Der Zauberfluch des Elfenkönigs - Vanessa Walder - E-Book

Der Zauberfluch des Elfenkönigs E-Book

Vanessa Walder

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Beschreibung

Inmitten einer heißen Sommernacht wird Ariane entführt – von einem riesengroßen Drachen! Er bringt sie in den fernen, finsteren Zauberwald. Die magischen Geschöpfe, die hier leben, scheinen das Mädchen nicht zu mögen.Warum sonst würde der Elfenkönig Leandro einen mächtigen Zauber aussprechen? Einen Fluch, der verhindert, dass Ariane jemals nach Hause zurückkehren kann. Denn er bewirkt, dass alle in der Menschenwelt sie vergessen haben! Ariane ist verzweifelt. Doch sie hat auch Freunde im Zauberwald, die ihr helfen wollen ... WDR 5 - Lilipuz Tipp (Februar 2009)

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Inhalt

Entführung in der Nacht

Nicht stören — Winterruhe!

Z.V.I.T.H.

Die Höhle des Drachen

Die Fantastischen

Zwei Helden

Fast Freunde

Die verlorene Schwester

Der Zauberzweig

Doktor Wurms Vertretung

Der Feigling und der Dieb

Der Plan der Schlange

Das Traumkind

Die Warnung der Wölfin

Die Elfeninsel

Entführung in der Nacht

Es war heiß in der Stadt. Nicht einfach nur heiß, sondern drückend, brütend, schwelend, höllisch, glühend, brennend heiß. Seit vierunddreißig Tagen hatte es nicht mehr geregnet. Keine einzige kleine weiße Wolke hatte sich am Himmel blicken lassen. Der Himmel selbst war wie ausgebleicht. Auch nachts wurde es kaum kühler. Es war, als würde der Mond die Sonne bei der Arbeit vertreten.

Groß und rund blickte er auf die Häuser. Beinahe jedes Fenster war weit aufgerissen, um wenigstens einen kleinen Luftzug einzuladen. Vergeblich, denn nichts regte sich in dieser Nacht. Nur die Menschen, die sich in ihren Betten wälzten.

Im Kinderzimmer des achten Stocks eines Mietshauses drehte sich ein Mädchen von einer Seite auf die andere. Es war nicht zugedeckt, hatte aber ein langes dunkelblaues Nachthemd an. Wenn die großen Augen des Mädchens offen standen, hatten sie die gleiche Farbe. Aber jetzt waren sie ganz fest zusammengekniffen. Auf der gerunzelten Stirn standen Schweißperlen und das schwarze Haar klebte ihm am Kopf. Auch die Hände des Mädchens waren schweißnass. Sie zuckten, hoben sich kurz und ballten sich dann zu Fäusten. Ariane träumte.

Bis zur Schlafenszeit hatte sie sich mit Erik gestritten. Nun ging der Streit im Traum weiter. Nur, dass darin die Rollen vertauscht waren: Ariane überragte Erik um 15Zentimeter und war ein Jahr älter. Erik war hier erst zehn und klein und niemand war auf seiner Seite. Hier kam auch nicht Arianes Mutter, um ihnen zu sagen, dass sie sich vertragen sollten. Als ob das bisher etwas gebracht hätte!

Erik hörte niemandem zu. Vielleicht liebte er deshalb seine Insekten- und Spinnenwesen. Weil die nicht reden konnten. Ständig hatte er Einmachgläser voll Ungeziefer in seinem Zimmer herumstehen. Und sein Vater schüttelte höchstens den Kopf darüber. Er schimpfte nie. Er hatte Erik noch nicht mal bestraft, als der Arianes Märchenbücher versteckt hatte. Natürlich wollte er sie nicht lesen. Er wollte Ariane nur ärgern.

Fast alle ihre Spielsachen waren schon einmal in Eriks Gefangenschaft geraten. Er lachte sich kaputt, wenn er sah, wie sie die ganze Wohnung danach absuchte. Meistens war Doktor Wurm das Opfer. Das große Stofftier mit den vierzehn Beinen auf jeder Seite seines Körpers und der runden Brille ohne Gläser verdankte seinen Doktortitel den vielen Malen, die er Ariane gesund gemacht hatte. Immer, wenn sie eine Erkältung hatte oder Bauchweh oder Kopfweh, dann kümmerte sich Doktor Wurm um sie. Er war ein Genie. Nie hatte er versagt. Nur Erik aus dem Weg zu gehen, das schien er sich einfach nicht merken zu können.

Darum war es Ariane in den letzten Nächten noch schwerer gefallen, einzuschlafen. Sie war es gewohnt, sich an den Tausendfüßler zu kuscheln. Aber wieder einmal war der Platz neben ihr leer.

Ärgerlich grunzte Ariane und rieb sich die Nase. Als sie den Kopf wieder ins Kissen grub, bauschten sich endlich die dünnen weißen Vorhänge vor den Fenstern. Ein kühler Luftzug wehte bis zum Bett. Und dann noch einer und noch einer.

Das Gesicht des Mädchens entspannte sich. Es seufzte zufrieden und tauchte in einen anderen Traum ein. Die Vorhänge wehten jetzt in sanften, regelmäßigen Böen. Der Stoff verrutschte und gab den Blick auf den Nachthimmel frei. Aber, merkwürdig, der Mond und die Sterne waren verschwunden.

Ariane bemerkte es nicht. Sie schlief fest und träumte von einem See unter grünen Weiden. Der See war tief und kalt und sein Wasser war schwarz wie der Himmel vor ihrem Kinderzimmerfenster. Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Hätte Ariane gewusst, was den Wind verursachte, sie hätte nicht gelächelt. Sie hätte den Mund weit aufgerissen und geschrien. Sie wäre aus dem Bett gesprungen und ins Schlafzimmer ihrer Eltern gelaufen. Aber sie wusste es nicht. Sie sah nicht das große gelbe Auge, das sich wie ein zweiter Mond vor ihr Fenster schob und zwischen den Vorhängen hindurchspähte. Als zwei Klauen mit langen gebogenen Krallen sich auf das Fensterbrett des Kinderzimmers legten, schwamm Ariane glücklich im See.

Sie wunderte sich nicht, dass ihr Bett auf einmal schwankte. Immerhin kräuselten kleine Wellen die Oberfläche des Wassers. Aber für das kratzende Geräusch fand sie keine Erklärung. Sie drehte im Traum den Kopf und glaubte, am Ufer eine Bewegung zu erkennen. Hatte sich Erik in ihren Traum eingeschlichen? Würde ihm ganz ähnlich sehen! Wahrscheinlich wollte er ins Wasser pinkeln, das Ferkel.

Erst als das Fußende ihres Bettes gegen die Heizung unter dem Fenster stieß, wachte Ariane auf. Benommen blinzelte sie und setzte sich auf.

Sie griff nach dem Vorhang, der ihr ins Gesicht wehte. Die Gardinen reichten doch nicht bis an ihr Bett. Das stand nämlich normalerweise auf der anderen Seite des Zimmers zwischen den beiden Bücherregalen.

Aber bevor Ariane die Situation begreifen, bevor sie nach ihrer Mutter rufen oder aus dem Bett springen konnte, fuhren zwei gewaltige Klauen auf sie zu. Die eine hielt ein großes Stoffknäuel. In ihrer Verwirrung fragte sich Ariane, ob sie es wohl nehmen sollte. Sie hatte gerade noch Zeit zu bemerken, dass das Stoffknäuel eine Art Sack war. Da wurde er auch schon über ihren Kopf gestülpt und an ihrem Oberkörper heruntergezogen. Mit der gleichen schnellen Bewegung wurde der Sack hochgehoben und Richtung Fenster gezerrt.

Noch etwas anderes wurde in den Sack gestopft, etwas Weiches. Es musste das Kopfkissen sein. Die Klaue drückte es hinunter, bis es sich fest gegen Arianes Gesicht presste. Bequemer wurde es dadurch nicht.

„Hmmiiee!“, kreischte Ariane. Aber das Kissen schluckte ihren Hilferuf.

„Nicht schreien“, sagte die tiefste Stimme, die Ariane je gehört hatte. Sie klang, als würde ein Riese in einer Höhle voller Echos brüllen. „Ich werd dich nicht fressen. Das hab ich versprochen.“ Jetzt schwankte es wieder. Viel stärker als zuvor. Es fühlte sich an … als würde sie abheben! „Nicht mal ein kleines Fingerchen darf ich abbeißen tun, nein, nein.“

Ariane brüllte in ihr Kissen.

„Hast du nicht gehört?“, fragte die Stimme ganz nah an ihrem Sack. „Ich hab gesagt, ich werd dich NICHT fressen.“ Und nach einer kleinen Pause: „Oh, hab ich ganz vergessen – können Menschen hören? Habt ihr Ohren? Kannst du mich verstehen?“

Ariane schluchzte. Was war das für ein Wesen? Und wo blieb ihre Mama? Die hatte Ohren! Sie musste die Stimme doch hören. Warum rettete sie keiner vor diesem … diesem …? Diese Kreatur war kein Mensch. Sie fraß Menschen!

Verzweifelt trat und boxte Ariane gegen den Sack und schluchzte und schrie in ihr Kissen, bis sie kaum noch Luft bekam und husten musste.

Da war es plötzlich, als tauchte ihr Verstand in den schwarzen See unter den Weiden. Er wurde kühl und ruhig. Die Gedanken wurden langsamer und ließen sich voneinander trennen. Die Panik floss aus ihr heraus. Logik übernahm das Kommando.

Ihre Mama kam nicht, weil Ariane nicht mehr in ihrem Zimmer war. Das Wesen hatte sie hinterrücks aus ihrem Bett entführt. Und da sie im achten Stock wohnte, konnte das Wesen offenbar fliegen. Nun spürte sie auch die kalte Luft durch den groben Stoff und vernahm dieses Geräusch – wie Meeresrauschen. Wie gewaltige Schwingen, die den Nachthimmel teilten. Sie konnte es sogar fühlen. Ein leichtes, aber stetiges Auf und Ab. Sie flog wirklich!

Meine Güte, ich bin von einer Riesentaube entführt worden, dachte Ariane.

Nein, keine Taube. Tauben hatten keine Klauen. Und Menschen fraßen sie auch nicht, egal wie riesig sie waren. Das Wesen konnte sprechen, auch das konnten Tauben nicht. Was war zu tun? Schreien hatte keinen Sinn. Boxen und treten ebenfalls nicht. Selbst wenn sie es schaffte, aus dem Sack zu entkommen, würde sie viele Meter tief vom Himmel fallen. Also lautete der vernünftigste Plan: Abwarten.

Ariane zwang sich, ruhig in das Kissen zu atmen. Es war ein Abenteuer. Erik würde Augen machen, wenn sie ihm davon erzählte! Und in der Zwischenzeit? Würde es ihm leidtun, wie gemein er zu ihr gewesen war? Würde er für den Rest seines Lebens Buße tun?

Ariane schnaubte in ihrem Sack. Von wegen! Er würde ihr Zimmer als Lager für seine Insekten benutzen und ihre Puppen in die hinterste Ecke feuern. Sicherlich würde er sich freuen, dass ein gefährliches Wesen Ariane entführt hatte.

Moment! Woher sollte denn irgendjemand wissen, dass sie entführt worden war? Niemand war in die Wohnung eingebrochen. Das Fenster stand offen, aber wie sollte jemand in den achten Stock gelangen? Alle würden denken, sie wäre fortgelaufen. Wahrscheinlich würden sie nach ihr suchen, aber an den falschen Orten.

Ihre arme Mama! Sie würde sich fragen, was sie falsch gemacht hatte, dass ihre zehnjährige Tochter von zu Hause ausriss und nichts mitnahm als ihr Kopfkissen. Jetzt fing Ariane an zu weinen. Nicht aus Angst, sondern aus Mitleid mit ihrer Mama. Wie konnte dieses Wesen ihr nur etwas so Grausames antun?

Auf einmal wurde es kalt. Es wurde so kalt, wie es im Sommer nicht werden konnte. Flogen sie nun so hoch? Nur ihr Kopf war warm, weil er durch das Kissen geschützt war.

Toll, dachte sie. Kühle Füße und ein warmer Kopf. Umgekehrt wär’s mir lieber.

Sie spürte, dass die Schwingen jetzt stillstanden. Sie glitten durch die Luft. Dann ein Ruck, schwächer als erwartet. Sie waren gelandet. Jetzt konnte sie gedämpft schwere Schritte hören. Schritte wie auf … lockerer Erde? Nein. Es fiel ihr nicht gleich ein, weil doch eigentlich Juli war. Aber es klang nach Schritten im Schnee. Was ging hier vor?

Plötzlich fiel der Sack auf den Boden und Ariane schrie vor Schmerz auf.

„Au! Verdammter blöder Baum, du!“, dröhnte die Stimme ihres Entführers. „Das hast du absichtlich gemacht.“ Der Sack wurde wieder hochgehoben. „Huhu, Menschlein! Lebst du noch?“

Ariane schwieg. Würde er seine Beute einfach liegen lassen, wenn er dachte, dass sie tot sei?

„Hab ich dich kaputt gemacht?“, fuhr die Stimme fort. Jetzt klang sie besorgt. „So ’n Mist! Dabei hätt ich dich doch lebendig abliefern sollen, haben die extra gesagt. Dass Menschen aber auch so empfindlich sind. Die werden alle mir die Schuld geben.“ Der Sack wurde geschüttelt und Ariane kreischte. „Hey, da bist du ja wieder. Hehe. Bist ja doch nicht so empfindlich. Sehr schön, sehr schön. Hast mir einen Schreck eingejagt.“

Ariane konnte die Schritte wieder hören. „Ich seh vielleicht nicht so aus, aber ich bin äußerst empfindlich. Sind wir alle. Hehe. Ich erzähl dir das nur, weil du eh keine Ohren nicht haben tust. Schön, wir sind groß. Und unsere Haut ist dick und gepanzert. Aber wir haben trotzdem Gefühle, jaja, die haben wir. Ganz empfindsame Wesen sind wir, wir Drachen.“

Ariane riss die Augen auf. Dann hörte sie einen Knall und sie landete wieder auf dem Boden.

„Noch so ’n Baum“, sagte die Stimme. „Gibt’s denn in diesem verflixten Wald nix anderes nicht als Bäume? Von wegen Zauberwald …“

In dem Moment hörte Ariane noch etwas anderes. Es klang fast wie ein leises, feines Stimmchen, aber sicher war sie sich nicht. Vielleicht war es auch nur das Piepsen eines Tieres. Aber irgendetwas war da. Ariane holte tief Luft und fing an zu schreien.

Nicht stören — Winterruhe!

Sauerei!“, donnerte Samuel. Er schluckte den Regenwurmkopf, an dem er gerade genagt hatte, und kämpfte sich aus dem Bett. Fluchend zog er seinen Morgenmantel und die Hausschuhe an und stapfte zur Falltür.

„Nie hat man seine Ruhe.“ Samuel stieß die runde Holztür in der Decke auf und grunzte ärgerlich, als dicke Schneeflocken auf seinen Kopf fielen. Mühsam zog er sich an den Sprossen der kleinen Trittleiter hoch. Dann schob er seinen pelzigen Körper aus dem unterirdischen Bau an die Oberfläche.

„Also“, stieß er mit zitternden Barthaaren hervor und blinzelte in die Dunkelheit. „Was ist hier los?“

Dann lauschte er den Geräuschen des nächtlichen Winterwaldes. Wie die meisten Maulwürfe war Samuel fast blind, aber sein Gehör war ausgezeichnet. Ganz in der Nähe atmete etwas. Etwas Großes.

„Wer ist da?“, rief Samuel wieder. „Wer stört meinen Winterschlaf?“

Jetzt hörte er gedämpftes Keuchen.

„Du kannst dich genauso gut melden“, sagte Samuel. „Ich weiß, dass du da bist.“

Das große Etwas nieste und eine Flamme schoss durch die Nacht. Daraufhin fing ein Baum an zu brennen. Den Feuerschein konnte sogar der Maulwurf erkennen. Er unterdrückte ein Stöhnen.

„Hallo, Obligo“, sagte er.

„Äh. Hehe. Nein, nein. Ich bin’s nicht.“

Samuel verdrehte die Augen. Drachen waren groß und stark, durch ihren Schuppenpanzer praktisch unverwundbar, konnten fliegen und Feuer speien, aber besonders helle waren sie nicht. „Was treibst du hier?“, fragte der Maulwurf schroff. „Hast du geschäftlich zu tun?“

„Nein, nein, gar nicht“, erwiderte der Drache betont beiläufig.

Wieder hörte Samuel die gedämpften Geräusche eines anderen Wesens. Im Schein des Feuers glaubte er, etwas wie einen Sack zu sehen, der über der Schulter des Drachen hing.

„Sag, Obligo.“ Samuel stellte sich auf die Zehenspitzen. „Was hast du denn da in dem Sack?“

„Welchem Sack? Hehe. Ich hab gar keinen Sack nicht. Weiß nicht mal, was du meinst.“ Er ließ seine Beute hinterm Rücken zu Boden gleiten.

„Der Sack, den du nicht hast, macht komische Laute. Anständige Leute schlafen um diese Jahreszeit. Dein Sack stört uns dabei. Ganz zu schweigen von deinem Getrampel, du Elefant.“

„Elefant!“ Der Drache schnaubte. „Die gibt’s doch nur im Märchen.“

„Was ist in deinem Sack und warum ist er so laut?“

„Mein Sack ist ganz leise“, erwiderte der Drache. „Der tut gar keinen Mucks nich machen.“

„Ich dachte, du hättest keinen Sack.“

„Upsi.“

Jetzt hörte Samuel ganz deutlich, dass Obligos Beute versuchte, sich bemerkbar zu machen. Das Wesen darin musste verzweifelt sein. Soweit der Maulwurf wusste, fraßen Drachen alles, was ihnen vor die Schnauze kam. Aber sie schleppten ihr Futter nicht als lebenden Proviant mit sich herum. Sie waren eben nicht so clever wie Maulwürfe. Samuel dachte sehnsüchtig an die Schale mit matschigen Regenwurmköpfen und knusprigen Käferbeinchen, die auf seinem Nachtkästchen auf ihn wartete.

„Also gut, Obligo.“ Der Maulwurf seufzte. „Machen wir es kurz, meine Pfoten sind schon festgefroren –“

„Soll ich sie wärmen?“, bot der Drache an.

„Nein! Hast du sie noch alle? Ich bin doch kein Würstchen im Schlafrock, sondern ein Maulwurf im … äh … Morgenmantel.“ Samuel räusperte sich. „Hast du vor, noch länger durch den Wald zu trampeln? Ich möchte jetzt gerne weiterschlafen und jeder deiner Schritte ist wie ein Erdbeben.“

„’tschuldigung“, nuschelte der Drache. „Ich werd auf Zehenspitzen trippeln, ganz leise. Wie eine kleine Fee. Pssst.“

„Warum läufst du überhaupt durch die Gegend? Warum fliegst du nicht?“

„Es schneit.“

„Na und?“

„Schlechte Sicht.“

„Befürchtest du, einen Vogel umzufliegen?“, keifte Samuel. „Am Boden läufst du gegen jeden zweiten Baum. Und ich kann kein Auge zumachen. Also flieg gefälligst zu deiner Höhle.“

„Und wenn ich sie von da oben runterfallen lasse? Dann ist sie in echt kaputt und dann ist der Plan kaputt, und dann sind alle sauer auf mich.“

Samuels Barthaare kräuselten sich. Hatte er es nicht geahnt? Hier ging etwas vor sich. Was auch immer in dem Sack war, der Drache durfte es nicht fressen, er sollte es irgendwo hinbringen und er musste gut darauf aufpassen. Es war etwas Kostbares. Es? Nein, sie.

„Bestimmt wird dir keiner böse sein“, versicherte Samuel dem Drachen. Seine Stimme war jetzt so samtweich wie sein Fell. Mit ausgestreckten Pfoten tapste er dahin, wo er Obligo vermutete. Nach wenigen Schritten stolperte der Maulwurf gegen eine riesenhafte Zehe und tätschelte sie.

„Du bist doch ein vorsichtiger Drache und wirst sie sicher nicht verletzen. Wirst schon sehen. Sorg nur dafür, dass sie leise ist, ja?“

„Leicht gesagt. Immer muss ich mich um alles kümmern“, maulte Obligo. „Lass dich nicht sehen, Obligo!“, äffte er eine hellere Stimme nach. „Zerdrück sie nicht. Hauch sie bloß nicht an, lass sie nicht fallen, pass auf, dass sie nirgendwo dagegenknallt.“ Er blies eine Rauchwolke aus einem Nasenloch. „Warum muss ich immer alles machen?“

„Hast recht“, stimmte Samuel zu. Er konnte seine Aufregung kaum verbergen. „Immer du. Warum konnte keiner der anderen sie holen?“

„Pfft!“ Obligo pustete eine Flamme in den Nachthimmel. „Weil sie in einem Steinbaum wohnt, ganz oben drin“, sagte er. „Hehe. Da musste schon fliegen können. Und kräftig genug sein, um sie zu tragen. Jaja.“

„Steinbaum?“

„Die Dinger, wo die Menschen drinne sein tun.“

„Menschen?“, keuchte Samuel. „Du hast einen Menschen in dem Sack?“

Der Drache schlug sich eine Pranke vors Maul. „Upsi.“

Der Sack gab erneut Laute von sich. Er verlangte wohl nach Hilfe.

„Ein Mädchen?“, riet der Maulwurf.

Der Drache trat einen Schritt zurück und Samuel, der noch an der Zehe gelehnt hatte, plumpste in den Schnee.

„Hey, warte mal!“, rief der Maulwurf, während er sich aufrappelte. „Was ist das denn für eine Geschichte? Du hast ein Mädchen geraubt, gib’s zu!“

„Nein, hab ich gar nicht!“, rief der Drache. Die Geräusche aus dem Sack wurden immer lauter, aber jetzt kamen sie von weit oben. Offenbar hatte Obligo seine Beute wieder über die Schulter geworfen.

„Eine Geschichte“, flüsterte Samuel ehrfürchtig.

„Das ist keine Geschichte!“, brüllte der Drache wütend. „Lass bloß die Finger von meinem Menschen, Ratte!“

„Maulwurf“, murmelte Samuel automatisch.

„Fressen ist Fressen“, dröhnte der Drache.

„Das wagst du nicht.“ Aber Samuel krabbelte Schritt um Schritt zurück.

„Ach nein?“ Der Drache holte tief Luft. „Es braucht ja keiner nich zu erfahren. Ein Eichhörnchen mehr oder weniger.“

„Maulwurf.“ Samuel tastete nach dem Loch, das in seinen Bau führte. Er musste jeden Moment dort sein. „Mach keinen Fehler, Obligo! Du solltest nur das Mädchen holen, kein angesehenes Waldtier fressen.“

„Ein kleines Häppchen zwischendurch … niemand wird es wissen.“

„Das Mädchen wird es wissen!“, rief Samuel. „Es kann mich hören.“

„Ach, können Menschen hören?“, fragte Obligo überrascht.

„Sie haben die besten Ohren von allen Lebewesen überhaupt!“, brüllte der Maulwurf, obwohl er noch nie einem Menschen begegnet war.

Obligo schien nachzudenken. Auch der Sack war still. Samuel tastete nach dem Loch.

„Was soll’s?“, sagte Obligo. Er stieß eine Feuersäule aus.

Im selben Moment tappte Samuels linke Pfote ins Leere. Er kippte um und fiel mit dem Hintern voran in seinen Bau. Die Flammen schossen dicht über ihn hinweg und kräuselten die Enden seiner Barthaare. Erschrocken blieb der Maulwurf liegen und rührte sich nicht.

„Huhu!“, rief Obligo. „Sami? Hallo? Hab ich dich erwischt?“ Der Bau erzitterte, als der Drache ein paar Schritte machte. „Ich seh dich nicht, also hab ich dich wohl aus Versehen gegrillt. Hm.“ Samuel zweifelte an seinem Gehör: Der Drache schluchzte laut auf. „Armer Kerl“, schniefte Obligo. „Warst ein prima Zuhörer und so. War immer nett, dich zu treffen. Tja. Ich frag mich, wie du wohl geschmeckt hättest. Hatte noch nie nich ein Meerschweinchen gefuttert.“

„Maulwurf“, hauchte Samuel.

„Tja, so ’n trauriges Ende aber auch“, sagte Obligo.

Dann hörte Samuel, wie der Drache seine ledrigen Flügel ausbreitete, und kalte Windböen fuhren in den Maulwurfsbau. Auch Samuel rappelte sich auf und krabbelte die Leiter hinauf zum Eingang. Er schlug die Tür zu und verriegelte sie.

„Von wegen Ende“, sagte er mit grimmigem Lächeln. „Soll mich doch ein Regenwurm beißen, wenn das kein Anfang ist. Der Anfang einer Geschichte. Ha!“

Z.V.I.T.H.

Was meinst du, was es ist?“, fragte Theodor. Er hoppelte hinter seinem Freund über den umgekippten Baumstamm, der die beiden Ufer des Flusses miteinander verband. Er musste laut reden, denn im Frühling war das Murmeln des Wassers zu einem Rauschen geworden. Manchmal war es schon nervig, wie schnell die Jahreszeiten im Zauberwald einander ablösten. Gestern hatten sie noch im Schnee gespielt.

„Vielleicht ist es ein geheimer Schatz?“, vermutete der Hase. „Irgendwas mit Gold und Edelsteinen?“

„Naaah.“ Knaster rümpfte die Nase. „Muss was anderes sein. Das ist das erste Mal, dass alle Zauberwesen sich zusammentun. Ich hab noch nie gesehen, dass ein Drache mit einem Riesen redet. Oder ein Einhorn freundlich zu einem Greif ist. Da ist irgendwas im Busch, sag ich dir. Sogar meine Koboldverwandten sind komisch drauf. Sie grüßen die anderen, reden nur Gutes hinter ihrem Rücken, laufen tagsüber rum, klauen kaum …“

„Hast recht“, stimmte Theodor zu. „Da geht irgendwas vor. Aber was?“ Der Hase hielt an und stellte sich auf seine Hinterpfoten. „Du meinst nicht … Es wird keinen Kampf geben? Zwischen euch und uns? Zwischen den Fantastischen und den Waldtieren?“

Knaster blieb ebenfalls stehen. Seine Koboldohren zuckten und die großen Kugelaugen huschten über Blätter und Gräser, nur ins Gesicht des Hasen blickten sie nicht. „Glaub nicht. Nö. Wozu auch?“

„Du weißt doch, wie die sind“, sagte Theodor und ließ dabei die Ohren hängen. „Erwachsene!“

„Jaaa“, sagte Knaster. „Aber kämpfen würden die nicht. Sie spielen sich gegenseitig Streiche, schimpfen übereinander und sie reden viel, aber –“

„Meine Mama ist jetzt auch bei den Tierischen Helden“, murmelte Theodor.

„Oh.“ Der Kobold ging ein paar Schritte weiter, bis er merkte, dass der Hase ihm nicht folgte. „Kommst du?“

„Klar. Sicher. Hab schon gedacht, du bist mir böse.“

„Wieso? Ist ja deine Mama, nicht du.“

Der Hase nickte emsig. „Schon. Stimmt ja. Trotzdem …“

Trotzdem war es eigenartig, dass seine Mutter ein Mitglied der Z.V.I.T.H. war und sein bester Freund ein Kobold. Die Mitglieder der Z.V.I.T.H. waren ausschließlich Waldtiere. Igel, Füchse, Wölfe, Hirsche, Wildschweine und viele andere hatten sich zur Zentralen Vertretung der Interessen Tierischer Helden