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Kalt ist es im Zauberwald und dunkel. Eine geheimnisvolle Bedrohung überschattet den Zauberwald. Das Ende steht bevor. Nur eine uralte Prophezeiung verspricht Rettung. Der Elfenkönig muss von einer Braut erwählt werden. Doch welche ist die richtige? Vielleicht Ariane, das Menschenmädchen? Während sich Ariane auf den Weg in den Zauberwald macht, beginnt ein Wettlauf mit der Zeit …
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Seitenzahl: 195
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Inhalt
Ein hormonischer Sonntag
Der Lebensbaum
Helden gesucht
Machtwechsel
Eine Krone für den Drachen
Die Prophezeiung
Es war einmal
Eine zündende Idee
Zwei Seiten des Spiegels
Ende eines Giganten
Rückkehr in den Zauberwald
Die Mission der Kobolde
Im Wasserpalast
Linguas letzter Dienst
Ortus
Ein hormonischer Sonntag
Es gibt Tage, an denen auch das schönste Frühlingswetter nichts nützt. Da kann sich die Sonne noch so sehr ins Zeug legen und die letzten schmutzigen Schneereste wegputzen. Vergeblich zaubern Krokusse, Primeln und Schneeglöckchen bunte Farbkleckse in die Parks. Die Knospen an den Bäumen, der Gesang der Vögel und der Duft der neuen Blüten bleiben unbemerkt.
Im achten Stock eines Mietshauses mitten in der Stadt waren die Vorhänge in den Schlafzimmern zugezogen, die Betten nicht gemacht und die vierköpfige Familie saß in Pyjamas und Nachthemden am Küchentisch. Bislang hatte an diesem Sonntagvormittag keiner auch nur einen Blick aus dem Fenster geworfen. Mit großen Augen beobachteten die beiden Kinder, wie ihre Mutter das fünfte Brötchen verzehrte, das sie fingerdick mit Marmelade beschmiert und mit einer Gurke verziert hatte.
Das Mädchen mit den langen, dunklen Haaren und den tiefblauen Augen warf seinem Bruder einen verstohlenen Blick zu. Ariane und Erik hatten sich daran gewöhnt, dass Linda alles verschlang, was sich nicht schnell genug in Sicherheit brachte. Ein paar Mal hatte sich Ariane sogar bei dem Gedanken ertappt, dass sie froh war, keine Haustiere zu haben. In einem ihrer Heißhungeranfälle hätte Linda wahrscheinlich auch vor gebratenem Meerschweinchen nicht haltgemacht. So etwas durfte Ariane natürlich nicht laut sagen, nicht einmal als Witz. Ihre Mutter und Joachim fanden solche Witze zurzeit gar nicht witzig. Gerade das kam Ariane äußerst komisch vor. Bis vor vier Monaten war das nämlich vollkommen anders gewesen.
Damals waren Arianes Mutter und Eriks Vater durchaus bereit gewesen, bei Kissenschlachten und Kitzel-Attacken mitzumischen und die Sonntagvormittage vor dem Fernseher oder mit Spielen zu verbringen.
Geändert hatte sich das erst an einem verregneten Tag im November des vergangenen Jahres. Joachim und Linda hatten das Wohnzimmer festlich geschmückt und ihren Kindern strahlend verkündet, dass sie in sieben Monaten ein Geschwisterchen bekommen würden. Bevor es so weit war, wollten die beiden auch noch heiraten.
Erik war vor Freude durchs Wohnzimmer gehüpft. Ariane hingegen hatte nur still gelächelt und die Papiergirlanden über ihrem Kopf betrachtet. Ein Geschwisterchen also. Schon damals hatte sie sich gefragt, was das wohl für sie bedeuten würde.
Ariane hatte Joachim sehr gern und sein Sohn Erik war ihr Bruder, auch wenn sie ihn erst vor drei Jahren kennengelernt hatte. Was jedoch, wenn Erik eine richtige Schwester oder einen richtigen Bruder sehr viel lieber hatte als seine zwölfjährige Stiefschwester? Würde Linda und Joachim ihr gemeinsames Kind vielleicht auch mehr bedeuten? Früher hatte Ariane nie daran gezweifelt, dass sie für ihre Mutter der wichtigste Mensch auf der Welt war. Doch Ariane war auch die Tochter ihres Vaters, und der hatte sich verdrückt, als sie noch nicht einmal geboren war.
Seit jenem Tag vor fünf Monaten achtete Ariane genau darauf, wie sich Linda ihr gegenüber verhielt. Zuerst einmal hatte Linda furchtbar viel geschlafen. Nicht nur, dass sie bei Weitem später aufstand als früher. Sie hielt auch im Laufe des Tages immer wieder Nickerchen. Lange hatte es nicht gedauert, bis Linda obendrein anfing, sich seltsam zu benehmen.
Manchmal kam es Ariane so vor, als wäre ihre Mutter verreist und an ihrer Stelle wohne eine merkwürdige Fremde in ihrer Wohnung. Normalerweise war Linda Fameck eine Frau, die nichts umwerfen konnte. Sie hatte Ariane ganz allein großgezogen und sich trotzdem ihren Traum erfüllt, Zeichnerin zu werden und schließlich sogar Kinderbücher zu schreiben. Es gab keine Sorge, mit der Ariane nicht zu ihrer Mutter kommen konnte, und kein Problem, für das Linda keine Lösung fand, keinen Scherz, den sie nicht mitmachte, und kaum etwas Kindisches, für das sie sich zu erwachsen fühlte. Linda war nicht nur Arianes Mutter, sondern auch ihre beste Freundin. Diese Linda schien jedoch gerade Ferien zu machen.
Als hätte sie die Gedanken ihrer Tochter gelesen, legte Linda das Brautmagazin beiseite, in dem sie geblättert hatte. Sie betrachtete ihren Körper, legte die Hände auf ihren kugelrunden Bauch und fing an zu weinen.
Auch das war neuerdings nicht ungewöhnlich. Linda weinte oft: bei der Hundefutterwerbung im Fernsehen, wenn jemand einen Witz erzählte, wenn der Nachbar unten zu laut Musik hörte, wenn niemand Musik hörte … Nur bei Joachim brach jedes Mal Panik aus, wenn Tränen über Lindas Wangen liefen. Vielleicht hatte er Angst, sie könnte eine Überschwemmung auslösen? Er sprang auf, als hätte ihn ein Skorpion gestochen, und wollte gleichzeitig Lindas Schultern massieren, ihr ein Glas Wasser bringen, das Fenster aufmachen und ein Taschentuch holen.
„Ich bin zu fett!“, schluchzte Linda, während sich Joachim hilflos im Kreis drehte. „Ich passe nie in eins dieser Kleider. Sag die Hochzeit ab!“
Vor zwei Wochen hatte Joachim den Fehler gemacht, diese Aussage ernst zu nehmen. Er hatte alle Gäste angerufen und ihnen abgesagt. Als Linda davon erfuhr, sperrte sie sich stundenlang im Klo ein und weinte. Daraufhin musste Joachim alle anrufen und sie wieder einladen.
„Aber Schatz, das sind nur die Hormone“, erklärte er jetzt.
Seit Monaten bemühte Joachim die Hormone. Sie waren die Entschuldigung für alles. Wenn Linda Ariane vorwarf, dass sie ihr Zimmer nicht aufgeräumt hatte, obwohl dort bloß drei Bücher auf dem Bett lagen. Wenn Erik vergessen hatte, in den Ecken Staub zu saugen, und Linda deshalb ganz außer sich geriet. Für Lindas Verdauungsprobleme waren sie verantwortlich und manchmal selbst für das schlechte Fernsehprogramm. Sogar für Eriks Verhalten waren laut Joachim ausschließlich Hormone zuständig.
Arianes Stiefbruder war nicht schwanger, sondern dreizehn Jahre alt. Für Ariane bedeutete das, dass er sich jetzt lieber mit seinen Freunden herumtrieb als mit ihr. Vor ein paar Tagen hatte sogar jemand angerufen, der sich eindeutig wie ein Mädchen angehört hatte. Erik hatte eine Stunde mit diesem Mädchen telefoniert und dabei gekichert. Doch als Ariane ihn gefragt hatte, ob das Mädchen seine Freundin war, hatte er ihr die Tür vor der Nase zugeknallt.
Noch hatten Erik und Ariane eigene Zimmer. Doch auch das würde sich vielleicht bald ändern. Es gab nämlich kein zusätzliches Zimmer für das Baby. Wenn sie in zwei Monaten zur Welt kam, würde es eng werden in der Wohnung. Ja, sie – das Baby war ein Mädchen und würde Freya heißen. Erik hatte den Namen vorgeschlagen und das war ein Glück für das ungeborene Würmchen. Wenn es nach Joachim gegangen wäre, hätte es eine Kunigunde, Mechthild oder Peternella werden sollen. Ariane fand, solche Namen konnte nur ein Buchhändler ernsthaft für seine Tochter in Betracht ziehen.
Trotzdem war Joachim der Einzige, der immer noch ganz er selbst war. Schön, er unterhielt sich hin und wieder mit Lindas Bauch und war auch etwas rührseliger als sonst. Er hatte aber nicht vergessen, dass er eine Stieftochter hatte, die gerne las. Erst gestern hatte Joachim wieder einen Karton mit Büchern mitgebracht, die er in einem Antiquariat gekauft hatte. Ariane mochte alte Bücher. Sie stellte sich immer vor, wem sie früher gehört hatten und auf welchen verschlungenen Wegen sie bei ihr gelandet waren.
Am liebsten hatte sie fantastische Geschichten. Warum sollte sie Bücher lesen, in denen es um Probleme in der Schule ging oder mit Geschwistern und Eltern? Die kannte sie selbst zur Genüge. Wenn hingegen Drachen darin vorkamen oder Elfen, magische Welten und große Abenteuer, dann war es, als öffnete sich irgendwo eine Tür, die hinausführte aus dem Hier und Jetzt.
Ariane war durch diese Tür gegangen. Das war ein Geheimnis, das sie nur mit Erik teilte. Wie gerne hätte Ariane sich mit ihm zusammen an all die zauberhaften Dinge erinnert, die hinter der Tür auf der anderen Seite geschehen waren.
Sie wollte über den Drachen Obligo reden, sich fragen, was aus dem Hasen Theodor und seinem Koboldfreund Knaster geworden war. Ariane vermisste die Schlange Lukretia und die Wölfin Elvira, vor allem aber ihre Freundin, die junge Hexe Yvelle. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu dem Palast auf der Elfeninsel inmitten des Weidensees. Dorthin, wo der Elfenkönig Leandro über den Zauberwald herrschte.
Ariane war dort gewesen. Nicht in einem Traum, nicht in ihren Gedanken, sondern in Wirklichkeit. Sie wusste, dass sie sich das nicht nur einbildete, und war verletzt, weil Erik sich weigerte, darüber zu sprechen. Sobald Ariane den Zauberwald erwähnte, wurde Erik verschlossen und mürrisch. Mit keinem Wort gab er zu verstehen, dass er wusste, wovon seine Schwester sprach.
Vielleicht hätte Ariane irgendwann angefangen, an ihrem Verstand zu zweifeln. Wahrscheinlich hätte sie den magischen Wald jenseits der Weltengrenze längst für ein Gespinst ihrer Fantasie gehalten und sich für ihre überschäumenden Träume geschämt. Wenn, ja wenn es nicht die Zigarrenkiste in ihrem Zimmer gegeben hätte. Sorgsam war sie im Regal hinter den Büchern verborgen, damit niemand sie versehentlich entdecken konnte. Denn was sich in der Kiste befand, durfte keinem in die Hände fallen.
Auf den ersten Blick sahen die beiden kleinen Wesen aus wie Fellknäuel. Erst wenn man sie streichelte, streckten sich die Nubbel aus und zeigten ihre kleinen Hände und Füße und die großen schwarzen Augen. Es konnte gut sein, dass jemand auf den Gedanken verfiele, es handle sich um behaarte Raupen oder Tausendfüßler mit Fell. Es gab ja auch in der Menschenwelt genug ungewöhnliche Kreaturen. Die Heimat der Nubbel allerdings war der Zauberwald.
Das merkte man spätestens, wenn man sich einen von ihnen aufs Ohr setzte. Dort hielt er sich an der Ohrmuschel fest und steckte den Kopf hinein. Immer vorausgesetzt, der Nubbel hatte genug gefressen und geschlafen, konnte er Gedankenbotschaften übertragen. Dummerweise schaffte er es nur, drei Wörter zu verschicken und zu empfangen, ehe er wieder müde und hungrig wurde.
So einsam Ariane sich hin und wieder auch fühlte, sie hatte nie versucht, Botschaften in den Zauberwald zu schicken. Ihre Freunde dort besaßen keine Nubbel. Der Einzige, der auch ohne sie Gedankenbotschaften lesen und senden konnte, war der Elfenkönig. Ihn zu stören wagte Ariane nicht.
Nur ein anderes Wesen hatte früher auf Arianes Rufe reagiert: der Drache Obligo. Nun hatte sie seit fast einem Jahr nichts mehr von ihm gehört. Wie oft hatte sie an ihrem Fenster gestanden und den Horizont im Auge behalten, in der Hoffnung, die grünen Schwingen ihres Freundes dort auftauchen zu sehen. Vergeblich, es schien, als habe der Zauberwald Ariane vergessen.
Bei diesem Gedanken traten Ariane Tränen in die Augen. Sie schluckte sie zusammen mit dem Rest Tee in ihrer Tasse hinunter und sah zu, wie ihre Mutter das sechste Brötchen in Angriff nahm. Dabei erkundigte sich Linda, ob es noch eine Dose Thunfisch gäbe, die Joachim sofort aus dem Kühlschrank holte. Erik sprang vom Tisch auf, als das Telefon läutete, und Ariane stand auf, um das Frühstücksgeschirr zu spülen. Wie ein normales zwölfjähriges Mädchen an einem normalen Sonntagvormittag. Als wäre sie nie auf dem Rücken eines Drachen geflogen, als hätte sie nie mit einem Elfen gesprochen, als wäre sie nie einer Hexe begegnet.
Der Lebensbaum
Der Elfenkönig klammerte sich mit schmerzenden Händen am Federkleid des Greifs fest. Tief unter sich konnte er endlich die ersten Ausläufer des Hexenhügels erkennen. Leandro musste sich beherrschen, um nicht vor Erleichterung zu seufzen. Viel länger hätte er nicht mehr durchgehalten. Der Flug hatte ihn angestrengt. Hätte Irmelins Ruf weniger dringlich geklungen, wäre der Elfenkönig ihm wohl nicht gefolgt.
Erst ein Mal hatte Leandro das Dorf der Hexen besucht. Damals, um sich für ihre Hilfe zu bedanken. Jetzt wurde ihm bang beim Gedanken daran, was die Vorsitzende des Hexenrates ihm zu sagen hatte.
Die Hexen waren wunderliche Zauberwaldbewohner. Sie blieben meist unter sich und kümmerten sich nur dann um die anderen fantastischen Geschöpfe und Tiere, wenn diese krank oder verletzt waren. Niemand verstand mehr von den Kräutern, Wurzeln und Beeren des Waldes als sie. Darüber hinaus wusste selbst Leandro kaum etwas über die Hexen. Beinahe mühelos konnte er die Gedanken und Gefühle aller anderen Wesen lesen. Nur die Hexen blieben ihm fremd wie ein Lied in einer unbekannten Sprache. Er vernahm die Melodie, doch die Worte ergaben keinen Sinn. Fand er sie deshalb so faszinierend?
Seit ihrer letzten Begegnung waren die Gedanken des Elfenkönigs immer wieder zurückgekehrt zu Irmelin und ihrer Tochter Yvelle. Die Vorsitzende des Hexenrates verfügte über Wissen, das er nur erahnen konnte. Einerseits beunruhigten ihn die Geheimnisse, die sie vor ihm hatte. Andererseits setzte er nun gerade deshalb große Hoffnungen auf Irmelin. Mit seiner eigenen Weisheit war Leandro am Ende. Diesmal war er es, der den Hexen mit einem Geheimnis gegenübertrat. Einem Geheimnis, das er nicht einmal seinen engsten Vertrauten unter den Elfen zu offenbaren wagte. Lange würde es sich allerdings kaum verheimlichen lassen.
Der Greif hatte es schon bemerkt.
Verletzt?, fragte er, als er tiefer ging.
Der Greif hatte nicht gesprochen. Greife verständigten sich fast ausschließlich über ihre Gedanken. Die Erschöpfung des Elfenkönigs spürte er so deutlich, als wäre es seine eigene.
Nein, dachte Leandro.
Krank?
„Ich weiß es nicht“, murmelte der Elfenkönig. „Ich weiß es wirklich nicht.“
Du bist schwach.
Mit der Macht des Stärkeren strahlte die Kreatur ihre Verachtung aus. Unter Greifen gab es kein Mitleid, auch nicht für ihresgleichen. Sie kannten keine Nachsicht mit den Benachteiligten, keine Geduld mit den Langsamen, gewiss kein Erbarmen mit den Schwachen. Wer schwächer war als sie, galt als Beute. Im ganzen Zauberwald gab es nur eines, was die Greife fürchteten: die Drachen.
Leandro wusste, dass der Greif ihm lediglich aus einem Grund gehorchte. Weil auch er den Herrscher über den Zauberwald fürchtete und respektierte. Wenn nun Leandros magische und körperliche Kräfte schwanden, würde er die Macht über den Greif verlieren. Er zwang sich, nicht daran zu denken. Mühsam drängte er sein Geheimnis zurück in eine dunkle Ecke seines Bewusstseins und konzentrierte sich auf das Treffen mit Irmelin. Der Elfenkönig straffte die Schultern, als der Greif auf einer kleinen Lichtung landete. An ihrem Rand erblickte Leandro eine Gestalt, die zwischen den Bäumen hervortrat und grüßend eine Hand hob.
Der König missachtete den Schmerz in seinen Beinen, als er abstieg und sich der Gestalt zuwandte.
„Sonnenglanz auf Euren Wegen, Majestät“, ertönte ihre glockenhelle Stimme.
Es war nicht Irmelin, die ihn erwartete, sondern ihre Tochter. Verwundert stellte Leandro fest, dass sein Herz hüpfte, als er die Stimme der jungen Hexe erkannte. Ihr Gruß schien fast wahr zu werden. Seine trübe Laune verflog und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Sternentanz auf deinen, Yvelle!“, rief er ihr den Abendgruß der Hexen entgegen.
Yvelle blickte in den Himmel. „Ihr habt recht“, meinte sie nachdenklich. „Die Sonne geht gleich wieder unter.“
Der Elfenkönig zuckte zusammen. Diese Feststellung durchbohrte ihn wie eine Nadel. Ja, der Tag war beinahe vorüber, obwohl die Sonne erst vor wenigen Stunden aufgegangen war. Ob sie auch so müde und angeschlagen war? Genau wie Leandro schien sie es schon kurz nach Tagesbeginn nicht erwarten zu können, sich wieder zurückziehen zu dürfen.
„Meine Mutter schickt mich“, sagte Yvelle. „Ich führe Euch zu ihr.“
Leandro nickte und folgte Yvelle, als sie die Lichtung verließ und den Wald betrat. Neugierig betrachtete er sie von der Seite. Der Zauberwald hatte viele Gesichter. Das der Hexen war eines der am wenigsten ansprechenden. Während Elfen bis ins hohe Alter jugendlich und schön aussahen, waren Hexen offenbar von ihrer Kindheit an mit Hässlichkeit geschlagen.
Yvelle musste noch jung sein. Dennoch war ihre Haut faltig und rissig, mit Warzen bedeckt und dunkelbraun wie die einer Kröte. Ihr Haar, das unter dem spitzen Hut hervorlugte, war trocken und brüchig wie Stroh. Ihr Körper war unter einem unförmigen, sackähnlichen Kleid verborgen. Einzig die Augen der Hexe waren klar und frisch wie ihre Stimme.
„Achtet auf Eure Schritte“, warnte Yvelle. „Wir hatten noch nie so viele Kranke und Verwundete zu pflegen wie jetzt. Sie lagern auf dem gesamten Hexenhügel.“
Man hatte Leandro davon berichtet, doch das ganze Ausmaß mit eigenen Augen zu sehen, war niederschmetternd. Hinkende Füchse, Wildschweine und Hirsche zogen den Hügel hinauf Richtung Dorf. Einige hatten blutende Wunden oder abgebrochene Geweihe. Unter vielen Bäumen lagerten erschöpfte Tiere. Vögel hüpften mit hängenden Flügeln bergauf. Die fantastischen Geschöpfe waren von der rätselhaften Krankheit ebenso betroffen. Leandro erkannte einen Riesen, der seit ihrer letzten Begegnung gut drei Köpfe geschrumpft war und Mühe hatte, seine Keule zu schultern. Zwei Feen trugen eine dritte durch die Lüfte, deren bunte Flügelchen blass und nutzlos von ihrem Rücken hingen.
„Mir scheint, wir Hexen sind die Einzigen, die immun gegen die Krankheit sind“, sagte Yvelle, während sie den Elfenkönig zwischen den Bäumen hindurchführte. Der ganze Wald war erfüllt von Stöhnen und Seufzen. „Und die Elfen natürlich“, fügte sie schnell hinzu.
Leandro widersprach nicht. Es lag nicht daran, dass er der kleinen Hexe nicht vertraute. Er wollte ihr nur nicht noch größere Sorgen bereiten.
„Meine Mutter ist gerade erst vom großen Wasserfall zurückgekommen“, erzählte Yvelle weiter. „Sie hat Nixen behandelt, die unter Wasser fast erstickten. Manche konnten nicht schwimmen oder verloren ihre Schuppen. Ich glaube …“ Die blauen Augen blickten den Elfenkönig bekümmert an. „Selbst meine Mutter ist oft machtlos. Wie soll man etwas bekämpfen, das sich nicht zeigt? Einige Tiere sind bloß verletzt, ihnen können wir helfen. Doch andere …“ Sie wies mit dem Kopf auf ein Rudel Farnfaune, Zauberwaldwesen, die aussahen wie große Hasen mit Hirschkörpern. Farnfaune konnten schneller laufen als jedes andere Geschöpf und schliefen im Stehen, wobei immer ein Auge offen und ein Ohr wachsam aufgestellt blieb. Dieses Rudel jedoch lag matt im Laub und bewegte nicht einmal die langen Löffel.
Der Elfenkönig starrte sie ungläubig an und lief beinahe gegen einen tief hängenden Ast. Er hob ihn hoch, damit Yvelle darunter durchgehen konnte, und geriet so in Augenhöhe mit den bunten Blüten des Baumes.
„Schlafenszeit!“, gähnte eine von ihnen dem Elfenkönig entgegen und schloss sich zu einer Knospe.
„Wozu mache ich mir überhaupt die Mühe?“, piepste eine andere. „Mache mich schön, mache mich bunt und keiner kommt gucken.“
„Nicht eine Biene, kein Schmetterling, nicht mal eine fette Raupe“, beschwerte sich eine dritte.
Kein Wunder, dass die Blüten sich wieder schlossen. Dieser Frühling war vorüber, ohne dass ein Flügelwesen sie bestäubt hatte. Der Baum würde keine Früchte mehr tragen. Die Jahreszeiten im Zauberwald waren in einem schneelosen Winter versunken, der alles mit starrem Griff gefangen hielt.
„Majestät?“ Yvelles kleine Hand legte sich auf Leandros Arm. Ihre Wärme breitete sich in seinem Arm aus und durchzog seinen Körper. Wieder war es, als vertriebe Yvelle die Dunkelheit in ihm. Ob alle Hexen diese Fähigkeit besaßen? War es Teil ihrer Heilkräfte, durch Handauflegen Linderung zu verschaffen?
„Wir sollten uns beeilen, sonst bleibt kein Tageslicht mehr, und meine Mutter möchte Euch etwas zeigen“, sagte Yvelle. Zu Leandros Bedauern ließ sie seinen Arm los und setzte ihren Weg fort. Die Hexe blieb erst stehen, als sie das Murmeln des Flusses hören konnten. Sie deutete auf das andere Ufer.
„Da vorne führt eine kleine Brücke über den Fluss“, erklärte sie. „Meine Mutter wartet dort auf Euch.“ Sie neigte leicht den Kopf. „Glück auf Euren Wegen, Majestät.“
Leandro suchte nach Worten, um die kleine Hexe aufzumuntern. Als ihm nichts einfiel, lächelte er Yvelle so zuversichtlich an, wie er konnte, und murmelte: „Mondstaub auf deinen Pfaden, Yvelle.“
Die junge Hexe beugte den Kopf. „Goldlaub auf Euren, Majestät.“
Leandro blieb stehen und blickte Yvelle nach, bis sie zwischen den Bäumen verschwunden war. Beinahe sofort verdunkelte sich seine Stimmung und Müdigkeit überwältigte ihn.
Allein stieg er hinab zum Ufer und überquerte die Brücke, wo Irmelin ihn erwartete. Sie trug eine alte Kutte und einen Hut aus Stroh und Blättern wie alle Hexen. Und doch war etwas an ihrer Haltung, das einem verriet, mit wem man es zu tun hatte. Die Oberhexe verschwendete keine Zeit. Zur Begrüßung nickte sie nur leicht und machte eine einladende Bewegung mit der Hand. Leandro folgte ihr über die Uferböschung.
„Es tut mir leid, dass ich Euch jedes Mal schlechte Nachrichten überbringe, wenn wir einander begegnen“, sagte Irmelin. „Ich hätte Euch die Botschaft auch in Gedanken übermittelt, nur ist alles so kompliziert und verworren. Ihr kennt die Lage. Immer mehr Waldbewohner kommen mit Krankheiten, Verletzungen und anderen Problemen zu uns. Und immer öfter müssen wir sie fortschicken, ohne sie heilen zu können.“
Leandro nickte.
„Der Zusammenhang liegt auf der Hand“, stellte Irmelin fest. „Die Tage im Zauberwald werden kürzer. Ohne Licht und Wärme kann kein Wesen überleben.“ Sie machte eine weit ausholende Armbewegung. „Seht Euch um, Majestät. Es ist bereits wieder Nacht.“
Der Mond tauchte die Bäume in ein silbriges Licht, als versuchte er, sie über die Abwesenheit der Sonne hinwegzutrösten. Leuchtfarne wiegten sich in einer leichten Brise und erhellten blau den Boden. Grün schimmerte das Dunkelmoos an den Baumstämmen und auf den fast kahlen Ästen entfalteten sich elegant die riesenhaften Blüten der roten Feuerorchideen. Dazwischen leuchteten grün und gelb die Augen scheuer Wesen.
„Die Geschöpfe der Nacht“, sagte Irmelin heiser. „Ihr Revier wird mit jedem Tag größer.“
Lautlos glitten Nachtspinner an gleißenden Fäden von den Zweigen und bauten ihre Netze. Im Gegensatz zu den Spinnen des Waldes fingen sie darin keine Insekten, sondern Tautropfen.
„Ich habe seit Ewigkeiten keine Bienen mehr gesehen“, erzählte Irmelin. „Doch die Nachtspinner überziehen den Zauberwald mit ihren Netzen. Tagsüber verfangen sich Käfer, Schmetterlinge und sogar Feen darin und können sich von selbst nicht befreien. Früher zerstörten die großen Tiere diese Netze, wenn sie zwischen den Bäumen umherliefen. Doch viele sind krank oder müde. Das Gleichgewicht ist gestört.“ Irmelin bückte sich und klopfte auf den Boden.
„Wer da?“, hauchte eine Stimme aus der Erde.
„Irmelin, Vorsitzende der Hexen, oberste Heilerin“, lautete die Antwort. „Komm heraus, Herbula. Wir brauchen dich. All deine Schwestern schlafen.“
Im Schein der leuchtenden Nachtpflanzen erblühte widerwillig ein Stängel mit einem armseligen Blättchen. Es war gänzlich farblos und so schlapp, dass es sich kaum aufrichten konnte. „Wie soll ich dir dienen, Heilerin?“, fragte die Pflanze. „Die Sonne gibt mir meine Macht. Weck mich, wenn sie scheint.“
Damit verschwand sie wieder unter der Erde.
Irmelin stand auf und zeigte dem Elfenkönig einen kleinen Beutel, der an ihrem Gürtel hing. „Das sind die letzten Reste, die mir von diesem Kraut geblieben sind. Es ist die wichtigste Zutat eines Krafttrunks. Wie soll ich heilen ohne Kräuter? Ich bin ratlos.“
Leandro schloss die Augen. „Dann war meine Hoffnung vergebens.“ Er atmete tief ein. „Diese Krankheit, die den Zauberwald befällt … Sie hat auch vor den Elfen nicht haltgemacht.“
Die Hexe schlug eine Hand vor den Mund, als der Elfenkönig fortfuhr.
„Viele von uns sind krank oder schwach. Der Appetit schwindet, Schlaf stärkt nicht mehr und jeder Schritt kostet Kraft, die nicht wiederkommt. Ich hatte erwartet, hier eine Antwort zu erhalten.“
Wortlos schüttelte Irmelin den Kopf und starrte auf ihre Hände. „Keine Antwort, Majestät“, sagte sie endlich. „Bloß eine weitere Frage. Das ist es, was ich Euch zeigen wollte …“
Sie wandte den Kopf und sah nach oben. Leandro folgte ihrem Blick. Wenige Schritte von ihnen wuchs ein gewaltiger Baum gen Himmel. Seine Krone entfaltete sich weit über den anderen Bäumen und fing das Mondlicht auf.
„Nur selten habe ich eine seiner Wurzeln gestohlen“, erzählte Irmelin, als wäre ihr beim Gedanken daran unwohl. „Die Wirkung der Paxwurzel ist mächtig, mächtiger als die jeder anderen Pflanze, die ich kenne. Die Blätter dieses Baumes sind riesig und unzerreißbar. Nie habe ich erlebt, dass einer seiner Äste abgebrochen oder seine Rinde beschädigt worden wäre. Ich bin dankbar, dass Ihr ihn bei schwachem Licht seht. Sein Anblick bei Tag hat mich schwer getroffen. Nur noch wenige Blätter hängen an den Zweigen und selbst sie sind nicht mehr tiefrot, sondern blass und fahl.“