Der Fluch der schönen Insel - Virginia Doyle - E-Book

Der Fluch der schönen Insel E-Book

Virginia Doyle

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  • Herausgeber: Heyne
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2009
Beschreibung

Ein neuer Fall für den berühmten Meisterkoch und Hobbydetektiv Jacques Pistoux

Jacques Pistoux befindet sich auf dem Rückweg von New York nach Europa. Mit dem Ozeandampfer Angelique gerät er kurz vor der französischen Küste in einen gewaltigen Sturm, der die Ruderanlage des Schiffes so beschädigt, dass es den Hafen einer kleinen Insel anlaufen muss. Tags darauf wird einer der Passagiere mit durchgeschnittener Kehle gefunden. Pistoux macht sich auf die Suche nach dem Mörder.

Virginia Doyle – ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis.

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Seitenzahl: 406

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Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
Lieferbare Titel
Widmung
Inschrift
1. SCHIFFBRUCH
2. REISE NACH ARMORIKA
Copyright
Das Buch
Wir schreiben das Jahr 1886. Der Meisterkoch und Amateurdetektiv Jacques Pistoux ist nach einem längeren Aufenthalt in New York auf dem Weg zurück nach Europa. Kurz vor der französischen Küste läuft die »Angelique« auf ein Riff und die Schiffbrüchigen müssen sich in ein kleines Hotel auf der bretonischen Insel Belle-Île flüchten.
Kaum ist er dort angekommen, wird Pistoux in merkwürdige Geschehnisse verwickelt. Ein Unbekannter feuert einen Schuss auf ihn ab, seine Reisebekanntschaft Dr. Lefèves verschwindet spurlos und ein vermeintlicher Saboteur tritt überraschend in neuer Verkleidung auf. Dann wird die Leiche eines Passagiers in einer Grotte aufgefunden - mit durchgeschnittener Kehle. Pistoux wird Chefkoch im »Hotel du Phare«. Als die Kaufmannstochter Mira Ostermann und ihr Bruder Philip aus Hamburg dort absteigen, kommt es zu persönlichen Verwicklungen, die eine tödliche Dramatik entwickeln. Weitere Gewalttaten und eine Entführung zwingen Pistoux zum Eingreifen.
Kulinarisch interessierte Leser finden im Anhang »Das Kochbuch des Jacques Pistoux« mit Rezepten aus der Bretagne.
Der Autor
Unter dem Pseudonym Virginia Doyle schreibt der in Hamburg lebende Krimi-Autor Robert Brack historische Kriminalromane. Nach der St. Pauli-Trilogie ist dies ein neuer Roman um den französischen Koch Jacques Pistoux, dessen letztes Abenteuer in dem Bestseller Das Totenschiff von Altona erzählt wurde. Robert Brack wurde mit dem Deutschen Krimi-Preis und dem »Marlowe« der Raymond-Chandler-Gesellschaft ausgezeichnet. Virginia Doyle und Robert Brack im Internet: www.gangsterbuero.de
Lieferbare Titel
Die schwarze Schlange - Der gestreifte Affe - Die Rote Katze
Für Nelly
Lauscht nun alle, wenn ihr wollt,und ihr werdet ein hübsches Märchen hören!Drin gibt es keine Lüge,vielleicht nur ein oder zwei Wörtchen.
- Einleitende Worte bretonischer Geschichtenerzähler
1. SCHIFFBRUCH
Die Angelique war ein stolzer Dreimaster, der elegant die Wellen des Nordatlantik durchpflügte. Im Mai des Jahres 1886 befand er sich auf dem Weg von New York nach Nantes, zur Hälfte beladen mit Baumwolle und Kautschuk, zur anderen Hälfte mit Rückwanderern, die ihr Glück in der Neuen Welt verpasst hatten oder die das Heimweh nach dem alten Kontinent gepackt hatte. Sie kamen zum größten Teil aus Kanada, manche auch aus den Vereinigten Staaten, einige direkt aus New York. Die meisten hatten ihr Hab und Gut verkauft oder das wenige Geld zusammengekratzt, das ihnen noch geblieben war, und sich eingeschifft. Viel hatten sie nicht an Bord getragen, am schwersten wogen die enttäuschten Hoffnungen, die sie nach ihren erfolglosen Versuchen, sich in Amerika einzurichten, wieder mit nach Hause nahmen.
Es waren Familien darunter, Einzelpersonen, die keine neuen Freunde gefunden hatten und solche, denen die Angehörigen oder Freunde im Land der Hoffnung abhanden gekommen waren. Nun hockten sie auf dem Deck der schnittigen Angelique und hofften, dass die alte Heimat ihnen bald ihre tröstenden Arme entgegenstrecken würde.
Unter den einzeln reisenden männlichen Passagieren befanden sich auch manche, die man nicht auf den ersten Blick einordnen konnte. Einige wirkten verwegen und kraftvoll. Wieso waren sie auf dem Weg zurück? Zwei oder drei schienen immer gut gelaunt und zum Feiern aufgelegt, fanden aber nur selten weitere Teilnehmer für ihre feuchtfröhlichen Nächte am Kartentisch. Andere schienen ihr Schicksal und das der anderen Gescheiterten eher gleichgültig zu betrachten. Zwei oder drei waren den anderen Mitreisenden ein Rätsel, zum Beispiel jener hochgewachsene Franzose mit dem dunklen Teint, der sehr nachdenklich und abwesend wirkte, aber stets freundliche Antwort gab, wenn er angesprochen wurde. Er hielt auf Distanz zu den anderen, stand oftmals an der Reling und blickte über das leicht bewegte Meer. Wenn er jedoch darauf angesprochen wurde, half er gern, egal welches Problem es zu bewältigen galt.
Den Namen dieses Mannes kannte man inzwischen, »der Doktor« hatte ihn weitergesagt, ironisch lächelnd, mit anspielungsreichem Unterton, der Doktor, der gern leutselig über das Deck spazierte und mit jedem plauderte, aber gleichzeitig nur sehr wenig über sich selbst preisgab. Der Doktor hatte den wortkargen Mann kurzerhand angesprochen und herausgefunden, dass sie einiges gemeinsam hatten: Sie kamen beide aus Nizza, sie waren beide in der Welt herumgekommen und hatten nirgendwo Wurzeln gefasst, hatten keine Familie. Der Doktor fand, vor allem ihre Nachnamen passten zueinander:
»Sie heißen Pistoux, Monsieur, ist das Ihr Ernst?«
»Aber ja, Doktor, wenn ich es doch sage.«
»Pistoux, wie Soupe au pistou?«
»Wenn Sie sich erlauben wollen, diesen Scherz zu machen, bitte sehr.«
»Aber, aber, was heißt Scherz? Was denken Sie, wie ich heiße?«
»Da Sie sich mir nicht vorgestellt haben, möchte ich mir nicht anmaßen, darüber zu spekulieren, Herr Doktor.«
»Lesfèves, wenn Sie gestatten, und wenn das mal nicht die Bohnen sind, die in die Suppe gehören. Sie sind aus Nizza wie ich, Sie wissen, wovon ich spreche.«
Jacques Pistoux blickte Dr. Lesfèves, der noch ein Stück größer war als er und deutlich dünner, ernst an. »Doktor, ich bin eine Zeitlang in Deutschland gewesen. Wissen Sie, wie man dort einen Menschen nennt, der sehr hochgewachsen und mager ist?«
»Nein.«
»Bohnenstange.«
Damit war das Eis gebrochen. Doktor Lesfèves lachte herzlich und bekam einen Hustenanfall. Pistoux versuchte ihm zu helfen, indem er ihm auf die Schulter klopfte.
Lesfèves setzte sich keuchend auf eine Taurolle und bemühte sich, den Husten zu bezwingen. Pistoux bot an, ihm ein Glas Wasser zu holen. Der Arzt nahm dankend an.
Nachdem Pistoux ihm das Wasser gebracht hatte und der Anfall vorbei war, hob Lesfèves den Kopf und fragte: »Was sind Sie von Beruf, Monsieur Pistoux?«
Pistoux schüttelte den Kopf. »Wenn ich Ihnen das jetzt sage, bekommen Sie wieder einen Hustenanfall.«
Der Arzt schmunzelte. »Soll ich raten?«
Pistoux zuckte mit den Schultern.
»Es ist nicht schwer«, stieß Lesfèves mit hochrotem Kopf hervor, als ihn ein zweiter Heiterkeitsanfall packte.
»Schon gut«, sagte Pistoux beschwichtigend, »lassen Sie es.«
»Koch! Sie sind Koch!«, presste Lesfèves aus seiner gequälten Kehle heraus. Dann verbarg er sein Gesicht in den Händen, die er auf die Knie gelegt hatte, und gab sich zuckend seinem Heiterkeits- und Hustenanfall hin. Als es vorbei war, blickte er auf und fragte: »Es stimmt doch, oder?«
Pistoux nickte.
»Wollen Sie wissen, wie ich darauf gekommen bin?«
»Wenn Sie nicht wieder anfangen zu husten, bitte.«
»Man sieht es Ihnen nicht an, Monsieur. So wie Sie gekleidet sind, auch wenn Ihre Kleider ein wenig abgetragen sind … Aber schauen Sie mich an, das ist auch nicht besser … Also, dennoch wirken Sie wie jemand, der drinnen arbeitet. Sie könnten auch ein Schreiber sein, ein Kalkulator, na, vielleicht eher ein Wirtschafter, denn Sie wirken zu kräftig für eine reine Schreibtischtätigkeit. Gemerkt habe ich es allerdings in dem Moment, als Sie den beiden Mädchen da drüben ihre Äpfel geschält haben. Zuerst dachte ich nur, verwöhnte Gören, aber dann haben mich Ihre flinken Bewegungen mit dem Messer sehr beeindruckt.«
»Sie haben mich beobachtet.«
»Aber ja. Beim Essen kam mir dann die Gewissheit: Sie aßen und dachten nach. Nicht darüber, was im Eintopf drin war, das war ja allzu banal und deprimierend. Nein, Sie sinnierten darüber nach, was man aus den Zutaten hätte machen können, wenn man nicht so ein Stümper wie dieser Schiffskoch hier wäre.«
»Na ja, jeden Tag Stockfisch …«
»Ich habe also Recht?«
»Ja, doch.«
Lesfèves grinste breit: »Verstehen Sie nun meine Heiterkeit, Monsieur Pistoux? Bohnen und Basilikum!« Wieder begann er zu lachen.
»Nun hören Sie doch endlich auf damit!«, fuhr Pistoux ihn an.
Der Arzt verstummte: »Ich bitte um Vergebung, Monsieur.«
Pistoux, der sich zu ihm herabgebeugt hatte, richtete sich auf und schaute übers Meer. Von Tag zu Tag war der Wind heftiger geworden. Jetzt sah man manchmal schon kleine Schaumkronen auf den Wellen. Das Schiff bewegte sich erstaunlich ruhig durch die See. Es war ganz offensichtlich von hervorragender Bauart und der Kapitän und seine Mannschaft verstanden ihr Handwerk.
Aber was weiß ich schon von der Seefahrt, dachte Pistoux? Und habe ich jetzt nicht ein ganz anderes Problem? Wie werde ich diesen redseligen, allzu witzigen Doktor wieder los? Ich will nachdenken, nicht reden! Wenn wir unseren Hafen in Frankreich erreicht haben, will ich zu einer Entscheidung gekommen sein.
Entscheidung? Pistoux lachte kurz und sehr leise vor sich hin. Er wusste ja noch gar nicht, zwischen welchen Möglichkeiten er sich entscheiden sollte. Seine Zukunft war ein weites Feld ohne Wegmarken. Er war vollkommen frei, ohne jede Bindung, aber auch ohne Idee, wohin sein Weg ihn führen würde. Tatsächlich hatte er den Weg verloren. Nun ja, war es denn wirklich so schwer? Er hatte Amerika hinter sich gelassen, er wollte zurück nach Europa. Sollte es wirklich Frankreich werden?
Sein Heimatland war groß, das war das eine Problem. Nach längeren Aufenthalten in anderen Ländern wie England, Spanien, Deutschland, Österreich und Italien, wusste er nicht wohin und ob er das eigene Land überhaupt würde ertragen können. Und was hieß schon Heimat? Nirgendwo war jemand, der ihn hätte aufnehmen können. Und Nizza? Sollte er wirklich nach so vielen Jahren ausgerechnet an den Geburtsort zurück?
Pistoux’ Gesichtsausdruck wurde grimmig und entschlossen. Mochte doch dieser hustende Arzt hier sagen, was er wollte, ein Entschluss war unwiderruflich: Er würde nie mehr als Koch arbeiten! In diesem Beruf hatte er mittlerweile zu viele erniedrigende Erfahrungen gemacht, vor allem in der Neuen Welt, in der angeblich alle Menschen gleiche und große Chancen für eine glänzende Zukunft hatten.
Die Menschen auf der Angelique hatten ähnliche Erlebnisse hinter sich. Dies war es, was Pistoux mit den anderen an Bord verband: enttäuschte Hoffnungen, verlorene Illusionen. Aber halt, rief er sich zur Räson, du bist noch jung, du hast keinen Grund dich gehen zu lassen! Du solltest weniger grübeln und mehr auf andere Menschen zugehen. Hat es dir nicht Spaß gemacht, den Mädchen da drüben ihre Äpfel zu schälen? Aber wo waren sie jetzt?
Er schaute zum Heck. Die Mädchen waren verschwunden, wahrscheinlich unter Deck gegangen, um sich aufzuwärmen. Die Passagiere, die jetzt dort standen oder saßen, hatten sich ihre Mäntel oder Decken enger um den Leib geschlungen. Die meisten wandten dem Wind den Rücken zu. Ich gehe erst nach unten in diesen Kaninchenkäfig, wenn es hier oben überhaupt nicht mehr auszuhalten ist, entschied Pistoux.
Er blickte zum Horizont. Die Grenze zwischen Meer und Himmel war verwaschen. Gischt sprühte in sein Gesicht, oben am Himmel ballten sich graue Wolken zusammen. Zwei Matrosen stiegen in die Wanten, um noch ein paar Segel zu reffen. Jemand zupfte ihn am Ärmel. Pistoux schaute nach unten. Doktor Lesfèves grinste ihn an: »Spielen Sie eigentlich Schach, Monsieur?«
Unter Deck herrschte das übliche Gedränge. Es war stickig, die Luft war schlecht, denn die wenigen Luken mussten wegen des hohen Seegangs geschlossen bleiben. Jeder Passagier hatte nur sein Bett und den Raum darunter, wo er die nötigsten Dinge verstauen konnte. Zu den schon bekannten Ausdünstungen war ein säuerlicher Gestank gekommen, denn inzwischen waren nicht wenige seekrank geworden und hatten sich übergeben müssen. Männer fluchten, Frauen stöhnten, Kinder jammerten.
»Ich glaube nicht, dass ich hier …«, sagte Pistoux.
»Nein, nein«, sagte Lesfèves, »zu viele gierige Augen und Hände. Ich will nur eben meine Tasche holen und dann kann es losgehen, draußen. Ein frischer Wind, der das Hirn umweht, wird uns strategische Meisterleistungen ermöglichen.«
Pistoux bemerkte, dass immer mehr Menschen leidend im Bett lagen. Der Schiffsarzt, der von Lager zu Lager ging, hatte ganz offensichtlich alle Hände voll zu tun. »Sollten Sie sich nicht um die Kranken kümmern, Doktor?«
Lesfèves blickte ihn erstaunt an. »Wie? Ach so. Oh nein, das würde niemandem gut tun.«
»Aber Sie sind doch Arzt!«
Der Angesprochene beugte sich jetzt nach unten und zerrte einen Koffer unter seinem Bett hervor. »Sicher, sicher.«
»Dann haben Sie doch einen Eid geleistet und müssen helfen. Wir können unser Schachspiel doch an einem ruhigeren Tag angehen.«
»Nein, nein, jetzt zappeln Sie mir an der Angel, mein Guter, da lasse ich nicht locker. Und was den Eid betrifft …« Lesfèves blickte auf und lächelte schief. »… so habe ich ihn der animalischen Welt geleistet. Wobei …« Er zog eine Holzkiste aus der Tasche. »… ich mir nicht sicher bin, ob ein Affe sich glücklich schätzen würde, wenn ich Hand an ihn legte, wenngleich ich seine Anatomie sehr wohl studiert habe. Aber meine Liebe gilt den Ichty.« Der Arzt zwinkerte verschmitzt. »Und von denen haben wir glücklicherweise nur getrocknete und eingesalzene Exemplare an Bord.« Er stand auf.
Die beiden Männer standen sich leicht gebeugt gegenüber, denn das Zwischendeck war sehr niedrig gebaut.
»Ichty?«
»Fische. Das sind jene Kreaturen, die Ihr Berufsstand mit besonderer Rücksichtnahme zu behandeln hat, wenn ich das richtig sehe.« Er ging wieder in die Knie, schob den Koffer unters Bett, richtete sich auf und hielt die Holzkiste hoch: »Dies wird uns etwas Kurzweil bescheren, kommen Sie, Pistoux!«
Sie verließen das Zwischendeck und stiegen über eine steile, glitschige Holztreppe nach oben.
»Sie sind also nur Tierarzt«, stellte Pistoux fest, als sie wieder an der frischen Luft waren, und der Wind ihnen feine Tropfen ins Gesicht wehte.
Lesfèves lachte: »Das haben Sie wirklich sehr freundlich ausgedrückt. Aber sehen Sie, nach all den Jahren habe ich die Liebe zu den Säugetieren verloren. Vögel, nun ja, aber wie gesagt, ich liebe Fische. Sie behandeln sie mit Salz, ich mit wissenschaftlichem Interesse. Wussten Sie übrigens, dass die Japaner Fische nur in rohem Zustand verzehren? Karpfen, so habe ich mir sagen lassen, werden dort nur lebend verspeist, sonst gelten sie als verdorben. Eigenartig, nicht?«
»Es ist viel zu windig hier draußen, um Schach zu spielen.«
»Oh, schweife ich ab? Langweile ich Sie? Aber nicht doch, Monsieur! Doktor Lesfèves hat bereits einen günstigen Ort ausgesucht, kommen Sie mit!«
Pistoux folgte ihm durch das Gewirr von Seilen und Tauen, Kisten und Fässern, zwischen Matrosen hindurch, die damit beschäftigt waren, umherrutschende Güter zu vertäuen oder beim Reffen der Segel Hand anlegten.
Nach vorn zum Bug, dachte Pistoux, ist das Letzte, wo ich hinwill. Dieser angebliche Arzt wurde ihm lästig. Aber wie soll man jemanden loswerden, ohne eine wichtige Angelegenheit vorzuschützen, wenn man sich an einem Ort befindet, wo die einzige Tätigkeit, die man ausüben kann, das Warten ist?
Es gibt Orte, an denen Höflichkeit nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Vielleicht sollte ich Seekrankheit vorschützen? Lass ihn laufen, er geht sowieso zu schnell.
In diesem Moment tauchte der Arzt ab und verschwand in einer Art Unterstand. Pistoux zögerte, ging dann aber weiter und fand Lesfèves in einem Verschlag zwischen diversen Fässern auf einer Taurolle sitzend, vor sich eine Kiste, auf der das auseinandergeklappte Holzkästchen lag. Der Arzt war schon dabei, die weißen und schwarzen Figuren aufzustellen.
Pistoux verlor beinahe das Gleichgewicht, als der vordere Teil des Schiffes sich heftig hob und in ein tiefes Wellental absackte.
»Man kann doch nicht Schach spielen, wenn das Schiff so hin und her geworfen wird. Die Figuren werden ständig auf den Boden fallen.«
Lesfèves lachte und deutete einladend auf die zweite Taurolle, die Pistoux als Sitzgelegenheit dienen sollte: »Mein lieber Freund, Sie fürchten Gefahren, wo keine sind, sehen Sie doch!« Er hob das Kästchen an und hielt es leicht schräg. Die Figuren darauf bewegten sich nicht. »Nanu!«, rief er lachend: »Ein Wunder der Natur? Zauberei?«
Pistoux ließ sich seufzend auf die ihm zugedachte Taurolle fallen: »Magnetismus«, kommentierte er.
»Gut erkannt, mein Freund. Man sieht also, dass wissenschaftliche Erkenntnisse auch nützlich sein können. Ein Reiseschachspiel mit beweglichen, jedoch nicht umfallenden Figuren ist, im Gegensatz zu manch anderen neuzeitlichen Errungenschaften wie zum Beispiel Dampfkraft oder Elektrizität, eine nützliche Angelegenheit. Sie nehmen Weiß und fangen an!«
Pistoux verlor mehrere Male hintereinander, bevor er merkte, dass der Doktor immer nach dem gleichen Schema spielte, raffiniert, aber nach einer Weile doch vorhersehbar. Pistoux veränderte seine Strategie. Der Arzt geriet ins Hintertreffen und wurde nervös. Er suchte nach neuen Lösungen, aber der Erfolg war nur, dass beide Lager in eine Situation gerieten, in der sie praktisch keinen Zug mehr machen konnten, ohne sich erheblich zu schaden. Pistoux hätte ein Remis genügt. Ihm kam es nicht auf den Sieg an, sondern darauf, effektiv gehandelt zu haben. Lesfèves jedoch nahm die Sache sehr ernst. Er wurde blass, strich sich immer wieder mit der Hand übers Gesicht und begann sich an den Armen zu kratzen. Er kam zu keiner Lösung, rutschte unruhig hin und her, und Pistoux ergab sich in die Rolle des Wartenden.
Mit einem Mal sah der Doktor blass und unglücklich aus. »Sie haben mich da in eine vertrackte Lage gebracht, Monsieur«, sagte er matt.
»Ich sehe keine Lösung, weder für Sie noch für mich«, antwortete Pistoux.
»Es gibt immer eine Möglichkeit, man muss sie nur finden.«
»Es wird schon dunkel, wir werden das Abendessen versäumen.«
»Essen? Den Fraß nennen Sie essen? Ich dachte, da wären wir uns einig.«
»Was bleibt einem übrig, wenn man Hunger hat …«
»Ach was, ich verzichte darauf, wenn ich hier eine Lösung finde.« Lesfèves hob eine Hand, ließ sie wieder sinken und sprang jäh auf: »Geben Sie mir fünf Minuten Zeit! Fünf Minuten, dann werden Sie sich wundern!«
»Bitte sehr, wenn es dann wirklich schnell geht.«
Der Doktor verließ ohne weitere Erklärung den Unterschlupf und ging Richtung Bug. Pistoux starrte auf das Schachbrett. Ganz langsam, Schritt für Schritt, enthüllte sich ihm eine Lösung - und mit einem Mal wusste er, wie er gewinnen könnte.
Da wurde das Schiff heftig angehoben und es fühlte sich an, als würde es gleichzeitig hochgeschleudert und nach vorn katapultiert. Pistoux verlor das Gleichgewicht und fiel zur Seite, das Schachbrett rutschte von der Kiste und die Figuren rollten zwischen den Tauen über den Boden. Die schwierige Situation war von den Naturgewalten gelöst worden.
Pistoux stand auf und musste sich an dem Unterstand festhalten, um nicht hinzufallen, denn das Schiff hatte zu schlingern begonnen.
Wo war Lesfèves? Pistoux arbeitete sich nach vorn zum Bug, was nicht ganz einfach war und schaute sich um. Gischt und Regentropfen schlugen ihm ins Gesicht. Es war jetzt so dunkel geworden, dass man nicht mehr alle Details um sich herum auf Anhieb identifizieren konnte.
Ein Schatten erhob sich wenige Meter neben Pistoux. Ein großer, kräftiger Mann mit einer Schirmmütze. Er starrte Pistoux an und wandte sich dann ohne ein Wort zu sagen ab.
Pistoux rief nach Lesfèves und fand ihn schließlich an genau jener Stelle, an der sich der kräftige Fremde aufgerichtet hatte, auf den nassen Planken. Seine Augen waren geschlossen, er atmete schwer. Als Pistoux ihn an der Schulter rüttelte, schlug er die Augen auf und grinste: »Na, mein Freund, haben Sie eine Lösung für unser vertracktes Problem gefunden?«
»Sogar zwei.«
»Donnerwetter, ich staune!« Lesfèves setzte sich auf. »Und?«
»Die eine werde ich Ihnen nicht verraten, und die andere geht auf das Konto der Wellen.«
»Wie?«
»Der Magnet war zu schwach, das Spiel ist aus.«
»Ach so. Das ist schade. Mir war nämlich auch gerade eine ausgezeichnete Idee gekommen.«
»Wir können versuchen, die Situation zu rekonstruieren«, schlug Pistoux vor.
»Ach was, es wird dunkel und wir sollten uns für die Suppe anstellen.«
»Bei diesem Seegang wird es wohl kaum Suppe geben. Eher eine Brandade.«
»Was ist das denn?«
»Stockfischpüree.«
»Um Himmels willen, Pistoux! Wollen Sie mich foltern lassen?«
»Wir werden sehen.«
Pistoux half dem Doktor auf die Beine. Gemeinsam gingen sie zu ihrem Unterstand zurück und sammelten die Figuren ein.
Als sie damit fertig waren, fragte Lesfèves noch immer auf dem Boden hockend: »Haben Sie übrigens so einen grobschlächtigen Kerl bemerkt, mit einer Mütze auf dem Kopf?«
»Ja, er stand plötzlich vor mir.«
»Hüten Sie sich vor ihm.«
»Warum das?«
»Ein Saboteur, da bin ich mir sicher.«
»Ein Saboteur? Was sollte er sabotieren?«
»Ja, was? Wie soll ich das wissen. Aber würden Sie es nicht merkwürdig finden, wenn Sie einen Passagier oben im Mast herumturnen sähen, am frühen Morgen, noch bevor die Sonne aufgegangen ist?«
»Ja.«
»Und fänden Sie es nicht auch bemerkenswert zu sehen, wie der gleiche Passagier sich ein Tau um den Körper schnürt und sich daran macht, die Bordwand am Heck des Schiffes hinabzuklettern?«
»Das käme mir in der Tat seltsam vor.«
»Sehen Sie.«
»Vielleicht sollten wir den Kapitän unterrichten.«
Lesfèves lachte hämisch: »Den Kapitän? Haben Sie den schon mal mit Passagieren sprechen sehen? Der läuft doch davon, wenn er einen von uns sieht.«
»Jemanden von der Mannschaft …«, schlug Pistoux vor.
»Die würden uns am liebsten allesamt ins Meer werfen. Und selbst wenn uns jemand zuhörte, hätten wir nur Scherereien. Nein, nein, schweigen wir besser und halten die Augen offen.«
Na ja, dachte Pistoux, so außergewöhnlich oder gar gefährlich hatte dieser Bursche nun auch wieder nicht ausgesehen. Wahrscheinlich ist dem Doktor da mal wieder die Fantasie durchgegangen.
Die beiden Männer standen auf.
»Hübsches Wetterchen«, erklärte Lesfèves, jetzt wieder gut gelaunt und taumelte ein Stück zur Seite. Pistoux fasste ihn am Arm und machte Anstalten, ihn mit sich zu ziehen.
»Nein, nein«, sagte der Doktor. »Wissen Sie was, Pistoux? Sie gehen da mal alleine runter. Ich glaube kaum, dass ich heute so etwas wie Stockfischpüree verzehren möchte. Wenn Sie sich gestärkt haben, können wir noch ein Spielchen wagen. Was meinen Sie?«
»Aber doch nicht hier oben an Deck.«
»Nein, ich biete Ihnen mein Bett als Spielort an und eine kleine Flasche amerikanischen Whiskey zur Anregung.«
»Dieses Angebot nehme ich gern an.«
»Also in einer Stunde?«
»Sagen wir in eineinhalb Stunden. Ich möchte mich vorher gern ausruhen.«
»Gut, also bis dann.«
Die Angelique besaß einen eigenen Speisesaal, obwohl diese Bezeichnung für den zweckentfremdeten oberen Laderaum nicht ganz angebracht schien. Im New Yorker Hafen hatte Pistoux, nachdem er schon an Bord gestiegen war, beobachtet, wie rohe Tische und Bänke mit einem Kran vom Kai aus aufs Schiff verladen worden waren. Im letzten Moment erst war dies geschehen, offenbar hatte der Kapitän bis dahin noch mit einer anderen Ladung gerechnet. Wäre die noch gekommen, hätten die Passagiere ihre Blechnäpfe auf den Betten sitzend leeren müssen.
Nun aber waren die drei Zeitpunkte der Essensausgabe große Ereignisse, die den langweiligen Alltag an Bord bestimmten: Morgens gab es Zwieback und ein Getränk, das »Kaffee« genannt wurde, diesen Namen aber nicht verdiente; mittags gab es Eintopf oder Suppe, abends Suppe oder Eintopf, mitunter auch zweimal hintereinander das Gleiche, gerade so wie es dem Koch gefiel. Samstags gab es zusätzlich einen halben Salzhering pro Person und Sonntags eine Scheibe fettes Pökelfleisch, sonst Kohl und Kartoffeln oder Rüben und Kartoffeln, gelegentlich angereichert mit Fleischstückchen oder Stockfischfasern, so wie heute.
Der Speisesaal war karg besetzt. Viele der Reisenden waren seekrank. Ein Matrose stand breitbeinig neben einem großen Topf und verteilte das Essen. Wer sich wunderte, dass der Brei kalt war, wurde darüber belehrt, dass bei Sturm in der Kombüse kein Feuer gemacht werden durfte. Pistoux holte sich seine Portion, setzte sich auf einen freien Platz und stellte den Napf mit dem klebrigen dicken Püree vor sich hin. Der Napf rutschte zur Seite, als das Schiff sich dorthin neigte, der Löffel fiel zu Boden. Pistoux bückte sich unter den Tisch, tastete nach dem Essgerät und bemerkte, dass die Frau, die ihm gegenüber Platz genommen hatte, ihre Beine entblößt hatte. Sie hatte sich in voller Absicht den Rock hochgeschoben. Es waren hübsche Beine, vielleicht nicht sehr sauber, aber sie konnten sich durchaus sehen lassen, jedenfalls in diesem Halbdunkel unter dem Tisch. Sie steckten in abgetretenen, ehemals eleganten Schnürstiefeln. Nun sah er, dass es nicht die Hand der Frau war, die den Rock lüpfte, sondern die des Mannes, der neben ihr saß. Pistoux kam unter dem Tisch hervor und setzte sich wieder hin. Natürlich konnte er gar nicht anders, als seine beiden Gegenüber zu mustern.
Die Frau mit den schlanken schmutzigen Beinen musste Mitte zwanzig sein. Ihre langen blonden Haare rahmten beinahe hübsche Gesichtszüge mit einer zu kleinen Nase ein. Der Mann neben ihr trug einen Zylinder, ein Jackett aus feinerem Stoff und war, im Gegensatz zu den meisten Männern an Bord, glatt rasiert. Bei näherem Hinsehen bemerkte man allerdings, dass seine Augen blutunterlaufen waren und die Nase leicht bläulich-rötlich verfärbt, wie die eines heftigen Trinkers.
Pistoux grüßte höflich und begann zu essen.
»Siehst du, Onkel«, sagte die junge Frau. »Ich sagte es doch, man sieht es sofort.«
»Du hast ganz recht, mein Kind.«
»Ein eleganter Herr weiß auch in schwierigen Situationen den Löffel anmutig zu führen«, sagte sie.
»Nun lass ihn essen, sonst ist er verstimmt. Einen solchen Fraß ist er sicherlich nicht gewöhnt.«
»Es gibt so wenige Männer, die sich zivilisiert benehmen können«, seufzte die junge Frau.
»Ich muss dir leider beipflichten, mein Kind«, sagte der Mann.
Pistoux spürte den Fuß der Frau in seinem Hosenbein. Wie war es ihr gelungen, sich so schnell des Schnürstiefels zu entledigen?
»Pardon, Messieurs-dames?« Pistoux blickte auf.
»Nun haben wir ihn gestört«, sagte der Mann. »Entschuldigen Sie, Monsieur, wir bedauern es zutiefst.«
Ein nackter Fuß glitt über Pistoux’ Schienbein. Er zog sein Bein zurück und bemerkte einen Ausdruck von Bedauern auf dem Gesicht der jungen Frau.
»Sie sind kein Amerikaner, nicht wahr?«, fragte sie und schaute ihn mit einem Blick an, in dem mehr lag als nur die Aufforderung zu einem Gespräch.
Ihr Begleiter lachte. »Was für eine dumme Frage! Natürlich nicht, Jenny, wäre er denn sonst auf diesem Schiff?«
Der Tadel schien der jungen Frau nichts auszumachen. »Ich meine es doch ganz anders«, sagte sie. »Amerikaner sind so … so schwerfällig, nicht?«
»Grobschlächtig, sie meint grobschlächtig, Monsieur«, lachte der Mann. »Und darüber hinaus stören wir ihn beim Essen«, fuhr er an sie gewandt fort.
»Entschuldigen Sie bitte, mein Herr.« Jenny gelang ein schüchterner Gesichtsausdruck mit einem Anflug von verführerischem Charme. Pistoux spürte wieder etwas um sein Hosenbein streichen. Die sind mit allen Wassern gewaschen, dachte er und bemühte sich, desinteressiert weiterzuessen.
»Sie sind also auch auf dem Weg zurück in die Alte Welt?«, brach es aus dem Mann hervor. »Wir auch. Aber sehen Sie, es war mir doch von Anfang an klar, dass es kein Aufenthalt von Dauer werden würde. Unsereins vermisst doch die Kultur, die den denkenden Menschen in Europa umfängt wie ein warmer Mantel.«
Pistoux schwieg und kaute. Die Kartoffeln waren sehr nachlässig püriert worden, stellte er fest, und die Stockfischstücke waren zum Teil weder gewässert noch gegart worden.
»Sie entstammen sicher dem Adel«, sagte Jenny, nachdem es Pistoux gelungen war, seine Hosenbeine in Sicherheit zu bringen.
Pistoux hätte beinahe laut aufgelacht. Was sollte dieser Unsinn? Es wäre intelligenter, über das Wetter zu reden, als über so etwas.
»Nun, nun, nicht jeder möchte mit dem Zeigefinger auf seine Abstammung gestoßen werden«, sagte der Mann. »Aber sehen Sie, auch meine Familie hat nach der Revolution alles verloren. Es wird mich noch einige Zeit kosten, unseren Besitz zurück zu bekommen. Bis es so weit ist, leben wir karg. Aber dann … hui! Es wird eine gute alte Zeit werden.« Der angebliche Adelige griff in die Jackentasche und holte eine flache Flasche hervor, die mit einer hellgelben Flüssigkeit gefüllt war. Schwungvoll nahm er den Korken ab und genehmigte sich einen Schluck. Dann gab er die Flasche an Jenny weiter, die ebenfalls trank und sie dann Pistoux hinhielt. Es roch nach billigem Fusel.
Pistoux schüttelte den Kopf. Der Mann mit dem Zylinder nahm die Flasche zurück und nickte: »Sie haben Recht. Aber eines Tages werden wir wieder Marc de Champagne trinken und diesen schauderhaften Rum wegkippen!« Er genehmigte sich noch einen Schluck und steckte die Flasche wieder in die Tasche. Dann zuckte er zusammen. »Um Gottes willen!«, rief er aus. Er sprang auf und riss sich den Zylinder vom Kopf. »Ich habe ganz versäumt, mich vorzustellen. Ich bitte um Entschuldigung, gestatten Sie? Joseph de Goémond y Cartez. Mit spanischer Linie, wie Sie zweifellos sofort herausgehört haben. Wobei das … Nun ja …« Er machte eine abfällige Handbewegung.
»Und Sie?«, fragte Pistoux, der sich mit einem Mal herausgefordert fühlte, bei diesem Unsinn mitzumachen, die junge Frau. »Haben Sie auch spanische Linien?«
»Meine Nichte hört auf den schönen französischen Namen Geneviève.«
Geneviève hielt Pistoux eine Hand entgegen: »Jenny für meine Freunde.«
Pistoux ignorierte die Hand. Was sollte er damit machen? Sie küssen? »Haben sie auch beeindruckende Nachnamen?«, fragte er.
»Oh, ja, Jenny de France, Jenny de Paris, wenn Sie mögen.«
Goémond sah sie tadelnd an. »Und Sie, mein Herr? Wenn ich so zudringlich sein darf zu fragen.«
»Jacques Pistoux. Ohne Adelsprädikat, was ich im Moment wirklich bedaure«, entgegnete Pistoux spöttisch.
»Oh, aber zweifellos aus gutem Hause.«
»Ich muss für meinen Lebensunterhalt arbeiten«, sagte Pistoux jetzt wieder ernst. Er hatte aufgegessen und wollte fort von hier. Draußen auf Deck war dieses ständige Auf und Ab des Schiffes besser zu ertragen als hier unten.
»Arbeit adelt den Menschen, Monsieur Pistoux«, sagte Goémond. »Sicher haben Sie als Kellner gearbeitet, Monsieur de Pistoux. Bei Delmonico’s? Bestimmt bei Delmonico’s«, sagte Goémond. »Bei Ihrer Haltung muss es das Feinste vom Feinsten gewesen sein.«
Pistoux seufzte innerlich. Das also war der Zweck dieser ziemlich lächerlichen Konversationsübung. Man wollte ihn aushorchen. Wie lange haben die dich schon im Visier, fragte er sich.
»Kellner war ich in der Tat zum Schluss, jedoch nicht bei Delmonico’s, sondern in der Maison D’Orée, nachdem man mich bei Rector’s herausgeworfen hat.«
»Rector’s an der 54. Straße Ecke Broadway?«
»Ganz recht.«
Goémond blickte nachdenklich zur Decke: »Ich erinnere mich an die Ausstattung: italienischer Marmor, feinstes Eichenholz und schwere Samtvorhänge.«
»Sie sind dort gewesen?«, wunderte sich Pistoux.
»Aber selbstverständlich, auf der Suche nach europäischer Kultur und zivilisiertem Genuss. Es ist allerdings einige Jahre her. Es ging mir damals weitaus besser als heute, das muss ich zugeben.«
Jennys Blick verdüsterte sich: »Das war leider vor meiner Zeit«, murmelte sie.
Goémond ignorierte diese Bemerkung und fuhr fort: »Die Küche war leidlich, aber bescheiden, wenn man Maßstäbe hat.«
»Niemand in New York beherrscht das Handwerk des Kochens«, bestätigte Pistoux. »Jeder mittelmäßige Provinzkoch in Frankreich weiß mehr über die Bereitung von Speisen als diese Küchenchefs, die nur wegen ihres französischen Namens angestellt wurden, aber nichts gelernt haben. Wer da als ernsthafter Koch hineingerät, leidet sehr.«
»Und nun stellen Sie sich erst vor, wie es den Gästen geht.«
»Die Amerikaner merken doch nichts. Die glauben, sie essen europäisch, wenn sie zum gebratenen Fleisch eine Sauce serviert bekommen. Und sie essen nur Fleisch, alles andere lassen sie liegen.«
»Ich erinnere mich an ein sogenanntes Bœuf bourguignon aus halbrohem Fleisch in einer Tunke aus unverkochtem Rotwein«, ereiferte sich Goémond. »Die Pilze fehlten! Das war im Louis Sherry’s, erst kürzlich. Zum Glück mussten wir die Rechnung nicht bezahlen.«
Pistoux bemerkte amüsiert, dass Jenny ihrem Begleiter den Ellbogen in die Seite stieß.
»Man hat Sie einfach gehen lassen?«
»Nun, einfach nicht«, sagte Goémond unbestimmt.
»Und deshalb sind Sie Kellner geworden. Weil sie das nicht ertragen haben?«, fragte Jenny, und in ihrer Stimme schwang zu viel geheucheltes Mitgefühl mit.
»Ja, das war dann bei Delmonico’s.«
»Aber da hatten Sie doch Chancen. Da gehen doch feine Damen ein und aus.«
Pistoux musste lächeln. Beinahe wurde diese naive Hure ihm sympathisch. Sie konnte sich offensichtlich nur eine Art des gesellschaftlichen Aufstiegs vorstellen.
»Diese Stellung hatte auch ihre unangenehmen Seiten«, erklärte er dann ernst.
»Tatsächlich?« Jenny schaute ihm mitfühlend in die Augen.
Sie hat Rehaugen, dachte Pistoux, das ist ihr Kapital, und die Beine natürlich.
»Wenn man am Empfang war, direkt am Eingang …«
»Was für ein prachtvoller Eingang!«, schwärmte Goémond.
»Und gut abgesperrt. Draußen ein Wachposten, der die armen Leute vertrieb, die sich, besonders im Winter, nicht satt sehen konnten an der prächtigen Einrichtung und dem opulenten Essen. Wobei es alles mehr Schein als Sein war. Und satt wurden diese Zaungäste auch woanders nicht. Amerika ist grausam zu allen, die ihrem Gott nicht erfolgreich dienen können. Und Amerikas Gott ist der Mammon!«
»Nun ja«, sagte Goémond, »es gibt schlimmere Götter. Ich habe nichts dagegen, dass die Leute um das Goldene Kalb herumtanzen. Mulmig wird mir, wenn sie anfangen, Mars zu huldigen.«
»Mars und Venus? Gehören die nicht zusammen?«, fragte Jenny.
»Im letzten Winter, als die Zahl der hungernden und gaffenden Elenden vor den Türen immer größer wurde, haben sie die Polizei gerufen«, fuhr Pistoux fort. »Die Beamten haben Knüppel ans Personal verteilt … Ich habe nicht mitgemacht und wurde gekündigt. Das ist Amerika.«
»Sie haben richtig gehandelt«, sagte Jenny. »Menschen, die hungern, darf man nicht schlagen.«
»Die Frage ist, was man mit Menschen machen soll, die Hungernde schlagen«, entgegnete Pistoux düster.
»Und? Was haben Sie dann gemacht?«
»Ich habe in einer Großbäckerei gearbeitet. Sie wurde von der American Biscuit Company aufgekauft. Man senkte die Löhne, entließ viele Arbeiter, beschleunigte den Arbeitsrhythmus. Daraufhin kam es zum Streik. Die Gewerkschaft stellte sich gegen die Arbeiter und alle wurden entlassen.«
»Eine Gewerkschaft, die gegen die Arbeiter vorgeht?«
»Die Gewerkschaftsführer wurden bestochen.«
»Und danach wollten Sie fort aus Amerika?«, fragte Goémond. »Das ist verständlich.«
»Ich arbeitete in einer Bar am Grill und briet von morgens bis abends Hackfleischklöße, die zwischen zwei Brotscheiben gelegt wurden. Es war die ödeste Arbeit, die ich je hatte. Als ich nichts anderes fand, beschloss ich, endlich zurückzukehren.«
»Und nun haben Sie Pläne?«
Pistoux schüttelte den Kopf: »Man kommt besser ohne Plan aus.« Er stand abrupt auf. Seine Ausführungen hatten ihn deprimiert. »Bitte entschuldigen Sie mich jetzt, ich bin noch verabredet.«
Pistoux stand auf und merkte, dass der Seegang noch schwerer geworden war. Kaum hatte er sich grüßend abgewandt, hörte er hinter sich die zischelnde Stimme von Jenny: »Du und deine Menschenkenntnis.«
Er brachte seinen Blechnapf zurück und verließ den Raum.
An Deck war es stürmisch, feucht, kalt und glitschig. Man konnte sich unmöglich weiter an der frischen Luft aufhalten. Pistoux stieg ins Zwischendeck und legte sich auf seine Pritsche. Er fand keine Ruhe, erhob sich wieder und suchte nach Doktor Lesfèves. Unter Deck konnte er ihn nirgendwo finden. Er fragte nach seinem Bett, es wurde ihm gezeigt, aber es war leer. Also begab er sich nochmals nach oben und suchte das Deck ab. Lesfèves schien verschwunden zu sein. Zurück im Zwischendeck bemerkte er den kräftigen Mann mit der Mütze, den der Doktor der Sabotage verdächtigt hatte. Er ging auf ihn zu und fragte ihn nach Lesfèves. Der Mann brummte etwas Unverständliches und wandte sich ab.
Pistoux gab auf. Was sollte das auch jetzt? Hier unten würde man ohnehin nicht mehr Schach spielen können. Viel zu viele Klagelaute waren zu hören. Männer schimpften über das Wetter, Frauen jammerten, Kinder weinten.
Er legte sich auf seine Pritsche und deckte sich zu. Eine ganze Weile lag er wach. Schließlich gelang es ihm trotz des Stöhnens und Klagens einzuschlafen.
Mitten in der Nacht wurde er von einem lauten Krachen und einem heftigen Ruck geweckt. Beinahe wäre er aus dem Bett gefallen. Das Schiff wurde bis in seine Grundfesten erschüttert. Menschen stürzten zu Boden, Koffer, Taschen und allerlei Utensilien fielen rumpelnd und klappernd zu Boden. Das Krachen ging in ein lautes Scharren, Schaben und Rumpeln über, aber diese seltsamen Geräusche wurden von den Angst- und Schmerzensschreien der Passagiere übertönt. Pistoux richtete sich ruckartig auf. Der Schlafsaal lag schief und wurde nur von wenigen Funzeln erleuchtet. Er sah Menschen in Panik ziellos umherhasten. Manche wurden umgerannt, andere hoben die Arme, um sich den Weg zum Ausgang mit den Fäusten zu bahnen. Was war passiert?
2. REISE NACH ARMORIKA
Lieber Christian, du wirst diesen Brief nie bekommen, aber ich schreibe dir trotzdem. Ich weiß ja nicht, ob du da, wo du jetzt bist, Zeit zum Briefelesen hättest, und ob du dich über Post von mir freuen würdest. Aber uns verbindet doch viel, und seien es auch nur Erinnerungen. Ich sehe dich weiterhin vor mir. Dir zu schreiben ist fast so, als würde ich mit dir sprechen. Unsere Abreise in Hamburg ging recht hastig vonstatten, typisch für die Herren, die mich zu beaufsichtigen pflegen. Ja, ja, du wirst mich jetzt tadeln, ich soll nicht so schlecht über meine Familie sprechen. Das tue ich auch gar nicht, ich nenne die Dinge nur beim Namen. Vater und Philip sind so treu sorgend, seit wir aus dem Urlaub zurückkamen, wo ich meinen kleinen Schwächeanfall hatte, dass ich kaum noch Luft zum Atmen habe. Philip versuchte, mir einzureden, er müsse Vater, der sich Sorgen um mich mache, in dieser Hinsicht entgegenkommen. Aber es ist wirklich lästig, wenn man die ganze Zeit beaufsichtigt wird und nicht mal am helllichten Tag allein aus dem Haus gehen darf.
Nun wirst du mir sicher antworten: Wie schön, freu dich doch, dass man sich um dich kümmert! Ja, natürlich, aber lieber wäre mir, ich könnte tun und lassen, was ich will. Wenn dir bei jedem kleinen Spaziergang hinunter
Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 01/2008 Copyright © 2008 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
eISBN : 978-3-894-80971-3
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