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Ham ist entsetzt: Da stehen Monster am Waldrand! Sie sind fünfmal so groß wie sein Freund, der Bär. Sie haben endlos lange Hälse und furchtbar spitze Zähne. Sie fressen die Bäume auf. Wo kommen sie nur her? Und viel wichtiger: Wie wird man sie wieder los? Ham braucht ganz dringend einen Plan.
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Seitenzahl: 178
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Sometimes someone is so big the world around them has to grow …
To Ray Peat
Ein mutiges Wagnis
Ungeheuer am Waldrand
Als Ham aufwachte, war es noch dunkel. Das war natürlich ein Versehen. Er stand selten auf, bevor ihn jemand zwickte oder schüttelte. Manchmal erledigte das seine Schwester Feder, meistens sein bester Freund Flöckchen. Aber da war es immer schon hell. Ham war nicht nachtaktiv. Er gruselte sich sogar vor dem finsteren Wald. Das konnte er aber nicht zugeben. Es war zu peinlich für einen Wolf.
„Huuhuu“, rief der Uhu über Hams Kopf. „Wer ist denn da wach? Guuhuuten Morgen, kleiner Ham!“
„Guten Morgen, Herr Uhu“, sagte Ham höflich und unterdrückte ein Gähnen. „Mich hat ein Geräusch geweckt … Aber ich bin nicht mehr klein, wissen Sie? Ich hab schon meine eigene Höhle.“
„Uh-hu“, machte der Uhu. „Mein Fehler. Wo ist denn deine Höhle?“
Ham drehte sich im Kreis. „Na hier“, sagte er stolz. „Das ist meine Höhle.“
„Uh“, machte der Uhu und unterdrückte ein Kichern. „Duhuu meinst das Erdloch, in dem duhuu stehst?“
„Das nennt man Höhle, Herr Uhu“, erklärte Ham gekränkt.
„Wenn duhuu es sagst.“
„Morgen, Morgen, Morgen“, schnatterte das Eichhörnchen dazwischen. „Sehr gesund, so früh wach zu sein, kann ich nur sagen. Einzige Zeit, um Nüsse und Beeren zu finden, bevor die blöden Vögel sie anpicken. Sehr friedlich der Wald, so im Zwielicht, wenn ihr mich fragt. Das Gezwitscher geht erst später los. Äußerst nervig, hab ich nicht recht? Warum müssen Vögel ständig schnattern? Blablablabla. Als hätten sie so viel Interessantes zu erzählen! Übrigens hat mir ein Vogel was erzählt … was war’s doch gleich? Irgendeine Nachricht für irgendwen? Furchtbar wichtig angeblich.“
„Was denn für eine Nachricht?“, fragte Ham neugierig.
„Keine Ahnung“, sagte das Eichhörnchen. „Weißt du’s?“
Ham seufzte. Nichts war mühsamer, als sich mit einem Eichhörnchen zu unterhalten. Der Uhu drehte seinen Kopf so weit, dass er sein eigenes Hinterteil betrachten konnte. Die Unterhaltung war eindeutig unter seiner Würde.
„Wahrscheinlich war’s nicht so wichtig“, tröstete Ham das Eichhörnchen. „Sonst hättest du’s nicht vergessen.“
„Was denn vergessen?“, fragte das Eichhörnchen ohne Interesse und sprang hektisch von Ast zu Ast. „Habt ihr irgendwo Nüsse gesehen?“
In dem Moment hörten sie es alle – das Geräusch, das Ham geweckt hatte. Sie erstarrten und lauschten, Felle und Federn gesträubt.
„W-w-was war d-das denn?“, fragte Ham zitternd.
„Uhuuu“, machte der Uhu unbehaglich.
Das Eichhörnchen sagte – wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben – gar nichts.
„So w-was hab ich noch n-nie gehört“, stammelte Ham.
„Uhhh.“
Das Eichhörnchen schwieg.
„D-das war g-gruselig“, sagte Ham.
„Uh“, stimmte der Uhu zu.
Sie lauschten, doch das Geräusch war nicht noch einmal zu hören.
„Vielleicht gab es irgendwo einen Felsrutsch“, überlegte Ham. „Es hat sich angehört, als würden Steine aneinanderschrammen.“
„Schlimmer“, hauchte der Uhu. „Das war – huuu – was Lebendiges. Was – huuu – Großes.“
Ham schluckte. Er wusste, dass der Uhu recht hatte. Ein Tier hatte dieses Geräusch ausgestoßen. Es war auch nicht schwer, sich vorzustellen, wie dieses Tier aussah: Es war garantiert stärker als ein Stier, wilder als ein Wolf und brutaler als ein Bär. Es war über und über mit Stacheln bedeckt, hatte zahlreiche Hörner auf dem Kopf, mehr Beine als eine Spinne und an jedem krumme Krallen. Seine Zähne waren spitz und lang und es konnte höchstwahrscheinlich fliegen. Gut möglich, dass es außerdem giftig war.
Vermutlich war es ganz in der Nähe und wartete nur darauf, sie alle aufzufressen. Ham sah sich um und betrachtete den Wald mit neuen Augen. Er fühlte sich wie Beute und das war das Letzte, was ein Wolf fühlen wollte. Um Ham herum wogten Zweige im zaghaften Wind. Ihre schwarzen Umrisse winkten wie gefährliche Tatzen. Junge Farne verbeugten sich, um sich gleich wieder aufzurichten, als spielten sorglos unsichtbare Pfoten mit ihnen.
Über Hams Kopf flog elegant eine Fledermaus durch den Nachthimmel. Der Anblick jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Die Fledermaus zog eine enge Kurve, kehrte um und hängte sich mit dem Kopf nach unten an einen Ast über Ham. Es handelte sich um ein weibliches Prachtexemplar der äußerst seltenen Bechstein-Fledermaus oder Myotis bechsteinii. Wie die meisten vom Aussterben bedrohten Tiere war sie ziemlich eingebildet und ließ sich gerne mit ihrem vollen lateinischen Namen ansprechen. Trotzdem hätte sie nichts gegen ein gelegentliches Schwätzchen mit herkömmlichen Waldtieren gehabt. Sie bemühte sich sogar, die ungehobelte Sprache gewöhnlicher Viecher zu benutzen. Oder das, was sie dafür hielt …
„Eeey, Loide!“, rief sie gut gelaunt. „Habt ihr euch auch diesen Krach vorhin reingezogen? War voll krass, hä? Ich kann euch verklickern, wasses war. Sperrt mal die Lauscher auf, ey!“
Leider sprach niemand Ultraschall, also verstand keiner, was sie sagte. Es war immer dasselbe. Beleidigt flog das Bechstein-Fledermaus-Weibchen davon.
„Jemand sollte nachsehen, was es war“, meinte Ham. Er beäugte den Uhu. „Am besten jemand, der fliegen kann …“
„Huuhuu. Oder jemand, der rasend schnell klettern und springen uhuund sich fast lauhuutlos bewegen kann“, warf der Uhu ein und drehte den Kopf, bis er das Eichhörnchen ansah.
Dessen Fell sträubte sich, seine Augen wurden riesengroß. Es hielt die Luft an – und kippte wie eingefroren von seinem Ast. Mit einem leisen Rascheln landete das Tierchen im Laub.
„Huuh. Er ist auhuufgeschlagen wie ein Stock“, stellte der Uhu fest. „Ohne zuhuu zucken. Schätze, den können wir vergessen, huuu?“
„Dann sehen Sie nach, Herr Uhu?“
„Huuu.“ Der Uhu plusterte sich auf. „Bin ich ein Wolf oder was?“
„Genau genommen bin ich das auch nicht“, setzte Ham an.
„Huuu! Erspar mir deine Familiengeschichte“, unterbrach ihn der Uhu. „Ich war dabei, als deine Mama dich in der Bauhuumhöhle gefunden hat. Sie hat dich als Wolf großgezogen und angeblich bist duhuu groß. Also sei ein Wolf! Huuu.“
„Eigentlich –“, setzte Ham wieder an.
„Duhuu hast sogar deine eigene Höhle, Wolf. Also geh gefälligst und sieh nach, wer im Zwielicht duhuurch den Wald schleicht und komische Lauhuute von sich gibt. Als es das letzte Mal passiert ist, bist duhuu bei uhuuns aufgetaucht.“
Ham schluckte. Er sah ein, dass er der Aufforderung folgen musste. Sonst würde ihn der ganze Wald für einen Feigling halten. Jeder wusste, dass Vögel einfach nicht den Schnabel halten konnten. Es war ein Vogel gewesen, der sich verplappert und das große Geheimnis um Ham enthüllt hatte.
Ham war nämlich der merkwürdigste Wolf, den es je gegeben hatte. Er war auf einem Bauernhof zur Welt gekommen. Seine Mutter war ein Schaf und ihre Wolle so weiß wie die Blumen, die sie am liebsten fraß. Hams Fell hingegen war schwarz wie die Federn eines Raben bei Nacht. Die Tochter des Bauern hatte Ham im Wald ausgesetzt und die Rudelführerin der Wölfe hatte ihn gefunden und großgezogen.
Äußerlich sah Ham vielleicht aus wie ein Schaf, doch in seinem Herzen war er ein Wolf. Ein Wolf, der beim Laufen schnell aus der Puste geriet, nie auf die Jagd ging, gerne Gräser fraß und sich im nächtlichen Wald fürchtete …
Ham nahm seinen ganzen Mut zusammen und tapste ins dunkle Samtblau zwischen den Bäumen. Er streifte Nadelzweige, zerriss Spinnennetze, in denen silbern schimmernde Tautropfen funkelten, und zerdrückte bei jedem Schritt Krokusse, Veilchen und Schneeglöckchen. Moospolster umarmten Hams Hufe und die frischen Triebe der Laubbäume kitzelten seine Nase. In den Wipfeln der Bäume erwachten die ersten Vögel und zwitscherten Frühlingslieder. Bis …
… erneut das seltsame Geräusch ertönte und der ganze Wald erstarrte. Die Vögel verstummten und selbst der Wind schien den Atem anzuhalten.
Diesmal war es nicht mehr weit von Ham entfernt gewesen. Jedes schwarze Löckchen – und auch die paar weißen auf seiner Stirn – stand von seinem Körper ab und ließ Ham aussehen wie ein frisch geschlüpftes Eulenbaby. Vielleicht war es ja doch besser, ein lebendiger Feigling zu sein als ein toter Held? Wäre Hams Schwester nicht Feder gewesen und Feder nicht so furchtbar furchtlos – er wäre umgekehrt. Doch Feder hätte davon erfahren und sich darüber lustig gemacht. Jeden Tag. Für den Rest seines Lebens. So waren Geschwister nun mal. Darum zwang Ham sich weiterzulaufen, bis er zum Fluss kam. Irgendwo hier musste das Monster sein.
„Hallo?“, rief Ham und sah sich um. „Hallo, ist hier jemand?“
Das dunkle Blau war nun einem dunklen Grau gewichen und er konnte die Umrisse der Bäume und das Ufer erkennen. Der Fluss gurgelte unruhig, als hätte er es dem Winter übel genommen, dass der ihn eingefroren hatte. Über Ham flogen lautlos zwei Fledermäuse. Nirgendwo konnte er das Ungeheuer sehen, das den Wald in Angst und Schrecken versetzte.
„Äh … Ungeheuer?“, rief Ham vorsichtig.
Ein älterer Eichelhäher antwortete ihm: „Guten Morgen, junger Wolf. Hast du wohl geruht?“
„Äh ja, danke“, sagte Ham abgelenkt. „Haben Sie zufällig ein Monster gesehen, Herr Eichelhäher?“
„Wie sieht es denn aus?“
„Riesig und hässlich, mit Borsten und Stacheln und Giftzähnen. Glaube ich.“
„Ah“, sagte der Eichelhäher. „Ein ganz normales Standard-Monster also. Nein, tut mir leid, das habe ich nicht gesehen. Ist es gefährlich?“
„Sehr“, sagte Ham. „Glaube ich.“
„Ah. Ist es in dem Fall klug, ihm hinterherzulaufen?“, fragte der Eichelhäher. „Es klingt, als bestünde die dringende Gefahr des Gefressenwerdens.“
„Das stimmt wahrscheinlich“, gab Ham zu. „Aber ich bin ein Wolf und wir sind furchtlos …“
„Hm. Das erklärt, warum ihr immer seltener werdet.“
Ham wusste nicht, was der Vogel damit meinte. Er wandte sich um und wollte dem Flusslauf folgen, als –
Das Geräusch ertönte. Laut und deutlich und direkt hinter und über ihm. Ham machte einen Katzenbuckel und riesengroße Augen. Langsam wandte er sich um und erwartete, das Monster zu sehen. Nur – da war keines. Einzig der Eichelhäher saß auf seinem Ast, hatte den Kopf zurückgeworfen, den Schnabel weit aufgerissen und … nun, er machte das Geräusch. Als der Eichelhäher damit fertig war, sah er Ham selbstzufrieden an.
„Ziemlich beeindruckend, was?“
„Das ist das Geräusch!“, rief Ham und war so erleichtert, dass er beinahe in Ohnmacht fiel. „Und wir haben gedacht, es wäre ein Monster! Dabei waren das nur Sie, Herr Eichelhäher.“
„Oh, dieses Monster hast du gemeint? Das diesen Schrei ausstößt? Ja, das habe ich gesehen. Es gibt ein ganzes Rudel davon. Sie sind drüben am Waldrand. Und sie fressen Bäume und machen große Haufen.“
„Hä?“ Ham verstand kein Wort.
Der Eichelhäher verdrehte die Augen. Er holte Luft und zwitscherte ein liebliches Liedchen. Ham lauschte.
„Das“, erklärte der Eichelhäher dann, „ist der Ruf eines Eichelhähers. Garantiert kein Gänsehaut erzeugender Laut, nicht wahr? Deshalb machen wir die Rufe von anderen Tieren nach. Und diese Monster haben den furchterregendsten Schrei, den ich je gehört habe. Findest du nicht?“
Ham antwortete nicht.
„Was ist denn los, junger Wolf? Warum so betrübt? Ich kann dir zeigen, wo du deine Monster findest. Ist das nicht fein?“
Bei Ham wollte sich keine rechte Begeisterung einstellen. Ein ganzes Rudel von Monstern! Am liebsten wäre er so schnell wie möglich zu seiner Wolfsmama gelaufen, um sein ganzes Rudel zu alarmieren und seinen Freund, den Bären, aus dem Winterschlaf zu wecken und überhaupt alle Waldtiere zusammenzutrommeln. Nur: Was sollte er ihnen erzählen? Zuerst musste Ham die Monster mit eigenen Augen sehen.
„Können Sie mich hinführen?“, fragte er den Eichelhäher und befürchtete, es wären womöglich seine letzten Worte.
„Selbstverständlich“, zwitscherte der Vogel und flog los.
Lange musste Ham ihm nicht folgen. Die Monster waren näher, als er befürchtet hatte. Er war dem Eichelhäher bloß ein Stück flussaufwärts gefolgt, ehe die Bäume dünner wurden. Merkwürdig – war der Waldrand schon immer so nahe gewesen? Erst da erkannte Ham, dass der Boden übersät war mit Baumstümpfen, die von einer unermesslichen Kraft aus dem Erdreich gerissen worden waren. Hatte hier ein grauenhafter Sturm getobt? Ein Orkan, stark genug, um Eichen und Föhren zu entwurzeln? Doch es war kein Sturm gewesen, denn da, mitten in den Baumskeletten, ragten sie auf: die Ungeheuer.
Sie waren schlimmer als alles, was Ham sich vorgestellt hatte. Manche waren gut fünfmal so groß wie ein Bär. Sie hatten endlos lange Hälse und Zähne, die so gigantisch waren, dass sie aus ihren Mäulern herausragten. Ein Geruch umgab sie, den Ham nicht einordnen konnte: nach verbrannter Erde, nach fauligem Wasser, nach stickiger Luft. Es roch wie das Ende von etwas Gutem.
„Sie schlafen wohl“, vermutete der Eichelhäher.
„Oder sie liegen auf der Lauer“, sagte Ham leise.
Vollkommen reglos standen die schaurigen Giganten in den Spuren ihrer Verwüstung. Ham stellte sich vor, sie zu bekämpfen, und wusste, dass sein ganzes Rudel nicht ausreichen würde, um gegen diese Ungeheuer zu bestehen. Sie würden zehn Wolfsrudel und zwanzig Bären brauchen, um auch nur den Hauch einer Chance zu haben.
Friedlich schob sich die Sonne über den letzten Hügel und warf ihr warmes Licht auf die Monsterherde. Jetzt entdeckte Ham, dass sich dort unten etwas regte. Da waren andere Lebewesen, kleinere, die zwischen den Monstern herumliefen.
„Menschen“, keuchte Ham verblüfft. „Was tun die denn da? Die Monster werden sie fressen!“
Ham hatte den Wald einmal verlassen und auf dieser Reise auch Menschen getroffen. Er mochte sie nicht besonders. Dennoch wollte er nicht dabei zusehen, wie die Monster ihnen das antaten, was sie mit den Bäumen gemacht hatten. Bisher bewegten sich die Riesen jedoch nicht. Die Menschen kletterten sogar auf ihnen herum. Bis plötzlich ein mehrstimmiges Knurren ertönte und die ersten Ungeheuer die Augen aufrissen. Die leuchteten in so grellem Licht, dass Ham sie trotz der Sonne erkennen konnte. Ein Monster hob den langen Hals, ein anderes setzte sich in Bewegung und walzte auf die kleine Anhöhe zu, auf der Ham stand.
Ein weiteres riss den Schädel hoch und die Kiefer mit den gewaltigen Zähnen auseinander und stieß den Laut aus, den der Eichelhäher nachgeahmt hatte. Einen Laut, wie er fürchterlicher nicht hätte sein können und wie er nie in einem Wald zu hören sein sollte: „Kzkzkzkzkzkz-Zsssrrrrrrrrrr.“
Die Erfindung des Rates
Natürlich versammelten sich die Tiere des Waldes nicht regelmäßig, um Rat zu halten. Dafür waren sie einfach zu verschieden. Die einen fraßen Fleisch, die anderen … bestanden aus Fleisch und hatten etwas dagegen, gefressen zu werden. Doch es gab Ereignisse, die über dem Alltäglichen standen. Zumindest fand Ham, dass es so sein sollte, und berief den Rat der Tiere ein.
Zuerst alarmierte er seine Freunde: den Rehbock Flöckchen, der widerstrebend die Grashalme stehen ließ, über die er sich hermachen wollte.
„Alter, muss das heute sein?“, maulte Flöckchen zwar, machte sich aber auf den Weg.
Den Bären, der zuerst ausgiebig rülpste und pupste, wie immer, wenn er aus dem Winterschlaf erwachte. „Früüühling?“, gähnte er, dicht gefolgt von: „Früüühstück?“
Pastor, den alten Hirtenhund, der sich gerade bei einem kleinen Nickerchen von den Anstrengungen des ersten Aufwachens erholte. Die Hasenfamilie, die versprach, alle kleinen Nagetiere zu informieren. Sogar den Fuchs besuchte Ham, obwohl er ihn nicht leiden konnte.
„Monster, sagste?“, fragte Ignatius. „Dunnerlittchen! Ich hab gedacht, die wären ausgestorben.“
Erst danach lief Ham zu seiner Mutter. Die Rudelführerin der Wölfe lag im Höhleneingang und sah aus halb offenen Augen zu, wie ihre Tochter Feder sich mit ihren beiden Brüdern balgte. Es sah aus, als würde Feder gewinnen. Als Rhea Ham entdeckte, sprang sie auf und lief zu ihm, um ihm übers Fell zu lecken.
„Ham, mein Kleiner!“, rief sie glücklich. „Hast du’s dir anders überlegt? Ziehst du zurück nach Hause?“
„Nein, Mama, es geht um was ganz Wichtiges“, rief Ham und leckte zurück. „Feder! Wolke! Brise!“, rief er seine Geschwister. „Ich muss euch dringend was erzählen.“
Viel Zeit blieb ihm nicht dafür, denn er hatte seine Freunde gebeten, jedes Tier, das sie finden konnten, zur Moos-Lichtung zu schicken. Auf dieser Lichtung hatten sich die Waldtiere schon einmal versammelt, um zu beraten, was mit einem seltsamen, unbekannten Wesen geschehen sollte: mit Ham nämlich.
Am Rande der moosbedeckten Waldwiese stand der hohle Baumstamm, in dem er einst ausgesetzt wurde. Als die Sonne heute, genau wie damals, ihre Strahlen durch den schützenden Schirm aus Blättern und Nadeln warf und Muster auf den Moosboden malte, da stand Ham auf ebendiesem Baumstamm. Seine Wolfsfamilie umringte ihn, deshalb fühlte er sich viel mutiger. Er erzählte den versammelten Waldbewohnern, was er gesehen hatte.
„Vergesst nicht, dass es ein ganzes Rudel ist“, schloss Ham. „Monster, die Eichen mitsamt ihren Wurzeln ausreißen können. Und sie sind schon ganz nah. Sie fressen die Bäume am Waldrand und deshalb kommt der Rand immer näher. Wir müssen etwas unternehmen, bevor es zu spät ist …“
„Sind’s vielleicht Drachen?“, fragte der Bär. „Meine Mama hat mir immer von Drachen erzählt. Dass sie unbesiegbar sind und fliegen und Feuer speien und … unartige, kleine Bären fressen.“
„Ich glaube nicht, dass diese Monster fliegen können“, sagte Ham. „Und Feuer hab ich auch nicht gesehen. Ich glaube, sie fressen vor allem Bäume.“
Danach schwiegen alle Tiere und warfen einander Blicke zu. Ham konnte es ihnen nicht verdenken. Die Nachricht war schwer zu verdauen. Schwerer als die halb gefrorenen Beeren, die Ham gefrühstückt hatte. Diese Bedrohung ging alle an und sie würden zusammen dagegen kämpfen müssen. Endlich piepste eine Maus.
„Die Sache ist die“, sagte sie etwas verlegen. „Das mit den Monstern … ähm … das wussten wir schon.“
Diese Nachricht musste Ham erst einmal verdauen.
„Was?“, keuchte er. „Warum habt ihr das niemandem erzählt?“
„Äh … nun … also …“, stammelte eine andere Maus. „Das sind keine bösen Monster, weißt du? Die sind eigentlich ganz lieb. Sie fressen nur Bäume und davon gibt’s bei uns ja wirklich genug.“
Ham sah seine Mutter an. Rhea war eines der angesehensten Waldtiere. Wenn sie sprach, hörte jeder zu. Sie wusste immer, was zu tun war und wie man es anstellte, dass am Ende alles gut wurde. So waren Mütter nun mal. Rhea war außerdem Rudelführerin und traf die Entscheidungen. Und das tat sie auch jetzt. Nur war es keine Entscheidung, mit der Ham gerechnet hatte: Rhea wandte ihren großen grauen Kopf mit den klugen Augen Feder zu. Kaum merklich senkte sie ihr Haupt und sagte leise, aber deutlich: „Feder?“
Hams Schwester reckte ihre Brust. Ham fiel auf, dass Feder schon wieder gewachsen war. Noch war sie nicht so groß wie ihre Mutter, doch ihre drei Brüder überragte Feder mit Leichtigkeit. Fast hätte Ham laut aufgelacht. Was sollte seine Schwester denn sagen? Sie hatte die Monster nicht einmal gesehen.
„Äh“, setzte Feder an. Rhea nickte aufmunternd. Feder räusperte sich und klang dann irgendwie anders. Viel ernster und größer und schwerer als sonst: „Was ist denn lieb daran, dass diese Viecher Bäume fressen?“
Die Frage war nicht dumm, musste Ham zugeben. Wie kam es, dass ihn das ein bisschen enttäuschte? Vielleicht, weil Rhea ihre Tochter so stolz ansah? Und das, obwohl es Ham gewesen war, der sich im finsteren Wald den Monstern gestellt hatte? Er suchte den Blick seines Freundes, doch Flöckchen schien nicht ganz bei der Sache zu sein. Er sah sich ständig um, als erwartete er, dass die Monster aus dem Unterholz stürmen würden.
„Also, vielleicht sind die Monster nicht direkt lieb“, gab die Maus zu. „Zumindest nicht zu den Bäumen. Aber bei den Ungeheuern leben Menschen. So wie Zecken oder Flöhe bei Füchsen und Wölf…“ Sie unterbrach sich, als der Fuchs laut und einige Wölfe leise knurrten. Niemand gab gerne zu, dass er unliebsame Mitbewohner im Fell hatte. Die Maus bleckte die Zähne. „Äh … ich meine: Die Menschen teilen mit uns, was sie fressen. Lassen die Sachen überall rumliegen. Es ist wie im Mäuseparadies.“
Tatsächlich waren die Mäuse ungewöhnlich fett für diese Jahreszeit, wie Ham auffiel.
„Was lassen sie denn liegen?“, fragte Feder misstrauisch.
„Schwer zu beschreiben“, meinte der Fuchs. „Aber äußerst lecker, ne?“
„Sie haben die Monster auch gesehen?“, rief Ham. „Mir haben Sie gesagt, die wären ausgestorben.“
„Tja, nu, lütter Wolf“, meinte Ignatius leicht betreten. „Monster is so ’n gemeines Wort. Abnorm große, merkwürdig geformte Tiere, die unglücklich übel klingende Laute ausstoßen – das wäre vielleicht angemessener. Wir wollen doch keinen beleidigen, ne?“
„Exakt“, rief eine Wacholder-Drossel von einem höher gelegenen Ast und alle hoben die Köpfe, um sie anzusehen. „Mein Nest besteht fast nur aus Sachen, die ich bei den Monstern gefunden habe. Die hübschesten Farben! Und wasserdicht, so was hab ich noch nicht erlebt!“
„Manche von den Fress-Sachen“, meldete sich der Marder zu Wort, „schmecken wie Walderdbeeren. Nur besser. Andere sind salzig und knusprig. Einmal habe ich weißes Wasser gefunden, aber dicker als Wasser. Es war himmlisch.“
Die Mäuse nickten eifrig. „Ich werde nie vergessen, wie diese braunen Holzstückchen geschmeckt haben. Es war gar kein Holz, wisst ihr? Viel weicher war es. Und jeder Bissen war … war … wenn ich daran denke, dann könnte ich …“ Die Maus fing an zu weinen. „Wie wunderbar wäre das Leben, wenn ich noch einmal davon kosten dürfte.“
„Verräter!“
Klar wie das letzte Eis des Winters schnitt dieses Wort durchs Stimmengewirr. Die Tiere verstummten und blickten den Hirsch an. Sein prächtiges Geweih ragte dem Blätterdach entgegen wie ein kahler Baum. Er sah sich um und schnaubte verächtlich. „Für ein süßes Stück Holz verrätst du deine Art, Maus? Und du, Fuchs? Die Menschen teilen mit euch, sagt ihr? Sie füttern euch, sage ich!“
Entrüstetes Zischen und entsetztes Prusten hallte aus den Reihen der Tiere. Füttern musste man nur die ganz Kleinen, die, die nicht für sich selbst sorgen konnten. Die schlimmste Schmach für ein ausgewachsenes, gesundes Tier war, auch nur daran zu denken, dass es gefüttert werden musste!