Der Feuerteufel von Föhr - Rainer Hendeß - E-Book

Der Feuerteufel von Föhr E-Book

Rainer Hendeß

0,0

Beschreibung

Die Großen Ferien sind da, und für Marlene und Jelle geht es wieder nach Föhr. Marlene erhofft sich wieder einen spannenden Kriminalfall, und Jelle ist sowieso keinem Abenteuer abgeneigt. Er freut sich aber auch auf die Gelegenheit, am Nieblumer Strand seine Fertigkeit im Bau von ausgedehnten Festungsanlagen weiter zu vertiefen. Bereits beim ersten Frühstück erfahren sie von der unheimlichen Brandstiftungsserie auf der Insel. Auch ihr Lieblingsrestaurant, der "Schlickblick" am Strand von Nieblum, ist davon betroffen. Bei Marlene schrillen sofort die Alarmglocken, und das Detektivduo nimmt umgehend die Ermittlungen auf. Höchst verdächtig ist der Eigentümer des Strandcafés. Als Marlene dann von einem alten Fischer erfährt, dass bei dem ebenfalls abgebrannten Autohaus des Verdächtigen merkwürdige Dinge vorgehen und deutlich wird, dass dessen geheimnisvoller Schuppen in der Marsch eine Rolle spielt, ist für Marlene klar, dass jetzt ihr ganzer Einsatz gefragt ist. Gemeinsam mit Raik, dem Sohn ihrer Vermieterin, geht sie der Sache auf den Grund. Das bringt sie in große Gefahr, doch es gibt ja auch noch Jelle, seine Freunde Emil und Hauke. Auch Sören ist wieder dabei, zu ihrer großen Überraschung als Praktikant bei der "Soko Feuerteufel."

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 344

Veröffentlichungsjahr: 2022

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für alle freundlichen Insulaner, die uns seit vielen Jahren immer mit offenen Armen empfangen,

ganz besonders für die Familie Jung und das Team vom Midlumer Krog, und für meine Familie, mit der jeder Urlaub auch auf dieser Insel ein unvergessliches Erlebnis und eine große Freude ist.

Dieses Buch erzählt eine erfundene Geschichte. Einige der darin vorkommenden Personen und Orte existieren wirklich, die Handlungen und Gespräche sind jedoch rein fiktiv und entstammen der Phantasie des Autors. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Orten ist rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil 1 – Ermittlungen

1.

Drei Tage später – Sonnabend, 26. Juni

Endlich wieder Föhr

Spiegeleier & mehr

Strandleben 1

Hauke

Strandleben 2

Schlümpfe und Jedi Ritter

Osram

Raik

2.

Sonntag, 27. Juni

Emil

Ein Schlachtplan

3.

Montag, 28. Juni

Überraschung am Morgen

Ein kleiner Unfall…

…führt zu einer neuen Spur

Die Ermittlungsgruppe tagt

Sören

4.

Dienstag, 29. Juni

In der Marsch

Wache mit Hindernissen

Midlumer Sommerspiele

Detektive im Einsatz

Fiete

Sportberichterstattung

Erkenntnisse und ein Plan

Eine Verfolgungsjagd

5.

Mittwoch, 30. Juni

Träume

Jelle…

Marlene

Ein neuer Plan

Der Schuppen

Gefangen

Rettung

Die Polizei greift ein

Geständnisse

Teil 2 – Die Schlinge zieht sich zu

6.

Donnerstag, 30. Juni

Die Falle wird gestellt

7.

Freitag, 01. Juli

Die Falle schnappt zu

Eine Hängepartie

Auflösung

Der Empfang

Am Strand

Autos

Ausklang

Endlich wieder auf Föhr

Prolog

Die Nacht auf der Insel ist finster, nass und stürmisch. Der Mond versteckt sich hinter dunklen Gewitterwolken. Blitze zucken beinahe im Sekundentakt und tauchen die windgepeitschte Marschlandschaft in ein gespenstisches Zwielicht. Donner grollt. Es gießt in Strömen. Aus den Schatten der Nacht schälen sich die vagen Umrisse eines großen Gebäudes. Das stark renovierungsbedürftige Bauwerk, eine alte Scheune oder ein Lagerschuppen, steht einsam am vorderen Rand einer Wiese mitten im Nirgendwo. Hinter dem Schuppen stehen, von der schmalen Straße aus nicht zu sehen, zwei Autos, den Konturen nach größere Geländewagen. Eine Bewegung ist nirgendwo zu erkennen.

Oder doch? Im Schuppen geht etwas vor. Hin und wieder zuckt hinter einem der schmalen Fenster direkt unter dem Dach ein schwacher Lichtschein auf. Wer auch immer sich in dem alten Gebäude zu schaffen macht, legt Wert darauf, nicht bemerkt zu werden, denn das Licht ist im Geflacker der rasch aufeinanderfolgenden Blitze so gut wie nicht zu erkennen.

Nach einer Weile erlischt das Licht, ein Flügel des Schuppentors öffnet sich langsam einen Spalt weit und ein nur schemenhaft erkennbares Gesicht lugt vorsichtig nach draußen. Nach und nach schiebt sich eine dunkle Gestalt durch die Öffnung und sieht sich nach allen Seiten um. Nachdem sie sich vergewissert hat, dass die Luft rein ist, schiebt sie die Tür weiter auf und betritt den Vorhof, wo sie minutenlang regungslos stehen bleibt. Nichts geschieht. Die Gestalt, der Figur nach ein großer, breitschultriger Mann mit tief sitzendem Schlapphut und langem, dunklen Mantel, wendet sich wieder dem Gebäude zu und winkt. Kurz darauf betritt eine zweite, in einen weiten Kapuzenmantel gekleidete Person den Vorplatz, in den Händen zwei kofferähnliche, offensichtlich schwere Gegenstände. Im aufzuckenden Licht eines Blitzes ist kurz zu erkennen, dass es sich um große Kanister handelt.

Im strömenden Regen schleppt der Mann die beiden Kanister hinter das Gebäude und verstaut sie im Kofferraum eines der dort stehenden Autos. Hastig entledigt er sich seines Mantels, wirft diesen zu den Kanistern und schlägt die Klappe zu. Er beeilt sich, vorn in den Wagen zu kommen und lehnt sich mit einem tiefen Seufzer auf dem Fahrersitz zurück. Er startet den Motor und fährt langsam, ohne das Licht einzuschalten, um den Schuppen herum nach vorn. Alle Geräusche gehen im Grollen des Donners und im sturzflutartigen Prasseln des Regens unter. Auf dem Vorplatz hält er kurz neben dem großen Mann mit Hut an und lässt die Scheibe einen Spalt herunter.

„Bist du wirklich sicher?“, fragt er.

Der große Kerl macht eine unwillige Handbewegung und beugt sich zu dem geöffneten Fenster herunter. „Du weißt, was du zu tun hast“, zischt er halblaut dem Fahrer zu. „Warte noch kurz das Gewitter ab und sieh zu, dass du vor der Morgendämmerung noch fertig wirst. Wir sehen uns übermorgen an der üblichen Stelle.“ Er tippt sich an den Hut, tritt beiseite und bedeutet dem anderen, nun endlich loszufahren.

Der Fahrer grunzt etwas Unverständliches, lässt die Scheibe wieder hoch und fährt langsam, immer noch ohne Licht, auf die Straße. Dort gibt er Gas und ist nach kurzer Zeit in der Dunkelheit verschwunden.

„Idiot“, ruft ihm der große Mann mit Hut hinterher. Er wendet sich dem Tor des Schuppens zu, schließt die Flügel, und legt Schloss und Riegel vor. Danach macht er sich längere Zeit an einem Kasten zu schaffen, der seitlich neben dem Tor angebracht ist.

„So weit, so gut“, murmelt er vor sich hin. „Jetzt kann´s losgehen. Ihr werdet euer blaues Wunder erleben.“ Er schüttelt den Kopf. „Wohl eher ein feuerrotes“, kichert er. Im jetzt nachlassenden Regen geht er ums Gebäude herum, besteigt seinen Wagen – ein deutlich größeres Modell als das soeben verabschiedete – und fährt leise, vorsichtig und ebenfalls ohne Licht davon. Erst als er den Schuppen weit hinter sich gelassen hat, leuchten die Scheinwerfer auf. Nach ein paar Kilometern schält sich ein gelbes Schild aus der Finsternis, und das Motorgeräusch verklingt.

Die Marsch versinkt wieder in Dunkelheit und Stille. Am Horizont in Richtung Wyk breitet sich eine halbe Stunde später ein orange-gelber Schein aus…

Teil 1 – Ermittlungen

1 Drei Tage später – Sonnabend, 26. Juni

Endlich wieder Föhr

Jelle erwacht, als ihn etwas an der Nase kitzelt. Das ist Mama, denkt er, die ihn wecken will. Er kneift die Augen zu, brummt noch im Halbschlaf: „Lass das“ und schmeißt sich, die Decke über den Kopf ziehend, auf die Seite. Das Kitzeln hört auf, aber irgendetwas kommt ihm komisch vor. Bis auf das Konzert einer sehr viel größeren Vogelschar als morgens gewohnt, ist alles still. Weder drinnen noch draußen gibt es die vertrauten Geräusche. Kein Klappern in der Küche, kein Rauschen im Badezimmer, kein Gebabbel seiner kleinen Schwester. Auch draußen nichts, kein Rangierpiepen und Zuschlagen der Autotüren von Lehrern und Schülern des gegenüber liegenden Gymnasiums, auch das Stimmengewirr der in Horden eintreffenden Schüler fehlt. Was ist los? Wo bin ich? denkt er, aber er hat diesen Gedanken noch gar nicht zu Ende gebracht, da fällt es ihm ein: Föhr! Ich bin auf Föhr! Endlich Ferien! Jelle reißt die Augen auf und setzt sich auf. Unwillig schlägt er nach dem dicken Brummer, der sich nach einer Warteschleife wieder dem angepeilten Zielpunkt auf seiner Nase nähert. Bestimmt kommt der aus dem Kuhstall nebenan. „Zisch ab, du Mistvieh“, scheucht der Junge das lästige Insekt von dem vorgesehenen Landeplatz, „du hast hier nichts zu suchen.“ Beleidigt dreht die Riesenfliege ab und steuert ein weniger gefährliches Ziel im Nachbarbett an. Jelle sieht ihr nach und entdeckt die Nasenspitze von Marlene, die gerade noch aus einer Flut von blonden Haaren heraussticht, die sich über ihr Kopfkissen ausgebreitet haben.

Natürlich, sie sind im Krog, in Midlum. Er, Oma, Opa und Marlene, seine Lieblingscousine. Mama und Papa konnten leider nicht mitkommen, und auch die Eltern von Marlene sind diesmal nicht dabei. Eigentlich hatte Oma zwei Ferienwohnungen für die ganze Großfamilie in Nieblum gebucht, aber vor drei Tagen kam die Schreckensmeldung, dass es in dem Ferienhaus einen Wasserrohrbruch gegeben habe und die Wohnungen dort bis auf weiteres unbewohnbar seien. Oma hatte sich sofort ihr Handy geschnappt und die ganze Insel nach einer Ausweichmöglichkeit abtelefoniert. Mit Riesenglück hatte sie für eine Woche noch zwei Zimmer im Krog bekommen, weil dort Gäste kurzfristig abgesagt hatten. Für die ganze Bagage zu wenig, aber Jelle und Marlene sind glücklich, dass es mit Föhr überhaupt geklappt hat. Natürlich wäre es schön gewesen, auch die Eltern dabei zu haben, aber am meisten bedauern es beide, dass Chewbacca nicht mitgekommen ist, der große Labradoodle und Jelles bester Freund. Im Landhaus sind während der Saison leider keine Hunde erlaubt.

Jelle vermisst auch seine kleine Schwester Jonna. Er hatte ihr von den abenteuerlichen Erlebnissen um die Waldhütte erzählt, und Jonna war ganz versessen darauf gewesen, mit ihrem großen Bruder über die Insel zu streifen. Doch dann hatte ihr eine heftige Erkältung einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie musste zu Hause bleiben.

„Ich erzähl dir alles ganz genau, was wir auf der Insel erleben werden“, hatte Jelle seine Schwester getröstet. Er hofft, dass es viel zu erzählen gibt.

Jelle blickt zum Fenster. Durch den bunten Vorhang kann er helles Sonnenlicht erkennen. Prima, denkt er, das wird ein toller Urlaub. Den ganzen Tag am Strand verbringen, im Wasser toben und buddeln, Eis, Pommes und Würstchen, und vielleicht ja auch wieder ein neues Abenteuer. Er schält sich aus der Bettdecke, die sich merkwürdigerweise wieder mehrfach um seine Gliedmaßen geschlungen hat – nachts muss die ein seltsames Eigenleben führen – und geht zum Fenster. Er schiebt den Vorhang beiseite und öffnet einen der beiden Fensterflügel. Wider Erwarten kommt er mit den eigenartigen Fensterhaken auf Anhieb zurecht. Opa hat ihm gestern Abend erklärt, dies sei eine altertümliche Verriegelungstechnik, die man noch hin und wieder in alten friesischen Häusern finde. Glücklicherweise, hat Opa gesagt.

Durch das offene Fenster strömt frische Sommerluft ins Zimmer. Trotz der frühen Morgenstunde ist es schon recht warm. Die Sonne lacht von einem blauen wolkenlosen Himmel und verspricht einen herrlichen Ferientag. Plötzlich horcht Jelle auf. Außer dem fröhlichen Gezwitscher der Vögel dringt plötzlich ein neues, wesentlich lauteres Geräusch ins Zimmer. Er spitzt die Ohren. Aus Richtung Marsch dröhnt Lärm herüber, der wie Musik in seinen Ohren klingt. Bagger, denkt er. Da muss eine Baustelle ganz in der Nähe sein, auf der mit schwerem Gerät gearbeitet wird. Kein „Mini“. Hier handelt es sich ohne jeden Zweifel um großes Gerät. Bagger oder Radlader. Jelle grinst übers ganze Gesicht. Das sehe ich mir gleich nach dem Frühstück an.

„Na Bodo, Urlaub gerettet, was?“ Aus dem zweiten Bett im Zimmer ertönt die Stimme von Marlene, etwas verschlafen noch, aber wach genug, um ihren Cousin ein bisschen aufzuziehen.

Bodo ist der Spitzname, den Oma Jelle verpasst hat, weil sich bei dem Jungen schon im frühesten Kindesalter eine intensive Begeisterung für Baustellen- und Großfahrzeuge herausgebildet hat. Bagger, Radlader, Kranwagen, Traktoren, Kipplaster und Müllwagen haben den knapp Anderthalbjährigen immer aufs Neue zu stürmischen Gefühlsausbrüchen hingerissen einschließlich stimmlicher und mimischer Imitation der großen Maschinen. Oma rezitiert bei solchen Gelegenheiten regelmäßig den alten Hit von Mike Krüger über Bodo und das Baggerloch. So etwas bleibt hängen.

Jelle dreht sich um und grinst seine Cousine an. „Da hinten ist eine Baustelle, gar nicht weit weg. Die guck ich mir nachher gleich mal an. Du kannst ja mitkommen, wenn du willst. Ist viel interessanter als Klamotten begucken bei Inge Haferkorn.“

„Jedem das Seine“, gibt Marlene friedfertig zurück. „Wenn du dir da bei Staub und Hitze die Ohren zudröhnen lassen willst, kannst du das gerne machen. Ich sitze lieber im Apfelgarten und zieh mir eine Apfeltorte mit Schlagsahne rein.“

Apfeltorte mit Schlagsahne ist etwas, das Jelle nachdenklich werden lässt. Essen ist ebenfalls eine seiner großen Leidenschaften. „Mal sehen“, lenkt er ein. „Die Baustelle läuft ja bestimmt nicht weg.“

„Der Apfelgarten auch nicht“, stichelt Marlene, aber ihr Vorstoß geht ins Leere, denn der Gedanke an den Apfelkuchen hat bei Jelle ein lautes Knurren im Bauchraum ausgelöst. Frühstück, denkt er, es ist höchste Zeit, jetzt etwas Vernünftiges in den Magen zu kriegen.

Also ab ins Badezimmer. Jelle zuerst. bei ihm geht es schnell, vor allem weil die mütterliche Kontrolle ausfällt. Bei Marlene dauert es etwas länger. Das Grundsortiment an Kosmetikartikeln der jungen Dame will sachgemäß angewendet werden.

Jelle geht inzwischen hinüber zum Zimmer der Großeltern und klopft. Oma öffnet die Tür. „Komm rein, wir sind noch nicht ganz fertig. Opa ist noch im Badezimmer.“ Sie wirft einen prüfenden Blick auf ihren Enkel und fragt: „Hast du dich auch ordentlich gewaschen?“ Sie kennt ihre Pappenheimer.

„Klar“, antwortet Jelle entrüstet, legt den Kopf schief und hält ihr das rechte Ohr entgegen. „Guck doch.“

Oma lacht. „Die Ohren hast du heute Morgen ganz bestimmt nicht gewaschen, aber seit gestern können die ja auch nicht viel Schmutz angesetzt haben. Und ordentlich angezogen fürs Frühstück hast du dich ja auch.“ Sie sieht auf ihre Uhr. „Viertel vor neun. Wenn Opa auch irgendwann mal fertig ist, könnten wir los.“

„So gut wie abmarschbereit“, kommt die Antwort aus dem Badezimmer. „Hetzt mich nicht.“ Opa kommt, einen alten Schlager auf den Lippen, ins Zimmer und lässt sich aufs Bett fallen. „Nur noch die Schuhe anziehen.“ Er kramt in der Schublade des Nachtkästchens herum. „Hat jemand meinen Schuhanzieher gesehen?“ Dann fällt ihm ein, dass dieses unverzichtbare Instrument möglicherweise noch in seiner Kulturtasche ist. Er verschwindet wieder im Badezimmer. Man hört Schranktüren klappern, unwilliges Gemurmel, das Klirren des Kulturtascheninhalts im Waschbecken und schließlich die genervte Feststellung „Hier ist das Mistding auch nicht.“ Opa erscheint wieder im Zimmer, die Badezimmertür fällt etwas lauter ins Schloss, und Opas Frage, die eher eine Feststellung als eine Vermutung ist, wird jetzt direkt an seine Ehefrau gerichtet: „Hast du meinen Schuhanzieher irgendwo hingepackt?“

Oma bleibt gelassen, schließlich ist Urlaub. „Du (dieses „Du“ wird ganz besonders betont) hast gestern Abend deine Sachen ganz persönlich eingeräumt.“ Die Wiedergabe Opas damit einhergegangener Bemerkung „damit ich auch alles wiederfinde“, verkneift sie sich, um die morgendliche Harmonie nicht gänzlich zu zerstören.

Opa runzelt die Stirn, kneift die Lippen zusammen und denkt nach. Nach Sekunden geht ein Leuchten über sein Gesicht. „Ach ja“, verlegen grinsend tappt er zur Kommode und zieht die obere Schublade auf. Zwischen verschiedenen persönlichen Habseligkeiten und Utensilien, die lt. Opa in jedem Urlaub unentbehrlich sind – Taschenlampe, Taschenmesser, Universalwerkzeug, Klebeband (tesa natürlich), Aufladekabel, Batterien unterschiedlichen Formats und zehn bis zwölf Packungen Papiertaschentücher – liegt der gesuchte Schuhanzieher.

Opa verzieht sich mit dem Instrument auf den nächsten Sessel und im Handumdrehen ist das Schuhanziehen bewerkstelligt. Er legt den Löffel wieder in die Schublade und blickt sich um. „Wo ist denn Marlene?“, fragt er. „Die ist ja auch noch nicht fertig.“

„Schon lange.“ Marlene steckt den Kopf durch die Tür. „Ich warte nur noch auf euch.“

Opa lacht. „Prima, dann mal zack, zack. Die Spiegeleier warten.“

Spiegeleier & mehr

Schon auf der Fahrt nach Dagebüll hatte Opa von dem Frühstück im Krog geschwärmt. Auf dem Weg zur Gaststube setzt er noch einen drauf. „Ich bin jahrelang in der Weltgeschichte herumgefahren, aber das Frühstück bei Familie Jung kann mit den besten Hotels mithalten“, tönt er mit Inbrunst und voller Überzeugung.

„Trägst du nicht ein bisschen zu dick auf?“, fragt Oma. „Es geht um ein Frühstück in einem Dorfkrug.“

„Man muss das Ambiente berücksichtigen und die ganze Umgebung“, beharrt Opa auf seiner Einschätzung. „Die gemütliche Gaststube, die frischen Brötchen vom Dorfbäcker, die Eier vom Bauern nebenan, Wurst und Schinken vom Inselschlachter, Fisch und Krabben direkt vom Kutter, von den friesischen Käsesorten ganz zu schweigen, besser geht´s nicht.“

„Vergiss bloß den Honig nicht vom Imker gegenüber“, stichelt Oma, „und die selbstgemachte Marmelade.“

„Siehst du“, grinst Opa, dem der leichte Spott im Überschwang seiner Gefühle völlig entgeht, „du bist ja auch ganz begeistert.“

Oma schnaubt nur etwas respektlos durch die Nase.

Jelle ist dem kleinen Wortgefecht seiner Großeltern aufmerksam gefolgt. Essen ist seine große Leidenschaft, und ein reichhaltiges Frühstück nimmt dabei eine besondere Stellung ein. Opas Aufzählung der beim Frühstück zu erwartenden Köstlichkeiten lassen ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen.

Marlene guckt ihn von der Seite an und kichert. „Du guckst schon wie Chewie, fang bloß nicht an zu sabbern.“

Diesmal übergeht Jelle die Neckerei seiner Cousine, das Thema ist ihm zu wichtig. „Was isst du denn heute zum Frühstück?“, fragt er Opa.

„Meine Lukullusschnitte natürlich“, entgegnet Opa. „Wie immer.“

„Was ist das denn?“ fragt Jelle. Von so einer Schnitte hat er noch nie gehört. „Luxus? Lukus? Ich kenne nur einen Lukas, der geht in meine Klasse.“ Er kann sich nicht recht vorstellen, was dieser Lukas mit Opas Frühstück zu tun hat.

Ehe Opa jetzt langatmig seine teilweise verschütteten Geschichtskenntnisse hervorkramt, erklärt Oma kurz und bündig, dass man üppige und wohlschmeckende Mahlzeiten nach „irgendeinem alten Römer“ benennt.

Doch Opa lässt nicht locker. „Lukullus war ein Politiker und Feldherr, der berühmt war für seine grandiosen Gastmähler“, legt er nun doch nach und holt zu der befürchteten längeren Abhandlung aus, aber Oma bugsiert ihn schnell durch die Tür zum Krog.

Auch Jelle ist an weiteren Ausführungen zu diesem Thema nicht mehr interessiert. Ihm reicht Omas Erklärung. „Üppig und wohlschmeckend ist ganz nach seinem Geschmack.

In der Gaststube ist ein Vierertisch direkt am Fenster zum Garten für sie reserviert. Kaum haben sie Platz genommen, werden sie von Doris Jung herzlich begrüßt. Schließlich hat man sich länger nicht gesehen. Fragen und Antworten werden ausgetauscht, wie es den Kindern geht, der Schwester, den Eltern, Komplimente gemacht, an Marlene – „so ein hübsches Mädchen“ - an Jelle - „so ein großer Junge“. Oma fragt nach Raik („der lässt sich am Nachmittag sicher sehen“), und dann – endlich – stellt Doris die Frage aller Fragen: „Welches Ei soll es denn heute sein?“

Für seine Lukullusschnitte bestellt Opa zwei Spiegeleier. Jelle fährt in seinem Fahrwasser mit, nimmt auch zwei. Oma runzelt leicht die Stirn, belässt es aber dabei und bestellt eins. Marlene nimmt ebenfalls zwei Spiegeleier, bitte aber von beiden Seiten gebraten.

Frau Jung bedankt sich und fragt nun nach den Getränken. „Kaffee?“, nickt sie in Richtung Oma und Opa, die beide dankend zurücknicken. „Gerne“. Marlene darf auch Kaffee. „Mit viel Milch“, bittet sie und wird auf das Buffet verwiesen. Jelle möchte Kakao.

Frau Jung entschwindet mit den Bestellungen in Richtung Küche, und unsere Vier machen sich auf zum Buffet. Opa fischt sich zwei schöne Scheiben Holsteiner Katenschinken heraus – „Da kann auch Herr Günther (der „Best Butcher“ in Hamburg) nicht mithalten“ - und schaufelt mehrere Löffel Krabben dazu auf den Teller. Zurück am Tisch nimmt er sein Morgenwerk in Angriff: Er bestreicht zwei Scheiben Vollkornbrot mit Butter – dick, Oma spricht von Zentimetern und runzelt schon wieder die Stirn – und belegt sie mit dem Schinken. Darauf kommen die beiden Spiegeleier samt mitgeliefertem Speck. Opas erwartungsvoller Blick auf Omas Speckscheibe wird von dieser herzlos missachtet. Das beachtliche Häuflein Krabben vervollständigt die Schnitte. Opa betrachtet sein Werk mit genussvollem Lächeln und greift voller Vorfreude zu Messer und Gabel. „Mmmmh“, mit halb geschlossenen Augen genießt er den ersten Bissen.

Jelle sieht ihm staunend zu. So riesig hat er sich die Lukullusschnitte nicht vorgestellt. Zu seinem Glück hat Oma rechtzeitig eingegriffen und das Ganze auf die Hälfte gekürzt. Mit dem pädagogisch wertvollen Hinweis, dass er sich ja die zweite Portion vornehmen könne, wenn er die erste intus habe. Kurz vor dem Ende der ersten Schnitte ist Jelle Oma insgeheim dankbar. Die lächelt ihn an und nimmt sich seines zweiten Spiegeleis an. Den Speck kriegt Marlene.

Opa ist mit seinem Appetithappen ruckzuck fertig und gönnt sich dann noch zwei der frischen Dorfbrötchen mit Mettwurst, Krabbensalat, und Räuchermakrele, die letzte Hälfte mit Honig.

Auch den anderen schmeckt es hervorragend. Während des Essens werden Pläne für die Gestaltung des Tagesablaufs geschmiedet. Dabei fällt Jelle das Geräusch ein, dass er heute früh vermutlich als Baustelle, sicher aber als Große Maschine abgespeichert hat. Als Frau Jung mit der zweiten Kanne Kaffee kommt, fragt er nach.

„Ich habe heute Morgen so etwas wie eine Baustelle gehört. Ist hier eine in der Nähe?“

„Oh, stört Sie der Lärm?“ Frau Jung wirkt leicht erschrocken.

„Nein, nein, überhaupt nicht“, beschwichtigt Opa sie. „Ich habe überhaupt nichts gehört.“

„Du hörst ja auch nichts mehr, wenn der Bagger direkt neben dir arbeitet“, wirft Oma ein und lacht. Marlene unterdrückt ein Kichern und streicht Opa über den Arm. Oma wendet sich an die Wirtin und erklärt, dass Jelle von klein auf eine bemerkenswerte Begeisterung für Trecker, Baumaschinen und andere große Fahrzeuge zeigt. „Stundenlang kann er an einer Baustelle stehen und den Maschinen dort zusehen. Der Krach stört ihn überhaupt nicht.“

Jelle grinst verlegen und stößt Marlene unter dem Tisch an, die ihn angrient und leise das Baggerlied summt.

„Da ist der Junge hier ja goldrichtig“, schmunzelt Frau Jung, „Baustellen haben wir hier genug.“ Sie wird ernst. „Mehr als genug. Auf einige davon können wir wirklich verzichten.“

„Der Bauboom macht wohl auch vor Föhr nicht Halt“, meldet sich Opa zu Wort. „Neue Ferienhäuser schießen hier ja wie Pilze aus dem Boden.“

„Wenn es nur das wäre“, seufzt Frau Jung. „Gleich hier unten in der Marsch ist der Kuhstall von Andresen abgebrannt. Letzte Woche erst, lichterloh in Flammen hat das gestanden, bis auf die Grundmauern runter ist alles. Der Bagger, den Jelle gehört hat, macht da jetzt alles platt.“

„Oh, das ist ja fürchterlich.“ Opa wirkt ein wenig betreten. „Ich meinte ja nur…“

„Und die Kühe?“, fragt Jelle erschrocken. Rindviecher sind ihm beinahe so ans Herz gewachsen wie Baumaschinen.

„Keine Sorge“, tröstet ihn Marlene. „Die sind um diese Jahreszeit alle auf der Weide.“

Frau Jung ist jetzt richtig im Fahrwasser und holt tief Luft. „Das ist ja nicht alles. Seit März hat es hier neun Brände gegeben. Querbeet über die ganze Insel. Drei Höfe, ein Lagerschuppen in Oldsum, die Backstube in Utersum, das neue Restaurant in Wrixum, eine Kate in Hedehusum, der neue Schlickblick und vorgestern erst das Autohaus in Boldixum…“

„Was?“, unterbricht sie Opa, „unser Schlickblick? Der war doch noch gar nicht richtig offen.“

„Ja, und in Oldsum bei Inge Haferkorn haben sie es auch versucht. Aber das hat ein Nachbar rechtzeitig bemerkt. Leichte Brandspuren sind aber am Eingangstor deutlich zu sehen.“

Oma und Opa bleibt die Spucke weg. „Das ist ja schrecklich“, murmelt Oma betroffen, und Opa nickt. „Und alles Brandstiftung?“, fragt er. „Hat man denn irgendwelche Anhaltspunkte, wer´s war?“

Die Krogwirtin schüttelt den Kopf. „Die Polizei tappt im Dunkeln. Es gibt wohl viele Hinweise, die aber alle im Sande verlaufen.“

Marlene gestattet sich an dieser Stelle ein leichtes Schmunzeln. Passt wie Faust aufs Auge, denkt sie, denn Sand gibt es auf der Insel ja in Hülle und Fülle. Dabei fällt ihr der letzte Urlaub auf Kreta ein. In Panormo war es doch genauso. Das Phantom konnte dort, von der Polizei beinahe unbehelligt, sein Unwesen treiben, bis sie es schließlich zur Strecke gebracht hat. Mit etwas Hilfe von Sören, Lulis und Jelle zugegebenermaßen. Die SOKO von Kommissar Charisteas brauchte den Taschendieb, der auch noch ein Heiratsschwindler war, nur noch einzukassieren. Apropos …

„Gibt es hier denn keine SOKO?“, fragt sie.

Frau Jung schnaubt abfällig durch die Nase. „Klar gibt es die. Endlich! Nach dem siebten Brand hat sich Flensburg eingeschaltet, und seit letzter Woche sitzen sie hier mit vier Mann hoch im Landhaus und palavern um die Wette.“ Sie schüttelt den Kopf. „Stimmt ja gar nicht. Eine Frau ist auch dabei. Eine Oberkommissarin Koslowski aus Kiel. Muss eine Menge Staub aufgewirbelt haben, unser Feuerteufel.“ Sie lacht. „Ja, die haben ihren Verein tatsächlich SOKO Feuerteufel genannt. Viel herausgekommen ist bisher aber noch nichts. Montag sind sie wieder hier. Sie können den Verein dann zu den Mahlzeiten hier im Gastraum bewundern. Da hinten am runden Tisch hinter dem Kachelofen. Die Dame aus Kiel ist übrigens auch übers Wochenende hiergeblieben.“ Sie wirft einen suchenden Blick durch den Raum und zeigt dann mit einem Kopfnicken zu einem Fenstertisch an der Straße. „Dort sitzt sie, hat wohl ´ne Menge Papierarbeit zu leisten.“

Frau Jung holt kurz Luft und Opa nutzt die Gelegenheit, um sie um noch ein paar Stücke Würfelzucker zu bitten. Marlene und Jelle zwinkern sich zu. Opas Zuckerkonsum zum Kaffee finden sie phänomenal. (Originalton Marlene, die selbst kaum einem süßen Naschwerk aus dem Wege geht, Jelle hat sich diese Bezeichnung von seiner Cousine erklären lassen).

„Oh, bitte entschuldigen Sie“, Frau Jung erschrickt und besinnt sich auf ihre Servicepflichten. Sie erhebt sich kaum, da wird sie auch schon von ihrer Schwester gerufen und sieht zu, dass sie in die Küche kommt.

Marlene guckt sich vorsichtig nach der Kieler Kriminalkommissarin um. Die hat ihr Frühstück beendet und sitzt nun mit einer Kanne Kaffee vor einem beachtlichen Aktenstapel. Marlene glaubt nicht, dass sie so dem Feuerteufel auf die Spur kommt, oder doch? Sie jedenfalls würde die Sache anders angehen. Mit Feldarbeit, so wie in den guten alten Kriminalromanen von denen bei Oma und Opa eine Menge herumstehen.

Das Frühstück geht langsam seinem Ende zu, wobei Opa noch ein Stück Kuchen und ein Schälchen mit Erdbeeren verdrückt, mit Milch und Zucker natürlich. Der Rest Erdbeeren landet auf dem Teller von Jelle. Oma und Marlene mischen sich ein Obstmüsli mit Joghurt. Während sie ihre Schalen leeren, wird über den Tagesplan diskutiert.

„Strand“, fordert Jelle, „aber vorher geh ich noch mal kurz zur Brandstelle rüber.“

„Strand ist gut“, stimmt Opa zu. Der Strand in Nieblum ist ungefähr 5 Kilometer entfernt, das reicht ihm an Bewegung, zumal die Strecke nachmittags ja noch einmal gefahren werden muss.

Auch Oma und Marlene sind einverstanden, wobei Oma ausnahmsweise darauf verzichtet, die Hinfahrt mit kleineren Umwegen durch die Marsch in die Länge zu ziehen. Mit Marlene hat sie schon ausgehandelt, nach dem Abendessen den traditionellen Ausflug zur Eisdiele in Nieblum zu unternehmen. Vielleicht auch mit einem kurzen Abstecher über Borgsum und Goting.

„Aufbruch um halb elf“, verkündet Oma. „Sind die Räder eigentlich da?“, wendet sie sich an Opa.

„Alles paletti“, antwortet dieser. „Zweimal Holland für die Damen, ein Mountainbike für Jelli und ein Trekkingrad für mich, Herren“, betont er. „Alles wie bestellt und pünktlich geliefert.“ Auf den guten alten Fahrradhöker ist eben Verlass.

Während die anderen sich kleidungs- und gepäcktechnisch auf den Ausflug nach Nieblum vorbereiten, macht Jelle sich voller Erwartung auf den Weg zur Brandstelle. Oma weiß ja, was er am Strand braucht. Das Donnern des Baggers und das Krachen der einstürzenden Mauern sind draußen vor dem Gasthaus nicht mehr zu überhören. Unbewusst und begleitet von einem langgezogenen Brrrooomm vollführt er dabei die Nachahmung einer zuschlagenden Baggerschaufel. Die drei anderen sehen ihm nach und zwinkern sich lächelnd zu. Oma liegt das Baggerlied auf den Lippen.

Strandleben 1

Durch die Felder geht die Fahrt nach Nieblum, Strandstraße runter, unten rechts ab und geradeaus Richtung Strand. Den Endspurt über den Deichhuckel bis zum Fahrradparkplatz gewinnt Marlene vor Jelle. Oma wird Letzte, weil sie vor der Steigung zu spät runtergeschaltet hat. Der Fahrradparkplatz ist proppenvoll, eigentlich sieht alles normal aus.

Doch dann kommt der Schock. Hinter dem kleinen Sandwall mit dem Dünenhafer ragen die verkohlten Trümmer des neuen Schlickblicks in den blauen Himmel. Passt irgendwie nicht, ist aber leider traurige Wahrheit.

„So ein Mist“, knirscht Opa und Jelle schlägt dazu die geballte rechte Faust in die linke Handfläche. Lange geübte Praxis.

„Das gibt unserem Strandleben hier aber einen deutlichen Knacks“, vermutet Opa, und Oma stimmt ihm aus vollem Herzen zu.

„Vielleicht sollten wir uns ab jetzt mehr in Richtung Wyk orientieren“, sinniert Opa, „die Strandbar am Südstrand war doch ganz in Ordnung.“

„Ach nö“, meutert Marlene, „hier ist der Strand doch viel schöner.“ Was die Gestaltung und die Abläufe im Urlaub angeht, ist sie sehr traditionsbewusst. „Und hier kriegst du dein Bier ja auch.“ Sie zeigt mit dem Finger auf die Ecke eines grün-weißen Schildes, das hinter der Ruine des abgebrannten Strandrestaurants gerade noch zu sehen ist.

Opa folgt dem Fingerzeig und seine Miene hellt sich deutlich auf. „Du hast Recht“, strahlt er, „eine Jever-Werbung, und einen Imbiss gibt`s da wohl auch.“ Tatsächlich kommt hinter der Ecke gerade ein junger Mann hervor, der auf einem Tablett zwei große Becher Bier und noch etwas balanciert, das durchaus zwei Portionen Currywurst mit Pommes sein können.

„Schön“, sagt Oma, „dann ist ja alles gut. Mal sehen, ob wir noch einen Strandkorb kriegen.“

Trotz der befürchteten Fülle stellt sich die Strandkorbfrage als nicht weiter schwierig heraus. Ihr blauer Korb mit der Nummer 186 steht sogar in der ersten Reihe und zu Opas Zufriedenheit auch nahe am Strandübergang zum Bierstand, der ja nun sogar noch eine Wurstbude ist. Opa nimmt sich vor, dies in Kürze genauer zu erkunden. Zunächst aber drückt ihm Jelle eine seiner Schaufeln in die Hand und bedeutet ihm nachdrücklich, ihm in Richtung Spülsaum zu folgen, wo er sofort mit den Grabearbeiten für eine Sandburg, Verzeihung, Festungsanlage, beginnt. Und natürlich hat Jelle wieder seine Star-Wars-Figuren dabei. Für alle Fälle aber auch zwei Spielzeugbagger, die beiden „Minis“ von Playmo und Lego.

Oma macht es sich derweil mit einem Buch im Strandkorb gemütlich. Von ihrer Freundin Christa ist sie reichlich mit Lesestoff versorgt. Sie hat jetzt Zeit, denn das Wasser ist gerade erst aufgelaufen, so dass sie mit dem vorgesehenen Ausflug ins Watt noch warten muss.

Marlene liegt neben ihr und hat ihr Handy vor der Nase. Diese Brandgeschichte von Frau Jung hat ihre Neugier geweckt, und die Detektivin in ihr gibt keine Ruhe. In Wikipedia erfährt sie, dass Brandstiftung eine kriminelle Handlung ist und mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren bestraft wird. Ein großer Teil der aufgeklärten Fälle diene der Vertuschung von anderen Straftaten, häufig gehe es um Versicherungsbetrug. Sie liest auch, dass ein ständig zunehmendes Problem in der Brandlegung durch Feuerwehrangehörige besteht. Doch leider findet sie nirgendwo eine Anleitung wie man Brandstifter erkennt und überführt. Ok, denkt sie. So komme ich nicht weiter. Dann ist eben wieder die gute alte Ermittlungsarbeit gefragt. Aber wo ansetzen? Sie legt das Handy beiseite und überlegt. Das Problem mit den Feuerwehrleuten kommt ihr wieder in den Sinn. Damit könnte man anfangen. Aber wie viele Feuerwehrleute mag es hier auf der Insel geben? Sicher eine ganze Menge bei den vielen Reetdächern. Und die werden sich hüten, gleich ein Geständnis abzulegen, wenn sie bei ihnen an die Tür klopft.

Marlene seufzt und stützt das Kinn auf die Handflächen. Nein, so geht das nicht. Dann blitzt ein Gedanke in ihr auf. „Auf frischer Tat muss ich ihn erwischen, so wie das Phantom in Panormo.“

Marlene vergisst, dass ihr in Panormo letztendlich nur Kommissar Zufall auf die richtige Fährte geholfen hat. Aber vielleicht treibt sich dieser Kommissar ja auch auf Föhr rum. Warten wir es ab. Marlene jedenfalls ist jetzt erst einmal zufrieden mit ihren ersten Gedankengängen und tut das, was man bei dem schönen Wetter am Strand tun sollte. Sie geht baden.

Jelle ist mit Opas Hilfe dabei, den Nieblumer Strand mit einer eindrucksvollen Festungsanlage zu verschönern. Sein erklärter Vorsatz ist es, die Anlage von Panormo noch zu übertreffen. Ein Foto hat er zu Vergleichszwecken dabei. Die beiden Bauarbeiter haben bereits eine Menge Sand bewegt. Sie klopfen Mauern glatt, formen Türme mit Zinnen, bohren Tunnel und heben Gräben aus. Als Marlene vorbeikommt, unterbrechen sie ihre schweißtreibende Arbeit und sehen sich an.

„Zeit für eine kleine Erfrischungspause“, stöhnt Opa, legt die Schaufel beiseite und stemmt sich mühsam hoch. „Ein kühles Bad im Wasser würde uns auch ganz gut tun, was meinst du, Jelli?“

Sein Enkel ist deutlich weniger geschafft als sein Großvater. Er könnte noch stundenlang weiterbuddeln, aber das Wasser lockt auch ihn. „Ok“, stimmt er zu, „aber mit Ball.“ Er springt auf, wirft seine Schaufel – die große – hin, die nur um Haaresbreite den frisch hochgezogenen linken Eckturm der Innenanlage verfehlt und sprintet zum Strandkorb, um den Ball zu holen.

Es wird ein ausgelassenes Plantschen und Toben im Wasser, bei dem Opa die meiste Zeit von seinen beiden Enkeln unter Wasser gedrückt wird. Als er endlich einmal auf die Füße kommt, um Luft zu schnappen, sieht er am Strand einen Jungen bei der halbfertigen Festungsanlage stehen.

Hauke

Jelle, guck mal, da steht ein Bewunderer deiner Baukunst“, stößt Opa schwer atmend hervor, wobei ihm noch eine beträchtliche Menge Nordseewasser aus Mund, Nase und Ohren läuft.

Wie ein kleines Meerungeheuer schnellt Jelle aus dem Wasser und dreht sich in Richtung Strand. Gerade bückt sich der fremde Junge und nimmt eine der dort liegenden Schaufeln auf. Das ist zu viel! „Meine!!!“, schreit Jelle und rennt mit fuchtelnden Armen durch die hoch aufspritzenden Wellen auf den Strand zu.

„Langsam, Jelli“, versucht Opa den Jungen zu beruhigen. Er ergreift ihn am Arm, erwischt ihn nur halb, stolpert und platscht der Länge nach noch einmal ins Wasser. Unglücklicherweise bringt er dabei auch noch Jelle zu Fall, dessen empörte Schreie abrupt unter Wasser enden.

Marlene kann sich angesichts der unfreiwilligen Kapriolen der beiden vor Lachen nicht mehr halten und plumpst rücklings ebenfalls in die Wellen zurück.

Der Junge am Strand ist erschrocken herumgefahren und sieht dem Schauspiel im Wasser mit offenem Mund zu. Er wirft die Schaufel beiseite und will die Flucht ergreifen, als Oma ihm die Hand auf die Schulter legt. Sie hat den Zwischenfall vom Strandkorb aus beobachtet und sich vorsichtshalber an den Ort des Geschehens begeben. Dort ist ausgleichendes Eingreifen gefragt.

„Keine Angst, mein Junge“, beruhigt sie den Neuankömmling. „Die wilde Horde dort im Wasser ist harmlos. Die tun dir nichts. Bleib ruhig hier und sieh dir die Burg an. Das wolltest du doch, oder?“

Der Junge fasst sich wieder und nickt. „Ich finde die Burg ziemlich gut gelungen, aber da fehlt ein wichtiges Element.“

Der Junge redet ziemlich geschwollen, denkt Oma, aber er sieht eigentlich ganz nett aus. Sie schätzt ihn auf ein bis zwei Jahre älter als Jelle. „So, findest du?“, fragt sie. „Was fehlt denn an dieser Burg?“

Bevor der Junge antworten kann, mischt sich Jelle ein, der sich inzwischen aufgerappelt hat und schwer schnaufend zwischen sie drängt. „Das ist keine Burg, sondern eine Festungsanlage“, stößt er kopfschüttelnd und mit beiden Armen wedelnd hervor und spritzt dabei mit einer Menge Meerwasser um sich. „Meine! Was willst du überhaupt hier?“

„Nun mal ruhig Blut, Jelli.“ Oma fasst ihren aufgebrachten Enkel sanft beim Arm. „Der Junge hat sich die Burg doch nur angesehen. Die Festungsanlage“, verbessert sie sich schnell, als Jelle tief Luft holt.

„Aber er hat doch die Schaufel…“, Jelle gibt noch nicht nach. Er ist davon überzeugt, dass der fremde Junge sich an seiner Festungsanlage zu schaffen machen wollte. Ganz eindeutig ein feindlicher Angriff.

„War ein Reflex“, entschuldigt sich der Junge, der sich dank Omas Eingreifen nun wieder sicher fühlt. „Ich hab da was entdeckt und da hab ich ohne weiter nachzudenken zur Schaufel gegriffen. Natürlich ist es deine…“, er stockt kurz, grinst Jelle an und beendet seinen Satz dann mit „…Festungsanlage.“

„Siehst du, Jelle, kein Grund zur Aufregung.“ Oma knufft ihren Enkel in die Seite. „Der Junge will doch nur helfen.“

Jelle sieht den Jungen prüfend an. Eigentlich kann er Hilfe gut gebrauchen. Wer weiß, wie lange Opa sein Nickerchen im Strandkorb noch aufschiebt, und außerdem macht es mit einem Jungen in seinem Alter vielleicht doch mehr Spaß. Er denkt an Emil, mit dem er seine preisgekrönte Festungsanlage in Panormo gebaut hat. „Ok“, gibt er nach. „Hast du eine Schaufel dabei?“

Der Junge schüttelt den Kopf. „Meine Strandsachen sind noch im Ferienhaus. Wir sind gerade erst gekommen, und ich wollte mich nur mal schnell umsehen. Ich bring sie heute Nachmittag mit.“ Er streckt Jelle die Hand hin. „Ich bin mir sicher, dass wir ein gutes Team sein werden. Ich kenne mich mit solchen Anlagen gut aus. Mein Vater sagt, ich sei ein Experte.“

Während Oma bei dieser Formulierung erstaunt die Augenbrauen hochzieht, nickt Jelle dem Jungen zustimmend zu, auch wenn er nicht genau weiß, was ein Experte ist, und schlägt ein. „Dann mal los“, fordert er seinen neuen Buddelgenossen auf. „Du kannst erst mal eine von meinen Schaufeln haben.“ Weil er sich aber hinsichtlich des guten Teams noch nicht ganz sicher ist, und um gleich klarzustellen, wer hier das Sagen hat, schiebt er gleich noch die erste Aufgabenverteilung hinterher: „Du nimmst die beiden Eimer und holst nassen Sand von da vorne. Ich arbeite erst einmal hier weiter an der Außenmauer.“

Man sieht dem Neuankömmling an, dass ihm das nicht ganz recht ist, aber er schnappt sich Eimer und Schaufel und will losziehen, da hält ihn Oma zurück. „Wir wissen ja noch gar nicht wie du heißt. Und wie alt bist du eigentlich?“

„Ich heiße Hauke Harald wie mein Vater“, antwortet der Junge. „Und ich bin schon fast zehn.“

Oma geht ein Licht auf, eher ein ganzer Kronleuchter. Daher auch die etwas geschwollene und altkluge Ausdrucksweise. „Kommst du aus Hamburg?“, fragt sie.

„Ja, aus Klein Flottbek, das gehört zu den Elbvororten. Mein Vater ist Direktor…

Er stellt die Eimer wieder ab und setzt zu einer längeren Auskunft an, aber Oma stoppt ihn mit einer abwehrenden Handbewegung, bevor er seine familiären Verhältnisse weiter in allen Einzelheiten offenlegen kann. „Lass mal, das geht uns ja nichts an. Hol du nur den Sand und dann macht ihr weiter mit der Buddelei.“ Sie nimmt Opa beim Arm und zieht ihn in Richtung Strandkorb. „Das glaubst du nicht“, glottert sie, als sie weit genug weg sind, „das ist doch…“

Doch Opa glaubt es nicht nur, nein, er ist sich hundertprozentig sicher. Dieser Druckreifsprecher und Festungsanlagenexperte ist der Sohn von Hauke Harald Erik, dem fanatischen Sandburgenbauer und Anhänger von rosa Schlumpfbabys und Master-Figuren. Es muss gut 35 Jahre her sein, da hatten sie den Senior in Wyk am Südstrand kennengelernt, wo er einige Tage lang mit Lexi, Marlenes Vater, und Imke, Jelles Mutter, den Südstrand von Wyk umgegraben hat. Der Name, gleiches Aussehen, großspuriges Auftreten und gleiche Redeweise, passt alles. Statt mit Star-Wars-Figuren wurden die Sandburgen damals von Lexi mit „Masters-of-the-Universe-Helden, einer Action-Figuren-Serie mit einem Superhelden namens He-Man als zentraler Figur, besetzt. Imke, vier Jahre jünger, steuerte eine umfangreiche Sammlung von Schlümpfen bei.

Hauke Harald Erik hatte damals eine besondere Vorliebe für das rosa Schlumpfbaby entwickelt, und um sich ständigen Zugriff hierauf zu sichern, hatte er es sich angewöhnt, diese Figur in allen Pausen und auch vor dem abendlichen Abschied vom Strand an einer geheimen Stelle im Sand zu verscharren, oft so geheim, dass er sie selbst kaum hatte wiederfinden können. Dies hatte regelmäßig dazu geführt, dass stundenlang nach dem Schlumpf hatte gesucht werden müssen. Irgendwann aber war das rosa Schlumpfbaby auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Hauke Harald Erik jedoch hatte jede Schuld daran entschieden zurückgewiesen.

Kam es bei den daraus oder einer der täglichen Auseinandersetzung der Zuteilung He-Mans wegen zu Unstimmigkeiten, rutschte Lexi im Eifer des Gefechts schon mal das Wort „Blödmann“ oder Ähnliches heraus, und seine Schwester Imke, bereits im frühesten Kindesalter lernwillig und stets aufnahmebereit, schloss sich Verunglimpfungen dieser und ähnlicher Art gerne an. Hauke Harald Erik konterte jedes Mal mit dem schlimmsten Schimpfwort, das er kannte (oder das er sich auszusprechen wagte) mit einem empörten „Du ungehobelter Gassenjunge, du.“ Dass er Imke dabei einbezog, spielte keine Rolle.

Ein nicht ganz einfacher Spielgefährte also. Mal sehen, wie sich der Nachwuchs hier macht, denken Oma und Opa. Dabei fällt Oma ein, dass Hauke Harald ja einige Mängel an der im Bau befindlichen Anlage festgestellt hat. Sie wendet sich noch einmal an den mit zwei Eimern tropfnassen Baumaterials heranstapfenden Jungen und fragt: „Du hattest doch gesagt, dass bei der Burg etwas Wesentliches fehlt. Was meinst du denn da?“ (Den von seitlich unten kommenden Einspruch Jelles in Sachen Festungsanlage unterbindet sie mit einer unwilligen Handbewegung.)

Hauke Harald stellt die Eimer ab, macht ein wichtiges Gesicht und deutet mit der Schaufel in die Mitte des Bauwerks. „Da gehört ein Bergfried hin.“

Omas Gesicht ist ein einziges Fragezeichen. Von Burgen und Festungsanlagen hat sie keinen Schimmer. Da kommt Aufklärung von unerwarteter Seite.

„Das ist der Haupt- und Wehrturm im Mittelalter“, erklärt Marlene. In der Schule hatten sie vor Jahren das Thema Ritterburgen im Sachkundeunterricht durchgenommen, und in ihrem Zweitkinderzimmer bei Oma und Opa hatte sie auch verschiedene Bücher dazu gefunden, die Imkes Kinderfreund Benni dort deponiert und vergessen hatte.

„Alles klar“, verkündet Oma, „dann baut mal schön. Den Versuch Hauke Haralds, der mehrfach Luft holt und zu weiteren Erklärungen zum Burgenbau im Mittelalter ansetzt, übersieht sie absichtlich. Zufrieden mit ihrer Friedensmission zieht sie sich zum Strandkorb zurück. Sie muss dringend weiterlesen (Der wahrscheinliche Oberschurke ist gerade vor dem einsam stehenden Haus der jungen Augenzeugin eingetroffen…).

Jelle ist es egal, wie der neue Turm heißt, er findet aber, dass sich ein weiteres hohes Gebäude dort im Innenraum seiner Anlage gut macht.

„Hol mehr Sand und bau deinen Bergdings“, befiehlt er.

Hauke Harald kippt die Eimer aus und macht sich auf den Weg.

Strandleben 2

Opa ist froh, dass die Buddelarbeit für ihn vorbei ist. Er hat anderes vor. Er hält die Zeit für gekommen, einen Blick um die Ecke der Schlickblickruine zu werfen, um herauszufinden, was es dort wohl an gastronomischen Köstlichkeiten geben mag. Zehn Minuten später kommt er mit einem Leuchten im Auge zurück.

„Jever“, verkündet er freudestrahlend, „muss man aber abholen. Sitzplätze gibt´s da nicht.“ Er macht eine bedeutungsvolle Pause und fährt dann fort: „Aber ein paar Tischchen für ein schnelles Glas im Steh´n“, und summt ein paar Takte des alten Schlagers von Reinhard Mey.

„Und wie ich dich kenne, hast du das gleich ausprobiert.“ Oma nickt wissend vor sich hin.

„Natürlich“, grinst Opa. „Das Buddeln und die Toberei im Wasser machen doch Durst.“

„Und gibt es auch was zu essen?“, fragt Marlene, „Pommes?“ Ihr Appetit ist gewaltig. Hier auf Föhr besonders.

„Gibt´s“, bestätigt Opa. „Bratwurst auch und Waffeln oder Pfannkuchen und so.“

Oma guckt auf die Uhr. „Schon nach eins“, stellt sie fest, „Zeit, dass die Kinder was in den Magen kriegen. Holst du was?“

Opa nickt und lässt sich von seiner Frau das Portemonnaie geben. „Was willst du denn haben?“

„Für mich Wiener Würstchen. Jelle will bestimmt eine Bratwurst. Nimm zwei Portionen Pommes, die reichen für uns alle, wir essen ja heute Abend im Krog.“

„Und ein Bier?“, fragt Opa nach.

„Was denkst du denn? Schließlich ist das hier doch Schlickblickgebiet.“ Ob Opas Frage kann Oma nur den Kopf schütteln.