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Die Geschichte einer Mafia-Familie auf dem St.-Pauli-Kiez
Der Mann auf dem Stuhl regt sich nicht. Bruno Nicolosi, der bekannte, aus Italien stammende Kiez-Gastronom, lebt nicht mehr. Tod durch Fremdeinwirkung, stellen die beiden Polizisten vor Ort fest. Eine Kugel durchs Herz hat das »Leben einer Legende«, wie Journalisten ihn nannten, für immer zur Ruhe gesetzt.
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Seitenzahl: 453
Zwei Sizilianer in Hamburg: Ende des Zweiten Weltkriegs fliehen Antonio und Bruno Nicolosi aus der Kriegsgefangenschaft. Auf St. Pauli etablieren sie sich als Hehler und Erpresser. Sie gewinnen viel, verlieren alles – und verdienen noch mehr. Als Antonio in den Flammen eines brennenden Kinos spurlos verschwindet, ist Bruno auf sich allein gestellt. Er führt die blutigen Geschäfte weiter, gründet die Trattoria »San Diavolo« und wird zum erfolgreichsten Paten Deutschlands. Doch bald schon stellt er fest, dass der scheinbar Verstorbene viel mehr Macht besitzt als noch zu Lebzeiten.
»Wahrlich, der Autor beherrscht die Krimi-Kunst.«
Hamburger Morgenpost
Die Autorin
Virginia Doyle ist das Pseudonym des in Hamburg lebenden Autors Robert Brack, der zahlreiche Romane und Sachbücher zum Thema Hamburg verfasst hat und mit dem »Marlowe« und dem »Deutschen Krimi-Preis« ausgezeichnet wurde. Der Roman Das Totenschiff von Altona stand wochenlang auf der Bestsellerliste. Im Heyne Verlag erschien zuletzt die St.-Pauli-Trilogie.
Lieferbare Titel
Die rote Katze – Die schwarze Schlange – Der Fluch der schönen Insel
Die Ehre der Nicolosi
Roman
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Copyright © Robert Brack
Copyright © 2010 by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House
Redaktion: Wolfgang Taschner
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-04946-1
www.heyne.de
Eine Gruppe Touristen beratschlagt vor der Sichtsperre, ob sie es wagen sollen, die berühmte Rotlichtstraße zu betreten, die Frauen diskutieren darüber, wie ernst das Warnschild auf der Stahlwand gemeint sein könnte: »Zutritt für Jugendliche unter 18 und Frauen verboten.« Jemand erzählt, dass die Prostituierten auf Damenbesuch mit Wasserbomben reagieren würden. Man entscheidet, dass die Männer mal kurz reindürfen, »aber wir warten hier«, sagen ihre Begleiterinnen.
Die Polizisten wollen nur routinemäßig die Herbertstraße durchqueren, kurz mal Hallo sagen, nach dem Rechten sehen, Präsenz zeigen, bemerken aber ein Stück weiter ein Auto im eingeschränkten Halteverbot. Sie gehen darauf zu.
Der rostrote Chevrolet Camaro steht direkt vor dem Eingang eines bekannten italienischen Restaurants. Die Trattoria San Diavolo wird von einer inzwischen als alteingesessen geltenden italienischen Familie betrieben. Seit wann die Nicolosis auf dem Kiez tätig sind, weiß eigentlich keiner so ganz genau, aber sie gehören zu den erfolgreichsten Unternehmern in diesem Viertel und werden sogar von den hanseatischen Kaufleuten als Geschäftspartner akzeptiert.
Der Chevrolet gehört den Inhabern der Trattoria. In letzter Zeit steht er öfter hier, und die Beamten müssen immer wieder ins Lokal, um darauf hinzuweisen, dass der Wagen woanders geparkt werden soll. Manchmal, wenn die Inhaber Zeit gewinnen wollen, bieten sie den Beamten einen Espresso an. Das Angebot wird von den meisten abgelehnt, manche aber nutzen die Gelegenheit, um sich im Lokal beruflich umzuschauen, und da kann ein Espresso, der die Staatskasse nicht weiter belastet, auch nicht schaden.
Die beiden Beamten kommen vor dem Restaurant an. Die gläserne Eingangstür wie auch die Fenster zur Straße sind mit bunten Szenen bemalt. Sie zeigen eine mediterrane Hafenidylle, venezianische Gondeln und italienische Damen mit großen Hüten vor überdimensionalen Gläsern mit Rotwein. Die Eingangstür ist geschlossen, was um diese Zeit ungewöhnlich ist, denn das Lokal öffnet normalerweise um 18 Uhr, täglich außer Sonntag, aber heute ist Donnerstag. Einer der Polizisten späht hinein. Drinnen ist es noch dunkel, und man kann kaum etwas erkennen. Der Beamte legt zwei Hände gegen die Scheibe, um besser hineinschauen zu können. Tatsächlich, da ist jemand.
Auf einem Stuhl sitzt der Inhaber des Lokals, Bruno Nicolosi, in sehr entspannter Haltung, mit herabhängenden Armen und einem zur Seite gefallenen Kopf. Seine Augen sind geschlossen.
»Entweder der schläft oder er ist tot«, sagt der Polizist und lässt seinen Kollegen hineinlugen.
»Der hat einen dunklen Fleck auf der Brust«, stellt der zweite Beamte fest. Er klopft gegen die Scheibe.
Niemand kommt, der Mann wacht nicht auf.
Der Polizist rüttelt an der Tür, sie ist zu.
Sie könnten die Scheibe einschlagen, aber dann wäre das schöne Bild zerstört. Über Funk fordern sie Unterstützung an.
Ein Kollege kommt mit einem kleinen Brecheisen. Es knackt und kracht ein bisschen, dann ist die Tür auf.
Der Mann auf dem Stuhl regt sich nicht. Kalte Hände, blasse Haut, offen stehender Mund, kein Puls, nur der dunkle Fleck auf der Brust: Bruno Nicolosi, der bekannte, aus Italien stammende Kiez-Gastronom, lebt nicht mehr. Tod durch Fremdeinwirkung: Eine Kugel ist durch den Brustkorb ins Herz gedrungen. Später werden manche Journalisten es »das Ende einer Legende« nennen. Aber der Mann, der sich an seinem Stammplatz für immer zur Ruhe gesetzt hat, hätte für eine derartige Bezeichnung kein Verständnis gehabt. Er hatte ein Leben geführt, das nicht wirklich sein eigenes gewesen war. Doch davon wissen nur die, die ihn nicht gefürchtet haben, und das sind wenige.
Das ganze Ausmaß der Tragödie in der Trattoria San Diavolo wurde den Polizisten erst klar, als sie das Hinterzimmer betraten und dort auf zwei weitere Leichen stießen, die sich in wesentlich unschönerem Zustand befanden.
Die Zeitungen titelten: »Familientragödie«, »Auftragsmord«, »Racheakt« und ergingen sich in nutzlosen Spekulationen. Aufgeklärt wurden die Todesfälle nie. Angehörige in Italien beauftragten einen Anwalt mit dem Verkauf des Lokals, eine italienische Firma übernahm die Hamburger Unternehmen und Geschäftsbeteiligungen der Nicolosis.
Dass zu den drei Toten in der Trattoria noch ein weiteres Opfer gehört, das Jahrzehnte früher während eines Brands in einem Kino ums Leben kam, wissen nur Eingeweihte, denen die gesamte Geschichte des Nicolosi-Clans bekannt ist, zwei oder drei Personen höchstens– falls sie noch am Leben sind.
»Los! Raus an die Arbeit, gottverdammtes Lumpenpack!«
Der Mann, der diesen Befehl mit schriller, sich überschlagender Stimme hervorstieß, trug die Uniform eines Leutnants, dazu einen verbeulten Stahlhelm, aber alle wussten, dass er in Wahrheit nur ein Zivilist war. Vor langer Zeit ausgemustert. Wahrscheinlich hatte er schon in der Jugend diesen Buckel gehabt, der ihn schwächlich erscheinen ließ. Krumm stand er da, mit dünnen Beinen in zu großen Stiefeln. Die Pistole an seinem Gürtel wirkte kaum abschreckend. Einmal hatte er sie auf einen Arbeiter gerichtet, der vor Hunger und Überanstrengung zusammengebrochen war. Es hatte ewig gedauert, bis er die Waffe aus dem Halfter bekam, noch länger, bis er mit zitternder Hand auf den am Boden Liegenden zielte. Das Opfer hatte genug Zeit gehabt zu sterben, bevor zwei Kugeln neben ihm einschlugen und trockene Erde gegen den kahlen Schädel spritzten. Erst die dritte Kugel drang in die Schläfe ein. Nur ein dünner Faden Blut trat aus.
Kein Wunder, denn die Zwangsarbeiter hatten kaum noch Blut. Sie waren innen hohl und außen vertrocknet, ihre Körper nur noch Hüllen. Aber sie mussten schuften, bis sie umfielen. Es gab keine Möglichkeit wegzulaufen. Neben dem falschen Leutnant standen zwei junge Männer in schwarzen Uniformen. Wer sie geschickt hatte, wusste keiner, sie waren einfach da. Aber ihre Uniformen wirkten echt, und die Maschinenpistolen, die sie auf ihre Gefangenen richteten, sowieso.
Antonio Nicolosi war immer der Letzte, der aus der Baracke nach draußen trat, Bruno der Vorletzte. Bei den Italienern hatte sich innerhalb weniger Tage eine klare Hierarchie ausgebildet. Viele Worte waren dazu nicht nötig gewesen. Es war erstaunlich, wie schnell sich alle fügten, wenn Antonio Befehle gab. Sogar die, die jeden Morgen zuerst die Baracke verlassen mussten und am meisten Gefahr liefen, einem Wutanfall des falschen Leutnants zum Opfer zu fallen.
Aber heute sollte mit den Schikanen Schluss sein. Die Engländer näherten sich der Stadt, das wussten alle. Die jungen Männer mit den Maschinenpistolen schienen verunsichert. Sie horchten und ließen die Blicke schweifen, achteten mitunter minutenlang nicht auf ihre Gefangenen, die langsam, aber unermüdlich daran arbeiteten, die Trümmer einer völlig zerstörten Straße in der Nähe des Hafens zu beseitigen.
Fast jeden Tag gelang es Antonio, sich für eine halbe Stunde davonzustehlen. Wenn er zurückkam, verteilte er »Hühnchenkeulen« an seine Mitgefangenen. Das waren Knochen mit Fleischresten daran, und jeder wusste, dass sie nicht von Hühnern stammten. Vielleicht von Katzen oder Hunden, wahrscheinlicher von Ratten. Wie es Bruno gelang, diese Leckerbissen zu braten, wusste keiner, und niemand fragte nach. Es beklagte sich auch keiner, wenn er statt der »Hühnchenkeulen« eine Delikatesse wie Froschschenkel angeboten bekam, die Bruno bei herumstreunenden Jungen gegen in den Trümmern gefundene Gegenstände eintauschte. Das waren immer nur kleine »Wertsachen«, die großen wurden ihnen vom falschen Leutnant abgenommen, dem es sogar in diesen Zeiten gelungen war, sich eine kleine kugelige Wampe anzufressen.
Heute aber hatte Antonio eine echte Delikatesse vorbereitet. Am Vorabend hatten er und Bruno am Straßenrand einen ausgeweideten Pferdekadaver gefunden. Mit selbst gefertigten Messern hatten sie in mühsamer Arbeit die restlichen Fleischfetzen abgesäbelt und gut versteckt.
Das Fleisch schmeckte leicht süß, es konnte roh verteilt werden. Es reichte nur für vier der knapp zwanzig Italiener, für die Nicolosi-Brüder und zwei weitere, die mit ihnen schon in der Munitionsfabrik und vorher im Kriegsgefangenenlager zusammen gewesen waren. Diese vier bekamen das Fleisch in kleinen Portionen über den Tag verteilt. Es war nicht abgehangen und schmeckte nach Blut.
Vom frühen Morgen bis zum Einbruch der Dunkelheit bauten sie eine Pyramide aus Steinen in der Mitte eines Platzes, der fast ganz von Trümmern bereinigt worden war. Was für einen Sinn es machte, an dieser Stelle Ordnung zu schaffen, war keine Frage wert. Um den Platz herum ragten Häuserfassaden in die Höhe, hinter denen nichts mehr war als gähnende Leere. Und nachts hörte man die Flugzeuge, die immer noch kamen, um die übrig gebliebenen Backsteinwände zu zerbomben.
Bevor der Befehl zum Rückmarsch zur Baracke kam, verteilte Toni Nicolosi die letzten Fleischstücke. Als die Gruppe der schweigend und gebeugt vorantrottenden Italiener sich ihrer armseligen Behausung näherten, wurden sie immer langsamer. Der falsche Leutnant versuchte sie brüllend anzutreiben, aber die Männer wurden immer langsamer, wankten und schwankten, ächzten und stöhnten und schließlich brach der Erste zusammen.
Schon trat der Leutnant neben ihn und stieß ihm mit der Stiefelspitze gegen den Kopf, holte aus, um ihm einen ordentlichen Tritt ins Gesicht zu verpassen, da fielen zwei weitere Gefangene zu Boden und sofort drei andere, zwei knickten stöhnend ein und gingen in die Hocke, einer warf die Arme in die Luft und fiel flach zu Boden, wo er zuckend und wie ein Hund bellend um sich schlug. Auf ihn richteten sich die Augen des falschen Leutnants und die Mündungen der Maschinenpistolen der Männer in Schwarz.
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