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Das kleine Grizzly-Mädchen Scout wird von ihrer Mama getrennt und schlägt sich fortan allein durch. Bis zum Winter muss sie wachsen und ein echter Grizzly werden! Sie heftet sich an die Fersen eines gigantischen alten Männchens und lernt heimlich von ihm: welche Pflanzen Heilkräfte haben, wie man Eichhörnchen beklaut und wo die Wilden Wasser warten. Es ist der Beginn einer abenteuerlichen und gefährlichen Reise – und einer unwahrscheinlichen Freundschaft. Doch schon bald färben sich die Blätter und die Stunde der Wahrheit naht. Aufregende Abenteuer, erstaunliche Wunder der Natur und das spannende Leben der Tiere – diese Kinderbuchreihe entführt Jungen und Mädchen ab 8 Jahren in die verschiedenen Lebensräume der Erde. Ob im tiefen Meer, im dichten Wald oder in der Savanne: In diesen Geschichten erleben Tiere schöne und zugleich bewegende Abenteuer. Mit berührenden und coolen Schwarz-Weiß-Illustrationen. Lehrreich wie ein Sachbuch und berührend wie ein Disney-Klassiker! Für Fans von Peter Wohlleben und Karsten Brensing. Alle Bände dieser Reihe: Das geheime Leben der Tiere (Wald) - Die weiße Wölfin Das geheime Leben der Tiere (Wald) - König der Bären Das geheime Leben der Tiere (Wald) - Stadt der Füchse Das geheime Leben der Tiere (Wald) - Revier der Raben Die Titel sind auf Antolin gelistet.
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Seitenzahl: 162
In Erinnerung an Bear #211, „Scarface“1990–2015und an „BB“, den Bitterroot-Bären2003–2007
Teil 1: Frühling
Scout
Der Gigant
Der Duft der Luft
Berge bauen
Lektionen des Lebens
Unsichtbare Zäune
Das richtig falsche Ufer
Teil 2: Sommer
Der Winzling
Aus heiterem Himmel
Die Begegnung
Die Nacht der Wölfe
Tausend Fragen
Feueräste und Himmelsbären
Teil 3: Herbst
Wilde Wasser
Scouts Sommer
Kurz und schmerzlos
Teil 4: Viele Frühlinge später
Sonnige Erinnerungen
Noch Fragen?
Maybe that is what grizzly bears want most – just to be left alone. They deserve that, at a minimum, and so do we.
Vielleicht ist es das, was Grizzlybären vor allem wollen – einfach in Ruhe gelassen werden. Es ist das Mindeste, was sie verdienen, und wir auch.
Steve Nadeau,Biologe und Autor von „Journey of the Bitterroot Grizzly Bear”, 2020
Noch lagen die Berge tief vergraben unter meterdicken Schneeschichten. Sogar die Bäume waren weiß ummantelt, als hätte die Welt vergessen, dass es auch Farben gab. Selbst die Geräusche schienen wie verpackt. Außer dem Pfeifen des Windes und dem gelegentlichen Schrei eines Greifvogels herrschte Stille.
Hier oben auf den Gipfeln konnte sich die Sonne anstrengen, wie sie wollte, die Kälte wich nicht zurück und der Wind war erbarmungslos. Erst auf halbem Weg Richtung Tal hatten die goldenen Strahlen mehr Glück. Zum ersten Mal seit dem Spätherbst kroch die Temperatur schneckenlangsam über null Grad. Und endlich: In mühsamster Arbeit löste sich an der Spitze eines Zweiges ein einzelner Tropfen Wasser aus dem Eis. Er hing glitzernd und zitternd in der Morgensonne, bis er zu Boden fiel und ein winziges Loch in den Schnee bohrte.
Wenige Meter entfernt regte sich etwas hinter einer Schneewand, als hätte jemand das Fallen des Tropfens gehört. Dort lag die Höhle einer Grizzlybären-Familie. Während Lida, die Mutter, noch Winterruhe hielt, waren ihre beiden Jungen schon hellwach. Sie krabbelten über ihren Kopf, vergruben sich in ihrem Fell, tranken literweise fetthaltige Milch und balgten sich regelmäßig, um die Langeweile zu vertreiben. Noch hatte ihnen keiner erklärt, dass Grizzlys die Hälfte des Jahres nahezu bewegungslos in ihren Höhlen liegen. Sie fressen nicht, sie trinken nicht, sie pinkeln nicht mal. Das liegt nicht daran, dass es ihnen draußen zu kalt ist. Zwar hat es oft minus dreißig Grad, aber dafür wären die Bären mit ihren dicken Pelzen bestens ausgestattet. Bloß würden sie in der klirrenden Kälte und unter der meterhohen Schneedecke nichts zu fressen finden.
Scout und Way waren zwar Bären, aber mit der Kälte hätten sie trotzdem Probleme gehabt: Sie waren nämlich erst in diesem Winter geboren worden, während ihre Mutter schlief. Lida blieb gerade lange genug wach, um die winzigen, nackten Bärenbabys abzulecken und ihnen zu helfen, eine Zitze zu finden. Danach schlief sie weiter. Lidas Herzschlag war langsam, ihre Atmung flach – sie hielt Winterruhe bis zum Frühjahr. Die Kleinen waren auf sich gestellt.
Seitdem bestand das Leben von Scout und ihrem Bruder Way aus Trinken. Nach und nach überzogen sich ihre runzeligen Körper mit Fell und sie konnten die enge Höhle erkunden, ohne allzu sehr zu frieren. Ihre Mama gab nicht nur leise Schnarcher von sich, sondern auch wohlige Wärme. Und während es draußen eisige Minusgrade hatte, war die Höhle kuschelig warm. Die Bärenmutter hatte sie im Herbst mit Gräsern und Moos weich ausgepolstert. Ihren Vater hatten Scout und Way nie getroffen und das würde wohl auch so bleiben. Ihre kleine Welt bestand aus ihrer Mama, ihrem Geschwisterchen und der Ausbuchtung, die ihre Mutter in den Berg gegraben hatte und in die vielleicht noch ein paar Eichhörnchen gepasst hätten, aber nicht mehr.
Als Scout nach ein paar Wochen zum ersten Mal ihre Augen öffnete, machte das kaum einen Unterschied, weil es so dunkel war, dass sie ohnehin nichts sehen konnte. Doch inzwischen schimmerte immer öfter Tageslicht durch die zugeschneite Höhlenöffnung. Die beiden Jungbären versuchten wieder und wieder, ihre schlafende Mutter zu wecken, aber die seufzte nur genervt und schlief weiter. Sie wachte nicht einmal auf, als sie beim Spielen eine von Ways Pranken ins Auge bekam. Dabei waren seine Krallen extralang und richtig umgehen konnten die Kleinen damit auch noch nicht.
Manchmal kratzte Scout mit den Krallen ihrer Vorderpranken am Eis vor der Höhlenöffnung, doch es war immer noch dick und fest. Und ja – auch am nächsten Tag war es noch so. Und die Woche darauf. Und einen Monat später.
Doch dann kam der Tag, an dem es anders war und alles anders wurde.
Fasziniert beobachtete das kleine Grizzly-Mädchen, wie sich an der Innenseite der Eisscheibe einzelne Tropfen lösten und langsam auf den Boden zurollten.
„Was ’n das?“, quiekte ihr Bruder hinter ihr.
Beherzt leckte Scout über das Eis – und blieb mit der Zunge daran kleben.
„Eeeeh“, rief sie überrascht. „Iff hnn fss.“
„Hä?“, machte ihr Bruder verwirrt.
Von ihm war keine Hilfe zu erwarten. Scout kratzte an der Scheibe und zog und zerrte an ihrer Zunge – vergeblich, die blieb am Eis kleben.
„Hfff mü!“, brüllte Scout panisch und rollte die Augen.
Way konnte nicht verstehen, was seine Schwester sagte, aber sie war eindeutig in einer Situation, die ihr nicht gefiel. Also nahm der kleine Bär Anlauf und rannte mit voller Wucht gegen die Scheibe. Er knallte dagegen, prallte ab und landete auf seinem Hinterteil.
„Auaaaa!“
Diesmal genügte der Schrei ihres Sohnes: Lida wachte auf. Sie blinzelte ins Licht und versuchte zu begreifen, was passiert war. Keines ihrer Jungen schien verletzt zu sein. Am liebsten hätte sie weitergeschlafen. Sie hatte so wenig Kraft nach dem langen Winter.
„Mm-mm“, quiekte Scout außer sich und riss an ihrer Zunge.
Langsam und mühsam stand Lida auf. Ihre Glieder schmerzten. Sie hatte sie seit sechs Monaten nicht benutzt. Als sie auf den Beinen war, schüttelte sie sich erst mal ausgiebig. Auch das war unfassbar mühsam. Dann trottete sie auf ihre Tochter zu und betrachtete die Situation. Sie beugte den Kopf ganz dicht an Scouts kleines Gesicht und verstand, was passiert war. Lida leckte mit ihrer großen, rauen und vor allem warmen Zunge übers Eis, immer wieder und wieder, bis sie ein kleines Loch ausgeschleckt hatte. Endlich konnte Scout ihre Zunge losreißen und schloss schnell ihr Maul. Sie winselte leise vor Schmerz. Die Zungenspitze konnte sie immer noch nicht fühlen.
Lida blickte ihren Sohn Way an, der auf dem Hintern saß und leise wimmerte. Sie sah Scout an, die mit beiden Pfoten über ihr Maul rieb, um ihre Zunge aufzuwärmen. Das war also ihr Nachwuchs. Sie seufzte. Da hatte sie noch ganz viel Arbeit vor sich …
„Hm“, brummte Lida und wandte sich der Eiswand zu. „Zeit für den Frühling.“
Und mit einem gewaltigen Hieb ihrer Pranke zerbrach sie die Wand in tausend Scherben. Davor lag glitzernd und tropfend und mit ein paar grünen Tupfen an einigen Stellen – der Wald.
Nichts und niemand musste ihn wecken. Kein fallender Eiszapfen, kein aufgeregter Vogelruf, nicht das Geräusch anschwellender Bäche, die hastig den schnellsten Weg ins Tal suchten. Der Grizzly wusste bis aufs halbe Grad Celsius genau, wann die Temperaturen draußen warm genug waren, um seine Winterruhe zu beenden. Er konnte es riechen.
Düfte waren seine Boten. Sie brachten ihm Kunde aus dem gesamten Revier. Sie malten Landschaften in seinem Kopf, von den Bergen bis hinunter ans Meer, das über eine Tagesreise entfernt lag. Der Wind trug die Gerüche zu ihm in die Bärenhöhle hoch oben auf den Gipfeln, wo er schlief. Sie erzählten dem ruhenden Riesen von Kiefernzapfen, die aromatisch und durchdringend rochen, obwohl sie von fleißigen Eichhörnchen vergraben worden waren. Von den Nadeln der Bäume, die in der Sonne ihre ätherischen Öle preisgaben. Von den Wurzeln der frischen Büsche und Sträucher und den neuen Knospen auf halbem Weg ins Tal. Büffelbeeren, Prachthimbeeren und Süßklee regten sich schon unter der Taugrenze. Ein leises, kaum vernehmbares Versprechen kam von den Meereswellen – auf Fisch: frischen, köstlichen Fisch, ohne den die größeren Grizzlys kaum genug Fettreserven anlegen konnten, um den Winter zu überstehen.
Seine Taktik war anders als die der meisten seiner Artgenossen: Er hatte seine Höhle so hoch wie möglich angelegt. Hier wurde es früher kalt, also legte er sich früher zur Ruhe, schon kurz nach dem wochenlangen, ausgiebigen Fressen von Lachsen an den Wasserfällen. Und es blieb länger kalt, deshalb konnte er länger schlafen. Wenn er dann erwachte und sich auf den Weg ins Tal machte, hatte die Natur längst ihr üppiges Büfett für ihn aufgebaut und er fing sofort an zu fressen.
Es war sein siebenundzwanzigster Winter gewesen. Auch wenn er es nicht wusste: Er war damit der älteste Bär weit und breit. Es wäre ihm egal gewesen, wenn er es gewusst hätte. Er wusste so viel, dass es nötig geworden war, Unwichtiges zu vergessen. Wie den Namen, den seine Mutter ihm gegeben hatte. Einzig ihren Duft hielt er weiter in seinem Gedächtnis fest, um ihn manchmal hervorzukramen und sich an der Erinnerung zu wärmen. Vor allem dann, wenn er sich krank fühlte oder verletzt war. Namen sind nicht wichtig für einen, den niemand rufen will.
Grizzlys sind Einzelgänger, sie leben nicht in Familien oder in Rudeln, sie haben keine Jagdgefährten oder Freunde. Sie verbünden sich nicht mit anderen Tieren. Wenn ein Grizzly-Junges zwei oder drei, ganz selten vier Jahre alt ist, wird es von seiner Mutter verstoßen, die sich einen neuen Partner sucht und neue Junge bekommt. Auch das tut sie allein. So ist es Grizzly-Art.
Nicht einmal Feinde hatte er. Es gab keine Tiere, die ihm gefährlich werden konnten. Selbst andere Grizzly-Männchen nicht. Kein Jäger war ansatzweise so groß wie er. Von der Schwanzspitze zur Nasenspitze maß er deutlich mehr als drei Meter, so viel wie ein junger Baum. Selbst große Wölfe konnte er mit einem Prankenhieb beiseitefegen wie lästige Fliegen und hatte es oft getan. Als er jünger war, musste er gegen andere Bären kämpfen. Um Reviere, Beute, Weibchen – oder einfach, um zu sehen, wer der Stärkere war und es verdient hatte, noch größer und stärker und älter zu werden.
Es machte ihm nichts aus zu kämpfen, auch wenn er es vorzog, es nicht zu tun. Kämpfen kostete Kraft und damit waren Grizzlys geizig.
Er verlor nur selten und das Gefühl nach einem Sieg war atemberaubend. Dann stellte er sich auf die Hinterbeine, richtete sich zu seiner vollen Größe auf, den Kopf fast in den Wolken – und ließ sich von diesem Gefühl durchdringen, das wie er selbst keinen Namen hatte. Dieses Gefühl, der Mächtigste zu sein: Herrscher über den Wald, Gebieter der Welt, König der Bären.
Seine Narben trug der Grizzly wie Orden. Tiefe Kratzspuren an beiden Flanken, wo Gegner ihn mit den gewaltigen Krallen ihrer Tatzen aufgeschlitzt hatten. Ein Ohr war halb abgebissen – das verdankte er einem Weibchen, das seine Jungen verteidigt hatte. Mit so was war nicht zu spaßen, nicht mal für ihn. Er konnte sich an ihren Geruch erinnern und daran, dass er sie nett fand. Fast goldgelbes Fell hatte sie gehabt, außergewöhnlich für einen Grizzly. Dabei war er selbst eher hellbraun. Nur die Fellspitzen glänzten im typischen Silber eines Grizzlys. Besonders im Nacken, wo ein dicker Höcker zwischen den Schultern prangte: das gewaltige Paket aus reinen Muskeln, das jeder Grizzlybär wie einen Rucksack trägt, um die mächtigsten Arme des Tierreichs mit voller Kraft bewegen zu können.
Nach langen sechs Monaten des flachen Atmens sog er nun ganz tief Luft in seine Lungen. Sorgsam bewegte er nur genau jene Muskeln, die unbedingt nötig waren, um sein Gewicht auf die hintere Körperhälfte zu verlagern. Die vertrauten Schmerzen meldeten sich. Alte Gelenke, alte Wunden, neue Versteifungen … Er begrüßte sie wie gute Bekannte. So fühlte sich der Frühling an, ein neues Jahr, ein neuer Sommer, ein neuer Anfang – das gute, alte Leben.
Weit über eine halbe Tonne wog er nach dem langen Schlaf. Er hatte fast ein Drittel seines Gewichts verloren, als er sechs Monate weder gegessen noch getrunken hatte. Es würde schnell wieder mehr werden. Auch so war er der größte Grizzly weit und breit. Die Adler hätten es ihm sagen können, wenn er mit ihnen geredet hätte: dass es auch jenseits seines Reviers keine Bären seiner Größe mehr gab. Dass er als einer der Letzten übrig war von den Grizzly-Giganten, über die Legenden erzählt werden, bei den Menschen und bei den Tieren.
Zwar hatte er Hunderte Nachkommen gezeugt und auch die wiederum Nachkommen, doch keiner von ihnen hatte seine Größe erreicht. Ob sie sein Alter erreichen würden, blieb abzuwarten.
Endlich stand er auf allen vier Beinen und setzte sich in Bewegung. Der Wind kitzelte ihn an der Nase. Wenn er mehr Energie gehabt hätte, hätte er geniest. Als er sich durch den Eingang seiner Höhle zwängte, brachen riesige Eiszapfen ab und blieben wie Schwerter im Boden rings um ihn stecken. Über ihm sang ein Kiefernhäher sein Lied. Er mochte die Vögel. Wenn sie an Zapfen herumpickten, fielen immer welche zu Boden. Die konnte er dann bequem fressen, ohne auf Bäume klettern zu müssen, was mit den langen Krallen und dem beachtlichen Gewicht nur ganz schwer möglich war.
Gleich würde er einen Bach finden und trinken. Er würde seinen Gipfel verlassen und Richtung Tal wandern. Dann würde er zuerst bis zum Meeresstrand gehen, Muscheln fressen, die salzige Luft atmen. Und sich auf den langen, langen Weg bis zu den Wasserfällen machen, entlang der Außengrenzen seines Reviers. Gleich. Doch zuerst kam das alte Ritual …
Er trottete an den äußersten Rand des zackigen Felsvorsprungs unter dem Gipfel und stellte sich auf die Hinterbeine, den Hals gestreckt, die Nase zur Sonne ausgerichtet. Er blickte hinunter ins Tal. Dann schloss er die Augen und ließ sich vom Wind erzählen, was vor ihm lag.
Der letzte Gigant, der König der Bären, war erwacht.
Wenn Scout gewusst hätte, was auf der anderen Seite ihres Höhleneingangs lag, hätte sie schon viel früher versucht, in die Freiheit zu gelangen. Es gab so viel Platz, so viel Luft! Und die Luft war nicht schon tausendmal geatmet worden von ihrem kleinen Bruder oder ihrer großen Mama. Diese Luft roch, als hätte noch nie einer reingepupst.
Scout schnüffelte an allem. Zwar konnte ihre Nase Gerüche lesen, die viele Kilometer entfernt waren, aber das war verwirrend für das Bärenmädchen. Da kam ein ganzer Eintopf aus Düften und Gestank auf sie zu – und sie sollte wissen, was was war? Unmöglich. Sie hatte ja noch gar keine Bilder zu all den Duftrichtungen.
Also drückte sie ihre Nase ganz fest an einen morschen Baumstamm. Aha! So sah dieser Geruch also aus. Genau wie die Bäume rundherum, aber liegend, ohne Knospen, ohne Nadeln und Blätter. Trotzdem aus Holz. Sie roch weiches, matschiges, totes Holz. Bloß … nein, das stimmte nicht … doch nicht tot. Nein, eindeutig nicht. Da waren Wurzeln, die sich schon durch den morschen Untergrund bohrten. Pilze trieben aus. Moose und Flechten überzogen die Rinde. Scout leckte an einem der Pilze. Etwas scharf, aber durchaus genießbar. Sie nahm einen Bissen. So also schmeckte dieser Geruch. Wenn die Baum-Pilze giftig wären, würde ihre Mama bestimmt eingreifen. Nein, alles gut, Lida blieb gelassen. Und Scout bekam keine Krämpfe, keinen Schaum vor dem Maul und keine blaugrüne Zunge. Pilze waren wohl gut. Sie schnüffelte weiter.
Hmm … da war noch etwas. Sie begann, mit den Vordertatzen an der Rinde zu kratzen, und bemerkte erfreut, dass ihre Krallen sich dazu wunderbar eigneten. Fast so gut, wie Mama damit ins Auge zu fahren. Die Rinde löste sich und darunter kamen fette, weißliche Klumpen zum Vorschein. Einer davon bewegte sich ein bisschen. Ob man Dinge fressen sollte, die sich bewegten?
„Mama?“, brüllte Scout. „Kann man das auch fressen?“
Lidas Kopf schob sich neben Scout. Sie schnüffelte einmal kurz und leckte dann mit ihrer großen Zunge über den Baumstamm. Sämtliche weißlichen Dinger landeten dabei in ihrem Maul.
„Mhm“, machte sie genüsslich und schluckte. „Kann man. Wenn man schnell genug ist.“
„Och“, machte Scout enttäuscht. „Wie heißen die?“
„Maden“, erklärte ihre Mama und kratzte die restliche Rinde ab, um weitere Maden freizulegen.
Way bekam davon nichts mit. Er versuchte gerade, einen Baum hochzuklettern. Scout legte ihren Kopf in den Nacken und schaute ihrem Bruder gespannt dabei zu.
„Warum macht er das, Mama?“, fragte sie.
„Weil er wissen möchte, ob er es kann.“
„Oh“, rief Way von weiter oben. „Ich kann den Wald von hier sehen.“
„Den seh ich auch“, brummte Scout und leckte an einer Made.
„Aber ich seh ihn viel mehr!“, rief Way. „Und den Himmel.“
Scout verlor gänzlich das Interesse an ihrem Bruder. Sie hatte eine faszinierende Stelle zwischen den Bäumen entdeckt, die glitzerte und laut war. Sie lief darauf zu und hörte unter sich Äste und Zweige knacken und Laub rascheln. Hinter ihr raschelte und knisterte es noch einmal, nur sehr viel lauter – das beruhigende Geräusch ihrer Mama, die Scout folgte. Vor dem glitzernden Wesen – denn dass es lebte, stand außer Frage – blieb das Grizzly-Mädchen stehen und hörte ihm zu. Es klang wundervoll! Zischend und glucksend und gurgelnd zugleich. Mamas Bauch hatte im Winter manchmal so geklungen.
„Das ist ein Bach“, erklärte Lida hinter ihr und beugte den Kopf zum Wasser. „Hier trinken wir.“
So also roch und klang ein Bach.
Scout sah zu, wie ihre Mutter sich mit der Zunge Wasser ins Maul spritzte, das sie dann schluckte. Sie ahmte sie nach. Hm. Das war also Wasser. Scout war nicht beeindruckt. Es schmeckte wie Luft, nur kälter. Auf unangenehme Art erinnerte das Wasser Scout an das fiese Eis, an dem ihre Zunge kleben geblieben war.
„Ich trink lieber Milch“, verkündete Scout bestimmt.
Ihre Mutter stupste sie mit der Nase in die Seite. „Das ist in Ordnung. Aber irgendwann bist du groß genug, um allein zu laufen, und dann gibt es nur noch Wasser zu trinken.“
Vollkommen geschockt fing Scout an zu weinen. Warum wollte ihre Mama sie denn allein lassen? Und wann? Etwa jetzt sofort? Oder morgen? Sie bekam Schluckauf.
„Was ist denn passiert?“, winselte Way auf seinem Baum. „Warum heult Scout?“
„Die Mama – hck! – lässt mich ganz – hck! – allein“, heulte Scout.
„Oh.“ Das schockierte auch Way. „Hast du ihr ins Auge getreten? Das mag sie nicht.“
Er beeilte sich, von seinem Baum runterzuklettern, kam aber nur langsam voran. Immer wieder blieb er mit den Krallen irgendwo hängen und sehen konnte er auch nichts, wenn er sich nach unten bewegte.
„Ich lasse dich noch ganz lange nicht allein“, erklärte Lida geduldig. „Aber alle Bären wachsen, wenn sie älter werden und genug fressen. Irgendwann bist du so groß, dass du nicht mehr in meine Höhle passt. Dann suchst du dir deine eigene Höhle.“
Scout war unter Mamas warmen Bauch gekrochen und fing nun an, Muttermilch zu trinken. Sie nuschelte nur noch undeutlich. „Dann werd ich lieber nicht groß.“
„Ach?“, brummte ihre Mama. „Dann willst du für immer klein und wehrlos bleiben und vor Wölfen und Adlern und anderen Bären weglaufen und dich verstecken müssen?“
Das klang überhaupt nicht schön. Scout winselte trotzig. Nein, das war ganz und gar nicht ihr Plan. Sie überlegte sich, was sie unternehmen könnte, um gleichzeitig bei ihrer Mama bleiben und groß und stark werden zu können.
„Ich werde riesig und mächtig und dann baue ich uns eine Höhle, in der so viel Platz ist, dass wir alle drei reinpassen“, erklärte sie schließlich.
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. „Du sorgst mal dafür, dass du deinen ersten Frühling überstehst und so viel frisst, wie du nur kannst. Kriegst du das hin?“
Scout quiekte. Und ob sie das hinkriegte!