Worte wurden von der Bergwand zurückgeworfen.
„Psst!“, machte Yvelle besorgt. „Du löst noch eine Lawine aus!“ Doch alles blieb ruhig. Sie vergrub den Kopf im Nackenfell des Bären und murmelte: „Was der Vogel genau bedeutet, weiß ich nicht.“
Das Fell kitzelte sie in der Nase. Schnell hob sie den Kopf, aber es war zu spät. Yvelle musste niesen. Wieder erstarrte der Bär und sie hielten beide den Atem an. Einen Moment lang war es still, nur das leise Geräusch des Windes über den schneebedeckten Flächen lag in der Luft. Doch plötzlich hörten sie ein Knacken und Zischen. Yvelle kannte diesen Laut: So klang es, wenn sich eine Lawine löste und die Verfolgung aufnahm.
„Oh-oh“, sagte Marius. Er sprang bäuchlings in den Schnee und streckte Arme und Beine von sich. In atemberaubendem Tempo rutschten sie über den Abhang auf den Zauberwald zu, während die Lawine hinter ihnen knurrend und tosend alles verschlang und nach ihnen griff. „Wuhhiiieee!“, brüllte der Bär aufgeregt. „Festhalten, jetzt geht’s loooos!“
Kobolde in der Kreidezeit
Erik betrachtete die Reißzähne des Megalosaurus, der drohend vor ihm aufragte – und gähnte. Das lag nicht ausschließlich daran, dass der Saurier als Nachbildung im Naturkundemuseum stand. Erik hatte gestern Nacht auch einfach zu wenig geschlafen. Schuld war die Freundin seines Vaters.
Linda hatte vor Kurzem ihr erstes Kinderbuch veröffentlicht. Weil die Geschichte dazu Erik und Ariane eingefallen war, hatten sich die beiden etwas wünschen dürfen. Was hatte Linda denn erwartet? Erik war zwölf. Natürlich hatte er sich eine Spielkonsole und Videospiele gewünscht. Wie konnte Linda bloß so verantwortungslos sein, ihm diese Wünsche zu erfüllen?
Linda hatte außerdem einen neuen Fernseher fürs Wohnzimmer gekauft und der alte stand jetzt in Eriks Zimmers. Jede freie Minute verbrachte Erik vor diesem Fernseher. Sobald sein Vater oder Linda ins Zimmer kamen, schaltete er ihn aus und tat so, als würde er lesen. Kaum war die Zimmertür ins Schloss gefallen, erwachte das Bild zu neuem Leben.
Mit der Fernbedienung konnte Erik den Figuren in den Videospielen befehlen zu springen, zu laufen, sich zu ducken oder zu kriechen. Er hatte schon richtig Muskeln entwickelt, seitdem er sie hatte: vor allem in den Daumen. Außerdem hatte er Funkkopfhörer, damit er selbst dann in voller Lautstärke spielen konnte, wenn alle anderen in der Wohnung schliefen. Das nutzte er natürlich aus. Er war schließlich auch nur ein Junge.
Erik gähnte und rieb sich die Augen. Er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, was der Museumsführer erzählte. Eigentlich machte der Mann seine Sache gar nicht schlecht.
„Stellt euch die Welt vor achtzig Millionen Jahren vor“, sagte er gerade. „Die Kreidezeit! Der Großkontinent Gondwana zerfällt mehr und mehr in einzelne Landteile. Am Boden der Ozeane spucken Vulkane glühendes neues Land aus dem Erdinneren. Die Erde ist warm. Riesige Dinosaurier bevölkern das Land. Doch die Herrscher der Lüfte sind diese Kreaturen hier – Flugsaurier. Der Pteranodon hatte eine Flügelspannweite von acht Metern, der Quetzalcoatlus sogar eine von zwölf! Ihr könnt an den Modellen über euren Köpfen sehen, wie gigantisch diese Kreaturen waren.“
„Was haben sie gejagt?“, fragte Eriks Freund Ramon. Er drehte seine Baseballkappe um, damit er besser nach oben blicken konnte.
„Nun … in erster Linie haben sie … äh … Fische gefressen“, druckste der Museumsführer herum. Er spürte, dass die armen Flugsaurier durch diese Information ganz entschieden weniger aufregend wurden. „Und Plankton“, fügte er kläglich hinzu.
„Plankton?“, fragte nun auch Eriks Lehrerin Frau Giesemann mit Blick auf das Modell über ihrem Kopf. „Sie meinen, diese enormen Saurier haben winzig kleine Meeresorganismen gefressen?“
Der Museumsführer nickte eifrig. „Beeindruckend, oder?“
Die meisten Schüler teilten seine Ansicht wohl nicht. Sie sahen sich sehnsüchtig nach den fleischfressenden Dinosauriern im nächsten Raum um. Erik grinste. Er stellte sich vor, wie seine Klassenkameraden reagieren würden, wenn sie tatsächlich mal so einem Vieh begegneten. Einer Kreatur, die gigantisch groß war, fliegen konnte und alles fraß, was ihr vor die Schnauze kam. Sie würden schreiend davonlaufen oder schlicht in Ohnmacht fallen, da war er sich sicher.
Erik war da anders. Und Ariane erst recht! Sie hätte sogar einem lebenden Megalosaurus furchtlos ins Auge geblickt. Aber Eriks Schwester war nicht hier. Lindas Tochter war ein Jahr jünger als Erik und ging noch in die fünfte Klasse.
„Weiter geht’s im nächsten Raum“, verkündete der Museumsführer.
Also schlurfte Erik brav hinter den anderen her auf ein neues Zeitalter zu. Abgesehen von den beiden sechsten Klassen des Gutenberg-Gymnasiums waren kaum andere Besucher im Museum. Es war Donnerstagvormittag. Der Himmel draußen war zwar nach wie vor von einer dicken Wolkenschicht verhangen, aber es war drückend heiß. Im Museum hingegen sorgte die Klimaanlage dafür, dass man beinahe fror. Erik ertappte sich bei dem Gedanken, dass er lieber in der Schule gewesen wäre. Die nächste Woche war die letzte vor den Sommerferien. Darum fand kaum noch normaler Unterricht statt. Frau Giesemann hatte ihren Schülern zum Schulschluss ein bisschen Spaß bieten wollen, wie sie sagte. Doch statt mit ihnen ins Freibad zu gehen, mussten sie den Tag frierend in dem dunklen, kalten Museum verbringen und sich diese uralten Skelette ansehen, die reglos herumstanden und – reglos?
Erik fuhr herum. Er hatte aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrgenommen. Aber soweit er sehen konnte, befand sich außer ihm niemand mehr in der Kreidezeit.
Erik kniff die Augen zusammen und betrachtete noch einmal alle Modelle. Natürlich bewegte sich keines von ihnen! Was für ein dummer Gedanke. Er war bloß übermüdet. Erik wandte sich wieder um und wollte zu seinen Klassenkameraden gehen, die jetzt im nächsten Saal um eine Schautafel standen. Da hörte er leise Stimmen hinter sich. Es klang, als würden Kleinkinder streiten.
Wieder drehte Erik sich um – und jetzt sah er es: Der Megalosaurus wedelte mit dem Schwanz. Eriks Unterkiefer sackte auf seine Brust.
Er blickte sich schnell zu seinen Klassenkameraden um, aber keinem schien aufzufallen, dass er nicht da war. Also schlich er sich an den Megalosaurus heran. Die Kinderstimmen wurden lauter.
„Sag schon was, du großer Dussel!“, quietschte eine Stimme.
„Na, gefällt dir das?“, eine andere.
„Der hat doch was!“, stellte eine dritte fest. „Nicht ganz richtig im Kopf, der Bursche! Hey, wehr dich doch, du Trine!“
Die Stimmen erinnerten Erik an etwas. Sein Gehirn schickte ihm Informationen. Er beschloss, sie nicht zu beachten. Das war doch total verrückt, völlig unmöglich und obendrein bescheuert. Offenbar hatte er durch das ständige Computerspielen irgendwas da oben beschädigt. Es gab bestimmt eine ganz einfache Erklärung. Sicher spielten ein paar Kleinkinder mit dem Sauriermodell.
Erik ging um das Modell herum und stellte fest, dass er recht hatte. Es gab eine einfache Erklärung dafür, dass der Megalosaurus mit dem Schwanz wedelte: Drei Kobolde spielten mit ihm.
Einer hob den Kopf und starrte Erik an.
„Oiii“, rief der Kobold. „Da is wieder einer.“
Die anderen beiden ließen von dem Saurier ab und blickten Erik an.
„Bäh!“, sagte der dickste von ihnen und rümpfte die Nase. „Der ist ja noch hässlicher als die anderen. Guckt nur, wie viele Haare er aufm Kopf hat!“
Erik betrachtete die drei Zauberwesen und überlegte. Ob er noch zu Hause war und träumte? Er fühlte sich nicht, als würde er schlafen. Aber das waren Kobolde. Sie waren kaum größer als Babys, ebenso kahl, trugen Lendenschurze und hatten Schlappohren mit Haaren an den Spitzen. Aus großen Kulleraugen blickten ihn die drei abschätzend an.
„Was mach’n wir denn jetzt?“, fragte der dünnste Kobold.
„Hau’n wir ab“, schlug der mit dem dicken Bauch vor. „Bevor der Dussel uns Ärger macht.“ Damit hüpfte er auf den Boden.
„W-was macht ihr hier?“, fragte Erik. Er musste sich räuspern, weil seine Stimme ihm nicht ganz gehorchte.
Der Kobold auf dem Boden erstarrte und wandte sich an die anderen.
„Spricht der mit uns?“
„Naaa“, sagte der dritte, der im Gegensatz zu seinen Kollegen zwei Zähne hatte. „Die erkennen uns nicht.“
„Die dicke Drummel vorhin hat uns für Apfen gehalten“, sagte der Dünne.
„Affen“, verbesserte der dicke Kobold ihn herablassend. „So nennt man kleine Menschen.“
Erik beschloss, später darüber nachzudenken, ob er träumte. „Ihr seid Kobolde“, sagte er laut. „Ich kann euch sehen!“
Jetzt kletterten auch die anderen beiden auf den Boden und drängten sich dicht an den ersten.
„Duuhuu, Kalau“, sagte der mit den Zahnstummeln und stupste den ersten mit dem Finger in den Bauch. „Ich glaube, der erkennt uns doch.“
„Und er kann uns verstehen“, mutmaßte der dünne Kobold.
Kalau verschränkte die Arme. „Völlig unmöglich.“
„Natürlich verstehe ich euch!“, platzte Erik heraus.
Der erste Kobold sah ihn abschätzend an. „Der blufft doch.“
„Ich glaube nicht“, piepste der mit den Zahnstummeln. Er begutachtete Erik und plötzlich wurden seine Kulleraugen noch größer und runder. „Ist das … das ist doch … der Junge!“
„Quatsch!“, knurrte Kalau. „Das kann nicht sein. Weißt du, wie viele Menschen es in der Menschenwelt gibt, Kiwwel? Hunderte!“
„Und die sehen alle gleich aus“, ergänzte der dünne Kobold.
Ungeduldig trat Erik einen Schritt auf die Kobolde zu. Sie kreischten und wichen erschrocken zurück.
„Ich tu euch nichts“, sagte Erik und hob beschwichtigend die Arme. „Aber ihr dürftet nicht hier sein. Verschwindet, bevor euch jemand sieht.“
„Du hast uns gar nichts zu befehlen, Menschlein!“, rief der Kobold mit den zwei Zähnen, den der Dicke Kiwwel genannt hatte. Er legte den Kopf zur Seite und streckte fordernd eine Hand aus. „Gib uns deinen Zauberzieler und wir sind schon weg.“
„Meinen was?“ Erik trat ein paar Schritte zurück und warf einen Blick über die Schulter. Er konnte seine Klassenkameraden nicht sehen, aber bestimmt würde seiner Lehrerin bald auffallen, dass er verschwunden war.
„Ich glaube, er will abhauen“, erklärte der Dünne.
„Auf ihn!“, rief Kalau.
Die drei Knirpse rannten auf Erik zu und umklammerten seine Beine. Kalau versuchte, ihn mit seinem zahnlosen Kiefer zu beißen. Erik kicherte.
„Hört auf!“, rief er. „Das kitzelt!“
„Er lacht“, krähte der dünnste Kobold triumphierend. „Er hat Schmerzen!“
Erik kringelte sich vor Lachen und versuchte dabei gleichzeitig, möglichst leise zu sein.
„Hört auf!“, keuchte er und erwischte den dünnen Kobold am Lendenschurz. „Sonst hört uns noch –“
„Frau Giesemann!“, brüllte Ramon. Er stand am Eingang zur Kreidezeit und glotzte Erik an. „Hilfe! Erik wird angegriffen!“
Die Kobolde erstarrten. Einer war an Erik hochgeklettert und hing an ihm wie ein Rucksack. Ein anderer klammerte sich an sein Bein. Der dritte baumelte wie ein nasser Sack in dem Lendenschurz, den Erik festhielt.
„Ui“, machte Kalau und ließ Eriks Bein los. Er grinste Ramon zahnlos an.
„Kusch!“, brüllte Ramon. „Lasst meinen Freund in Ruhe, ihr Viecher!“
Hinter ihm erschien Frau Giesemann. „Meine Güte“, stieß sie fassungslos hervor. „Was – was ist das denn?“
Die Kobolde starrten Erik an. Erik starrte seine Lehrerin an und sagte das Erste, was ihm einfiel: „Affen.“
Frau Giesemann machte ein paar Schritte auf ihn zu, wandte sich dann um und rief in den anderen Raum: „Herr Trahn, Hilfe! Einer meiner Schüler wird angegriffen von … von Affen!“
Sprach- und bewegungslos stand Erik da und versuchte zu überlegen. Er musste verhindern, dass die Kobolde gefangen wurden. Noch wichtiger war, dass die Knirpse nicht hinaus auf die Straße liefen und die Stadt unsicher machten. Dummerweise schloss das eine das andere aus. Ehe Erik eine Entscheidung treffen konnte, brüllte der dicke Kobold:
„Abhauen, Leute! Rückzug!“